Erinnererung an die Marie A
Transcription
Erinnererung an die Marie A
Arno Holz Im Thiergarten, auf einer Bank Im Thiergarten, auf einer Bank, sitz ich und rauche; und freue mich über die schöne Vormittagssonne. Vor mir, glitzernd, der Kanal: den Himmel spiegelnd, beide Ufer leise schaukelnd. Ueber die Brücke, langsam Schritt, reitet ein Leutnant. Unter ihm, zwischen den dunklen, schwimmenden Kastanienkronen, pfropfenzieherartig ins Wasser gedreht, – den Kragen siegellackrot – sein Spiegelbild. Ein Kukuk ruft. In den Grunewald, In den Grunewald, seit fünf Uhr früh, spie Berlin seine Extrazüge. Ueber die Brücke von Halensee, über Spandau, Schmargendorf, über den Pichelsberg, von allen Seiten, zwischen trommelnden Turnerzügen, zwischen Kremsern mit Musik, entlang die schimmernde Havel, kilometerten sich die Chausseeflöhe. „Pankow, Pankow, Pankow, Kille, Kille“ „Rixdorfer“ „Schunkelwalzer“ „Holzauktion“ Jetzt ist es Nacht. Noch immer aus der Hundequäle quietscht und empört sich der Leierkasten. Hinter den Bahndamm, zwischen die dunklen Kuscheln, verschwindet eine brennende Cigarre, ein Pfingstkleid. Luna: lächelt. Zwischen weggeworfnem Stullenpapier und Eierschalen suchen sie die blaue Blume! Hugo von Hofmannsthal Ballade des äußeren Lebens Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben, Und alle Menschen gehen ihre Wege. Und süße Früchte werden aus den herben Und fallen nachts wie tote Vögel nieder Und liegen wenig Tage und verderben. Und immer weht der Wind, und immer wieder Vernehmen wir und reden viele Worte Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder. Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen, Und drohende und totenhaft verdorrte… Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen Einander nie? und sind unzählig viele? Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen? Was frommt das alles uns und diese Spiele, Die wir doch groß und ewig einsam sind Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele? Was frommts, dergleichen viel gesehen haben? Und dennoch sagt der viel, der ”Abend” sagt, Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben. Manche freilich… Manche freilich müssen drunten sterben wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, andere wohnen bei dem Steuer droben, kennen Vogelflug und die Länder der Sterne. Manche liegen mit immer schweren Gliedern bei den Wurzeln des verworrenen Lebens, anderen sind die Stühle gerichtet bei den Sibyllen, den Königinnen, und da sitzen sie wie zu Hause, leichten Hauptes und leichter Hände. Doch ein Schatten fällt von jenen Leben in die anderen Leben hinüber, und die leichten sind an die schweren wie an Luft und Erde gebunden. Ganz vergessener Völker Müdigkeiten kann ich nicht abtun von meinen Lidern, noch weghalten von der erschrockenen Seele stummes Niederfallen ferner Sterne. Viele Geschicke weben neben dem meinen, durcheinander spielt sie all das Dasein, und mein Teil ist mehr als dieses Lebens schlanke Flamme oder schmale Leier. Erlebnis Mit silbergrauem Dufte war das Tal Der Dämmerung erfüllt, wie wenn der Mond Durch Wolken sickert. Doch es war nicht Nacht. Mit silbergrauem Duft des dunklen Tales 5 Verschwammen meine dämmernden Gedanken Und still versank ich in dem webenden Durchsicht’gen Meere und verließ das Leben. Wie wunderbare Blumen waren da Mit Kelchen dunkelglühend! Pflanzendickicht, 10 Durch das ein gelbrot Licht wie von Topasen In warmen Strömen drang und glomm. Das Ganze War angefüllt mit einem tiefen Schwellen Schwermütiger Musik. Und dieses wußt ich, Obgleich ich’s nicht begreife, doch ich wußt es: 15 Das ist der Tod. Der ist Musik geworden, Gewaltig sehnend, süß und dunkelglühend, Verwandt der tiefsten Schwermut. Aber seltsam! Ein namenloses Heimweh weinte lautlos 20 In meiner Seele nach dem Leben, weinte Wie einer weint, wenn er auf großem Seeschiff Mit gelben Riesensegeln gegen Abend Auf dunkelblauem Wasser an der Stadt, Der Vaterstadt, vorüberfährt. Da sieht er 25 Die Gassen, hört die Brunnen rauschen, riecht Den Duft der Fliederbüsche, sieht sich selber, Ein Kind, am Ufer stehn, mit Kindesaugen, Die ängstlich sind und weinen wollen, sieht Durchs offne Fenster Licht in seinem Zimmer – 30 Das große Seeschiff aber trägt ihn weiter Auf dunkelblauem Wasser lautlos gleitend Mit gelben fremdgeformten Riesensegeln. Stefan George Am markte sah ich erst... Am markte sah ich erst die würdevolle Die schönste aus der weissen schwestern zug · Wie fürstenmantel hing die schlichte wolle Um ihres nackens ihrer schulter bug. Im schauspiel dann als sich die opfer mehrten Und zügellos die menge beifall rief · Die todberufenen den cäsar ehrten: IHR auge blieb gelassen streng und tief. Wenn ich der kurzen werbung rausch bedenke! Ich riss die priesterin von dem altar · Und alle länder brachten brautgeschenke · Ich bot in bächen gold und balsam dar .. Und zweifelnd ob das neue glück mir werde Erfand ich nur den quell der neuen qual .. Ich sandte sie zurück zu ihrem herde · Sie hatte wie die anderen ein mal. Die Spange Ich wollte sie aus kühlem eisen Und wie ein glatter fester streif · Doch war im schacht auf allen gleisen So kein metall zum gusse reif. Nun aber soll sie also sein: Wie eine grosse fremde dolde Geformt aus feuerrotem golde Und reichem blitzendem gestein. Der Herr der Insel Die fischer überliefern dass im süden Auf einer insel reich an zimmt und öl Und edlen steinen die im sande glitzern Ein vogel war der wenn am boden fussend Mit seinem schnabel hoher stämme krone Zerpflücken konnte · wenn er seine flügel Gefärbt wie mit dem saft der Tyrer-schnecke Zu schwerem niedrem flug erhoben: habe Er einer dunklen wolke gleichgesehn. Des tages sei er im gehölz verschwunden · Des abends aber an den strand gekommen · Im kühlen windeshauch von salz und tang Die süsse stimme hebend dass delfine Die freunde des gesanges näher schwammen Im meer voll goldner federn goldner funken. So habe er seit urbeginn gelebt · Gescheiterte nur hätten ihn erblickt. Denn als zum erstenmal die weissen segel Der menschen sich mit günstigem geleit Dem eiland zugedreht sei er zum hügel Die ganze teure stätte zu beschaun gestiegen · Verbreitet habe er die grossen schwingen Verscheidend in gedämpften schmerzeslauten. Wir schreiten auf und ab im reichen flitter Wir schreiten auf und ab im reichen flitter des buchenganges beinah bis zum tore Und sehen außen in dem feld vom gitter den mandelbaum zum zweitenmal im flore. Wir suchen nach den schattenfreien bänken Dort wo uns niemals fremde stimmen scheuchten · In träumen unsre arme sich verschränken · Wir laben uns am langen milden leuchten Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen Von wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen Und blicken nur und horchen wenn in pausen Die reifen früchte an den boden klopfen. JULI-SCHWERMUT An Ernest Dowson Blumen des sommers duftet ihr noch so reich: Ackerwinde im herben saatgeruch Du ziehst mich nach am dorrenden geländer Mir ward der stolzen gärten sesam fremd. Aus dem vergessen lockst du träume: das kind Auf keuscher scholle rastend des ährengefilds In ernte-gluten neben nackten schnittern Bei blanker sichel und versiegtem krug. Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied Und ihm träufelten auf die gerötete stirn Durch schwachen schutz der halme-schatten Des mohnes blätter: breite tropfen blut. Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit. Schmachtend wie damals lieg ich in schmachtender flur Aus mattem munde murmelt es: wie bin ich Der blumen müd · der schönen blumen müd! Rainer Maria Rilke: Römische Fontäne. Borghese (1906) Zwei Becken, ein das andre übersteigend Aus einem alten runden Marmorrand, und aus dem oberen Wasser leis sich neigend zum Wasser, welches unten wartend stand, dem leise redenden entgegenschweigend und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend wie einen unbekannten Gegenstand; sich selber ruhig in der schönen Schale verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis, nur manchmal träumerisch und tropfenweis sich niederlassend an den Moosbehängen zum letzten Spiegel, der sein Becken leis von unten lächeln macht mit Übergängen. Archaïscher Torso Apollos Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. Leda Als ihn der Gott in seiner Not betrat, erschrak er fast, den Schwan so schön zufinden; er ließ sich ganz verwirrt in ihm verschwinden. Schon aber trug ihn sein Betrug zur Tat, bevor er noch des unerprobten Seins Gefühle prüfte. Und die Aufgetane erkannte schon den Kommenden im Schwane und wusste schon: er bat um Eins, das sie, verwirrt in ihrem Widerstand, nicht mehr verbergen konnte. Er kam nieder und halsend durch die immer schwächere Hand ließ sich der Gott in die Geliebte los. Dann erst empfand er glücklich sein Gefieder und wurde wirklich Schwan in ihrem Schoß. Der Panther Im Jardin des Plantes, Paris Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein. Blaue Hortensie So wie das letzte Grün in Farbentiegeln sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh, hinter den Blütendolden, die ein Blau nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln. Sie spiegeln es verweint und ungenau, als wollten sie es wiederum verlieren, und wie in alten blauen Briefpapieren ist Gelb in ihnen, Violett und Grau; Verwaschenes wie an einer Kinderschürze, Nichtmehrgetragenes, dem nichts mehr geschieht: wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze. Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen in einer von den Dolden, und man sieht ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen. Begegnung in der Kastanien-Allee Ihm ward des Eingangs grüne Dunkelheit kühl wie ein Seidenmantel umgegeben den er noch nahm und ordnete: als eben am andern transparenten Ende, weit, aus grüner Sonne, wie aus grünen Scheiben, weiß eine einzelne Gestalt aufleuchtete, um lange fern zu bleiben und schließlich, von dem Lichterniedertreiben bei jedem Schritte überwallt, ein helles Wechseln auf sich herzutragen, das scheu im Blond nach hinten lief. Aber auf einmal war der Schatten tief, und nahe Augen lagen aufgeschlagen in einem neuen deutlichen Gesicht, das wie in einem Bildnis verweilte in dem Moment, da man sich wieder teilte: erst war es immer, und dann war es nicht. Herbsttag Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren laß die Winde los. Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gieb ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleeen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. Else Lasker-Schüler: Ein alter Tibetteppich. Ein alter Tibetteppich Deine Seele, die die meine liebet Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet Strahl in Strahl, verliebte Farben, Sterne, die sich himmellang umwarben. Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit Maschentausendabertausendweit. Süsser Lamasohn auf Moschuspflanzentron Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon. Gottfried Benn Wo keine Träne fällt I 5 II 10 15 III 20 IV 25 30 V Untröstlichkeiten –, in Sagen frühmenschlich strophischer Schau hört man von Geistern, die tragen den Mond, die Matte, den Tau, in Felsen legen sie Teiche, auf Schlünde Palmen und Wein, und hüllen in Zauberreiche die trauernden Völker ein. Untröstlichkeiten –, beschwören mit Tanz und Maskenschar, Trommeln und Rindenröhren und die Fichte im Haar – beschwören die Stämme, die Rassen Dauer des süßen Scheins und erhoffen Erlassen der Gesetze des Seins. Doch da an einer Warte von Zucht und Ahnen alt lehnt eine flügelharte unsägliche Gestalt, ihr Blick, der Licht und Sterne und Buch und Zirkel hält, der sieht in eine Ferne, wo keine Träne fällt. Das ist die letzte Sphäre, ein Hoch- und Hafenland, da wächst die schwerste Ähre von jeder Glut gebrannt, sie wächst nicht um zu leben, so singt der Ährenwind, sie wächst sich zu ergeben, wenn es der Genius sinnt: Unsterblichkeit. Nur zwei Dinge Nur zwei Dinge Durch soviel Formen geschritten, durch Ich und Wir und Du, doch alles blieb erlitten durch die ewige Frage: wozu ? Das ist eine Kinderfrage. Dir wurde erst spät bewußt, es gibt nur eines: ertrage -- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -- dein fernbestimmtes: Du mußt. Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich, es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich. Nachtcafé 824: Der Frauen Liebe und Leben. Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot. Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende. Grüne Zähne, Pickel im Gesicht winkt einer Lidrandentzündung. Fett im Haar spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel Glaube Liebe Hoffnung um den Hals. Junger Kropf ist Sattelnase gut. Er bezahlt für sie drei Biere. Bartflechte kauft Nelken, Doppelkinn zu erweichen. B-moll: die 35. Sonate Zwei Augen brüllen auf: Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal, damit das Pack drauf rumlatscht! Schluß! He, Gigi! Die Tür fließt hin: Ein Weib. Wüste ausgedörrt. Kanaanitisch braun. Keusch. Höhlenreich. Ein Duft kommt mit. Kaum Duft. Es ist nur eine süße Verwölbung der Luft gegen mein Gehirn. Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher. Das sind doch Menschen Das sind doch Menschen, denkt man, wenn der Kellner an einen Tisch tritt, einen unsichtbaren, Stammtisch oder dergleichen in einer Ecke, das sind doch Zartfühlende, Genüßlinge sicher auch mit Empfindungen und Leid. So allein bist du nicht in deinem Wirrwarr, Unruhe, Zittern, auch da wird Zweifel sein, Zaudern, Unsicherheit, wenn auch in Geschäftsabschlüssen, das Allgemein-Menschliche, zwar in Wirtschaftsformen, auch dort! Unendlich ist der Gram der Herzen und allgemein, aber ob sie je geliebt haben (außerhalb des Bettes) brennend, verzehrt, wüstendurstig nach einem Gaumenpfirsichsaft aus fernem Mund, untergehend, ertrinkend in Unvereinbarkeit der Seelen − das weiß man nicht, kann auch den Kellner nicht fragen, der an der Registrierkasse das neue Helle eindrückt, des Bons begierig, um einen Durst zu löschen anderer Art, doch auch von tiefer. August Stramm Untreu Dein Lächeln weint in meiner Brust Die glutverbissnen Lippen eisen Im Atem wittert Laubgewelk! Dein Blick versargt Und Hastet polternd Worte drauf. Vergessen Bröckeln nach die Hände! Frei Buhlt dein Kleidsaum Schlenkrig Drüber rüber! Patrouille Die Steine feinden Fenster grinst Verrat Äste würgen Berge Sträucher blättern raschlig gellen Tod. Traum Durch die Büsche winden Sterne Augen tauchen blaken sinken Flüstern plätschert Blüten gehren Düfte spritzen Schauer stürzen Winde schnellen prellen schwellen Tücher reißen Fallen schrickt in tiefe Nacht. Georg Heym Träumerei in Hellblau Alle Landschaften haben Sich mit Blau gefüllt. Alle Büsche und Bäume des Stromes Der weit in den Norden schwillt. Blaue Länder der Wolken, Weiße Segel dicht, Die Gestade des Himmels in Fernen Zergehen in Wind und Licht. Wenn die Abende sinken Und wir schlafen ein, Gehen die Träume, die schönen, Mit leichten Füßen herein. Zymbeln lassen sie klingen In den Händen licht. Manche flüstern, und halten Kerzen vor ihr Gesicht Kurt Tucholsky Zieh Dich aus, Petronella Für Gussy Holl im "Schall und Rauch" Musik: Friedrich Hollaender Spielst du Sudermann oder Maeterlink oder spielst du Mieze Stuckert dann denk: es ist ein eigen Ding das Herz, das unten puckert! 5 Es atmet klamm das Publikum, es gäb was drum, es gäb was drum, erhöre nur sein Flehen: das Publikum will sehen. Zieh Dich aus, Petronella, zieh Dich aus! 10 Denn du darfst nicht ennuyant sein, und nur so wirst du bekannt sein; und es jubelt voller Lust das ganze Haus "Zieh Dich aus, Petronella, zieh Dich aus!" Nicht bei Lulu nur oder Wedekind 15 ist der Platz für Deine Reize, denn je nackter Deine Schultern sind, je mehr sagt man: "Det kleid se!" Als Iphigenie trägst Du nur 'ne Armbanduhr, 'ne Armbanduhr, 20 ich seh den weissen Nacken, wie schön sind Deine Backen! Zieh Dich aus Petronella, zieh Dich aus! Denn du darfst nicht ennuyant sein, und nur so wirst Du bekannt sein; 25 und es jubelt voller Lust das ganze Haus "Zieh Dich aus, Petronella, zieh Dich aus!" Und begleitet Dich nach Dein Souper Dein Amant in Deine Wohnung, hüllt er Dich ein bei Eis und Schnee 30 in Nerz mit zarter Schonung. Stehst Du vor ihm so bloss und blass Mit ohne was, mit ohne was, Spricht er zu Dir, Cokettchen, Vor Deinem weissen Bettchen: 35 Zieh Dich aus Petronella, zieh Dich aus! Denn Du wirst ja darin flink sein Und es kann ja bloß Dein Ring sein! Und ich klatsch auf Deinem Rücken den Applaus "Zieh Dich aus, Petronella, zieh Dich aus!" Der Graben Mutter, wozu hast du deinen Sohn aufgezogen? Hast dich zwanzig' Jahr mit ihm gequält? Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen, und du hast ihm leise was erzählt? Bis sie ihn dir weggenommen haben. Für den Graben, Mutter, für den Graben. Junge, kannst du noch an Vater denken? Vater nahm dich oft auf seinen Arm. Und er wollt dir einen Groschen schenken, und er spielte mit dir Räuber und Gendarm. Bis sie ihn dir weggenommen haben. Für den Graben, Junge, für den Graben. Drüben die französischen Genossen lagen dicht bei Englands Arbeitsmann. Alle haben sie ihr Blut vergossen, und zerschossen ruht heut Mann bei Mann. Alte Leute, Männer, mancher Knabe in dem einen großen Massengrabe. Seid nicht stolz auf Orden und Geklunker! Seid nicht stolz auf Narben und die Zeit! In die Gräben schickten euch die Junker, Staatswahn und der Fabrikantenneid. Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben, für das Grab, Kameraden, für den Graben! Werft die Fahnen fort! Die Militärkapellen spielen auf zu euerm Todestanz. Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen das ist dann der Dank des Vaterlands. Denkt an Todesröcheln und Gestöhne. Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne, schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben. Wollt ihr denen nicht die Hände geben? Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben übern Graben, Leute, übern Graben -! Walter Mehring Dressur Der Zirkus herrscht! Der Weltquatsch ist beendigt! Vor dem Dompteure bebt die Kreatur. Wir zeigen euch die Bestie Mensch gebändigt, Zum erstenmal! Ein Wunder der Dressur! Es riecht nach Wildnis. Hört ihr, wie sie kreischen Ihr "Vive la guerre" und "Immer feste druff"? Die lieben Tierchen möchten sich zerfleischen, Doch zittern sie vor meinem Peitschenknuff. Sie knurren: Gewalt! Halt ! Das Tier ward Mensch - der Mensch ward Tier Wer Phrasen drischt, den dreschen wir! Und das Publikum Ringsherum Sträubt die Haare Fanfare bläst Tusch: Der Mensch ist gut Ob Christ, ob Jud Kusch ! Alles - in Freiheit dressiert, Alles - pariert und harrt des Winks Von rechts bis links! Das Tier ward Mensch - der Mensch ist feig Und frißt sich auf mit Krieg und Streik! Sie würden sich zerfetzen Nach Noten und Gesetzen Und fürchten die Dressur! Das ist Kultur! Der Zirkus herrscht - Kulturen gehn zugrunde! Die Bestie Mensch schleicht geduckt zu neuem Sprung In der Manege großem Erdenrunde Gebändigt - bis zur nächsten Vorstellung! Ich trete in bewährter Heldenpose ... Das Raubtier scheut dies helle Rampenlicht Scheinwerfer an! Zur Schlußapotheose! Und Aug in Aug seh ich euch ins Gesicht! Ihr schreit: Gewalt? Halt ! Ihr spitzt nach jedem Wort das Ohr; Ich werf euch meine Perlen vor! Und das Publikum Ringsherum Sträubt die Haare Fanfare bläst Tusch: Der Mensch ist gut! Und lechzt nach Blut Kusch! Alles - in Freiheit dressiert Alles - pariert und harrt des Winks Von rechts bis links! Das Tier ward Mensch - der Mensch ist feig Und frißt sich auf mit Krieg und Streik! Sie würden sich zerfetzen Nach Noten und Gesetzen Und fürchten die Dressur! Das ist Kultur! Klabund (Alfred Henschke) Ironische Landschaften Brauner Äcker welliger Zug, Draus zweiarmig eine Mühle wächst. Ein paar Pflaumenbäume, wahllos hingekleckst, Ruhn auf eines Hügels schlankem Bug. In der Ferne seh ich ein paar Föhren, Stolzen Wuchses, mit Giraffenbeinen, Und sie scheinen Mir dem Fiskus zu gehören. Gleich einem Zuge grau zerlumpter Strolche Bedrohlich schwankend wie betrunkne Särge Gehn Abendwolken über jene Berge, In ihren Lumpen blitzen rote Sonnendolche. Da wächst, ein schwarzer Bauch, aus dem Gelände Der Landgendarm, daß er der Ordnung sich beflisse, Und scheucht mit einem bösen Schütteln seiner Hände Die Abendwolkenstrolche fort ins Ungewisse. Erich Kaestner Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen! Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn in den Büros, als wären es Kasernen. Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe. Und unsichtbare Helme trägt man dort. Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe. Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort! Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will - und es ist sein Beruf etwas zu wollen steht der Verstand erst stramm und zweitens still. Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen! Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen und mit gezognem Scheitel auf die Welt. Dort wird man nicht als Zivilist geboren. Dort wird befördert, wer die Schnauze hält. Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein. Es könnte glücklich sein und glücklich machen? Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen. Selbst Geist und Güte gibt's dort dann und wann! Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen. Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann. Das will mit Bleisoldaten spielen. Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün. Was man auch baut - es werden stets Kasernen. Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen! J. W. Goethe Mignon Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht? Kennst du es wohl? Dahin! Dahin Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn. Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach, Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach, Und Marmorbilder stehn und sehn mich an: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Kennst du es wohl? Dahin! Dahin Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn. Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg, In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut; Es stürzt der Fels und über ihn die Flut. Kennst du ihn wohl? Dahin! Dahin Geht unser Weg! o Vater, laß uns ziehn! Sachliche Romanze Als sie einander acht Jahre kannten (und man darf sagen: sie kannten sich gut), kam ihre Liebe plötzlich abhanden. Wie andern Leuten ein Stock oder Hut. Sie waren traurig, betrugen sich heiter, versuchten Küsse, als ob nichts sei, und sahen sich an und wußten nicht weiter. Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei. Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken. Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken. Nebenan übte ein Mensch Klavier. Sie gingen ins kleinste Café am Ort und rührten in ihren Tassen. Am Abend saßen sie immer noch dort. Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort und konnten es einfach nicht fassen. Kleine Stadt am Sonntagmorgen Das Wetter ist recht gut geraten. Der Kirchturm träumt vom lieben Gott. Die Stadt riecht ganz und gar nach Braten und auch ein bisschen nach Kompott. Am Sonntag darf man lange schlafen. Die Gassen sind so gut wie leer. Zwei alte Tanten, die sich trafen, bestreiten rüstig den Verkehr. Sie führen wieder mal die alten Gespräche, denn das hält gesund. Die Fenster gähnen sanft und halten sich die Gardinen vor den Mund. Der neue Herr Provisor lauert auf sein gestärktes Oberhemd. Er flucht, weil es so lange dauert. Man merkt daran: Er ist hier fremd. Er will den Gottesdienst besuchen, denn das erheischt die Tradition. Die Stadt ist klein. Man soll nicht fluchen, Pauline bringt das Hemd ja schon Die Stunden machen kleine Schritte und heben ihre Füße kaum. Diee Langeweile macht Visite. Die Tanten flüstern über Dritte. Und drüben, auf des Marktes Mitte, schnarcht leise der Kastanienbaum. Der Handstand auf der Loreley (Nach einer wahren Begebenheit) Die Loreley, bekannt als Fee und Felsen, ist jener Fleck am Rhein, nicht weit von Bingen, wo früher Schiffer mit verdrehten Hälsen, von blonden Haaren schwärmend, untergingen. Wir wandeln uns. Die Schiffer inbegriffen. 5 Der Rhein ist reguliert und eingedämmt. Die Zeit vergeht. Man stirbt nicht mehr beim Schiffen, bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt. Nichtsdestotrotz geschieht auch heutzutage Noch manches, was der Steinzeit ähnlich sieht. So alt ist keine deutsche Heldensage, Daß sie nicht doch noch Helden nach sich zieht. Erst neulich machte auf der Loreley Hoch überm Rhein ein Turner einen Handstand! Von allen Dampfern tönte Angstgeschrei, als er kopfüber oben auf der Wand stand. Er stand, als ob er auf dem Barren stünde. Mit hohlem Kreuz. Und lustbetonten Zügen. Man frage nicht: Was hatte er für Gründe? Er war ein Held. Das dürfte wohl genügen. 10 15 20 Er stand, verkehrt, im Abendsonnenscheine. Da trübte Wehmut seinen Turnerblick. Er dachte an die Loreley von Heine. Und stürzte ab. Und brach sich das Genick. Er starb als Held. Man muß ihn nicht beweinen. Sein Handstand war vom Schicksal überstrahlt. Ein Augenblick mit zwei gehobnen Beinen Ist nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt! P.S. Eins wäre allerdings noch nachzutragen: Der Turner hinterließ uns Frau und Kind. Hinwiederum, man soll sie nicht beklagen. Weil im Bezirk der Helden und der Sagen die Überlebenden nicht wichtig sind. 25 30 BERTOLT BRECHT Lesebuch für Städtebewohner I (Verwisch die Spuren) Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Bahnhof Gehe am Morgen in die Stadt mit zugeknöpfter Jacke Suche dir Quartier und wenn dein Kamerad anklopft: Öffne, o öffne die Tür nicht Sondern Verwisch die Spuren! Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten Zeige, o zeige dein Gesicht nicht Sondern Verwisch die Spuren! Iß das Fleische, das da ist! Spare nicht! Gehe in jedes Haus, wenn es regnet, und setze dich auf jeden Stuhl, der da ist Aber bleibe nicht sitzen! Und vergiß deinen Hut nicht! Ich sage dir: Verwisch die Spuren! Was immer du sagst, sag es nicht zweimal Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn. Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat Wie soll der zu fassen sein! Verwisch die Spuren! Sorge, wenn du zu sterben gedenkst Daß kein Grabmal steht und verrät, wo du liegst Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt Und dem Jahr deines Todes, das dich überführt! Noch einmal: Verwisch die Spuren! (Das wurde mir gesagt.) Erinnererung an die Marie A. An jenem Tag im blauen Mond September Still unter einem jungen Pflaumenbaum Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe In meinem Arm wie einen holden Traum Und über uns im schönem Sommerhimmel War eine Wolke, die ich lange sah Sie war sehr weiß und ungeheuer oben Und als ich aufsah, war sie nimmer da. Seit jenem Tag sind viele, viele Monde Geschwommen still hinunter und vorbei. Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen Und fragst du mich, was mit der Liebe sei? So sage Ich dir: Ich kann mich nicht erinnern Und doch, gewiß, ich weiß schon was du meinst. Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst. Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen Wenn nicht die Wolke dagewesen wär Die weiß ich noch und werd ich immer wissen Sie war sehr weiß und kam von oben her Die Pflaumenbäume blühen vielleicht noch immer Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind Doch jene Wolke blühte nur Minuten Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind. Seeräuber-Jenny 1 Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen Und ich mache das Bett für jeden. Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell Und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden. Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden. Aber eines Abends wird ein Geschrei sein am Hafen Und man fragt: Was ist das für ein Geschrei? Und man wird mich lächeln sehn bei meinen Gläsern Und man sagt: Was lächelt die dabei? Und ein Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird liegen am Kai. 2 Man sagt: Geh, wisch deine Gläser, mein Kind Und man reicht mir den Penny hin. Und der Penny wird genommen, und das Bett wird gemacht! (Es wird keiner mehr drin schlafen in dieser Nacht.) Und sie wissen immer noch nicht, wer ich bin. Und sie wissen immer noch nicht, wer ich bin. Aber eines Abends wird ein Getös sein am Hafen Und man fragt: Was ist das für ein Getös? Und man wird mich stehen sehen hinterm Fenster Und man sagt: Was lächelt die so bös? Und das Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird beschiessen die Stadt. 3 Meine Herren, da wird ihr Lachen aufhören Denn die Mauern werden fallen hin Und die Stadt wird gemacht dem Erdboden gleich. Nur ein lumpiges Hotel wird verschont von dem Streich Und man fragt: Wer wohnt Besonderer darin? Und man fragt: Wer wohnt Besonderer darin? Und in dieser Nacht wird ein Geschrei um das Hotel sein Und man fragt: Warum wird das Hotel verschont? Und man wird mich sehen treten aus der Tür am Morgen Und man sagt: Die hat darin gewohnt? Und das Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird beflaggen den Mast. 4 Und es werden kommen hundert gen Mittag an Land Und werden in den Schatten treten Und fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür Und legen ihn in Ketten und bringen vor mir Und fragen: Welchen sollen wir töten? Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen Wenn man fragt, wer wohl sterben muss. Und dann werden Sie mich sagen hören: Alle! Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla! Und das Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird entschwinden mit mir. An die Nachgeborenen Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende Hat die furchtbare Nachricht Nur noch nicht empfangen. Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! Der dort ruhig über die Straße geht Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde Die in Not sind? Es ist wahr: Ich verdiene nur noch meinen Unterhalt Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen. Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren. Man sagt mir: Iss und trink du! Sei froh, dass du hast! Aber wie kann ich essen und trinken, wenn Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und Mein Glas Wasser einem Verdursteten fehlt? Und doch esse und trinke ich. Ich wäre gerne auch weise. In den alten Büchern steht, was weise ist: Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit Ohne Furcht verbringen Auch ohne Gewalt auskommen Böses mit Gutem vergelten Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen Gilt für weise. Alles das kann ich nicht: Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung Als da Hunger herrschte. Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs Und ich empörte mich mit ihnen. So verging meine Zeit Die auf Erden mir gegeben war. Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten Schlafen legte ich mich unter die Mörder Der Liebe pflegte ich achtlos Und die Natur sah ich ohne Geduld. So verging meine Zeit Die auf Erden mir gegeben war. Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit. Die Sprache verriet mich dem Schlächter. Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich. So verging meine Zeit Die auf Erden mir gegeben war. Die Kräfte waren gering. Das Ziel Lag in großer Ferne Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich Kaum zu erreichen. So verging meine Zeit Die auf Erden mir gegeben war. Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht Auch der finsteren Zeit Der ihr entronnen seid. Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung. Dabei wissen wir doch: Auch der Hass gegen die Niedrigkeit Verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht Macht die Stimme heiser. Ach, wir Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit Konnten selber nicht freundlich sein. Ihr aber, wenn es soweit sein wird Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist Gedenkt unsrer Mit Nachsicht. Der Radwechsel Ich sitze am Straßenhang. Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? DIE LÖSUNG Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, daß das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes?