Aufbegehren – Die Politik der Indigenität

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Aufbegehren – Die Politik der Indigenität
Aufbegehren – Die Politik der Indigenität
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Editorial
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Land und Freiheit
Indigenität als kulturelle Form
von Selbst- und Fremdbestimmung
von Jens Kastner
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Vom Nutzen der Ethnizität
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»Das Globale verliert sich im Nichts«
Das Ständige Forum für indigene Angelegenheiten
bei der UNO
von Maren Rößler
Reinheit versus Einheit
Ist der Begriff »indigen« in Afrika anwendbar?
von Sarah Lempp
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Symbolischer Bürgerkrieg
Die indigene Bewegung in Bolivien trifft auf Reaktion
von Simón Ramírez Voltaire
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Indigene Identitätspolitik und Neoliberalismus
in den Anden
von Olaf Kaltmeier
t
Umstrittene »Erklärung über die Rechte
indigener Völker«
von Sarah Lempp
»Nachhaltige Entwicklung lernen«
Die Ngöbe in Panama leisten Widerstand gegen
eine Kupfermine
von Christoph Campregher und Wolfgang Zechner
t
t
Nicht aus einer Rippe Evos
Indigene Frauen in Bolivien auf dem Weg zu
politischer Partizipation
Alicia Allgäuer und Isabella Radhuber
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Urban Tribes, Rural Vibes
Ma–ori in Neuseeland im Kampf um Identität(en)
von Markus Bautz
Indigenität
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n rund 70 Staaten dieser Erde leben insgesamt 300
Millionen Menschen, die aufgrund von Selbst- oder Fremdzuschreibungen als »indigen« gelten. Viele von ihnen sind
an den Rand der jeweiligen Gesellschaften gedrängt und
rassistischer Diskriminierung ausgesetzt. Oft zählen sie zur
Armutsbevölkerung. In den letzten Jahren haben sich Indigene verstärkt dagegen zur Wehr gesetzt, sich politisch
organisiert und es bis in höchste Staatsämter geschafft. Indigenität ist in den letzten Jahren zum viel benutzten
Schlagwort aufgestiegen, und Indigene sind vermehrt zur
»Zielgruppe« internationaler Menschenrechts- und Entwicklungspolitik geworden. All das ist Grund genug für die
iz3w , sich näher damit zu befassen.
Selten hat die Redaktion allerdings so sehr um angemessene Begrifflichkeiten gerungen wie beim vorliegenden
Dossier. Wer oder was ist überhaupt »indigen«? Das Wort
kommt aus dem Lateinischen und heißt laut Lexikon soviel
wie «eingeboren» – ein Wort, das schon allein aufgrund
seiner kolonialen Konnotation inakzeptabel ist. Nicht viel
besser sieht es mit weiteren synonym verwendeten Begriffen wie »indigene Völker«, »Ureinwohner«, »Naturvolk«,
»Stammesvölker« oder »autochthone Völker« aus. Auch
ihnen liegt ein biologistisches, genau genommen sogar
rassisches Verständnis von Menschengruppen als »Völkern«
zugrunde.
Wer wie viele Menschenrechts-NGOs diese Begriffe unhinterfragt in den Mund nimmt, geht zumeist von folgenden Annahmen aus: Ein »Stamm« oder eine Volksgruppe
lebt in Frieden mit sich und der Natur auf einem abgegrenzten Territorium. Es treten – meist weiße – Eroberer auf
den Plan, die die UreinwohnerInnen kolonisieren, marginalisieren und ihres Landes berauben. Die Unterdrückung der
Indigenen setzt sich im postkolonialen Zeitalter unter rassistischen, kapitalistischen oder staatsozialistischen Vorzeichen fort. Oft sind Indigene einem »inneren Kolonialismus«
durch die Nachfahren der Eroberer oder anderer dominanter Gruppen ausgesetzt. Die kulturelle Entfremdung durch
den Einfluss der westlichen Zivilisation oder durch Zwangsassimilation trägt zum zerstörerischen Werk bei. Dagegen
leisten die Indigenen Widerstand, etwa indem sie sich auf
ihre traditionelle Kultur und ihre Wurzeln besinnen. Unterstützt werden sie durch wackere Solidaritätsgruppen, die
auf Menschen- und Völkerrecht pochen.
Die im deutschsprachigen Raum prominenteste Menschenrechtsgruppe mit Schwerpunkt Indigene ist die »Gesellschaft für bedrohte Völker«. In ihren Publikationen wird
besonders deutlich, warum das oben skizzierte Verständnis
von Indigenität trotz vieler ‚Wahrheiten’ – insbesondere
über die gewaltsame Kolonisierung – so problematisch ist.
Ihm liegt ein naturalisierendes, essentialistisches Konzept
von »indigenen Völkern« zugrunde: Es wird eine quasi »natürliche« Wesenhaftigkeit Indigener behauptet, die sie von
anderen Bevölkerungsgruppen unterscheide. Dieser Essentialismus argumentiert keinesfalls nur biologistisch; häufig
spielt »die Kultur« sogar die dominante Rolle. Doch auch
dieser wird ein authentisches Wesen zugeschrieben, und
genau aus diesem Grunde stehen augenfällige kulturelle
Attribute wie folkloristische Kleidung oder Musik bei der
Darstellung von Indigenen so sehr im Vordergrund. Wer so
und so aussieht, ist auch so und so – auf diese Sichtweise
läuft es hinaus. Weit verbreitet ist diese Sichtweise auch deshalb, weil sie nicht nur auf Fremd-, sondern auch auf Selbstzuschreibungen beruht. Viele indigene Gruppen sind sehr
stolz auf das, was sie für ihr ‚Wesen’ halten.
Ü
ber das, was als ‚authentisch’ zu gelten hat, führen
viele indigene Gruppen heftige Auseinandersetzungen (siehe das Beispiel Maori auf S.19). Indigenität ist eben nichts
‚natürliches’, sondern Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse.
Die Grundthese dieses Themenschwerpunktes lautet daher: Indigenität ist ein in sozialen Auseinandersetzungen
diskursiv hergestelltes Konstrukt. Dieses Konstrukt ist
gleichwohl keine bloße Erfindung, denn es beruht auf realen (Unterdrückungs-)Erfahrungen und es hat klare Funktionen: Indigenität dient der Gruppenbildung, der Ab- und
Ausgrenzung, der Einforderung von kollektiven Rechten in
hierarchischen Gesellschaften und vielem mehr. Indigenität beruht dabei nicht nur auf diskriminierender Fremdzuschreibung, sondern ist politisches und kulturelles Kapital, mit dem sich erfolgreich Politik machen lässt (siehe die
Beispiele Andenraum, S. 7, und Bolivien, S. 15).
Fast immer handelt es sich bei gesellschaftlichen Konflikten im Zusammenhang mit Indigenität um Verteilungsund Machtfragen. Es geht dabei um »Land und Freiheit«
(so der Titel des Einleitungsartikels, S. 3), also um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Selbstbestimmung. Parteinahme für die Sache der Schwächeren ist da durchaus
geboten. Deshalb ist kaum nachzuvollziehen, warum es
auch in manchen Strömungen der (marxistischen) Linken
eine Verachtung alles Indigenen gab und gibt. Indigenität
ist nicht per se ein »Rückfall« in vormoderne Vergesellschaftung, sondern ein widersprüchliches und umstrittenes
Produkt der Postmoderne und ihres cultural turns.
Was folgt aus alledem? Das Recht auf Autonomie und
Anderssein zu verteidigen, ohne einer Ideologie der Abstammung zu erliegen. Diese Gratwanderung versucht
jedenfalls
die redaktion
Das Dossier Indigenität wurde gefördert
von InWEnt gGmbH aus Mitteln des BMZ.
Wir bedanken uns dafür herzlich.
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Foto: M. Zafra
Indigene werden stärker
als andere Bevölkerungsgruppen über angebliche
oder tatsächliche kulturelle Merkmale definiert.
Das birgt große Gefahren,
wie diskriminierende oder
idealisierende Fremdzuschreibungen. Doch als
soziale Bewegung gegen
Dominanz und Herrschaft
verstanden, birgt Indigenität auch die Möglichkeit
der Autonomie.
Land und Freiheit
Indigenität als kulturelle Form von Selbstund Fremdbestimmung
von J e n s K a s t n e r
t In der Geschichte Mexikos nehmen Indigene breiten Raum ein. Zumindest auf dem
weltbekannten Wandbild Diego Riveras im
Nationalpalast von Mexiko-Stadt ist das so.
Das im Dienste der postrevolutionären Regierung 1929-1935 entstandene dreiteilige Gemälde zeigt Indigene in drei Zeitabschnitten.
Während sie in der Darstellung der vorspanischen Zeit in bunter Pracht und bei verschiedensten Tätigkeiten abgebildet sind, tragen
sie jedoch im Mexiko der seinerzeitigen
Gegenwart vor allem weiße Kleider und sind
ausnahmslos mit dem Rücken zur BetrachterIn gemalt (siehe S. 22).
Für die Beantwortung der Frage, wie
widersprüchlich sich Indigenität als kulturelle Form artikuliert, ist Mexiko ein gutes Beispiel. Der Anteil der als »indigen« Klassifizier-
ten an der Gesamtbevölkerung liegt mit zehn
bis 15 Prozent im lateinamerikanischen Vergleich im unteren Mittel. In Argentinien, Brasilien und Venezuela gelten etwa ein bis zwei
Prozent der Bevölkerung als indigen, am
höchsten ist der Prozentsatz mit etwa 60 Prozent in Guatemala und rund 70 Prozent in
Bolivien. Mexiko ist seit 2001 per Gesetz eine
pluriethnische und plurikulturelle Nation. Die
Zugehörigkeit zu einer der 56 offiziell vorhandenen indigenen Ethnien wird dabei über
den Sprachgebrauch bestimmt – und nicht
über Verwandtschaft.
Bewegter Indigenismus
t Bereits in Riveras Bild ist die Repräsentation der Indigenen vielsagend. Nach der Re-
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volution (1910-1920) wurden sie als Teil der
neu zu gründenden Nation entdeckt. Neben
dem spanisch-kolonialen Erbe und der mestizischen Gegenwart sollten sie integraler Bestandteil der mexikanischen Identität (mexicanidad) werden. An der Herstellung dieser
Identität wurde von oberster Stelle aus gearbeitet, der damalige Bildungsminister José
Vasconcelos lud namhafte Künstler zum Besuch von Maya-Ruinen ein und gab Wandgemälde in Auftrag.
Die Wiederentdeckung der von den Kolonisatoren fast vernichteten und fortan abgewerteten indigenen Kultur und deren Einbindung ins nationale Projekt fanden in vielen
lateinamerikanischen Ländern Nachahmung.
Die sich darum bemühende intellektuelle
Bewegung wurde als Indigenismus bekannt.
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Sowohl die schriftstellerische Wiederentdeckung und Neubewertung indigener
Lebensformen lassen sich darunter subsumieren, als auch die staatliche Gründung
des Instituto Nacional Indigenista (INI) im
Jahr 1949 (2003 umbenannt in »Nationale Kommission für die Entwicklung der indigenen Bevölkerungsgruppen«, CDI).
Der Indigenismus geriet allerdings in
die Kritik. Denn während einerseits die
glorreiche Vergangenheit der indigenen
Kulturen gefeiert wurde, waren deren Erben kaum veränderter sozialer und politischer Diskriminierung ausgesetzt. Im Zuge der nationalistischen Modernisierungen wurden sie zudem einem Assimilierungsdruck ausgesetzt: Ihre »kulturelle
Andersheit« galt letztlich als rückständig
und sollte sich dem nationalen Fortschritt
unterwerfen. Implizit findet sich dieser
Ansatz bereits in Riveras Gemälde: Als
handelnde Subjekte treten die Indigenen
hier nicht auf, außer in der glorifizierten Vergangenheit.
Eine Bewegung innerhalb der mexikanischen Revolution, die dieser Glorifizierung zu
widerstehen und die Indigenen auch in der
Gegenwart als gleichwertig zu akzeptieren
versuchte, war der Magonismus. Benannt
nach Ricardo Flores Magón (1873-1922), bildete der Magonismus vor allem zu Beginn
der Revolution (1910-1913) deren radikalen
und libertären Flügel. Er gruppierte sich um
die von Flores Magón herausgegebene Zeitschrift Regeneración (Erneuerung) und die zur
Verfechterin anarchokommunistischer Ideen
gewandelte Liberale Partei Mexikos (PLM).
Im Gegensatz zu den anderen bewaffneten
Gruppen der Revolution, waren bei den vom
Magonismus betriebenen Milizen einige
Wandbild Diego Riveras im Nationalpalast von Mexiko-Stadt
Führungskader indigener Herkunft. Auch die
indigenen Dorfstrukturen wurden nicht als
überholt, sondern als vorbildlich betrachtet.
In einem Artikel mit dem programmatischen Titel »Die mexikanische Bevölkerung ist
für den Kommunismus geeignet« stellte Flores Magón drei Gemeinsamkeiten zwischen
seinem anarchokommunistischen Ideal und
dem Leben in den indigenen Gemeinden heraus: Erstens der gemeinschaftliche Landbesitz
und der freie Zugang zu allen natürlichen
Ressourcen, zweitens die gemeinschaftliche
Arbeit (wobei hier Feldarbeit ebenso gemeint
war wie die – laut Magón – gegenseitige Hilfe innerhalb der Familie), und drittens der
Hass auf die Autoritäten und die Überzeugung davon, dass sie überflüssig sind. Zwar
wird in dieser Beschreibung die indigene Kul-
tur nicht auf ihre Vergangenheit beschränkt,
sondern auch in der Gegenwart wahrgenommen. Die Idealisierung ist aber unübersehbar.
Insofern ist auch der Magonismus ein gutes
Beispiel. Denn er verweist auf eine Problematik, die zwischen linksradikalen Bewegungen
und Indigenen bis heute besteht und die auch
mit der Konzeptualisierung dessen zu tun hat,
was unter »Indigen-Sein« verstanden wird.
Eine libertäre Alternative?
t Im Magonismus findet sich wie in einigen
Teilen der Solidaritätsbewegungen bis heute
die Vorstellung von der einen indigenen Kultur. Dabei wird so getan, als sei Kultur etwas
Unveränderliches, das alle Wirrnisse der Geschichte unbeschadet übersteht und anderen
»Nachhaltige Entwicklung lernen«
Die Ngöbe in Panama leisten Widerstand gegen eine Kupfermine
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von C h r i s t o p h Ca m p r e g h e r und Wo l f g a n g Z e c h n e r
t Carlos Sabrega-Ortega, indigener Vertreter der Ngöbe in Panama, macht keinen
glücklichen Eindruck. »Wir sind besorgt um
unsere Lebensgrundlage. Der Fluss, der
Wald, unsere gesamte Umwelt ist in Gefahr«, erklärt er. Grund dafür ist ein Projekt
der Firma Bellhaven Copper & Gold Inc. Das
kanadische Unternehmen sucht inmitten
der Comarca Ngöbe-Buglé, wo die Ngöbe
leben, nach Bodenschätzen und will dort in
naher Zukunft eine Kupfermine errichten.
Das Unternehmen gibt an, das Einverständnis der Comarca-BewohnerInnen eingeholt
zu haben.
iz3w
•
Zivilgesellschaftliche Gruppen und die Führer
der Ngöbe lehnen den Vertrag zwischen der
panamaischen Regierung und Bellhaven jedoch ab. Besonders im Bezirk Besiko der
Comarca, in dem sich die Kupfervorkommen
befinden, regt sich Widerstand. Plinio Bejerano-Rios, indigener Umweltaktivist aus Soloy, erklärt warum: »Bei uns in der Region Besiko wären bis zu 19.000 Personen von den
Folgen des Kupferabbaus betroffen, ganz zu
schweigen von den Primärwäldern und unseren natürlichen Ressourcen. Wir Ngöbe sind
damit nicht einverstanden. Der Großteil des
Gewinns geht an den Bergbaukonzern, der
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danach wieder verschwindet. Aber wir müssen mit den Folgen leben. Die Flüsse sind unsere Lebensgrundlage. Ich trinke vom Flusswasser, ich bade darin, ich bewässere meine
Felder mit diesem Wasser.« Soloy ist das Zentrum des Bezirks Besiko. Hier haben sich im
Laufe der Zeit immer mehr Ngöbe entlang
jener Flüsse angesiedelt, die nun durch die
geplante Mine verschmutzt werden sollen.
Die Ngöbe leben in drei westlichen Provinzen Panamas: Bocas del Toro, Chiriquí und
Veraguas. Mit einer Bevölkerungszahl von
über 125.000 Personen sind sie nach den
Maya die zweitgrößte indigene Gruppe in
Indigenität
Kulturen gegenübersteht (indigen vs. mestizisch, schwarz vs. weiß, etc.). Dieses Kulturkonzept unterscheidet sich kaum von dem
der modernen Nationen im 19. Jahrhundert,
welches Kultur als gesammelte Werte und
Werke einer bestimmten Gruppe von Menschen bezeichnet. Nicht weniger problematisch am Magonismus ist die Leitidee, dass
Kultur etwas Homogenes ist, dass also alle Indigenen einer bestimmten Region derselben
Kultur angehören. Vehemente Unterschiede
wie die zwischen den Lebensweisen von
Männern und Frauen werden dadurch eingeebnet, hybride Formen aller Art können nicht
mitgedacht werden. Die angebliche Unveränderlichkeit und die vermeintliche Homogenität werden vom Magonismus überdies positiv bewertet. Die »indigene Kultur« fungiert
als edles Gegenbild zur verrotteten Zivilisation oder als libertäre Alternative zum entfremdenden Kapitalismus.
Weder der Magonismus – seiner Zeit in Sachen Reflektion dem Indigenismus weit voraus – soll hier diskreditiert werden, noch soll
den Lebensweisen und Organisationsformen
von Indigenen jegliches sozialrevolutionäres
Potenzial abgesprochen werden. Von einem
theoretischen wie von einem praktischen
Standpunkt aus müssen aber die genannten
Merkmale des sozialrevolutionär-solidaritätsbewegten Indigenismus kritisiert werden.
Von der praktischen Warte aus gesehen,
erweist sich eine vom mexikanischen Soziologen Sergio Sarmiento Silva eingeführte
Unterscheidung als nützlich: Scheinbar banal, aber folgenschwer besteht er auf der Differenz zwischen »pueblos indios« und »movimientos indios«, also indigenen Bevölkerungsgruppen und indigenen Bewegungen.
Diese Unterscheidung wird in den Solidari-
so leicht in den Dienst der Herrschaft stellen.
tätsbewegungen bis heute nicht immer geDenn die Betonung kultureller Differenz ist ja
macht, was erstens zu Projektionen führt, die
nicht nur von Solidaritätsbewegten und Sozijede indigene Bevölkerungsgruppe für eine
alrevolutionärInnen aufgegriffen worden, sonpotenzielle indigene Bewegung halten. Ausdern auch von Herrschenden. Verschiedene
gehend von der positiven Konnotation, die
Ethnien wurden »von oben« konstruiert und
»pueblo« im Spanischen hat (damit sind immit unterschiedlicher Kleimer auch »die von undung markiert, um die eine
ten« gemeint), macht
gegen die andere Gruppe
dies zweitens dafür
»Die mexikanische
ausspielen zu können. Auch
blind, dass auch IndigeBevölkerung ist für den
können klar definierten Grupne reaktionär sein könKommunismus geeignet« pen bei Bedarf leichter benen (wie beispielsweise
stimmte Eigenschaften zugedie paramilitärischen
schrieben werden: Indigene
Gruppen, die in Chiagalten als faul, dreckig und unzuverlässig, und
pas gegen die EZLN agieren).1 Drittens wird
leicht übersehen, dass auch emanzipatoridiese zugeschriebenen Merkmale wiederum
sche indigene Bewegungen – wie andere sogalten als Rechtfertigung für ihre soziale und
ziale Bewegungen auch – aus heterogenen
politische Ausgrenzung.
sozialen Prozessen und Akteuren sowie aus
Allerdings bedarf das Verständnis von Kulverschiedenen politischen Aktions- und Komtur als Set von Symbolen, Ritualen und Prakmunikationsformen bestehen und daher
tiken auch einer Ergänzung – die nur Teile der
auch Brüche und Differenzen aufweisen. Die
Cultural Studies leisten. Und zwar müssen
Praktiken dieser Bewegungen können sich
Macht- und Herrschaftsmechanismen bei jeauf kulturelle Traditionen berufen, müssen es
der Auseinandersetzung mit Kultur berückaber nicht. Wer indigenen Bewegungen nur
sichtigt werden. Das bedeutet einerseits, dass
schamanische Rituale und keinen Cyberakties durchaus wirkmächtige Kräfte innerhalb eivismus via Internet zugesteht, bedient sich
ner Gesellschaft geben kann, die ein »die waschlicht rassistischer Klischees.
ren schon immer so« als festen Glauben aller
Vom theoretischen Standpunkt ist das Kulverankern können. Andererseits heißt das,
turverständnis, das auf einen Kanon von Werdass kulturelle Formen, wenn auch veränderten, Normen und Werken abzielt, längst pasbar, nicht beliebig wechsel- oder austauschsé. Kultur wird heute zumindest in fortschrittbar sind.
lichen Diskursen gemeinhin als Konglomerat
von Symbolen, Ritualen und Praktiken verGratwanderung zwischen
standen. Kultur wird demnach eher gemacht,
Identitäten
als dass man ihr angehört. Dieses in den Cult Wenn die Begriffe auch umstritten und
tural Studies geprägte Kulturverständnis bieselbst in akademischen Definitionen häufig
tet den Vorteil, dass es Kultur weder als unverunscharf sind, lassen sich doch grob folgende
änderlich oder homogen, noch als gut oder
Kategorien unterscheiden: Indigenität ist eine
schlecht beschreibt. Es lässt sich zudem nicht
ein politisches System gewählter VertreterInZentralamerika. Im Vergleich zu anderen innen. Bis dahin gab es bei den Ngöbe so gedigenen Gruppen lebten große Teile der
nannte Caciques, die einzelne FamilienverNgöbe-Bevölkerung lange Zeit relativ isoliert.
Der Weg nach Soloy ist beschwerlich. Drei
bände oder lokale Gruppen vertraten, jedoch
Stunden sitzt man im gelben Sammeltaxi,
keine formellen Positionen innehatten. Sie
das sich täglich mit den Unebenheiten der
gründeten ihren Einfluss auf verwandtschaftrustikalen Landstraße abmüht, um dorthin
liche Beziehungen und ihr soziales Prestige.
zu gelangen. Die mitfahrenden Ngöbe transSomit gibt es heute zwei Systeme politischer
portieren Reis, Zucker und andere NahrungsAutoritäten, die unterschiedlich legitimiert
mittel, die teilweise zugekauft werden. Das
werden. Dieser Dualismus führt zu Konflikten
meiste wird allerdings
und schwer durchschauselbst produziert, Masbaren Verhältnissen, die
Bellhaven Inc. spendiert
senkonsumgüter findet
oft zu Lasten der BevölkeNgöbe-Schulklassen einen
man nur vereinzelt.
rung gehen – so auch im
1997 verabschiedete
Besuch des Panama-Kanals Falle der Minenkonzesdas panamaische Parlasion. Laut den Minengegment ein Gesetz, mit
nerInnen unter den Ngödem die Comarca Ngöbe-Buglé zum indigebe wurde der Vertrag über die Schürfrechte
nen Territorium erklärt wurde. Ein eigenes
unterzeichnet, ohne vorher die betroffenen
Gebiet mit festgelegten Grenzen war ein hisGemeinden zu konsultieren. Auch die Cacitorischer Fortschritt für die Ngöbe und soll
ques wurden nicht befragt.
vor Landkäufen durch Außenstehende
Bellhaven Inc. verweist auf seine sozialen
Schutz bieten. Gleichzeitig schuf das Gesetz
Programme für die Ngöbe. Das Unternehiz3w
•
men nennt das »eine proaktive Umwelt- und
Sozialpolitik« und ein vorbildhaftes Beispiel
im sozialen Bereich. Als kurioses Highlight
der Programme spendiert Bellhaven NgöbeSchulklassen einen Besuch des Panama-Kanals. »Die Schüler, viele davon hatten noch
nie zuvor ihre Gemeinde verlassen, durften
den Panama-Kanal besuchen und Maßnahmen nachhaltiger Entwicklung lernen, die
den Kanal und das umliegende Ökosystem
regulieren«, so die Website des Unternehmens. Welchen Einfluss die Kupfermine auf
das Ökosystem in der Comarca hat und ob
die Ngöbe darüber mitbestimmen können,
interessiert den Konzern weniger.
t Christoph Campregher und Wolfgang
Zechner sind Diplomanden an der Univer-
sität Wien. Beide sind im Verein Pueblerino
aktiv und unterstützen Projekte der Ngöbe
(www.pueblerino.info).
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Form der Ethnizität (es gibt aber auch andere
xikoweiten und transnationalen Ausrichtung
wie z.B. »Mestizaje« oder »Whiteness«), und
– als indigener Aufstand. Bereits im Zuge der
Ethnizität ist eine kulturelle Form (neben anMobilisierungen für die Gedenkfeiern zum
deren wie z.B. Geschlecht). Als kulturelle Form
500. Jahrestag der Eroberung Lateinamerikas
ist Ethnizität auch eine Existenzweise, in die
war es zu verstärkten indigenistischen Orgadie Subjekte strukturell eingebunden sind.
nisationsformen gekommen. In der Ersten
Der Theorie von Louis Althusser entlehnt, beErklärung aus dem Lakandonischen Urwald,
zeichnet die Existenzweise eine Zugehörigdie die Zapatistas 1994 abgaben, heißt es
keit, die nicht allein auf Repression, aber auch
eindeutig »Wir sind das Ergebnis von 500
nicht auf bewusster Zustimmung, ÜbereinJahren Kampf«. (Damit war die EZLN schon
künften oder Verträgen beweiter als viele ihrer Fans,
ruht. Sie entsteht als Effekt von
denn hier wurde nicht beWer Indigenen nur
symbolischen Klassifikationen,
hauptet, wir sind dieselschamanische Rituale
ist aber dennoch ganz real.
ben wie vor 500 Jahren,
Diese Realität verunmögzugesteht, bedient sich sondern wir sind das molicht es, zwischen den ethnimentan existierende Rerassistischer Klischees
schen Zugehörigkeiten einsultat verschiedener Phafach hin- und herzuspringen.
sen, Strategien und TaktiDenn sowohl die Wirkmächtigkeit der Definiken, die jeder Kampf in seinem Verlauf ertionsmacht als auch die sozialen Verhältnisse
fährt.) »Kulturelle Identität« wurde hier als
und die psychologischen Dispositionen vereine Waffe und ein zu verwirklichender Anhindern diese Flexibilität: Nach dem neueren
spruch zugleich eingesetzt. Identität besteht
Kulturverständnis könnte eine indigene Frau
wie die Existenzweise immer aus Fremd- und
aus dem mexikanischen Süden theoretisch
Selbstzuschreibungen. Dass beide kaum geihrem Indigen-Sein entgehen, indem sie in
trennt werden können, darin besteht das Didie Stadt zieht und sich perfekte Spanischlemma jeder Identitätspolitik: Man setzt im
kenntnisse aneignet. Familiäre und gemeinKampf gegen Diskriminierungen auf Eigenschaftliche Eingebundenheiten sowie manschaften und / oder Merkmale, wegen derer
gelnde finanzielle Ressourcen und nicht erman diskriminiert wird.
lerntes Selbstbewusstsein werden das aber in
der Regel so gründlich verhindern, dass selbst
Den Mais verteidigen
der Gedanke daran nicht aufkommen kann. In
t Dennoch kann der Rückbezug auf kulturelder Regel.
le Identitäten, wie der antirassistische TheoreUm diese Regeln zu (durch)brechen, tratiker Stuart Hall schrieb, eine »machtvolle und
ten immer wieder sozialrevolutionäre Bewekreative Kraft für die sich entwickelnden Regungen an. Dabei ist der Bezug auf indigene
präsentationsformen« der Marginalisierten
Kultur immer eine Gratwanderung, die sozisein. Einerseits kann eine Diskriminierung, die
ale Gleichheit und kulturelle Differenz zu vereine bestimmte Gruppe von Menschen als
söhnen versucht. Identitätspolitik steht dieser
Gruppe erfährt, auch sinnvoll bekämpft
Versöhnung eigentlich im Wege, denn sie bewerden, wenn sich diese Gruppe als Gruppe
tont ja kulturelle Unterschiede – und schreibt
formiert. Das kann, muss aber durchaus nicht
sie damit tendenziell fest. Sie kann aber denin der Einrichtung einer kulturellen Nische mit
noch eine vorübergehende Waffe im Kampf
rein partikularen Ansprüchen münden. Es
um soziale Gleichheit sein, weil sie den Grund
kann jedoch ebenso universelle Forderungen
der Ungleichheit zum Ausgangspunkt ihres
generieren.
Kampfes macht. Beim Bezug auf Indigenität
So betrifft beispielsweise der Anspruch auf
kommen neben den bereits beschriebenen
Autonomie, den einige indigene soziale BeFallstricken also noch die der Identitätspolitik
wegungen im Süden Mexikos – mit Bezug auf
hinzu.
ihre Tradition als indigene BevölkerungsgrupIdentitätspolitik ist keine essenzielle Eigenpe – formulieren, auch das Eigentumsrecht
schaft irgendeiner Gruppe, sondern ergibt
ganz allgemein. Denn der angestrebte kolleksich wie jede politische Strategie aus betive Landbesitz steht sowohl den Interessen
stimmten Situationen und unterliegt gewisder lokalen Großgrundbesitzer als auch desen Konjunkturen. Die Indigenen wurden
nen des nationalen Wirtschaftsverbandes entvon der Mexikanischen Revolution bis in die
gegen, der den mexikanischen Süden für das
1970er Jahre häufig in erster Linie als Bauern
Infrastrukturprojekt Plan Puebla Panama nutund Bäuerinnen wahrgenommen und orgazen will. Nicht ohne Grund war der Artikel 27
nisierten sich auch oft als solche. Erst 1974
der mexikanischen Verfassung, der die gefand unter Mitwirkung des Befreiungstheolomeinschaftliche Nutzung von Land garantiergen Bischof Samuel Ruiz ein großer indigener
te, 1992 im Zuge der Verhandlung zum NordKongress in San Cristóbal de las Casas (Chiaamerikanischen Freihandelsabkommen gepas) statt, der die Forderung nach Autonostrichen worden. Eine vermeintlich folkloristimie formulierte, an die die EZLN zwanzig
sche Parole, wie die von einigen indigenen
Jahre später anknüpfte.
Organisationen 2004 in Oaxaca vorgebrachNicht nur der Aufstand der Zapatistas forte, »den Mais verteidigen« zu wollen, kann so
mierte sich – neben seiner von Beginn an meiz3w
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durchaus sozialen Sprengstoff beinhalten: Sie
bezieht sich auf die Praxis des Anbaus, richtet
sich konkret gegen den Import genveränderten Saatguts und stellt die Landfrage.
Die Landfrage war auch eines der Hauptanliegen der magonistischen Bewegung. In
einem Manifest von 1911 formulieren Magón und andere den Anspruch, »das Land
und die Arbeitsmittel zu enteignen und der
Bevölkerung zu übergeben.« Hier galten jene
Indigenen als Vorbilder, die – als bäuerliche
soziale Bewegung – vor dem Hintergrund
extrem ungleicher Landverteilung Ländereien enteignet hatten. Diese Enteignungen
galten der Bewegung, die die später vom Zapatismus übernommene Parole »Land und
Freiheit« prägte, als »grundlegender Schritt«
für wirkliche Befreiung.
Als Banner mit weißer Schrift auf rotem
Grund findet sich die Parole auch im Zentrum
von Diego Riveras Nationalpalast-Gemälde.
Eine Bewegung, die sich auf Indigenität als
kulturelle Form beruft, kann also durchaus
ein befreiendes Moment mit sich bringen.
Anmerkung:
1 Dass es diese positive Konnotation beim deutschen Wort »Volk« nicht gibt, ist ein Grund mehr
dafür, nicht von »indigenen Völkern« zu sprechen. Als gäbe es sie, wurde beispielsweise im
Rahmen von »Enlazando Alternativas 2« (das
Treffen der sozialen Bewegungen anlässlich des
Gipfeltreffens von Staatschefs aus EU und Lateinamerika/ Karibik 2006 in Wien) ein »Tribunal der
Völker« abgehalten. »Die Völker« den »Regierenden« gegenüber zu stellen, zeugt nicht nur
von einem simplifizierenden Politikmodell, das
Einverständnis und privilegierte Teilhabe nicht
mitdenkt. Im deutschen Sprachraum bezeugt es
zudem Geschichtsvergessenheit, wurde doch
nirgends so deutlich wie hier, welch vernichtende Folgen die Vorstellung von der »Einheit des
Volkes« haben kann.
Literatur:
– Benjamín Maldonado Alvarado (2000): El indio y
lo indio en el anarquismo magonista, in: Cuardernos del Sur, 6. Jg., Nr. 15, Juni 2000, Oaxaca/
Mexiko, S. 115-137.
– Stuart Hall (1994): Kulturelle Identität und Diaspora, in: ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg, S. 26-43.
– Ricardo Flores Magón (2005): Tierra y Libertad,
hg. von der Gruppe B.A.S.T.A., Münster.
– Sergio Sarmiento S. (2001): El movimiento indio
mexicano y la reforma del Estado, in: Cuardernos
del Sur, 7. Jg., Nr. 16, März 2001, Oaxaca/Mexiko,
S. 65-96.
– Rubén Trejo (2006): Magonismus. Utopie und
Praxis in der Mexikanischen Revolution 19101913, Lich/ Hessen.
t Jens Kastner ist Kunsthistoriker und
Soziologe und lebt in Wien und Münster.
Zuletzt erschien von ihm der gemeinsam mit
Max Hinderer herausgegebene Band »Pok ta
Pok. Aneignung – Macht – Kunst«, Wien
2007 (Verlag Turia + Kant).
Foto: O. Kaltmeier
Vom Nutzen der Ethnizität
Indigene Identitätspolitik und Neoliberalismus in den Anden
Es ist kein Zufall, dass die Hochkonjunktur von Indigenität in der internationalen Debatte parallel verläuft zur Konjunkturkurve neoliberaler Politik. Denn
bestimmte Formen von indigener Selbstorganisation passen durchaus zu neoliberalen Politikformen. Zugleich treffen neoliberale Projekte aber auch auf
den Widerstand von Indigenen. Am Beispiel des Andenraums lässt sich dieser
Widerspruch besonders gut aufzeigen.
von O l a f K a l t m e i e r
t In Ecuador und Bolivien, aber auch in
Chile und Kolumbien waren es vor allem indigene Bewegungen, die eine radikale Kritik
an neoliberalen Politiken formulierten und
ein massives Protestpotential entfalteten. Die
Protest- und Demokratisierungsbewegungen, die Regierungen wie die von Rafael
Correa in Ecuador und vor allem von Evo
Morales in Bolivien an die Staatsmacht brachten, wären ohne die indigenen Mobilisierungen undenkbar.
Inwieweit es bei diesen antineoliberalen
Protesten zu einem vermehrten strategischen
Gebrauch von (politischer) Ethnizität kam,
welche vielfältigen Dimensionen diese aufweist und wo sie paradoxerweise sogar kompatibel ist mit neoliberaler Politik, kann exemplarisch am Andenraum nachgezeichnet
werden. Denn die dortigen Entwicklungen
sind nahezu paradigmatisch.
Postkoloniale Bürden
t In der Kolonialzeit zeichnete sich die Verwaltung der indigenen Bevölkerung im Andenraum durch ein auf Ethnizität beruhendes
System der Segregation aus. Dieses beinhaltete den Fortbestand indigener kultureller
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Elemente und politischer Strukturen. In der
republikanischen Phase nach der Unabhängigkeit entwarfen vor allem liberale Eliten an
europäischen Vorstellungen angelehnte Modernisierungsprogramme, in deren Folge die
‚Fremdheit’ des Indigenen durch Vertreibung
und Zurückdrängung bis hin zum Genozid
sowie vor allem durch Assimilation gebannt
werden sollte. Identitätspolitisch bedeutete
dies eine massive Politik des Whitening, von
der die Andenländer bis heute geprägt sind.
Im Kontext massiver Dominanz des
»Weißseins«, dem Ausschluss indigener Bevölkerung aus dem gesellschaftlichen Leben
und der Fortdauer kolonialer Langzeitstrukturen setzte Mitte des 20. Jahrhunderts aus
den indigenen Gemeinschaften heraus eine
Bewegung ein, die sich explizit als indigen
definierte. Mittels eines strategischen Essentialismus setzte sie Indigenität gezielt als
Ressource im identitätspolitischen Feld ein –
vor allem um Respekt, Entwicklung, aber
auch Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen einzufordern. Damit begann eine bis
dato unbekannte Politisierung des Ethni-
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schen, bei der gerade auch die bislang hegemonialen weißen Repräsentationsverhältnisse
in Frage gestellt wurden.
Seit den 1990er Jahren hat Indigenität
sogar auf transnationaler Ebene Konjunktur.
So führte nicht zuletzt die 500-Jahre-Conquista-Kampagne anlässlich des Jahrestages
der Eroberung der Amerikas zur länderübergreifenden Sichtbarkeit und Medialisierung
indigener Bevölkerung. Diese trug dazu bei,
dass die UNO 1992 zum »Jahr der indigenen
Völker« erklärte. Zudem begann 1994 die
UN-Dekade für indigene Völker, die 2004 um
eine weitere Dekade verlängert wurde.
Verstärkt wurde die transnationale Bedeutung von Indigenität durch die Nachhaltigkeitsdebatte im Umfeld der UN-Konferenz für
Umwelt und Entwicklung in Rio (1992) sowie
die Verschränkung von indigenem und ökologischem Diskurs. Gerade die Forderungen
nach kultureller Anerkennung, Kollektivrechten und ökologischer Nachhaltigkeit fielen
in den westlichen Ländern auf einen fruchtbaren Resonanzboden. Durch Selbst- und
Fremdzuschreibungen entstand das Bild vom
»ökologischen Indianer«, das bis in Weltbankprogramme Einzug hielt.
den 1990er Jahren als eine bruchlose Erfolgsgeschichte gesehen werden: Nach Jahrhunderte langer Unterdrückung ist nun die konstitutionelle Anerkennung indigener Gruppen erfolgt, die Exklusion ist partiell überwunden, die Partizipationschancen am
gesellschaftlichen Leben steigen und die unzweifelhafte Fortdauer rassistischer Diskriminierung wird als überwindbar angesehen.
ten zugeschnittene Produkte zu entwerfen.
Die Vermarktung von World Music, Ethnound Öko-Tourismus, ethnic food und ethnic
fashion demonstriert, dass Indigenität ein kulturelles Kapital ist, das durchaus in ökonomisches Kapital konvertierbar ist.
Eine zweite Form des Ineinandergeifens
von multikultureller Anerkennungspolitik
und neoliberalen Regierungstechniken lässt
Anerkennung, nicht Umverteilung
8
t Ohne im Detail auf die moralphilosophische Debatte »Anerkennung versus Umverteilung« eingehen zu wollen, ist doch auffällig, dass die indigenen Proteste von Medien,
transnationalen Organisationen und NGOs
sowie der akademischen Welt hauptsächlich
auf ihre Anerkennungsdimension reduziert
wurden, während die nicht ethnisch begründete Umverteilungsdimension kaum berücksichtigt wurde. Nichtregierungsorganisationen und suprastaatliche Institutionen von
der UNO über die ILO bis hin zur Weltbank
setzten sich mit jeweils unterschiedlichen
Schwerpunkten vor allem für die Kollektivrechte indigener Völker wie Territorialität,
interkulturelle und bilinguale Bildung, Anerkennung von Gewohnheitsrechten, Ethnomedizin, etc. ein.
Dieser cultural turn korrespondiert mit einer Trendwende in der interamerikanischen
Bewegungsforschung, die ihre Forschungsperspektive vor allem auf widerständige Alltagskulturen, den Kampf um Rechte und auf
citizenship richtete. Fragen gesellschaftlicher
Umverteilungskämpfe und sozio-ökonomischer Ausbeutung drohten dabei in den
Hintergrund zu geraten. Im Kontext des Endes der Diktaturen und autoritären Regime
konnten aber immerhin Bürgerrechte und
kollektive Sonderrechte der indigenen Gruppen und der afroamerikanischen Bevölkerung in den Demokratisierungsprozessen
thematisiert und vielfach sogar in die Verfassungen eingeschrieben werden.
In einer optimistischen Lesart könnte der
Anerkennungskampf indigener Gruppen in
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Kein alter Hut: Kollektive Entscheidungsfindung im Plenum
Zudem haben internationale Entwicklungsorganisationen die indigene Bevölkerung als
Zielgruppe identifiziert und Versuche initiiert,
mit partizipatorisch angelegten, ökologisch
unbedenklichen Projekten »Entwicklung mit
Identität« zu fördern.
Regieren durch Gemeinschaft
t Dieser euphorischen Betrachtungsweise
ist entgegen zu halten, dass die multikulturelle Anerkennungspolitik keineswegs zufällig
parallel zur Durchsetzung neoliberaler Regierungstechniken in den 1990er erfolgte. Dass
Neoliberalismus und begrenzte kulturelle Anerkennung (Multikulturalismus) durchaus
kompatibel sind, zeigt sich erstens bei der
Kommodifizierung von Kultur, also im Zugriff
auf das kulturelle Kapital indigener Bevölkerungen. Zumindest auf der Erscheinungsebene braucht der postmoderne, postfordistische Kapitalismus kulturelle Vielfalt, um auf
spezifische Lebensstile und Konsum-Identitä-
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sich in Bezug auf die indigenen Bevölkerungen Lateinamerikas am Konzept des neo-indigenismo herausarbeiten. Hierbei handelt es
sich um eine neue Form des Regierens indigener Bevölkerung. In ihr erfolgt eine partielle Anerkennung kultureller Rechte, Bevölkerungsgruppen werden – zum Teil mit essentialistischen Konzepten – ethnisiert und
entsprechende Subjektpositionen erzeugt,
Programme werden auf Zielgruppen und
Räume zugeschnitten. Der Staat nimmt in
dieser Regierungsform eine moderierende
statt eine lenkende Stellung ein und bezieht
damit andere, nichtstaatliche Akteure in die
Regierungspraktiken ein.
Ein Paradebeispiel für das Ineinandergreifen von neoliberalen und multikulturellen Regierungstechniken ist das Ley de Participación
Popular in Bolivien, das im Kontext eines neoliberalen Strukturanpassungsprogramms der
Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada
Mitte der 1990er Jahre durchgesetzt wurde.
Dabei gelang es Sánchez de Lozada, eine
Indigenität
reformorientierte Allianz mit dem liberalen
Unternehmertum, links-liberalen Intellektuellen, dem NGO-Bereich, dem Movimiento
Bolivia Libre und dem Movimiento Revolucionario Tupaj Katari de Liberación zu schmieden.
Letztere stellt einen entscheidenden Sektor
der Indígena-Bewegung dar und wurde vertreten durch den Aymara Víctor Hugo Cárdenas, der Vizepräsident des Bündnisses wurde.
Foto: J. Holst / version
Das Gesetz der Participación Popular war integraler Bestandteil einer neoliberalen Strukturreform, zu der eine Bildungsreform mit
Anerkennung bilingualen Unterrichts sowie
die Privatisierung von Staatsunternehmen
(Kapitalisierung genannt) gehörten. Zur Förderung der Partizipation konnten sich Nachbarschaftsvereinigungen, indigene Gruppen,
bäuerliche comunidades, ländliche Gewerkschaften etc. als territoriale Basisorganisationen (OTB) registrieren lassen, vor allem um
auf die Erstellung von zumeist kommunalen
Entwicklungsplänen Einfluss zu nehmen. Mit
dieser Betonung von lokalen Gemeinschaften, Dezentralisierung und Empowerment
wurde eine Brücke gebaut, so dass sich Teile
der indigenen Bewegung und Neoliberale
treffen konnten.
In Ecuador dagegen setzte angesichts des
massiven Protestpotentials der IndígenaBewegung das von der Weltbank konzipierte
Pilot-Projekt PRODEPINE (Proyecto de desarrollo de los pueblos indígenas y negros del Ecua-
dor, 1998 bis 2002) an den regionalen Orgadass diese »keine Entwicklung der indigenen
nisationen der Indígena-Bewegung an, um
Völker« voran gebracht hätte und es sich aldiese zu professionalisieren und zur eigenlein um »bevormundende Politiken« handele,
verantwortlichen Konzeption und Durchfühum »Kontrollmechanismen der Indígena-Bewegung zu implementieren«. Es ginge der
rung von Entwicklungsprojekten anzuregen.
Weltbank um eine »Entideologisierung« der
Wie kaum ein anderes Weltbank-Programm
Bewegung und die »Kooptation« ihrer Fühsetzte PRODEPINE auf die Stärkung lokaler
rungspersönlichkeiten.
Organisationen, auf Partizipation und allgeNeben der mit diesem Beispiel angedeumein auf Sozialkapital als Motor für das Emteten Strategie der Ablehnung neo-indigepowerment der Armen. Aus dieser Perspektinistischer Regierungstechniken sind vor alve wurde gerade in den Organisationen der
lem Widerständigkeiten und »Gegen-Verhalindigenen Bevölkerung viel Potenzial verortensformen« bis hin zur »Verhaltensrevolte«
tet, das es in Entwicklungsbahnen zu lenken
(Foucault) zu betonen, die aus den neo-ingalt. Der Anthropologe Víctor Bretón kritidigenistischen Regierungstechniken selber
siert, dass dieses Programm zur »Ethnophaentstehen. So hat die Participación Popular in
gie« führt, da es von Indigenen geleitet und
Bolivien den notwendigen Freiraum geschafausgeführt wird, aber dennoch den Anliegen
fen, der den Aufstieg neuer Organisationen
der indigenen sozialen Bewegungen entermöglichte, wie der von
gegenläuft und diese
Evo Morales gegründeten
letztlich entpolitisiert.
Selbst die Weltbank
Partei MAS (Bewegung
Diese beiden Beispiele aus Ecuador und Bolisetzt sich für die Kollektiv- zum Sozialismus) und der
von Felipe Quispe gegrünvien, die um viele anderechte Indigener ein
deten indianistischen More Programme in Lateinvimiento Indígena Pachakuamerika zu ergänzen
tik (MIP). Durch die Verlagerung politischen
wären, zielen auf die »Inwertsetzung« des
Gewichts auf die bislang ausgeschlossenen
»sozialen Kapitals« ab, das in indigenen Geländlichen Gebiete hat sich die »Topographie
meinschaftsstrukturen vermutet wird. Diese
der Macht« vom Nationalen, das traditionell
Organisationsformen sollen in Räumen, die
»weiß« dominiert ist, zum Lokalen, das eher
staatlich nicht durchdrungen sind, eigenindigen dominiert ist, verschoben. Bei den
verantwortlich Entwicklung und Verwaltung
antineoliberalen Protesten 2003 im indigeleisten. Damit soll das massive, großteils antinen Stadtteil von La Paz, El Alto, waren die in
neoliberale Protestpotential gebannt werdie Participación Popular eingebundenen
den. Nikolas Rose, ein britischer Vertreter der
Governmentality Studies, hat dies griffig
Nachbarschaftsvereinigungen die zentralen
»Regieren durch Gemeinschaft« genannt.
Akteure. So bilanziert die Bolivien-Kennerin
Nancy Postero treffend: »Das Ergebnis war eine neue Form des Protagonismus, die die zu
Ambivalenzen der Autonomie
Grunde liegenden Philosophien des Neolibet Eine Vielzahl vor allem anthropologischer
ralismus gleichzeitig inkorporiert und herausArbeiten hebt die besonderen Organisationsfordert.«
formen indigener Gruppen mit Konzepten
wie »gehorchendes Befehlen«, »kommunitäSubalterne Perspektiven
re Demokratie« oder »indigenes Gewohnt Ohne Zweifel hat der Kampf um Respekt
heitsrecht« als Alternative zum rassistischen,
und Anerkennung der indigenen Gruppen
korrupten Zentralstaat hervor. Was immer
zur Demokratisierung der lateinamerikanivon diesen Konzepten zu halten ist – beim
schen Gesellschaften beigetragen. Ein andeAufeinandertreffen von indigenen Gemeinrer für linke Politik zentraler Gesichtspunkt
schaften und neoliberalen Programmen
ist, dass indigene Bewegungen lateinamerikommt es zu vielfältigen, lokal unterschiedkaweit mit zu den massivsten und bestorgalichen konfliktreichen Aushandlungen. Diese
nisierten Kritikerinnen neoliberaler Politik
können von Kooptation und Vereinnahmung
gehören. Mit der Forderung nach der Umverüber verdeckte oder offene Ablehnung bis hin
teilung gesellschaftlichen Reichtums, nach
zu neuen widerständigen Formen führen.
Absetzung neoliberaler und korrupter RegieDabei sind auf Autonomie basierende neorungen, mit den Protesten gegen Freihanliberale Regierungstechniken mangels der
delsabkommen und die Interventionspolitik
Verfügung über Zwangsmechanismen relativ
der USA vertreten indigene Belange, die weit
schwer zu kontrollieren. In Ecuador wird deutüber ethnisierte Anliegen hinausweisen.
lich, wie sehr es den auf Eigenverantwortung
Die Durchsetzungskraft von allgemeinen
und Selbstführung setzenden Projekten von
subalternen Anliegen durch indigene BewePRODEPINE an Zwangsmechanismen zur
gungen ist allerdings regional unterschiedDurchsetzung mangelt. Der ecuadorianische
lich und von verschiedenen Faktoren abhänDachverband indigener Organisationen COgig. Dazu zählen das demographische ArguNAIE konnte somit 2005 die Entscheidung
ment des relativen Anteils indigener Bevölketreffen, eine geplante Verlängerung von PROrung an der Gesamtbevölkerung, deren
DEPINE abzulehnen – mit der Begründung,
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Indigenität
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geographische Verteilung und die GeschichAndenhochland ist eine scharfe Trennungslite der interethnischen Beziehungen. Als Panie zwischen Ethnie und Klasse kaum zu zieradebeispiel für letzteres gilt der Gegensatz
hen. Indigene bezeichnen sich dort als Indígenas und als Campesin@s (Bauern und Bäuzwischen Hochland- und Tieflandvölkern.
erinnen). Bereits in den 1970ern prägten SoWährend erstere früh vor allem über das
ziologInnen für diese Verschränkung von
Hacienda-Regime und den Bergbau in kapiEthnie und Klasse den Begriff der »ethnotalistische Ausbeutungssysteme integriert
class«. Diese enge Verknüpfung spiegelt sich
wurden und Kontakte zur Arbeiter- und
auch in den politischen Bewegungen wider.
Bauernbewegung entwickelten, sind die
So bildeten sich Anfang des 20. Jahrhunderts
Tieflandindígenas später mit Folgen kapitaim Andenraum interethnische Allianzen zwilistischer Modernisierung konfrontiert worschen indigenen Gemeinschaften, vorwieden. Zudem sind zwischen Hochland- und
gend des Hochlandes, und sozialistischen
Tieflandindígenas unterschiedliche politischund kommunistischen Bewegungen und Parkulturelle Logiken festzustellen. Während die
teien, die vor allem auf das Endes des Gamoandinen Hochland-Indígenas in das hierarnalismo (Hacienda-Wirtschaft) abzielten und
chisch-organisierte Inka-Reich integriert
Agrarreformen forderten.
waren, lebten Tiefland-Indígenas, eher in Kaziken-Gesellschaften in denen herrschaftsverhindernde Mechansimen zu finden sind.
Unverbrauchtes Auftreten ...
Dies mag ein Faktor sein, weswegen die Ant Ein zentraler konjunktureller Aspekt für
denbewohner sich eher an den Staat richten,
den Aufstieg indigener Bewegungen und dewährend die »Staatsfeinde« (Clastres) im
ren Bedeutung auch für nichtindigene subalTiefland auf Autonomie bedacht sind. Heuterne Sektoren ist eng mit dem Einfluss des
te optieren Hochlandindianer tendenziell für
Neoliberalismus auf das identitätspolitische
populare Positionen, während die TieflandFeld verbunden. In vielen Ländern kam es zu
bevölkerung eher auf Modelle territorialer
einer massiven Deindustrialisierung und zur
Autonomie setzt.
Zerschlagung gewerkschaftlicher klassenOb Indigene anti-hegemoniale Strategien
basierter Organisationsformen, wodurch –
der ethnischen Gruppenfestigung wählen
Hand in Hand mit Verarmungsprozessen –
oder aber gegen-hegemoniale Strategien der
die Arbeiterklasse als soziostrukturelle KategoAkkumulation politischer Macht durch den
rie fragmentierte. In diesem Kontext und im
Einbezug nicht-indigener subalterner SektoSog des Niedergangs des
ren, ist letztlich vor alOstblocks gerieten sozialislem abhängig von den
Heute ist in Lateinamerika tische und kommunistische
jeweiligen gesellschaft»niemals mehr ein Land
Parteien sowie nationale
lichen KräfteverhältnisBefreiungsbewegungen in
sen und Rahmenbedinohne Indígenas« denkbar
eine Repräsentationskrise.
gungen. In Kolumbien
Breite, verarmte Bevölkebeförderte
beispielsrungsgruppen waren im politischen Feld
weise die Verfassung von 1990 die politische
nicht mehr repräsentiert. In dieses identitätsTeilhabe indigener Völker. Wo es zu einer
politische Vakuum stießen die indigenen BeSchwächung der indigenen Bewegung
wegungen, die mit ihrem Mix aus ethnischen
kommt, überwiegen meist Rückzugsstrateund popularen Forderungen sowie einem ungien auf die ethnischen Belange.
verbrauchten »authentischen« Auftreten geEinzelne KritikerInnen, wie zuletzt León
rade auch die Sympathien urbaner nichtindiZamosc, vertreten die These, dass populare
gener Sektoren gewannen.
Positionen von den indigenen Bewegungen
So ist allgemein zu beobachten, wie die
nur taktisch und instrumentell verwendet
popular-indigenen Bewegungen die Stärwerden, während ihre Strategie allein in
kung im Lokalen dazu benutzen, um über
Richtung starker Rechte für die indigene Inneu gegründete politische Parteien auf den
Group zielt. Die Einbeziehung popularer Annationalen politischen Raum einzuwirken.
liegen in die »indigene« Agenda solle ledigDies gilt für die 1996 in Ecuador von der Inlich mehr Verhandlungsmacht schaffen. Es
dígena-Bewegung gegründete politische
handele sich um eine »Geiselnahme« popuBewegung Movimiento de Unidad Plurinaciolarer Bewegungen, um an Ressourcen für die
nal Pachakutik – Nuevo País oder für die Alianindigene Bevölkerung und an neue Ämter im
za Social Indígena in Kolumbien, obwohl dort
Staatsapparat zu kommen. Andere, oft marder Anteil der indigenen Bevölkerung an der
xistisch orientierte AktivistInnen, sehen in der
Gesamtbevölkerung bei nur zwei Prozent
Ethnizität/ Indigenität einen Verblendungsliegt. Am deutlichsten ist der Erfolg der polizusammenhang, der die wahren zu Grunde
tischen Einflussnahme am Beispiel des Moviliegenden Klassenverhältnisse verschleiere.
miento al Socialismo MAS in Bolivien zu sehen,
Sicherlich gibt es in jedem der genannten
die 2005 mit Evo Morales die RegierungsLänder Beispiele für die Instrumentalisierung
macht übernehmen konnte. Ohne Zweifel ist
subalterner Anliegen durch Indigene, aber
der Wahlerfolg in all diesen Fällen in hohem
die Beziehung zwischen Ethnie und Klasse ist
Maße an lokale Organisationsnetze gebunin den Anden weitaus komplexer. Gerade im
iz3w
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den, die ihre Basis vor allem in den ländlichen
indigenen Gemeinschaften haben.
... und gegenhegemoniale Projekte
t Auf der Ereignisebene lässt sich festhalten,
dass indigene und populare Bewegungen in
Lateinamerika während der letzten Jahre an
konkreten Krisen ansetzen. In Bolivien waren
dies etwa der »Krieg um Wasser« und der
»Krieg um Gas«, in Ecuador der Sturz korrupter und anti-popularer Präsidenten, der Protest gegen das anstehende Freihandelsabkommen mit den USA und der US-amerikanischen Erdölgesellschaft Occidental. Diese Ereignisse fügen sich in ihrer Mehrheit in eine
konjunkturelle Krise des neoliberalen Modells
ein. Die Hegemonie des Neoliberalismus ist
nach seinem Triumphalismus in den 1990ern
nicht gebrochen, aber sie befindet sich in einer tiefen Krise. Die aktuellen Proteste sind
Ausdruck der Krise und gleichzeitig Versuche,
gegenhegemoniale Projekte zu lancieren. Dabei ist gerade auch in den indigenen Bewegungen in den Anden eine starke Orientierung an dem politischen Prozess in Venezuela um Hugo Chávez festzustellen.
Auf einer tieferen historischen Ebene ist
ein Bruch mit dem kolonialen longue durée,
das heißt der Fortdauer kolonialer Dispositionen des Rassismus und des Ausschlusses der
indigenen Bevölkerung, festzustellen. Diese
kolonialen Dispositionen bleiben zwar in ihren Grundkoordinaten in der bisherigen postkolonialen Phase weitgehend erhalten, aber
heute ist gemäß eines Demospruchs der CONAIE »niemals mehr ein Land ohne Indígenas« denkbar. Offen ist allerdings, inwieweit
die Prozesse über ethnische Anerkennung
hinaus eine reale Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der indigenen (und
allgemein subalternen) Bevölkerung bewirken können.
Literatur:
– Víctor Bretón Solo de Zaldívar (2005): Capital
social y etnodesarrollo en los Andes. Quito.
– Christian Büschges, Guillermo Bustos, Olaf Kaltmeier (Hg.) (2007): Etnicidad y poder en los países
andinos. Quito.
– Álvaro García Linera (2006): State Crisis and Popular Power. In: New Left Review, Nr. 37, S.73-85.
– Nancy Postero (2006): Now we are Citizens. Indigenous Politics in Postmulticultural Bolivia. Stanford.
– Nancy Postero, Leon Zamosc, (Hg.) (2005): La Lucha por los Derechos Indígenas en América Latina.
Quito
t Olaf Kaltmeier ist Soziologe und Redaktionsmitglied der Zeitschrift PERIPHERIE. Er
arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der
Uni Bielefeld an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, zudem engagiert er sich dort im Masterstudiengang der InterAmerikanischen Studien.
Foto: iz3w-Archiv
»Das Globale verliert sich im Nichts«
Das Ständige Forum für indigene Angelegenheiten bei der UNO
Es ist ein Klischee, dass über indigene Angelegenheiten nur in Dorfräten debattiert wird. Im Gegenteil, Indigene nutzen selbstbewusst die Möglichkeiten
des UNO-Systems, um ihre Interessen zu artikulieren. Dabei stoßen sie jedoch
immer wieder auch auf die Grenzen politischer Partizipation.
von M a r e n R ö ß l e r
t New York, UN-Hauptsitz: Die 23-jährige
Juana aus Salazaca, Ecuador, nimmt zum ersten Mal an einer Sitzung des Ständigen Forums für indigene Angelegenheiten teil. Sie
ist mit Hilfe eines Stipendiums nach New York
gereist, um über die Situation ihrer Bevölkerungsgruppe zu berichten. Ihr gefällt das
Treffen, denn sie hat sich trotz Sprachproblemen mit zwei Massai-Frauen aus Kenia angefreundet. Juana findet es spannend, Menschen aus der ganzen Welt kennen zu lernen.
Sie bedauert jedoch, nicht mit den anwesenden UN-MitarbeiterInnen und RegierungsvertreterInnen ins Gespräch zu kommen.
Jedes Jahr im Mai versammeln sich mehr
als tausend RepräsentantInnen indigener Verbände, RegierungsvertreterInnen, MitarbeiterInnen von Entwicklungsorganisationen
und WissenschaftlerInnen beim »Gipfeltreffen indigener Völker« in New York. Zwei Wochen lang diskutieren sie in den Sitzungen
des Ständigen Forums für indigene Angele-
des Ausschlusses und der Diskriminierung;
freiwillige Aufrechterhaltung kultureller Differenz; Selbstidentifizierung als indigen. Da
die Definition durch das letztgenannte subjektive Kriterium sehr weit gefasst ist, wird sie
bis heute kontrovers diskutiert. Viele Regierungen lehnen nach wie vor die Verwendung
des Begriffs »indigenes Volk« zur Bezeichnung bestimmter marginalisierter Gruppen
genheiten die Probleme und Forderungen
in ihrem Land ab. So blockierte 2006 die Reder über 300 Millionen Indigenen. Dies sind
gierung Namibias erfolgreich die Abstimetwa vier Prozent der Weltbevölkerung, die
mung zur Verabschiedung der »Erklärung der
auf rund 70 Staaten verteilt leben.
Rechte indigener Völker« durch die UN-Generalversammlung (siehe Kasten S. 12).
Den Worten des ehemaligen UN-GeneralZuhause bei der UNO
sekretärs Kofi Annan zufolge, der die erste Sitt Das Ständige Forum gehört zum Wirtzung des Ständigen Forums im Jahr 2002 erschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen
öffnete, haben die Indigenen bei den Verein(ECOSOC) und gilt als Meilenstein in der Geten Nationen eine Heimat gefunden und sind
schichte indigener Repräsen»zuhause angekomtation: Zum ersten Mal könmen«. »Indigene Völ»Wir nehmen gar nicht
nen indigene Gruppen ihre
ker« gelten zwar nicht
an der Ausarbeitung der
Interessen in einem eigenen
als eigenständige MitForum auf hoher Ebene vor
glieder der UNO, sonThemen und Regeln teil«
der UNO vertreten. Um von
dern als Teil der Bevölder UNO als »indigenes
kerung ihrer MitgliedsVolk« anerkannt zu werden, müssen jedoch
länder. Und als zwischenstaatliche Organisafolgende Kriterien in ihrer Mehrzahl erfüllt
tion gewährt die UNO zivilgesellschaftlichen
werden: Existenz in einem bestimmten TerriAkteuren normalerweise nur Zutritt über
torium vor Invasion oder Kolonisierung; ErNichtregierungsorganisationen (NGOs), die
fahrung der Unterwerfung, Marginalisierung,
einen UN-Beraterstatus am ECOSOC besitiz3w
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lichen Einrichtungen. Das Anmeldeverfahren
ist unbürokratisch und kostenlos. Als einzige,
manchmal für indigene RepräsentantInnen
allerdings unpassierbare Hürde, erweist sich
der Erhalt eines Visums für die USA.
Herzstück indigener Politik
t Jedes Jahr steht ein anderes Thema im
Mittelpunkt der Sitzungen des Ständigen Forums. 2007 war dies »Territorium, Land und
natürliche Ressourcen«. Schon immer bilden
die Forderungen nach Anerkennung indigenen Territoriums sowie nach selbstbestimmtem Umgang mit Bodenschätzen das Herzstück indigener Politik. Dieses Thema zum
Schwerpunkt einer Sitzung zu wählen, entsprach somit dem Wunsch vieler TeilnehmerInnen. 2005 und 2006 standen hingegen
Foto: M. Rößler
zen. Das Ständige Forum für indigene Angelegenheiten zeichnet sich aber durch einige
Besonderheiten aus, die darauf hinweisen,
dass Indigene bei den Vereinten Nationen zunehmend als eigenständige politische Subjekte behandelt werden.
Sowohl durch die personelle Zusammensetzung des Ständigen Forums als auch
durch nahezu uneingeschränkte Teilnahmemöglichkeiten an den Sitzungen wurde das
Zutrittsrecht zur UNO teilweise reformiert.
So besteht das Forum neben acht von Regierungen benannten Fachleuten aus acht unabhängigen indigenen ExpertInnen, die direkt von indigenen Organisationen nominiert
werden. Teilnehmen an den Sitzungen können nicht nur Delegierte von Regierungen
und UN-Organisationen, sondern auch VertreterInnen von NGOs und wissenschaft-
die Millenniums-Entwicklungsziele der UNO
im Fokus, Indigene hatten bis dato keine Erwähnung darin gefunden. 2005 wurden die
beiden ersten Zielsetzungen – Halbierung der
Armut bis 2015 und weltweite Sicherung der
Grundschulbildung für alle Mädchen und
Jungen – thematisiert, im darauf folgenden
Jahr die generelle Revision der Ziele aus indigener Perspektive. Dabei wurde von zahlreichen indigenen SprecherInnen bemängelt,
dass die Definition von »Armut«, der zufolge
die Betroffenen von weniger als einem Dollar
am Tag leben, nicht eins zu eins auf indigene
Lebensumstände übertragen werden könne.
Neben dem jeweiligen Schwerpunktthema der Sitzung können die TeilnehmerInnen
zu jedem der sechs Mandatsbereiche des
Ständigen Forums (wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Kultur, Umwelt, Erziehung,
Gesundheit und Menschenrechte) Redebeiträge halten und schriftlich einreichen. So
thematisieren sie etwa Defizite bei der Anerkennung indigener Sprachen und politischen
Partizipationsrechten sowie Umwelt- und Gesundheitsprobleme. Als wichtigste Funktion
des Treffens wird oft die direkte Rückbindung
an die IndigenenvertreterInnen auf lokaler
Ebene genannt – der unmittelbare Kontakt
der Mitglieder des Forums zu den konkreten
Problemen und Forderungen vor Ort soll die
entwicklungspolitische Arbeit der Vereinten
Nationen effektiver gestalten.
Dieses hehre Ziel wirft bei der Umsetzung
einige Schwierigkeiten auf. Die Indigenenver-
Umstrittene »Erklärung über die Rechte indigener Völker«
12
t Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, verabschiedete die
UNO-Generalversammlung am 13. September 2007 die »Erklärung
über die Rechte indigener Völker«. Die Entscheidung fiel keineswegs
einhellig: 143 Ja-Stimmen standen vier Nein-Stimmen (Kanada, Australien, USA, Neuseeland) und elf Enthaltungen (Aserbaidschan,
Bangladesh, Burundi, Kolumbien, Kenia, Nigeria, Russland u.a.)
gegenüber. Vorangegangen waren langjährige Querelen. Im November 2006 war die Deklaration von der Generalversammlung sogar auf
Eis gelegt worden, obwohl viele Indigenen-Organisationen große
Hoffnungen auf sie gesetzt hatten und der UNO-Menschenrechtsrat
die Verabschiedung empfohlen hatte.
Die Erklärung behandelt zahlreiche Rechte der rund 5.000 indigenen Gruppen weltweit, wie das Recht auf Selbstbestimmung, auf
Mitwirkung in staatlichen Einrichtungen und auf eine Nationalität.
Auch werden in der Erklärung die sprachliche, kulturelle und spirituelle Identität von Indigenen geschützt. Besonders umstritten waren in den Verhandlungen die Bestimmungen zu den Landrechten
und den Rechten auf Bodenschätze. Darin werden den Indigenen die
Besitz- und Nutzungsrechte an ihren angestammten Gebieten zugesichert sowie die Kontrolle über die darin vorhandenen natürlichen
Ressourcen. Außerdem wird ein Recht auf Entschädigung festgeschrieben, falls angestammte Gebiete ohne Einwilligung enteignet
oder genutzt wurden.
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Vor allem Namibia, Kanada, Neuseeland, Australien, Russland und die
USA lehnten die Erklärung vermutlich deshalb ab. Offiziell begründeten
diese Länder ihre Ablehnung damit, dass die Erklärung zu viele unklare
Begriffe enthalte. Außerdem könne es in Folge einer Verabschiedung zu
gesellschaftlichen Konflikten gerade in afrikanischen Ländern kommen,
in denen viele verschiedene indigene Bevölkerungsgruppen leben.
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der »Streit ums kleine ‘s’«,
der innerhalb der UN schon seit Jahren geführt wird: sollen die indigenen Gruppen als »indigenous people« (indigene Menschen) oder als
»indigenous peoples« (indigene Völker) bezeichnet und anerkannt
werden? Hintergrund ist die Tatsache, dass das Völkerrecht mit dem
Begriff »Volk« zahlreiche weitreichende Rechte verknüpft, allen voran
das Recht auf Selbstbestimmung inklusive der freien Verfügung über
Land und Ressourcen. Die nun verabschiedete Deklaration spricht jedenfalls eplizit von »indigenous peoples«.
Mit der nun erfolgten Verabschiedung sind die UNO-Mitgliedsstaaten zwar keine rechtlich bindenden Verpflichtungen eingegangen.
Doch wird die Erklärung von NGOs und Indigenenverbänden als wichtiges Instrument zur Verwirklichung der Rechte Indigener angesehen.
Sarah Lempp
t Die Erklärung steht unter:
www.un.org/esa/socdev/unpfii/en/declaration.html
Indigenität
treterInnen kommen mit unterschiedlichen
der Vielzahl der eingereichten Redebeiträge
Erwartungen und großen Wissensunterschieversteht es sich von selbst, dass eine Auswahl
den bezüglich Sinn und Zweck des Ständigen
erfolgt, die mit Lobbyarbeit beeinflusst werForums zu den Sitzungen. Am einen Pol trifft
den kann.
Rosa Tsawant, eine Vertreterin der Shuar
man international erfahrene und mit der UNO
aus Ecuador, bringt ihre Schwierigkeiten mit
vertraute ExpertInnen. Oft sind es Repräsendem Ständigen Forum so zum Ausdruck:
tantInnen großer etablierter Organisationen
»Man sagt, es sei ein Forum für indigene Framit teils beachtlichen finanziellen Mitteln. Ein
gen, aber wir nehmen nicht an der AusarbeiGroßteil dieser Personen nimmt jedes Jahr an
tung der Themen und Regeln teil. Das Proallen zehn Sitzungstagen teil. Sie kennen
gramm ist schon fertig, wenn wir kommen.
Schlüsselpersonen in den verschiedenen UNMan kann es nicht mehr ändern.« Eine auf
Organisationen, verhandeln mit diesen oder
nationaler Ebene erfahrene Vertreterin aus
treten bei deren Veranstaltungen als DiskusPeru, Teresita Antazú, fasst ihr Unbehagen so
sionsteilnehmerInnen auf. Für diese indigezusammen: »Es ist schwierig, die lokalen Pronen ExpertInnen ist das Ständige Forum »eibleme in etwas zu verwandeln, das sich am
nes der globalen Ereignisse, die man nicht
Ständigen Forum diskutieren lässt. Der Disverpassen sollte« (Victoria Tauli-Corpuz, eine
kurs ist sehr abstrakt.«
bedeutende philippinische Indigenen-AktivisDass die Anbindung an die lokale Ebene,
tin), bei dem man »Konzepte präsentieren
ein zentrales Anliegen des Ständigen Forums,
kann, die die indigenen Vorstellungen von
bisher nicht befriedigend verwirklicht wurde,
Entwicklung verdeutlichen« (Nilo Cayuqueo,
wird aber nicht nur von den im UN-Kontext
in den USA lebender Mapuche).
unerfahrenen TeilnehmerInnen reklamiert.
Am anderen Pol stehen Indigene, die
Selbst die Vorsitzende des Ständigen Forums,
durch ein Stipendium der UNO oder einer
Victoria Tauli-Corpuz, meint in einem offizielNGO direkt aus ihren Gemeinden nach New
len Redebeitrag: »Die Programme der UNYork reisen. Meistens bleiben sie nur eine, selOrganisationen, die auf die Verbesserung der
ten zwei Wochen. Manche von ihnen konnLebensumstände der
ten im Vorfeld des Treffens
indigenen Völker abziean einer mehrtägigen EinDas Ständige Forum presst
len, erreichen die Geführungsveranstaltung
meinden nicht.« Denteilnehmen, in der die
den Indigenitätsdiskurs in
noch fordert sie wähFunktionsweise des Ständiden UNO-Rahmen
rend der Sitzungen die
gen Forums erläutert wurindigenen RednerInnen
de. Die Neulinge haben es
immer wieder dazu auf, nicht ihre lokalen
dennoch oft schwer, sich in den Sitzungen
Probleme vorzutragen, sondern diese für eizurecht zu finden und fühlen sich eher als Zunen globalen Kontext relevant zu machen.
schauerInnen der Veranstaltung. Das liegt
Ihre mahnenden Worte verdeutlichen ein
auch am streng reglementierten Sitzungsverwichtiges Selektionsprinzip: Wer erfolgreich
lauf. Außer den zu jedem Thema der Agenda
an den Sitzungen des Ständigen Forums teileingeladenen HauptrednerInnen sowie den
nehmen will, muss den UN-Fachjargon besechzehn Mitgliedern des Ständigen Forums
herrschen oder ihn schnellstens erlernen.
dürfen zwar auch alle anderen TeilnehmenDie erfahrenen TeilnehmerInnen werden
den einen Redebeitrag leisten. Letztere müsdeshalb von den anderen als eigene Klasse
sen sich jedoch in Listen eintragen und erhalwahrgenommen. Oft werden erstere sogar
ten dann eine zeitlich begrenzte Redezeit von
beschuldigt, keine »authentischen« indigedrei bis fünf Minuten. Da der Andrang groß
nen RepräsentantInnen mehr zu sein und die
ist, werden die Listen im Schnelldurchlauf abreale Lebenssituation ihres Volkes nicht mehr
gearbeitet, die Redezeit wird mit Hilfe einer
zu kennen, da sie sich nur noch auf internaAmpel überwacht. Reaktionen aus dem Putionaler Ebene bewegen würden. Eine Kritik,
blikum in Form von Applaus oder Diskussioder sich der mexikanische Experte Marcos
nen über einzelne Beiträge sind nicht erlaubt.
Matias Alonso, Mitglied des Ständigen Forums von 2002-2004, anschließen kann: »UnEin sehr abstrakter Diskurs
ter den anwesenden IndigenenvertreterInnen
t Zudem besitzen MuttersprachlerInnen eibefinden sich mehrere, die auch bei der Arner der offiziellen UN-Sprachen einen klaren
beitsgruppe indigene Völker Wortführer sind.
Vorteil. Die dominanten Sprachen, auch in
Es sind die gleichen, die das Thema Biodiverden Sitzungspausen, sind Englisch, Spanisch
sität oder geistige Eigentumsrechte diskutieund Französisch. Alternativ oder in Ergänren, also eine Generation von indigenen Intelzung zum offiziellen Redebeitrag kann man
lektuellen, die auf internationaler Ebene Einden Vortrag auch in schriftlicher Version einfluss nehmen. Aber diese Führungspersönlichreichen. Die Mitglieder des Forums haben
keiten sind oftmals wenig präsent in ihren
die Aufgabe, zu den einzelnen TagesordRegionen. Wir müssen uns der Frage stellen,
nungspunkten eine Zusammenfassung der
wie die prototypische Indigenenvertretung
wichtigsten Forderungen und Kommentare
aussehen sollte, die zum Gesprächspartner
der UNO oder auch der Staaten wird.«
bis zum letzten Sitzungstag zu erstellen. Bei
iz3w
•
Im Lichte dieser Bewertungen scheint das
Ständige Forum bisher weniger dazu beizutragen, einen Raum für indigene Selbstbestimmung und lokale Stimmen zu bieten, als
vielmehr den »Indigenitätsdiskurs« zu standardisieren und mit dem bestehenden UNOSystem kompatibel zu machen. Die beeindruckende TeilnehmerInnenzahl an den Treffen legt zwar nahe, dass das Label »indigen«
große politische Mobilisierungskraft besitzt.
Die Ergebnisse des Ständigen Forums erschöpfen sich jedoch in erster Linie in ExpertInnenseminaren und Strategiepapieren.
Eine große Vorschlagsfabrik
t Bezeichnend ist auch die durchgängige
Klage, dass es nicht an stringenten Richtlinien
zum Umgang mit Indigenen in den Entwicklungsprogrammen mangele, sondern an deren Umsetzung. Marcos Matias Alonso nennt
das Ständige Forum deshalb eine »Vorschlagsfabrik«. In den ersten drei Jahren seien
mehrere hundert Forderungen an UN-Organisationen und Regierungen eingereicht worden, die zum Abschluss jeder Sitzung an den
Wirtschafts- und Sozialrat übermittelt wurden. Doch wer prüfe deren Umsetzung und
wie könnten die UN-Einrichtungen überhaupt eine solche Vielzahl von Ideen und
Meinungen berücksichtigen? Welche Vorschläge würden ausgewählt, welche fielen
unter den Tisch?
Matias Alonso merkt kritisch an, dass der
allgemeine politische Trend in Richtung Regionalisierung gehe, Indigene hingegen »immer globaler« betrachtet würden. Mit Folgen: »Das Globale verliert sich im Nichts.«
Mit dieser Kritik steht er nicht alleine. Auch
die Leiterin des Sekretariats des Ständigen
Forums, Elsa Stamatopoulou, ist sich der Problematik bewusst. Regelmäßig fordert das
Sekretariat die für Indigene relevanten UNGremien auf, Berichte über ihre Aktivitäten
und die Umsetzung der im Ständigen Forum
erarbeiteten Forderungen abzuliefern.
Trotz aller Schwierigkeiten: In den ersten
fünf Jahren seines Bestehens hat das Ständige Forum viel zur Verbreitung indigener Forderungen innerhalb des UN-Systems beigetragen. Nicht zu leugnen ist jedoch, dass die
Generalisierung der Lebensrealitäten von
über 300 Millionen Indigenen, die sich teilweise stark voneinander unterscheiden und
die mit sehr spezifischen Problemen zu den
Sitzungen der UNO reisen, Gefahren birgt.
Beinahe naiv erscheint daher der Anspruch,
einen Dialog auf Augenhöhe ermöglichen zu
wollen und lokalen Stimmen aufmerksam zuzuhören.
t Maren Rößler ist Ethnologin. Anfang
2008 erscheint im transcript Verlag ihre Dissertation über indigene Repräsentation bei
der UNO und in Peru.
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13
Indigenität
Reinheit versus Einheit
Ist der Begriff »indigen« in Afrika anwendbar?
von S a r a h L e m p p
14
t Während der Begriff Indigene in Süd- und
nen geht es hingegen oft nur um die Anerbei der Landrechtsreform 1998, um nur »wahNordamerika gebräuchlich und anerkannt
kennung sozialer, politischer und kultureller
ren Ivoirern« das Erbrecht für Land zuzugesteist, ist er im Falle Afrikas unüblich. Dort ist die
Rechte.
hen – und entzog damit einem Viertel der BeUnterscheidung in präexistente und koloniZu den sich als indigen bezeichnenden
völkerung die Möglichkeit, Land zu (ver-)ersierende Gruppen relativ neu. Auch fällt sie
Gruppen in Afrika gehören unter anderen die
ben. Im Vorfeld der Wahlen im Jahr 2000 legin Afrika nicht so eindeutig aus wie in AmeSan im südlichen Afrika, die Tuareg in Nordte die Nachfolgeregierung unter Guéï fest,
rika und macht dadurch die Einteilung in inafrika, die Ogoni in Nigeria oder die Mbuti in
dass nur solche KandidatInnen für das Amt
digene und nicht-indigene Bevölkerung
der Demokratischen Republik Kongo. Sie bedes Präsidenten zugelassen werden, deren Elschwieriger.
trachten sich als verschieden von der Mehrtern beide in Côte d’Ivoire geboren wurden.
Meist wird für die Bestimmung von Indiheitsbevölkerung und sind oftmals DiskrimiDies führte zum Ausschluss des aussichtsreigenität auf die »Cobo-Definition« zurückgenierung und Verfolgung ausgesetzt. Manche
chen Präsidentschaftskandidaten Alassane
griffen. Der UN-Sondervon ihnen definieren
Ouattara, der für die Interessen des musliberichterstatter José Marsich über ihre (frühere)
misch dominierten Nordens und der oft sehr
Viele afrikanische Indigene
tínez-Cobo legte 1986
Lebens- und Wirtschaftsarmen ImmigrantInnen aus Mali und Burkina
vier Kriterien fest, die »insehen sich einem »internen weise, wie Nomaden- Faso eintrat – und zum Sieg Laurent Gbabgos.
digene Gemeinschaften,
tum oder Jagen und
Ein den Indigenitäts- und AutochthonieKolonialismus« ausgesetzt
Völker und Nationen«
Sammeln. Viele begründiskursen partiell entgegen gesetztes Konausmachen: 1. Prä-Exisden ihren Anspruch auf
zept ist der Panafrikanismus. Die panafrikanitenz: Es handelt sich um die ursprünglichden Status der Indigenität damit, einem
sche Bewegung, die vor allem in den 1960er
sten, die relativ »ersten« Bewohner eines Ter»internen Kolonialismus« ausgesetzt zu sein
und 70er Jahren eine große Rolle spielte, hatritoriums. 2. Nicht-Dominanz: Die Mitglieder
und sich kulturell deutlich von der herrschente eine Rückbesinnung auf die »afrikanische
sind kaum an staatlichen und gesellschaftden Ethnie ihres Landes zu unterscheiden. In
Identität« sowie die Vereinigung aller Afrikalichen Prozessen der Mehrheitsbevölkerung
den letzten Jahren haben sich Indigene zunerInnen zum Ziel – einschließlich der
beteiligt. 3. Kulturelle Differenz: Die Gruppe
nehmend in Netzwerken und OrganisatioSchwarzen in der Karibik und in den Ameriweist unterscheidbare kulturelle Merkmale
nen zusammengeschlossen, um ihre Intereskas. In ihren Anfängen hatte die Bewegung
wie Sprache oder Religion auf. 4. Selbst-Idensen vor der UNO, aber auch auf nationaler
stark kulturalistisch und biologistisch argutifikation: Die Mitglieder verstehen sich selbst
Ebene besser artikulieren zu können.
mentiert. Dahingegen ging es panafrikanistials indigen.
Eine verwandte Diskussion dreht sich um
schen Regierungschefs wie Kwame Nkrumah
So ist den amerikanischen Indigenen gedie Frage der »Autochthonie«, die vor allem
in Ghana oder Sékou Touré in Guinea um
meinsam, Nachkommen der ersten Bewohin Westafrika seit den 1990er Jahren eine Rolkontinentale Solidarität der durch den KolonerInnen eines (kontinentalen) Territoriums
le spielt. Hierbei konstruiert die vorherrschennialismus unterdrückten AfrikanerInnen, unzu sein, das von überseeischen Mächten kode Bevölkerungsgruppe mithilfe einer Grenzabhängig von Hautfarbe oder Sprache. Die
lonisiert wurde. Da diese sie nicht als eigenziehung zwischen »Einheimischen« und
panafrikanische Bewegung wäre somit heute
ständige Nationen anerkannten, wurden sie
»Fremden« (innerhalb eieine Gegnerin indigener
nicht entkolonisiert, sondern leben heute als
Forderungen, da diese
nes Dorfes, einer Region
Einige Regierungen sehen
marginalisierte Bevölkerungsgruppen in »eupotenziell die afrikanische
oder des ganzen Staates)
die »nationale Einheit«
ropäisch-westlich« dominierten Staaten wie
Einheit gefährden.
eine scheinbare »Reinden USA. In Afrika für einzelne Ethnien das
Sowohl im Indigeheit«, die als Instrument
durch partikulare
Kriterium der Präexistenz nachzuweisen, ist
nitäts- wie im Autochthozum Ausschluss von ImInteressen gefährdet
deutlich schwieriger. Zudem könnten nach
niediskurs geht es um ExmigrantInnen oder sonstiEnde der Kolonialzeit alle AfrikanerInnen als
klusion, Grenzziehung
gen »AußenseiterInnen«
»indigen« bezeichnet werden, da sie koloniund die Konstruktion von Dichotomien. Sodient. Beispiele hierfür sind politische Auseinsiert wurden und schon vor Ankunft der Eumit stellt sich auch am afrikanischen Beispiel
andersetzungen in Côte d’Ivoire, Kamerun
ropäerInnen in Afrika gelebt haben. Den Stadie Grundfrage nach Partikularismus versus
oder Gabun, wo Regierende mehrmals vertus der Indigenität nun ausschließlich damit
Universalismus, der sich die gesamte Debatsuchten, Oppositionspolitiker von Wahlen
zu begründen, dass es sich um marginalisierte um Indigenität stellen muss. Wäre es nicht
auszuschließen, die nicht vollständig »biolote und unterdrückte Gruppen handelt, wird
weitsichtiger, anstelle partikularer Rechte allgisch« zum jeweiligen Land gehörten, etwa
vielfach skeptisch gesehen.
gemeine Menschenrechte einzufordern – alweil ihre Eltern in einem Nachbarland geboDie Regierungen von Ländern wie Namiso gleiche politische, kulturelle, soziale und
ren wurden.
bia oder Nigeria wehren sich gegen die Anwirtschaftliche Rechte aller Individuen in eiSo spielte im Bürgerkrieg in Côte d’Ivoire
wendung des Begriffs »indigen« auf einzelne
nem Staat?
das Konzept der Ivoirité eine zentrale Rolle.
Die Regierung unter Präsident Bédié entdeckEthnien in ihrem Land. Sie befürchten Sezeste diesen Begriff, den es schon seit den 1970er
sionsbestrebungen, bangen um ihren Zugriff
t Sarah Lempp studiert Ethnologie und
Jahren gibt, wieder und verstärkte ihn zu eiauf Bodenschätze oder möchten die »natioPolitikwissenschaft in Leipzig. Der Beitrag entnem ethnonationalistischen, xenophoben
nale Einheit« des Landes nicht durch partikustand im Rahmen ihres Praktikums im iz3w .
Konzept. Sie nutzte das Konstrukt der Ivoirité
lare Interessen gefährdet sehen. Den Indige-
iz3w
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Foto: S. Ramírez Voltaire
Symbolischer Bürgerkrieg
Die indigene Bewegung in Bolivien trifft auf Reaktion
Die Wahl des Indigenen Evo Morales zum Präsidenten von Bolivien hat international für Aufsehen gesorgt. Weniger bekannt ist, dass inzwischen eine
‚weiße’, nicht-indigene Gegenbewegung zur Spaltung des Landes führt. Bei
dem Konflikt geht es um das nationale Selbstverständnis und das kollektive
Imaginäre: Was ist Bolivien? Und welche Rolle spielen Indigene darin?
Das Comité wurde 1950 gegründet und sieht
sich historisch als wichtiger elitärer Impulsgeber für die nationale Politik und als »moralische Regierung« der Cruzeños.
»I was in Bolivia«
von S i m ó n R a m í r e z Vo l t a i r e
Die stärkste Waffe des Comités ist der nationalistisch-populistische Diskurs, mit dem
es die Cruzeños als eine eigenständige Nation – die »Cambas« – anruft. Das Comité versucht, die Region identitär und politisch immer stärker von der andinen Bevölkerung abzugrenzen. Es fordert mehr Autonomie vom
Zentralstaat und kann dabei auf den cruzeñischen Mythos bauen, aus eigener Kraft von
einer vergessenen Region zum Motor der bolivianischen Wirtschaft geworden zu sein.
Dies reicht bis hin zu Rufen nach einer Abspaltung vom Rest des Landes. Schon jetzt
scherzt man dort in wohlhabenden Kreisen
nach einem Aufenthalt in La Paz gerne: »I was
in Bolivia«.
Der angeheizte Camba-Nationalismus des
Comités ist die politische und ideelle Antwort
auf die erstarkte Indígenabewegung. Auf den
antirassistischen Kampf der Indígenas reagierte die sich ethnisch überlegen fühlende
Oberschicht mit einer Radikalisierung ihres
Herrschaftsanspruches. Damit wird sie zum
t
t Der Streit wird nicht mit Waffen ausgetraIhr Ziel: ein »plurikultureller« Staat, mit Betogen. Dennoch hat der Konflikt zwischen dem
nung auf wieder entdeckten indianischen
bolivianischen Tiefland im Osten und dem
Prinzipien. Sie sollen bei der »Neugründung
andinen Hochland im Westen Boliviens histoder Republik« zu Leitbildern werden.
risches Gewicht wie ein Bürgerkrieg: Es geht
Der andere Teil Boliviens nennt sich »Halbum das »nationale« Selbstverständnis. Die jemond«, weil er aus den fünf halbkreisförmiweiligen politischen Eliten sorgten in den
gen departamentos Beni, Pando, Chuquisaca,
Tarija und Santa Cruz besteht. Es sind vor alletzten Jahren dafür, dass die beiden Landeslem Unternehmer und einflussreiteile auseinander drifteten. Heute stehen sich
Analysten sprechen che Angehörige der alten Elite, die
seit der Regierungsübernahme des
zwei Lager gegenüber,
bereits von einer
Indigenen Evo Morales nach Kräfdie sich kulturell, wirtten daran arbeiten, dass die »meschaftlich und politisch
»Balkanisierung«
dia luna« zum Pol gegen die Regieimmer weiter voneinanBoliviens
rung in La Paz wird. Ihr wichtigster
der abgrenzen.
Akteur ist das Comité Cívico Pro
Jede Seite hat eine eiSanta Cruz, in dem sich Wirtschaftselite und
gene Vision von Bolivien. Der andine Teil sieht
Oligarchien versammeln, um ihre Opposition
sich als die Kraft, die den im ganzen Land verzu artikulieren. Angesiedelt ist es in der Stadt
ankerten Kolonialrassismus endgültig überSanta Cruz, dem Wirtschaftszentrum des
winden kann und mit der sich die Indigenen
Landes mit einer Million EinwohnerInnen.
neues Selbstbewusstsein einhauchen können.
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15
Motor einer unheilvollen Dynamik: Das Erbe
des Kolonialismus – die Existenz einer privilegierten weißen Oberschicht, rassistische Diskriminierung, ungleiche Teilhabe – ist der Ursprung eines gesellschaftlichen Konfliktes,
den Akteure wie das Comité immer weiter in
Richtung einer ethnisch verschärften Spaltung zwischen Osten und Westen des Landes
zuspitzen. Deshalb sprechen bolivianische
AnalystInnen bereits von einer »Balkanisierung« Boliviens.
Sucre oder La Paz?
t Einen deutlichen Ausdruck findet dieser
Konflikt in der Verfassungsgebenden Versammlung, die nach einer Volksbefragung ihre Arbeit im August 2006 in Sucre aufnahm
(siehe Kasten). Die feindlichen Lager der beiden Boliviens stehen sich hier gegenüber.
Trotz der Brisanz der sich verschärfenden Polarisierung ist diese Versammlung aber auch
ein Zeichen für die Stabilität der bolivianischen Demokratie: Im Moment der extremen
Krise werden die Konflikte immer wieder auf
das politische Terrain zurückgeführt. Sie eskalieren nicht in gewalttätigen Konfrontationen, obwohl es durchaus derartige Provoka-
tionen und Akteure gibt, wie etwa der »bewaffnete Arm« des Comités, die »Cruzeñistische Jugendunion«. Der – wenn auch zähe
– Verfassungsprozess ist somit auch ein Erfolg
der bolivianischen Demokratie.
Das Regierungslager verfügt in der Verfassungsgebenden Versammlung über die absolute, nicht aber über die Zweidrittelmehrheit.
Nur sie würde es der Evo Morales nahe stehenden Reformbewegung ermöglichen, die
neue Verfassung allein nach ihren Vorstellungen zu verabschieden. Die Opposition nutzt
dagegen ihr Gewicht, um eine indigen geprägte Verfassung zu blockieren. Das Gezerre in der Versammlung stürzte das Gremium,
das Bolivien eigentlich neu gründen sollte, in
eine anhaltende Krise. Die Frist für die Verabschiedung der neuen Magna Charta wurde
deshalb bis Dezember 2007 verlängert. Im
September schlossen Regierung und Opposition eine »nationale Vereinbarung«, um den
Weg für Kompromisse zu ebnen und den Verfassungsprozess weiter zu bringen – die »letzte Chance« für eine Einigung, so KommentatorInnen.
In der Verfassungsgebenden Versammlung, in der 16 verschieden Gruppen und
Parteien vertreten sind, geht es unter ande-
rem um die künftige Staatsform (Zentralstaat
versus Föderalismus) und Staatsorganisation,
die Rolle der Indígenas, Bodenschätze, die
Rolle des Staates in der Wirtschaft und die
Landfrage. Auch das kulturelle Selbstverständnis des künftigen Staates und seiner
Symbole sorgten für Streit.
Am stärksten ist der symbolische Kampf
über das künftige Bolivien in der Debatte um
die Hauptstadt verdichtet: Während das »andine Bolivien« seinen zentralen Sitz weiterhin
in La Paz haben möchte, schlägt die Opposition vor, dass Sucre künftig Hauptstadt und
Regierungssitz sein soll. Hiermit soll eine republikanische Tradition konstruiert werden,
die in Sucre ihren gründungshistorischen Sitz
haben soll.
Eine fragmentierte Nation
t Die sich in der Verfassungsgebenden Versammlung und im Hauptstadt-Streit zugespitzte Polarisierung zeigt, wie sehr in der bolivianischen Gesellschaft das kollektive Imaginäre und die symbolischen Repräsentationen
neu ausgehandelt werden. Mit dem neuen
indigenen Selbstbewusstsein und dem verstärkten Vordringen indigener AkteurInnen
Nicht aus einer Rippe Evos
Indigene Frauen in Bolivien auf dem Weg zu politischer Partizipation
16
t Seit August 2006 arbeiten 21 thematische
weiblichen Mitglieder der VerfassungsgebenKommissionen der Verfassungsgebenden Verden Versammlung und wählten eine Koordisammlung an der Neugründung der Republik
natorin für Frauenfragen in den VerfassungsBoliviens. 88 Frauen nehmen daran aktiv teil.
debatten. Roxana Zaconeta vom Kollektiv
Viele von ihnen kommen aus den sozialen, in»Frauenpräsenz in der Geschichte« begründigenen und Frauenbewegungen.
det das Engagement so: »Unser Ziel ist es vor
So wie Nélida Faldín, Mitglied der Kommisallem, einen gendergerechten Blick auf alle
sion für die Struktur des Staates: »Ich bin indiPrinzipien der Verfassung zu werfen und in die
genes Mitglied der Verfassungsgebenden VerVisionen für das Land einzubringen. Es gibt
sammlung und repräsentiere
Forderungen, die unerdas Tiefland«, stellt sie sich vor.
lässlich sind, wie zum
Die Regierung Morales
Eines der Hauptanliegen der GeBeispiel die nach einem
hat an patriarchalen
meinschaften der Chiquitan@s
laizistischen Staat.«
im Bundesstaat Santa Cruz ist es,
Ende Mai verabMachtverhältnissen
endlich die kollektiven Landbeschiedeten indigene,
wenig geändert
sitzrechte in der Verfassung festafrobolivianische, femizuschreiben.
nistische und gewerkVon den indigenen Aufständen des
schaftliche Organisationen ein Positionspa18.Jahrhunderts bis hin zu den heutigen sozipier mit Forderungen für die neue Verfassung
alen Bewegungen waren Frauen an den Moim Hinblick auf Frauenrechte. Unter anderem
bilisierungen stets zahlreich beteiligt. Dies
wird das Recht auf sexuelle und reproduktive
spiegelte sich allerdings nie in den realen
Selbstbestimmung gefordert. Dass dies in eiMachtverhältnissen wider. Nun fordern Fraunem katholischen Land wie Bolivien nicht einenorganisationen vermehrt ihren Platz in pofach durchzusetzen ist, zeigt die aktuelle Delitischen Entscheidungsstrukturen und engabatte um Abtreibung. Die Kommission »Rechgieren sich für die neue Verfassung. Im Janute, Pflichten und Garantien« schreibt in ihrem
ar 2007 trafen sich Vertreterinnen der »Union
Bericht: »Das Recht auf Leben beginnt bei der
der Parlamentarierinnen Boliviens« sowie die
Empfängnis.« Frauenorganisationen wiesen
iz3w
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diese Formulierung als religiös gefärbten Konservatismus zurück. Über den Entwurf wird
nun die Vollversammlung debattieren und
entscheiden.
Von den 88 weiblichen Mitgliedern der
Verfassungsgebenden Versammlung gehören
64 zur Partei des indigenen Präsidenten Evo
Morales, der Bewegung zum Sozialismus
(MAS). Die Wahl der Versammlung verlief ausschließlich über die politischen Parteien. Dies
wurde von einigen Angehörigen der Basisbewegungen heftig kritisiert. Nach Meinung des
anarcho-feministischen Kollektivs Mujeres Creando erhalten dadurch auch die 2003 gestürzten Parteien erneute Legitimität. Das alte
Herrschaftssystem werde aufrechterhalten
und bestenfalls durch eine »phallische Dekolonisierung« ersetzt. »Aus einer Rippe Evos
wird keine Eva entstehen«, lautet eine der Parolen der Mujeres Creando.
Auch die Frauen der Asamblea Feminista
versuchen den Verfassungsprozess von außen mitzugestalten. Sie sehen darin ein Instrument der Bevölkerung »von der Straße
aus«. Denn dies sei der Geist des Oktobers –
gemeint ist der Oktober 2003, in dem nach
Massendemonstrationen der damalige Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada ins Exil ge-
Indigenität
sten ethnolinguistischen Gruppen zugehösches Bild von klar abgegrenzten und homorig. Nach diesen Selbstzuschreibungen, die
genen »Ethnien« suggerieren können. Sie geim Hinblick auf die kollektiven Imaginationen
ben aber Aufschluss darüber, wie viele Bolividas wichtigste quantitative Kriterium sind,
anerInnen sich zu einem bestimmten Zeitsehen sich also 62 Propunkt als Indígenas
zent der BolivianerInnen
betrachten. Die ErgebDer Kampf um das künftige
als Indígenas.
nisse sind sowohl von
Bolivien verdichtet sich in der der politischen KonDie Statistik spiegelt
teilweise die Polarisiejunktur abhängig – es
Debatte um die Hauptstadt
rung des Landes wider:
liegt nahe, dass sich
Während sich in den
bei starker indigener
Halbmond-Departmentos Beni, Santa Cruz
Mobilisierung mehr Menschen als Indígenas
und Tarija eine Mehrheit zwischen 67 und 80
fühlen –, als auch vom normativen Ansatz
Prozent als »nicht indigen« fühlt, bezeichnen
und den politischen Interessen, die sich in der
sich in La Paz, Oruro, Potosi, Cochabamba,
Methodik einer solchen Studie niederschlaChuquisaca und Pando 64 bis 83,9 Prozent
gen. So kam eine Erhebung im Jahre 1900 zu
als Indígenas.
dem Resultat, dass die indigene »Rasse« im
Für die politische Ethnizität kann die ethBegriff sei, zu verschwinden. 1950 wurden
nolinguistische Zusammensetzung nur bedagegen 63 Prozent Indígenas errechnet,
dingt Auskunft geben – zumal Statistiken
während zwischen 1952 und 1992 das Indiüber solche Selbstzuschreibungen ein falgene aus der offiziellen Sprache völlig ausgeblendet wurde.
Foto: I. Radhuber
in das politische Terrain seit Beginn der
1990er Jahre ist das bisher tragende Selbstverständnis des bolivianischen Nationalstaates mitsamt seiner symbolisch-institutionellen Ordnung auseinander gebrochen. Der
Zusammenhang zwischen einer »Ethnisierung des Politischen« und den veränderten
Bedingungen für politisches Handeln im
Neoliberalismus – Rückzug des Staates, sozioökonomischer Wandel, Wiederaufwertung
der Gemeinschaft – ist in Bolivien deutlich
ausgeprägt (siehe den Beitrag von Olaf Kaltmeier in diesem Themenschwerpunkt).
Historisch gesehen ist die bolivianische
»Nation« allerdings nie besonders stabil gewesen. Seit der Revolution von 1952 sollte sie
auf dem »Mestizischen« gründen – der Konstruktion einer Mischlingsnation aus Nachfahren der SpanierInnen und UreinwohnerInnen. De facto ist Bolivien in hohem Maße
plurikulturell: 30,7 Prozent der BolivianerInnen sehen sich heute als Ketschua, 25,2 Prozent als Aymara, 1,6 Prozent als Guaraní,
2,2 Prozent als Chiquitanos
und 0,9 Prozent als Mojeños.
1,4 Prozent fühlen sich einer
der weiteren rund 30 erfas-
zwungen wurde. Statt Parteizugehörigkeit propagieren
die Frauen autonome feministische Räume und Zusammenschlüsse mit anderen
Segmenten der BasisbeweSilvia Lazarte, Präsidentin der Verfassungsgebenden Versammlung
gungen.
Die bolivianische Frauenbewegung war lange Zeit polarisiert. Auf der
berichtet, dass auch in der Verfassungsgeeinen Seite standen die Organisationen der
benden Versammlung permanent versucht
»Gender-Technokratie«, die die Elite und die
werde, den indigenen Frauen Kompetenz abherrschaftsunkritische NGO-Szene repräsenzusprechen. »Einige Politiker der traditioneltierte. Als Gegenpol dazu formierten sich anlen Parteien sind mit meiner Person nicht einarcho-feministische Gruppierungen wie Muverstanden und sagen, die Isabel Domínguez
jeres Creando und die Asamblea Feminista.
ist nicht professionell, sie ist keine AkademiDoch auch diese Strömung machte es sich
kerin.« Dabei kann Dominguez auf einen reiebenso wenig wie erstere zur Aufgabe, die
chen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Seit
Frauen indigener Herkunft als politische Subvielen Jahren ist sie in Frauenbewegungen
jekte in den Mittelpunkt zu rücken. Die bisheaktiv, wegen ihres Engagements wurde sie in
rige feministische Forschung westlicher Präden 1990er Jahren Opfer von politischer
gung in Bolivien schenkte den realen LebensGewalt, Gefängnis und Folter. Derzeit ist sie
umständen indigener Frauen kaum BeachVorsitzende der Nationalen indigenen Bäuerinnenvereinigung Bartolina Sisa (FNMCBS).
tung, weshalb feministische Ideen von der
Diese ist mit über 100.000 Mitgliedern die
bolivianischen Bevölkerung kaum aufgegrifgrößte Organisation indigener Frauen in Bofen wurden.
livien und verfügt landesweit über gewerkEs ist nicht leicht, sich als indigene Frau in
schaftliche Strukturen.
einer patriarchalen und von kolonialer DomiDie MAS-Regierung versteht sich zwar als
nanz geprägten Gesellschaft zu behaupten.
Instrument der sozialen Bewegungen, an den
Nélida Faldín beklagt: »Um zu studieren oder
patriarchalen Machtverhältnissen hat sie biseinen Beruf auszuüben, musstest du deinen
her aber wenig geändert. Immerhin konnten
Namen ändern, um in eine Bank zu gehen,
sich indigene Frauenorganisationen als Verdich elegant anziehen. Andernfalls wärst du
treterinnen von Fraueninteressen konsolidienicht hineingekommen.« Isabel Domínguez
iz3w
•
»Bauer« oder »Indígena«?
Ein Wandlungsprozess der indigenen politischen Subjektivität ist in der
Geschichte der Einzigen Syndikalen
t
ren, während die technokratische
NGO-Szene an Legitimität verliert.
Dabei bleibt die Frage offen, ob die
Autonomie der Frauenorganisationen innerhalb der sozialen Bewegungen gewährleistet werden kann. Zu
den Herausforderungen für die erstarkende Frauenbewegung indigener Prägung zählen daher einerseits die Erforschung der Überschneidung von kolonialen
und patriarchalen Herrschaftsmechanismen
sowie andererseits die Ermächtigung der
unterprivilegierten Frauen zur Selbstrepräsentation auf politischer Ebene.
Zwar hält sich die Zahl der am neuen Regierungsprojekt beteiligten Frauen noch in
Grenzen, die bereits involvierten Frauen lassen sich aber nicht so leicht von ihrem Weg
abbringen. Die Präsidentin der Verfassungsgebenden Versammlung, Silvia Lazarte, stellt
klar: »Trotz der Drohungen durch einige
Abgeordnete werde ich weitermachen. Mit
aller Deutlichkeit werden wir weiterarbeiten,
bis wir die neue Verfassung überreichen können.«
Alicia Allgäuer und Isabella Radhuber
sind Diplomandinnen am Institut für Politikwissenschaft in Wien und absolvierten zahlreiche Forschungsaufenthalte in Bolivien. Die
ungekürzte Fassung ihres Beitrages erschien
in der Zeitschrift Frauensolidarität (3/2007).
t
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17
Indigenität
18
Es gibt aber auch Fälle wie im Norden PotoKonföderation der Bolivianischen Landarbeiter
sís, in denen die sindicato-Organisation im of(CSUTCB) erkennbar. Sie ist ein überregionaler indigen-syndikaler Verband neben weitefenen Konflikt zur indigenen Ordnung – hier
ren Indígena-Organisationen, die zwar auch
den »Ayllus« der Aymaras – steht. Häufig gibt
in der Zentralpolitik in Erscheinung treten,
es Mischformen, wie sie in der Hochebene
aber regional verwurzelt sind. In die CSUTCB
von La Paz weit verbreitet sind. Vor allem in
ist das Ringen um die politische Subjektivität
der Region Cochabamba gilt das sindicato als
am stärksten akzeptiert. Das Verhältnis von
– zwischen Klasse und Ethnizität – eingeindigenen und syndikalen Strukturen lässt
schrieben. Ihr Vorlauf geht bis in die erste
sich kaum für das ganze Territorium bestimHälfte des 20. Jahrhunderts zurück, formal
men. Wichtig ist aber die grundlegende Begibt es die CSUTCB seit 1979. Sie ist die verdeutung, die die sindicato-Struktur historisch
einte Organisation der bäuerlichen Gewerkund gegenwärtig in vielen Regionen für Poschaftsbewegung, die seit der Revolution von
litik und Staatsbildung hat.
1952 zu einem mächtigen Akteur in den Aushandlungen mit zivilen und militärischen Regierungen wurde.
Ist der Demos ein Ethnos?
Die CSUTCB ist Teil der Dachgewerkschaft
Bolivianische Arbeiterzentrale (COB), in der net Die staatlich-politische Organisation ist
ben anderen auch die Minen-, Kokabauernsomit vor allem auf lokaler Ebene weithin von
und Bäuerinnengewerkschaft Mitglieder
indigen-syndikalistischen Organisationsforsind. Die widersprüchliche Konstruktion der
men sowie indigenen Imaginationen über
bolivianischen Subalternen als BäuerInnen,
Nation und Staat durchdrungen. Verstärkt
bzw. ArbeiterInnen oder Indígenas durchwurde dies durch das Gesetz der participación popular von 1994, das eine Dezentralisiezieht die Geschichte der bolivianischen Gerung von Verwaltung und politischer Beteiliwerkschaftsbewegung: Je nach historischer
gung zum Ziel hatte.
Konstellation überwog stets eine Definition.
Politische Ethnizität ist in Bolivien also
Vereinfacht lässt sich sagen, dass innerhalb
mehr als ein solidarischer Zusammenschluss
der Gewerkschaften und der CSUTCB immer
ethnisch definierter Gruppen, um den Ausgeein Kampf zwischen dem indigenen und dem
schlossenen eine Stimme zu geben (panethArbeiter- oder Bauernsubjekt um die Defininische Bewegung). Im bolivianischen Staatstionsmacht herrscht. Bis in die 1990er Jahre
bildungsprozess sind indigene Formen längst
hinein waren sie teilweise stark vom marxiseingeschrieben und Teil seiner täglichen
tischen, arbeiterzentrierten Diskurs der MiPraxis. Mit der Wieder-Erfindung ihrer Tradinengewerkschaft FSTMB geprägt, danach
tionen« (so ein geflügeltes Wort des Histobekam die indigene Ausrichtung immer
rikers Eric Hobsbawm) und der
größeres Gewicht,
Ausbildung politischer Ethnizität
in der heute die
Was bei Indígenas
wurden sie wieder aufgewertet.
CSUTCB eine Leitbefreiend wirkt, wandelt
Somit versteht sich die Konfunktion hat.
struktion des Demos vielerorts imDie Bauerngesich auf der Gegenseite
mer mehr als Konstruktion eines
werkschaft ist ein
in Chauvinismus
Ethnos – die Bürgerschaft ist indibedeutender Faktor
gen. Politik wird in der comunidad
bei der Kanalisiemit Hilfe indigener Deutungsmuster verrung und Vermittlung von Politik in Bolivien:
mittelt. Politische Ethnizität ist zu einer Form
Selbstbewusste Schätzungen errechnen, dass
geworden, die Beziehung zwischen Zentraldie CSUTCB heute mit 3,8 Millionen eingestaat und der Peripherie zu regulieren. Sie
gliederten Indígenas Boliviens Organisation
trägt zur Legitimierung des gesamten Staatsmit den meisten Mitgliedern ist, bei einer Eingefüges bei – auch wenn dies nicht immer als
wohnerInnenzahl von rund 8 Millionen.
solche anerkannt wird. Das andin-indigene
Die Besonderheit der CSUTCB und des
Imaginäre hat also in dem Konflikt mit den
bolivianischen Korporatismus liegt darin,
NationalistInnen in Santa Cruz durchaus eine
dass sie sich nicht auf die Funktion einer Geinstitutionell-materielle Grundlage.
werkschaft beschränken lassen. Bis heute ist
Vor diesem Hintergrund plädiert das Entdie Struktur der CSUTCB, die von der Regiewicklungsprogramm der Vereinten Nationen
rungsspitze bis in kleinste bäuerliche Ge(UNDP) für eine neue Sicht auf den bolivianimeinden reicht, in vielen Regionen Boliviens
schen Staat: Anstatt von einem failed state
die zentrale Form der sozialen und politiauszugehen und der Illusion eines liberalen
schen Organisation. Ihre kleinste Einheit ist
Einheitsstaates anzuhängen, sollten künftig
das sindicato. Das sindicato hat dort, wo es
stark ausgeprägt ist, zwei Funktionen inne: Es
die unterschiedlichen Vorstellungen über Boist staatliche Verwaltung und Vertreter der inlivien in einem pluralistischen Sinne stärker
digenen Ordnung. Elemente indigener Orgabetont werden. Der Beitrag der täglichen,
nisation finden sich in fast jedem sindicato,
häufig indigen geprägten Praxen zur Herauszum Beispiel Ämterrotation, die Organisation
bildung des bolivianischen Staates solle stärvon Zeremonien und die kollektive Entscheiker anerkannt werden. Um aus dem »Labydungsfindung in der Vollversammlung.
rinth« der bolivianischen Krise herauszukomiz3w
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men, solle ein neues Staatverständnis mit einem Vokabular »made in Bolivia« konstruiert
werden (PNUD 2007).
Zwei Seiten einer Medaille
t Die ethnisch konnotierten Konflikte in Bolivien sind ein Kampf der unterschiedlichen
»imaginarios«. Doch wäre es verkürzt, die Auseinandersetzungen allein auf diese Dimension
zu reduzieren. Denn die ethnisch konnotierte
Spaltung in Osten und Westen überlagert sich
mit Konflikten um Zugang zur politischen
Macht, Klassenauseinandersetzungen, der
Kontrolle über natürliche Ressourcen und
Staatseinnahmen. So sind in Santa Cruz der
(nicht selten illegale) Großgrundbesitz, die
hohe Konzentration an der einträglichen
Erdgasförderung und die Wirtschaftskraft der
Region Gründe für das massive Eintreten der
»Cambas« für ihre Interessen. Etwa 30 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes werden in Santa
Cruz erwirtschaftet.
Die imaginäre Polarisierung Boliviens zeigt
die Widersprüchlichkeit und gleichzeitig die
Gefahren einer Dynamik auf, in der zunehmend ethnisch argumentiert wird: Auf den
Emanzipationsprozess und das neue Selbstbewusstsein der indigenen Bevölkerung reagiert die weiße Elite mit einem auf dem alten
Rassismus basierenden »Camba«-Nationalismus. Was bei den Indígenas befreiend wirkt,
wandelt sich auf der Gegenseite in einen
brandgefährlichen Chauvinismus, der zu einer Art symbolischen Bürgerkrieg führt.
In dieser Dynamik sind beide Parteien
Gefangene: Für die indigene Bewegung und
die Regierung erschweren sich die Bedingungen, eine neue Staatsverfassung mit indigenen Elementen zu errichten, während die
Camba-Seite in einem Unternehmer-Populismus festgefahren ist. Die Konstruktion eines
integrierenden kollektiven Imaginären, in
dem sich die BürgerInnen als BolivianerInnen
und als Mitglieder eines Subkollektivs wie
Ketschuas, Cambas oder Aymaras fühlen
können, rückt in die Ferne.
Literatur:
– Centro de Estudios para el Desarrollo Urbano y
Regional (CEDURE) (2005): Santa Cruz y su gente.
Santa Cruz
– Alvaro García Linera (Coord.) (2004): Sociología de
los movimientos sociales en Bolivia. La Paz
– Programa de las Naciones Unidas para el Desarollo
(PNUD / UNDP) (2007): Informe Nacional sobre
Desarrollo Humano 2007. El estado del estado en
Bolivia. La Paz
– Ramiro Molina B./ Xavier Albó (2006): Gama étnica y lingüística de la población boliviana. La Paz
t Simón Ramírez Voltaire ist Politikwissenschaftler und promoviert am LateinamerikaInstitut der Freien Universität Berlin über
lokale Demokratie-Prozesse und fragmentierte Staatsbildung in Bolivien.
Urban Tribes, Rural Vibes
Foto: iz3w-Archiv
Ma–ori in Neuseeland im Kampf um
Identität(en)
Urbane pan-tribale und ländliche tribale Ma–ori streiten sich in Neuseeland
darum, wer von ihnen »authentisch« ist. Dabei geht es nicht nur um kulturelle
Identität, sondern auch um handfeste materielle Interessen. Denn der neuseeländische Staat macht beispielsweise Entschädigungen für koloniale Enteignung vom jeweiligen Status der Indigenität abhängig. Ein Lehrstück über
Fremd- und Selbstzuschreibungen.
von M a r k u s B a u t z
t Am 2. März 2006 begann in Wellington
ein dreitägiges Treffen von Ma–ori-Gruppen,
an dem etwa 60 VertreterInnen tribaler Organisationen teilnahmen. Sie trafen sich, um
nichts Geringeres als »die Zukunft des Ma–oritums zu diskutieren«, so die Aussage eines
Sprechers. Nach Bekanntwerden der Versammlung äußerten Ma–ori-Organisationen,
die nicht auf tribaler Basis operieren, harsche
Kritik an ihrem Ausschluss aus einem Forum,
das sich die Aufgabe gestellt hatte, den Zusammenschluss von Ma–ori voranzutreiben.
Besonders empört waren die VertreterInnen
der in den städtischen Zentren beheimateten
Urban Ma–ori Authorities. Deren Vorsitzender,
Willie Jackson, fühlte sich beleidigt: »Nicht
nur die Bedürfnisse der städtischen Ma–ori
werden ignoriert, sondern alle Ma–ori werden
in Wechselwirkung mit gesamtgesellschaftlich geführten, hauptsächlich von Pa–keha– 1
(den Nachfahren europäischer SiedlerInnen)
dominierten Debatten.
Eine gewinnbringende Ressource
t Erst seit Mitte der 1980er Jahre sind die
Zeiten vorbei, in denen die Pa–keha– durch einseitige Präferenz des »Europäischen« verüber den Grund und die Agenda der Versucht hatten, ein »einheitliches« neuseeländisammlung im Dunkeln gelassen.« Die Versches Staatsvolk zu schaffen. Die Ma–ori-Bevölkerung sollte assimiliert werden, etwa
sammelten erwiderten darauf, dass die Ma–ori
Authorities nicht eindurch das Verbot der Ma–origeladen wurden,
Sprache in den Schulen NeuseeBesuche in »traditionellen
weil sie keine tradilands und andere Maßnahmen.
Ma–ori-Dörfern« gehören
tionelle Ma–ori-GrupAls Ergebnis langjähriger Diskripen seien.
minierung durch koloniale Siedzum touristischen
Die AuseinanderlerInnen und deren Nachfahren
Erfahrungsschatz
setzungen um das
sind Ma–ori heute eine marginalisierte Minderheit. Ihre BenachTreffen zeigen: Inditeiligung im Vergleich zur dominanten Pa–kegenität ist in Aotearoa, wie Neuseeland auf
ha–-Bevölkerung drückt sich laut dem Ministry
Ma–ori heißt, heiß umkämpft. Im Mittelpunkt
–
der unter Maori ausgetragenen aktuellen
of Ma–ori Developement in einer höheren
–
Kontroversen steht die Frage, wer Maori ist
Säuglingssterblichkeit, einer höheren Rate
und wie sich dieses »Ma–ori-Sein« artikulieren
von SchulabbrecherInnen (40 Prozent der
muss, um als »authentisch« wahrgenommen
Ma–ori-Bevölkerung über 15 Jahren haben keinen Schulabschluss), einer größeren Abhänzu werden. Dabei stehen diese Diskussionen
iz3w
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20
gigkeit von staatlichen Sozialleistungen, einer
schlechteren Wohnungssituation und einem
überproportionalen Anteil an den Inhaftierten in den Gefängnissen aus. Das durchschnittliche Einkommen von Ma–ori liegt laut
dem Zensus von 2006 etwa 5000 Neuseeland-Dollar unter dem von Pa–keha–. Sie fühlen
sich von politischen Parteien und vom Staat
nur ungenügend vertreten. 2004
gründete sich aus diesem Grund eine Ma–ori-Partei.
Doch auch wenn Ma–ori noch
heute materiell schlechter gestellt
sind, ist Indigenität inzwischen ein
wichtiges Symbol nationaler Identität. Es schlägt sich etwa in den omnipräsenten Hei-Tiki 2-T-Shirts oder
im Haka (einer oft verkürzt als
»Kriegstanz« beschriebenen Performance) der neuseeländischen Nationalteams vor Spielbeginn nieder. Mit
dem Aufkommen der nationalen bikulturellen Ideologie als Reaktion auf
indigene Proteste für die Verbesserung ihrer politischen, sozialen und
ökonomischen Lage, welche die
Ma–ori-Kultur offiziell als gleichwertig
anerkannte und im öffentlichen
Raum rechtlich gleichstellte, wurde
»Indigenität« von Staat und Wirtschaft als gewinnbringende Ressource erkannt.
Heute wird damit nicht nur eine
neuseeländische Identität abseits
alter kolonialer Verbindungen zum
»Mutterland« Großbritannien oder
dem Nachbarland Australien demonstriert. Neuseeland wird so auch als
Ziel für euro-amerikanische TouristInnen beworben, das neben seiner
spektakulären Natur und seinem ökologischen Image (»clean and green«)
auch durch sein wachsendes Angebot an Cultural Tourism besticht. Besuche und Übernachtungen in »traditionellen Ma–ori-Dörfern«, »traditionelles Ma–ori-Essen«, »Geschichtenerzählen«, Workshops in »traditioneller Medizin
und Handwerk« und der Kauf von »original
Ma–ori-Kunstwerken« sind mittlerweile fester
Bestandteil des touristischen Erfahrungsschatzes, egal ob als BackpackerIn oder als
LandgängerIn eines Kreuzfahrtschiffs.
»Ich komme aus Wainuiomata«
t Unumstritten ist diese bi-kulturelle Identität Neuseelands nicht. Studien zufolge wird
Indigenität von weiten Teilen der weißen
Pa–keha–-Bevölkerung generell in Frage gestellt
oder umgedeutet (Liu 2005). Die häufigsten
Argumente sind dabei, dass aufgrund zahlreicher Beziehungen mit Nicht-Ma–ori im Laufe
des kolonialen Kontaktes kein Ma–ori mehr
»reines Blut« habe und so die Präferenz für
die »indigene« Abstammungslinie fragwür-
iz3w
•
dig sei. In eine ähnliche Richtung gehen
vordergründig multikulturell begründete Versuche, allen NeuseeländerInnen »Indigenität« zuzuschreiben. Der damalige Minister
für »Race Relations«, Trevor Mallard, äußerte
2004 in einer Rede: »Neuseeland muss seine
imperiale britische Vergangenheit hinter sich
lassen. Ma–ori und Pa–keha– sind heute in Neu-
Für Ma–ori ist der Vertrag von Waitangi in der
rechtlichen Sicherung ihres Status als Indigene tatsächlich ein wichtiger Bezugspunkt. In
ihm ist ihre Stellung als Ta–ngata Whenua
(»Menschen, die zum Land gehören«), also
als Indigene festgehalten. Der politische
Kampf um indigene Rechte ist heute nahezu
gleichbedeutend mit dem Kampf um Achtung der im Vertrag festgeschriebenen Ansprüche der Ma–ori. Die
Vereinbarungen des Vertrages von
Waitangi, besonders zu den Landrechten und der Selbstverwaltung
der »Stämme«, wurden von britischer Seite seinerzeit nur sehr kurz
eingehalten. Bereits 1877 erklärten
die SiedlerInnen den Vertrag für
»belanglos« und entmachteten,
entrechteten und vertrieben die
Ma–ori. Vor diesem Hintergrund
kämpfen Ma–ori-Organisationen bis
heute um die Anerkennung und
Kompensation der Verstöße von
Seiten der europäischen SiedlerInnen, der englischen Krone und des
neuseeländischen Staates.
Politisierte
Ma–ori-Renaissance
t Diesen Kampf um politische und
materielle Wiedergutmachung,
der verstärkt mit Beginn der politischen Ma–ori-Ethnizitätsbewegungen seit Beginn der 1970er Jahre
geführt wird, begleitete eine Hinwendung zu dem, was als »traditionelle«, das heißt von europäischen Einflüssen »unbelastete«
Kultur verstanden wurde. Im Zentrum dieser Politisierung von Indigenität, der so genannten »Ma–oriRenaissance«, liegt der Fokus auf
dem Iwi, dem ‚Stamm’. Das entscheidende kulturelle Kapital, mit
Foto: M. Bautz
dem diese »traditionelle« Identität
nachgewiesen werden kann, beseeland beide indigene Völker. Ich betrachte
steht aus folgendem: Zugehörigkeit zu eimich als indigenen Neuseeländer – ich komnem Iwi, nachgewiesen durch genealogische
Verbindung zu gemeinsamen Ahnen, Kenntme aus Wainuiomata.«
nis tribaler Bräuche und Etikette, Verbindung
Diese Argumente werden insbesondere
zu einem tribalen Marae, dem physischen
von den GegnerInnen der Zahlungen des
Zentrum und Zeremonieplatz des Stammes,
neuseeländischen Staates an Ma–ori-Stämme
benutzt. Diese Zahlungen beruhen auf Komsowie die Fähigkeit, te reo zu sprechen. Indigene Identität wurde so in direkter Reaktion
pensationsverhandlungen, die wiederum ih– erst auf den assimilierenden Druck des
re Basis im Vertrag von Waitangi haben, der
Staates, dann auf seine Versuche, Ma–ori als
1840 zwischen 43 Ma–ori Häuptlingen und
3
der englischen Krone geschlossen wurde.
»just another New Zealander« zu positionieDer Rekurs auf Indigenität von Seiten der
ren – zunehmend mit essentialistischen AttriMa–ori werde lediglich zur Verbesserung ihrer
buten ausgestattet.
Position in der »Treaty Industry« verwandt,
Ma–ori-Kultur und damit an Ethnizität gebundene Identität wurde also maßgeblich in
behaupten die KritikerInnen. Indigenität werden Versuchen fixiert, den vereinnahmende angeblich nur dazu benutzt, Leistungen in
den und aneignenden Strategien des Staates
Form von kollektiven Ausgleichszahlungen
zu widerstehen, die eigene marginalisierte
oder individuellen Zuwendungen und »BePosition zu verbessern und die kulturelle und
vorzugungen« vom Staat zu bekommen.3
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Indigenität
politische Autonomie zu erlangen. Mittlerweile ist diese nach »traditionellen« Attributen strukturierte Indigenität zur dominanten,
in indigenen Medien und von indigenen Eliten propagierten und vom Staat anerkannten
Form von Indigenität geworden. Manche
Ma–ori (und neuere Untersuchungen) sprechen in diesem Zusammenhang von einer
»Iwi-isation« der Ma–ori Gesellschaft, die keineswegs immer so strukturiert gewesen sei.
Iwi hätten erst im kolonialen Kontakt und in
der Interaktion der Ma–ori mit der neuseeländischen Regierung, nach der Enteignung ihres Landes, der ländlichen Entvölkerung und
der Zerstörung der vorkolonialen indigenen
Gesellschaftsordnung an Bedeutung gewonnen. Zuvor hätten kleinere Bezugsgruppen
(Hapu– ) die wichtigste Identifikationsquelle
für Individuen dargestellt.
Dieser Prozess hat einerseits dazu geführt,
dass die Anliegen und Forderungen »authentischer« Ma–ori-Gruppen von Staat und Gesellschaft berücksichtigt werden. Andererseits ging damit eine Entwertung »nichtauthentischer« Ma–ori einher, deren Identität
mehr durch die Auswirkungen des Kolonialismus geprägt ist als durch traditionsorientierte Modelle von Ma–oridom. Viele Ma–ori
erleben so eine doppelte Marginalisierung,
da sie sich sowohl an den Rändern der Pa–keha–-Mainstream-Kultur als auch der »traditionellen« Ma–ori-Kultur befinden. Sie können
oder wollen ihre kulturelle Identität nicht in
Übereinstimmung zu den idealtypischen Modellen von »Ma–ori-Sein«, die den politischen
Diskurs bestimmen, formen. So wollen oder
können 16 Prozent der Menschen, die eine
Ma–ori-Herkunft im letzten neuseeländischen
Zensus von 2006 angeben, keine tribale Verbindung oder Herkunft angeben.
Stämme in Städten
Ma–ori zählen heute überwiegend zur urbanen Bevölkerung. Mehr als vier Fünftel von
ihnen leben in Städten und damit zumeist
entfernt von ihren tribalen Homelands. Mit
der Ankunft in den urbanen Zentren seit dem
Zweiten Weltkrieg entstanden neue Netzwerke, die vielerorts die sozialen Funktionen des
Stammes für ihre Mitglieder übernahmen.
Diese schufen neue indigene Identitäten jenseits des Stammes, besonders wenn der Kontakt zum Herkunftsort abbrach. Ma–ori schufen sich so seit den späten 1950er Jahren in
den Städten pan-tribale Marae (Versammlungs- und Ritualplätze), die eine allgemeinere Ma–ori-Identität in den Vordergrund stellten. Zugleich entstanden im Umfeld dieser
urbanen Marae Organisationen, die kollektive Sicherheiten (etwa durch soziale und medizinische Einrichtungen) und Identifikationsmöglichkeiten boten. Folgerichtig nennt sich
beispielsweise eine in West-Auckland ansässige Urban Ma–ori-Organisation »die Familie
von Waipereira«.
t
Von den VertreterInnen traditioneller tribaler
nellen« Ma–ori-Organisationen sehr unwahrscheinlich. Das Verhalten der dominanten
Organisationen wird indessen oft die Ansicht
Gesellschaft und des neuseeländischen Staavertreten, dass urbane Ma–ori die Verbindungen zum Land – also zum spezifischen Ort der
tes könnte eine wichtige Rolle in der VeränHerkunft und der Vorfahren – und zur Comderung dieser scheinbar festgefahrenen Situmunity verloren hätten. Eine solche »verloreation spielen. Essentialistische Ausformungen
ne« indigene Identität könnte im besten Falle
von Indigenität sind maßgeblich in Reaktion
»zurückgewonnen« werden. Diese Perspektiauf die koloniale Erfahrung und auf die Strave übersieht allerdings
tegien der Assimilation und der
die Tatsache, dass geraAneignung des Staates ent–
Maori zählen heute
de die jungen städtistanden. »Traditionelle« indiüberwiegend zur
schen Ma–ori der zweigene Identitäten (und ihre
ten und dritten Genestädtischen Bevölkerung VerfechterInnen) sind im politiration starke Beziehunschen Prozess weiterhin domigen zu ihrer lokalen
nant, da sie etwa in den RepaUmwelt und der (Ma–ori-)Community pflerationsverhandlungen mit dem Staat und
gen. Deren überwiegend pan-tribal und panunter dem Druck der Gesamtgesellschaft am
polynesisch geprägten Vorstadtsiedlungen
ehesten erlauben, »authentisches Ma–ori-Sein«
nachzuweisen. Akzeptiert die Mehrheitsgevermitteln dieselben Gefühle von Sicherheit,
sellschaft andere Formen indigener Identität,
Geborgensein und Herkunft wie »traditionelohne ihre Authentizität gleich in Frage zu
le« tribale Identitäten.
stellen, würde das zumindest die NotwendigZusätzlich aufgeladen wurde dieser Konkeit minimieren, Indigenität nur im Zuflikt zwischen pan-tribalen urbanen Gruppen
sammenhang mit »traditionellen« Attributen
und »traditionellen« Ma–ori im Verhandlungsprozess mit der neuseeländischen Regierung
zu artikulieren.
bezüglich der Beilegung der historischen VerDie VertreterInnen flexiblerer pan-tribaler
letzungen des Vertrages von Waitangi. UrbaIndigenität haben sich allerdings bereits ihren
ne Ma–ori-Organisationen fordern Teilhabe
Platz in Ma–ori-Diskursen erkämpft und weram Transfer von Besitz oder Ausgleichszahden fortfahren, eindimensionale Ma–ori-interne und neuseelandweite Sichtweisen von
lungen, etwa an Vereinbarungen zu FischerMa–oritum herauszufordern. Sie beeinflussen
eirechten in den Gewässern Neuseelands, die
so auch die Ma–ori-Vision von indigener kulden Indigenen nach dem Vertrag von Waittureller und politischer Selbstbestimmung.
angi zustehen. Sie begründen dies mit dem
Hinweis auf die historische Flexibilität, die
Anmerkungen:
Trennung und Vereinigung von Gruppen, auf
historische Migrationsprozesse und die heu1 aus Ma–ori für: »FremdeR«
tige Zusammensetzung der Ma–ori. Die urba2 ursprünglich figurativer Brustschmuck aus Nenen Ma–ori weisen daher auch zurück, von
phrit, der Schöpferwesen aus den tribalen
den monetären Zuweisungen tribaler GrupMythologien symbolisiert.
pen abhängig zu sein. »Traditionelle« Ma–ori
3 Der Vertrag von Waitangi, in dem SiedlerInnen
lehnen dies wiederum ab und argumentieund Ma–ori ein partnerschaftliches Verhältnis eingehen, wird heute (trotz andauernder Kontroren, dass alleine sie die im Vertrag erwähnten
versen um ihn) als Gründungsurkunde des moIwi seien, was aber Ma–ori ohne tribale Verbindernen neuseeländischen Staates gesehen. Trotz
dungen mit einschließen würde.
seines quasi-konstitutionellen Charakters hat er
In einigen Gebieten konnten urbane
keinen formalen legalen Status, wird aber seit
der Einführung des Waitangi Tribunals 1975 als
Gruppen ihren Status mittlerweile dem tribajurisdiktive Grundlage für Empfehlungen des
ler Organisationen angleichen. So wurde der
Tribunals an die neuseeländische Regierung für
»Familie von Waipareira« als Iwi für pan-tribaReparationsansprüche von Ma–ori-Gruppen be–
le Maori in Auckland vom Waitangi Tribunal
nutzt.
für einige Bereiche, etwa für Sozialhilfepro4 Pa–keha– erwähnen in diesem Zusammenhang
gramme, Verhandlungsstatus gegenüber der
etwa staatliche Programme, die den Zugang zu
neuseeländischen Regierung zugestanden.
Darlehen zum Hauskauf oder zu tertiären Bildungseinrichtungen (durch Stipendien oder
Im gerichtlichen Verfahren zu den FischereiQuotenregelungen) für Ma–ori zu erleichtern.
rechten wurde hingegen in letzter Instanz
entschieden, dass alle aus dem Vergleich mit
Literatur:
der Regierung resultierenden Vermögenswerte und Gewinne lediglich an Körperschaf– James H. Liu, Tim McCreanor, Tracey McIntosh
and Teresia Teaiwa (ed.): New Zealand Identities:
ten weitergegeben werden dürfen, die als
Departures and Destinations, 2005, Victoria Unitraditionelle Ma–ori-Stammesgruppen anerversity Press: Wellington.
kannt sind.
Zwang zum Authentischen
Markus Bautz promoviert in Ethnologie
an der Universität Freiburg und absolviert gerade seine Feldforschung in Aotearoa / Neuseeland.
t
Wie der eingangs skizzierte Streit um das
Treffen in Wellington zeigt, ist derzeit eine Einigung zwischen pan-tribalen und »traditiot
iz3w
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