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Ewald Gäßler Ch ris tel Ir ms che r: K u nst u nd C odie r u ng Im vergangenen Jahr zeigte Christel Irmscher im Stadtmuseum Oldenburg vom 4. Oktober bis 1. November eine Ausstellung ihrer damals neuesten Werke unter dem Titel „Kunst-Rasen - Bilder und Objekte". Die Präsentation fand einige Beachtung, weil sich schnell herumsprach, daß Ungewöhnliches zu sehen sei. Im unteren großen Ausstellungssaal waren etliche Quadratmeter Plastik-Kunstrasen aus Rasenmatten mit Lochmuster ausgelegt, nicht beliebig und lieblos verteilt oder vollflächig wie auf einer Gartenterrasse oder zu Demonstrationszwecken im Baustoffmarkt, sondern säuberlich arrangiert in zwei Flächen, die sich in der Größe unterschieden, aber in ihrer Gestalt sehr ähnlich waren. Dieses erkennbar ausgetüftelte Arrangement machte zugleich auf die serielle Struktur dieser Plastikmatten aufmerksam. Ihre Verfrachtung aus dem Baumarkt in den Kunstraum und die Möglichkeit, diese Matten mit sich ständig wiederholenden und perpetuierenden Mustern und Strukturen als Kunstwerke zu betrachten, die auf einen anderen gesellschaftlichen Code verweisen, machte aus den mit Füßen getretenen Gebrauchsgegenstand einen interessiert beäugten Kunstgegenstand, den kein Besucher zu betreten wagte. Zu diesem Verhalten trugen allerdings auch die Bilder bei, die zu den Kunstrasenflächen an der langen Wand des Saales korrespondierten. Sie waren auf der Rückseite von gebräuchlichem Kunstrasen gemalt, aber so, daß nur die kleinen Noppen benutzt wurden, die in regelmäßigem Abstand und auf Lücke versetzt die gesamte Fläche überziehen. Der serielle Code des Rasens auf dem Fußboden war für jeden Betrachter offensichtlich negativ gespiegelt auf die Noppenfläche der Bilder übertragen und bestimmte deren eigentümliche Malstrukturen auf der Basis eines Punktrasters. Die Malflächen waren wiederum von gleicher Größe, das Noppenraster also identisch, aber jedes einzelne Bild zeigte, daß auf dem gleichen Raster mit den gleichen Mitteln etwas jeweils völlig anderes entstehen konnte. Ein großflächiges Bild, das wie ein Teppich im oberen Ausstellungssaal ausgestellt wurde, visualisierte auf eindrucksvolle Weise das angestimmte Thema. Mit phantastischen Formen, die in variierenden Kurvaturen und Gestaltelementen, die einem vielfältigem Puzzle entsprechend die Fläche überzogen, wurde das Noppenraster überspielt, so daß sich für den Betrachter der Charakter eines Blütenteppichs einstellte, der den Kunstrasen überwuchert. Das Formen- und Farbenspiel der künstlerischen Arbeit ist also durchaus in der Lage, aus dem stereotypen Raster eine phantasievolle Welt zu zaubern. Damit hatte Christel Irmscher die Grundlagen für die Werke ihrer neuesten Arbeitsphase bereits weitgehend durchdekliniert: Verwendung gebräuchlicher Produkte aus der Alltagswelt, die in den Code des Kunstsystems transponiert werden, Rückgriff auf Rastersysteme, die in unserer technischen Zivilisation und in der Warenwelt vielfältig vorhanden sind, Verdoppelungen, systematische Codierungen, Spiegelungen vom Positiven zum Negativen und umgekehrt, spielerischer, künstlerischer und intelligenter Umgang mit verschiedenen Gestaltungsmitteln, die dem Raster eine Fülle von optischen und inhaltlichen Variationen abgewinnen, Bedingtheit durch Normierung einerseits und Vielfalt durch künstlerische Gestaltung andererseits, Visualisierung in räumlichen Anordnungen, die jeweils einen Sinnzusammenhang ergeben. Auf dieser Basis hat Christel Irmscher konsequent weitergearbeitet und die Ergebnisse nun in der Ausstellung „mater matrix" im Städtischen Museum Göttingen vorgestellt. Den Auftakt bildet ein Raum mit einer Kunstrasenbank auf einem Stück Kunstrasen, bei denen allerdings zum Befremden des Betrachters oder Benutzers wiederum die Unterseite mit den Noppen zu oberst gekehrt ist -eine verkehrte Welt. An den Wänden drei Bilder mit Schafen auf dem schon bekannten Noppenraster von Kunstrasen gemalt, und eine Landschaft mit Wolken über einem Deich. Betrachtet man die Bilder genauer, so stellt man fest, daß es sich bei den Darstellungen der Schafe und der Landschaft um Bilder in einem Bild handelt, d.h. daß das Noppenraster wie eine Projektionsfläche erscheint, vor der die Bilder der Schafe und der Landschaft stehen. Dies bedeutet, daß die Bilder nicht Wiedergabe von Objekten sind, sondern von Bildern, in denen Realität bereits gespiegelt wurde. Es handelt sich also um medial vermittelte Realität. beim zweiten Hinsehen stellt der Betrachter fest, daß die künstlerische Verwendung des Noppenrasters die Darstellung eines perspektivischen Raumes der gewöhnlichen Seherfahrung ausschließt und ebenso die weichen Rundungen, die in den von Medien vermittelten Bildern von Schafen zum Inbegriff von „weich und kuschelig" stilisiert werden. Das grobe Punktraster der Kunstrasennoppen läßt das Bild erstarren und den Betrachter von der Komplexität der Bezüge zwischen Bildern und Realität verwirrt auf der Bank platznehmen: Da fällt ihm vielleicht das Gedicht „Geburtsakt der Philosophie" von Christian Morgenstern ein, das die Situation sehr passend beschreibt: „Erschrocken staunt der Heide Schaf mich an, als sähs in mir den ersten Menschenmann. Sein Blick steckt an; wir stehen wie im Schlaf; mir ist, ich sah zum ersten Mal ein Schaf." Haben die Schafe auf diesen Bildern bei aller Rasternormung noch eine gewisse Individualität, so geht diese in einer weiteren fotographischen Arbeit von Christel Irmscher vollständig verloren. Das Foto des Schafes wird mehrfach reproduziert und zwar durch technische Verfahren so exakt, daß ein neues identisches Bild entsteht und noch ein weiteres usw. Was heute in den Labors der Gentechnologie geschieht, wenn das Schaf „Dolly" geklont wird, d.h. genetisch verdoppelt wird, wird in der Reihung identischer Reproduktionen veranschaulicht. Nur durch einen Zwischenraum getrennt, aber in optischer Beziehung sind dazu auf runden Holzscheiben Reproduktionen historischer Abbildungen von Filmszenen und Kinoplakaten zum „Doppelten Lottchen" arrangiert, die mit ihrem deutlich erkennbaren Punktraster das Thema weiterspinnen in den Bereich menschlicher Existenz und dessen Verdoppelung durch genetische Codes. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man die Bilder der Zwillinge als Wiederholung des Gleichen abtun. Die eingehende Betrachtung offenbart aber die Differenziertheit jeder einzelnen Darstellung, die sich von den anderen unterscheidet, die Darstellungen des Gleichen sind nicht identisch, was darauf schließen läßt, daß die gleichen genetischen Codes nicht zu identischen Reproduktionen fuhren. Das Arrangement historischer Standbilder von Filmsequenzen auf trivialem Material, nämlich einem punktiertem Glitzerpapier, das auf runden Holzscheiben aufkaschiert ist, die man als drehbare Käseplatten bei Ikea kaufen kann, und die Aufrasterung dieser Bilder durch das Punktraster einer Computergraphik verweist auf einen weiteren Sinnzusammenhang, der im selben Raum angesprochen wird. Historische Sammelbildchen, bereits im Offsetverfahren reproduziert, die vergangene Kulturen veranschaulichen, die von James Cook im 18. Jahrhundert entdeckt und erforscht wurden, sind mit Hilfe von Computertechnik erneut aufgerastert und reproduziert an den Stellwänden plaziert. Das Arrangement verweist darauf, daß Vergangenes und Kulturdepots in Sammlungen verschiedenster Art uns nur noch über die Computerisierung in den verschiedensten Medien erreichen, daß Dinge, Objekte oder Personen uns häufig nur noch aufgelöst in Computerpunkte erscheinen. Das Punktraster entwickelt sich so zur Matrix, zu einem System und einem Schema, in das sich unterschiedliche Materialien und Faktoren einordnen lassen, insbesondere aber die Gegenstände und Erfahrungen der Alltagswelt, der Konsumwelt und der industriellen Produktion. Auf den Bildern von Christel Irmscher erscheinen auf dem Punktraster der Noppen ihrer Bilder und durch diese Matrix konstituiert die Serien der immer gleichen Flaschen, Gartenstühle, und T-shirts, aus der Nähe betrachtet von verblüffender Plastizität, aus der Ferne schemenhaft flimmernd wie Projektionsflächen ohne Materialität. Inzwischen hat die Künstlerin ein anderes triviales Massenprodukt entdeckt, mit dem sich das Spiel der Verdoppelung, der Paarung, der Ordnung und ihrer Dekonstruktion, das Verwirrspiel von Figuration und Abstraktion ebenso gekonnt treiben läßt wie mit den Noppen des Kunstrasens. Es sind Schokodrops, sogenannte „Smarties". Sie sind mit ihrer Knopfform den Punkten und Noppen sehr verwandt, sie sind als Massenprodukt genormt, immer von gleicher Größe und Form und nur durch die Farbe unterschieden, sie sind also häufig gleich und teilweise identisch und lassen sich wie Punktraster ordnen, zu Mustern zusammenlegen, durch Spiegel verdoppeln, in Kästchen abpacken. Betrachtet man den mit Smarties beklebten Tisch in der Mitte des Raumes, so erscheinen die vier Tischbeine mit Schokodrops von jeweils gleicher Farbe beklebt, bis die Tischplatte erreicht ist, dann entwickeln sich von den Tischrändern her identische Muster, die zur Mitte des Tisches hin im Chaos enden. An den Wänden hängen vor Spiegeln aus Metallfolie sorgfältig abgepackte Plastikpäckchen mit Smarties. Der interessierte Betrachter wird versuchen zu ermitteln, ob denn in den Päckchen gleichviel Schokodrops von gleicher Farbe sind, ob also die Päckchen identisch abgepackt sind. Es gelingt zwar nicht, dies zweifelsfrei zu ermitteln, die Wahrscheinlichkeit spricht allerdings dafür, weil die gesamte Installation wie ein wissenschaftliches Experiment mit genormten Größen aufgebaut ist. Angenommen die Päckchen sind tatsächlich hinsichtlich der Zahl der Drops und ihrer Farbigkeit identisch, so ist die Verteilung doch nicht die gleiche, was wiederum bewirkt, daß die Spiegelbilder alle verschieden sind, wovon sich der Betrachter unmittelbar überzeugen kann. Verblüffend ist die Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Ungleichheit, von Ordnung und Chaos, die auseinander erwachsen, obwohl die Ausgangsmaterialien normierte Einheiten sind, die sich als materielle Objekte befühlen, betrachten und untersuchen lassen. Diese materielle Dignität der künstlerischen Versuchsanordnung wird von Christel Irmscher mit ihrer zuletzt als Diaprojektion entwickelten Arbeit verlassen. Als Projektionswand dient wiederum die genoppte Rückseite eines Kunstrasenstückes. Die Noppen sind weiß bemalt, allerdings ergibt sich durch leichte Abweichungen im Ton und in der Malstruktur - auf der Projektionsfläche kein starres Raster, sondern eine diffuse Struktur, die die starre Ordnung aufbricht. Auf diesen ambivalenten Hintergrund werden Dias projiziert, die unterschiedlichen Realitätsebenen zuzurechnen sind. Die Dias sind entweder dadurch entstanden, daß transparente Buntpapiere, collagiert wie konstruktivistische Kompositionen - in Diarähmchen geklemmt sind, Fotos von Kunstobjekten aus dem Museum „gecrosst" wurden, d.h. in den zur realen Farbigkeit komplementären Farben erscheinen, oder daß Reproduktionen aus einer Publikation zur Astronomie und Astrophysik dupliziert und dann in komplementärer Farbigkeit als Dias entwickelt wurden. Die Diafolge ist so gestaltet, daß die verschiedenen Diaserien wie nach dem Zufallsprinzip durchmischt erscheinen. Eine spezielle Ordnung ist zumindest nicht erkennbar. Die Projektion erzeugt reines farbiges Licht, das nur durch die Matrix der Projektionswand gerastert erscheint. Das projizierte reale Transparentpapier erzeugt dabei die abstraktesten Muster. Die gecrossten Reproduktionen von fernen Spiralnebeln und Galaxien, von Planetenbahnen und Weltuntergängen erscheinen demgegenüber wie Tatsachenberichte. Reales erscheint irreal, Unwirkliches real, Ordnung verwandelt sich in Chaos, Chaos wird durch die Strukturen der Matrix geordnet, Materie verwandelt sich in immaterielles Licht, Licht erscheint als materialisierte Form. Dem Betrachter wird bei diesem ernsthaften Spiel mit Rastern, Kopien, Matritzen, Verdoppelungen, Spiegelungen, Materie, Farben und Licht ein präzises Wahrnehmungs- und Unterscheidungsvermögen abverlangt. Letztlich kreist die Vielfalt der künstlerischen Variationen aber immer wieder um ein Thema, nämlich die in allen diesen Kunstwerken sich manifestierende Dichotomie von Kausalität und Freiheit.