10 fokus biedermeier - Schulbuchverlag Hölder Pichler Tempsky

Transcription

10 fokus biedermeier - Schulbuchverlag Hölder Pichler Tempsky
SPURENSUCHE
Stuiber
10 FOKUS BIEDERMEIER
WAHRHEIT UND LÜGE (zusätzlicher Themenbogen)
Am Ende siegt immer die Wahrheit.
Aber leider sind wir erst am Anfang.
(Žarko Petan, * 1929)
Das Schlimmste, das man der Wahrheit antun
kann,
ist, sie zu kennen und dennoch zu ignorieren.
(Jacques Benigne Bossuet, 1627 – 1704)
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.
(Ingeborg Bachmann in einer Dankrede anlässlich der Verleihung des „Hörspielpreises der
Kriegsblinden“, 17. März 1959, Festakt im Bundeshaus in Bonn, heute ihre Grabinschrift auf dem
Friedhof Klagenfurt-Annabichl)
Wahrheit oder Lüge?
Fast Food
„Light“ Produkte
„Also wirklich, Kevin! Du wirst dir deine Zähne runieren!“
© Verlag Hölder-Pichler-Tempsky GmbH & Co. KG, Wien 2012
1
SPURENSUCHE
Stuiber
Vieles, was wir zu wissen glauben, wird uns durch diverse Medien suggeriert1. Dies geschieht über
eine manipulierte Informationsflut, die uns gezielt vermittelt wird. Diese Informationen werden
jedoch grundsätzlich von Menschen verbreitet, die ein Interesse an der Weiterleitung der
Informationen haben. Vieles, was uns die Medien glaubhaft machen wollen, wird mit System, mit
Absicht und mit hohem Geldeinsatz gelenkt. Teilweise sind die Informationen der Medien,
inklusive der Werbung, einfach falsch und verbreiten gezielt Halbwissen und Fehlinformationen.
Arbeitsimpuls: Teamarbeit
 Light-Produkte machen schlank.
 Energydrinks verleihen „Flügel“.
 Fast-Food macht nicht dick.
 Die Werbung beeinflusst Kaufgewohnheiten nicht.
 Internet-Kommunikationssysteme wie „Facebook“ etc. bilden keine Bedrohung für die persönliche,
private Sphäre.
 Täglich ein Gläschen Alkohol schadet nicht.
 Schulwissen hilft uns zu 100 % im zukünftigen Leben.
 Reduzierter Energieverbrauch im Privatbereich bewirkt so gut wie nichts.
 Wenn man nur ein bis zwei Zigaretten pro Tag raucht, schadet das der Gesundheit nicht.
 Alternative Treibstoffe können herkömmliche nicht ersetzen.
 Englische Ausdrücke wie „chillen“, „surfen“, „Nail center“ sind „cooler“ als deutsche.
 BIO-Produkte sind garantiert aus biologischem Anbau.
 Die teuersten Markenartikel (Sportartikel, Kosmetik, Kleidung …) sind auch die besten.
 Konsum und Materialismus sind gut und erstrebenswert.
 Atomkraftwerke sind sichere Technologie. Stresstests 100 % verlässlich.
 Was gut für Konzerne ist, ist auch gut für die Gesellschaft.
 Die Medien sind unabhängig und ihre Berichte vollständig glaubwürdig.
 Die Politik eines Landes wird nicht von wirtschaftlichen Interessen beeinflusst.
Sucht euch von diesen Aussagen eine aus (oder fügt eine aus den Medien hinzu) und diskutiert den
„Wahrheitsgehalt“ dieser Behauptungen erst im kleinen Team, anschließend im Plenum.
Franz Grillparzer: Weh dem, der lügt! (1838)
Inhalt: Der Wahrheitsfanatiker Bischof Gregor bereitet – im Garten spazierend – seine Predigt vor:
Dein Wort soll aber sein: Ja, ja; nein, nein.
Denn was die menschliche Natur auch Böses kennt,
Verkehrtes, Schlimmes, Abscheuwürd‘ges,
Das Schlimmste ist das falsche Wort, die Lüge.
Wär‘ nur der Mensch erst wahr, er wär‘ auch gut.
[…]
Zuletzt noch: Freundschaft, Liebe, Mitgefühl
Und all die schönen Bande unsers Lebens,
Woran sind sie geknüpft als an das wahre Wort?
Wahr ist die ganze kreisende Natur;
Wahr ist der Wolf, der brüllt, eh‘ er verschlingt,
Wahr ist der Donner, drohend, wenn es blitzt,
Wahr ist die Flamme, die von fern schon sengt,
1
suggerieren/Suggestion: beeinflussen, einreden, glauben machen/positive od. negative Beeinflussung
© Verlag Hölder-Pichler-Tempsky GmbH & Co. KG, Wien 2012
2
SPURENSUCHE
Stuiber
Die Wasserflut, die heulend Wirbel schlägt;
Wahr sind sie, weil sie sind, weil Dasein Wahrheit.
Was bist denn du, der du dem Bruder lügst,
Den Freund betrügst, den Nächsten hintergehst? […]
Ein Teufel bist du, der allein ist Lügner,
Und du ein Teufel, insofern du lügst.
In des Bischofs tiefsinnige Gedanken platzt der Küchenjunge Leon, der ihm übermäßige
Sparsamkeit, ja Geiz, vorwirft, weswegen er nichts Rechtes kochen könne und deshalb kündigen
müsse. Der Bischof erklärt dem Aufgebrachten, dass er sparen müsse, um das Lösegeld für seinen
von barbarischen Germanen gefangen genommenen Neffen Atalus aufbringen zu können. Leon
erklärt sich bereit, Atalus zu befreien, er würde ihn schon „herauslügen“. Doch dieses Verfahren ist
für den Bischof moralisch dermaßen untragbar, dass er Leon ein drohendes „Weh dem, der lügt“
entgegen schleudert und ihm für das Befreiungswerk harte Bedingungen stellt.
Gregor:
Und wenn du‘s wolltest, wenn du‘s unternähmst,
Ins Haus des Feinds dich schlichest, ihn betrogst,
Missbrauchtest das Vertraun, das Mensch dem Menschen gönnt,
Mit Lügen meinen Atalus befreitest;
Ich würd‘ ihn von mir stoßen, rück ihn senden
Zu neuer Haft; ihm fluchen, ihm und dir.
Leon erklärt sich mit den Bedingungen einverstanden und macht sich beherzt auf den Weg zum
Grafen Kattwald, der Atalus gefangen hält. Er verdingt sich beim Grafen Kattwald als Koch und
formuliert die Wahrheit – nämlich seine Flucht- und Befreiungsabsichten – so witzig und
übertrieben, dass jeder diese für eine scherzhafte Lüge hält. So gelingt es ihm schließlich mit Atalus
zu fliehen. Die Tochter des Grafen Kattwald, die kluge und ebenfalls mutige Edrita, folgt ihm, um
nicht den „dummen“, jedoch standesgemäßen Galomir heiraten zu müssen. Lange scheint es, als
ob die Flucht gelänge, bis sie schließlich doch vom Grafen und seiner Gefolgschaft eingeholt
werden. In letzter Minute werden sie vom Bischof selbst gerettet. Dieser muss einsehen, dass sein
rigoroser Wahrheitsanspruch die Menschen überfordert. Edrita wird Christin, um Leon heiraten zu
können, und Leon wird vom Bischof als „zweiter Neffe“ angenommen, um den Standesunterschied
zu der Grafentochter Edrita auszugleichen. Zwei gleichwertige Partner haben sich gefunden. Damit
ist das Glück perfekt.
Seiner Zeit voraus zeigt sich Grillparzer, indem er in seinem Lustspiel die Standesunterschiede
relativiert: Der Küchenjunge Leon ist viel intelligenter als Atalus und Galomir, und Edrita ist dem
Mann Leon – in Bezug auf Intelligenz, Flexibilität, Sprachwitz und Courage – völlig ebenbürtig.
Arbeitsimpuls: www.@ Internetrecherche bzw. Problemaufsatz (Einzelarbeit)
1. Recherchiere im Internet die Definition von Wahrheit und Lüge.
2. Greifen die moralischen Ansprüche („Niemals lügen!“) Bischof Gregors zu hoch? Ist der Anspruch
auf ein rigoroses „Wahrheitsmonopol“ die Basis für jede Art von politischem oder/und religiösem
Fanatismus?
3. Beziehe in deinen Problemaufsatz die Erkenntnisse der Psychologie und Kriminologie
(Lügendetektor etc.) mit ein.
4. Welche Informationen findet man in „Spurensuche“ über den Dichter Franz Grillparzer, seine
Werke und Themen?
© Verlag Hölder-Pichler-Tempsky GmbH & Co. KG, Wien 2012
3
SPURENSUCHE
Stuiber
Tipps zur Dramen- /Szenenanalyse anhand von Grillparzers „Weh dem, der lügt“
Es empfiehlt sich für die Analyse, den ganzen 1. Aufzug zu lesen.
1. Autor, Titel des Dramas, Gattung, Epochenzuordnung
Franz Grillparzer: „Weh dem, der lügt“ – Lustspiel, Biedermeier
2. Wie viele Akte hat das Stück? Welcher Akt, Aufzug, welche Szene bzw. welcher Szenenausschnitt
wird analysiert?
5 Akte bzw. Aufzüge. Ein Szenenausschnitt aus dem 1. Aufzug wird analysiert.
3. Ort und Zeit der Handlung
größtenteils im Rheingau bei Trier zur Zeit der Merowinger (5. bis 8. Jh.)
4. Versmaß/Metrum
fünffüßige Jamben (vgl.  Literarische Textformen, S. 446)
5. Analyse, welche Erkenntnisse über die Figur aus dem Monolog gezogen werden können. Was
verraten Dialog bzw. Figurenrede über den Bezug der Charaktere zueinander?
Aus dem Monolog des Bischofs und seinem Dialog mit Leon geht der absolute Wahrheitsanspruch
Bischof Gregors hervor, der sogar vor (unchristlicher) Unmenschlichkeit seinem Neffen Atalus gegenüber
nicht zurückschreckt: „Ich würd ihn von mir stoßen, rück ihn senden zu neuer Haft, ihm fluchen, ihm und
dir.“
(Eine Analyse der Beziehung der Figuren zueinander ist nur möglich, wenn man zumindest den 1.
Aufzug liest.)
Pinocchio (Disney-Film, 1940)
Carlo Collodi: Die Abenteuer von Pinocchio. Die Geschichte eines
Hampelmanns (1883)
Collodis Geschichte von Pinocchio, der eigenwilligen kleinen Holzfigur, die nach einer Reihe von
Abenteuern zum richtigen Jungen wird, gehört zu den Klassikern der Kinderliteratur. Trotz
tausender guter Vorsätze – wie: in die Schule zu gehen, brav zu lernen, ein guter, fleißiger Junge zu
sein – gelingt es Pinocchio nie länger durchzuhalten. Er kann Versuchungen nicht widerstehen,
wenn z. B. das Puppentheater lockt oder ein Ausflug ins Schlaraffenland. Am schwersten aber fällt
es ihm, bei der Wahrheit zu bleiben, obwohl die Unwahrheit physisch bei ihm sichtbar wird, denn
bei jeder Lüge wird seine Nase ein Stück länger. Pinocchios Erlebnisse sind im Grunde genommen
echte Horrorgeschichten: Pinocchio muss unausgesetzt vor gefährlichen Situationen fliehen.
Bissige Hunde verfolgen ihn, heimtückische Räuber und Mörder bedrohen ihn. Nur knapp kommt
er – in einer bösen, männlich dominierten Welt – immer wieder mit dem Leben davon. Die einzig
weibliche Figur ist eine positive, wenn auch „pädagogische“: Die gute Fee errettet ihn zwar einige
Male aus größter Not, doch bestraft sie ihn bei jeder Lüge mit einer wachsenden Nase. Schließlich
wird Pinocchio aber doch erwachsen, übernimmt Verantwortung für seinen Vater, wird fleißig und
brav. Zum Lohn wird er in einen Menschen von Fleisch und Blut verwandelt.
© Verlag Hölder-Pichler-Tempsky GmbH & Co. KG, Wien 2012
4
SPURENSUCHE
Stuiber
Lebenslügen bei Ibsen
Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das
Glück.
(Relling in Ibsens „Die Wildente“)
Als „Lebenslüge“ wird eine teilbewusste beschönigende Verzerrung der Wahrheit bezeichnet, die
einem Menschen das Dasein erträglich macht. Diese Unwahrheit betrachtet der sich Belügende –
oft aus Gründen des Selbstschutzes – als Wahrheit, da die tatsächliche Wahrheit sein bisheriges
Selbst- und/oder Fremdbild zerstören würde.
Der Begriff „Lebenslüge“ stammt von dem norwegischen Dramatiker des Naturalismus Henrik
Ibsen. Ibsen prangert damit die für die damalige bürgerliche Gesellschaft typische scheinheilige
Verlogenheit und Doppelmoral sowie das krampfhafte Festhalten an sinnentleerten Konventionen
an. „Es ist nichts daran gelegen, wenn eine lügenhafte Gesellschaft zugrunde geht“, sagt Dr.
Stockmann, der zum „Volksfeind“ abgestempelt wird, als er einen gefährlichen Umweltskandal
aufdecken will ( S. 253 f.). In Ibsens Drama „Gespenster“ hält Frau Alving die Lügenfassade einer
Bilderbuchehe mit einem hoch geachteten Bürger über 18 Jahre lang aufrecht. In Wahrheit hat ihr
verstorbener Mann nicht nur ständig Affären mit anderen Frauen gehabt, sondern sie – und damit
auch den gemeinsamen Sohn Oswald – mit Syphilis angesteckt. Oswald jedoch geht an den Folgen
dieses „Vatererbes“ („Hirnerweichung“= allmähliche Geistesgestörtheit) langsam zugrunde.
Auch Nora und Torvald Helmer in Ibsens „Nora oder ein Puppenheim“ haben ihre Ehe auf einer
Lebenslüge aufgebaut. Als Nora diese als solche entlarvt, verliert die Beziehung ihre Grundlage
( S. 251 f.).
Henrik Ibsen: Peer Gynt (1876)
Peer Gynt (Schauspiel Frankfurt, 2010)
Mit der Aussage seiner Mutter: „Peer, du lügst!“ beginnt Ibsens Drama. Mit seinen fantasievollen
Geschichten entzieht sich der Träumer Peer nicht nur jedweder Verantwortung für andere, sondern
auch für sein eigenes Leben. So kann er der Forderung „Sei du selbst!“ nie richtig nachkommen und
kein wahrhaftes, vollwertiges Leben führen. Ibsens Drama erzählt – basierend auf einem
norwegischen Volksmärchen – die Geschichte des jungen Bauern Peer Gynt, eines charmanten
Aufschneiders, Träumers und Fantasten. Andererseits ist Peer aber auch ein willensschwacher
Egozentriker, der vor der Realität in die beschönigende Lüge flüchtet. Peer raubt und verlässt eine
Braut, begegnet grotesken Trollen, verfällt der Tochter des Trollkönigs, wird reich durch
Sklavenhandel in Afrika, träumt davon, durch sein Geld zum Kaiser der Welt zu werden und landet
schließlich in Kairo in einer psychiatrischen Klinik. Als alter Mann und unerkannt kehrt Peer nach
Hause zurück. Er erfährt, dass man ihn für tot hält, einzig Solveig, seine große Liebe, wartet auf ihn.
Er trifft auf den Knopfgießer, der ihn – als Mann ohne Identität und daher wertlos – umgießen will.
Die Zwiebel wird zum Gleichnis seines Lebens: „Bis ins Innerste nur Häute und Häutchen – nur
dünnere und dünnere – kein fester Kern.“ Auf Identitäts- und Sinnsuche durchrast Peer, der
© Verlag Hölder-Pichler-Tempsky GmbH & Co. KG, Wien 2012
5
SPURENSUCHE
Stuiber
„nordische Faust“, sein Leben über Irrwege und Umwege, ständig zwischen Realität und Traum
schwebend – unbefriedigt, ziellos und haltlos, bis er am Ende feststellen muss, dass er am wahren
Sinn vorbeigelebt hat.
Henrik Ibsen verbindet Reales und Surreales auf humorvoll-ironische Weise, so dass sein Drama
„Peer Gynt“ als Vorläufer des absurden Theaters gilt.
Th. Kittelsen: Peer in der Halle des Dovre-Trollkönigs
Peer-Gynt-Weg (Norwegen)
Motivbearbeitungen
Der norwegische Komponist Edvard Grieg (1843 – 1907) komponiert die nationalromantische
Bühnenmusik zu Ibsens Schauspiel, die bekannte „Peer Gynt Suite“ („Morgenstimmung“, „In der
Halle des Bergkönigs“, „Solveigs Lied“)
Motivbearbeitungen: Wahrheit und Lüge
Gottfried August Bürger: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige
Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen (1786)
Arthur Miller: Tod eines Handlungsreisenden (1949)
Edward Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (1962)
© Verlag Hölder-Pichler-Tempsky GmbH & Co. KG, Wien 2012
6