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TOPICS schadenspiegel Das Magazin für Schadenmanager Ausgabe 2/2013 Land unter Ein Jahr nach Sturm Sandy sind die meisten Schäden repariert. Doch die Ostküste der USA muss sich auf künftige Naturereignisse vorbereiten. Seite 6 Naturgefahren Wie Extremwetter die Infrastruktur belastet Fine Art New Yorks Galerien unter Wasser Raumfahrt Teuerster Raketen absturz aller Zeiten Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, vor genau einem Jahr zog Supersturm Sandy über die Ostküste der USA. Wie jeder Hurrikan hinterließ auch Sandy einen ganz eigenen Footprint. In Erinnerung bleiben vor allem die enormen Verwüstungen im Küstenbereich insbesondere von New Jersey, aber auch die spekt akuläre Überflutung weiter Teile von Downtown New York. Jeder, der schon einmal am Ufer des Battery Parks stand und auf die Freiheitsstatue geblickt hat, weiß, wie knapp über dem Meeresspiegel diese Stelle liegt. Downtown Manhattan liegt wie ein flacher Kahn zwischen Hudson und East River. Die gewaltige Baustelle des One World Trade Center lief daher kurz nach Fertigstellung der komplexen unterirdischen Infrastruktur wie eine Badewanne voll Wasser. Weniger bekannt sind die Schäden im Fine-Art-Bereich. Trotz Vorwarnung wurden zahlreiche Galerien geflutet, was viele Kunstwerke in Kellern und Erdgeschossen erheblich beschädigte. Wie häufig nach solchen Ereignissen wird der Ruf nach besserer Prävention und sturmsicherer Bauweise laut. Schnell sind sich die Experten einig, was es alles zu verbessern gibt. Mit zunehmender Distanz zum Schaden treten diese Überlegungen jedoch häufig in den Hintergrund. In dieser Ausgabe des „Schadenspiegels“ widmen wir uns schwerpunktmäßig den Besonderheiten dieses Monster sturms aus schadenspezifischer und versicherungsrelevanter Sicht. Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Nicholas Roenneberg Head of Claims Management and Consulting at Munich Re NOT IF, BUT HOW Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 1 Sandy – ein Jahr danach Sturm Sandy hat offengelegt, wie verletzlich der Großraum New York bei schweren Naturkatastrophen ist. Pläne zur Verbesserung der Infrastruktur – um etwa Verkehrsadern wie den oben gezeigten Carey Tunnel gegen Fluten abzuschotten – wurden bislang nur teilweise umgesetzt. Mit dem auf 20 Milliarden Dollar aufgestockten Programm PlaNYC lassen sich künftige Schäden vermindern, nicht aber vermeiden. 2 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 6 Inhalt Aus dem Meer gewonnenes Trinkwasser ist weltweit ein gefragtes Gut. Sind die Leitungen jedoch nicht ausreichend verankert, drohen hohe Schäden. 34 Sandy – ein Jahr danach Wie verwundbar ist New York? Die Folgen von Sandy sind bereinigt. Jetzt bereitet sich die Stadt auf künftige Naturereignisse vor. 6 Hochwasser oder Sturm? Außer Kraft gesetzte Selbstbehalte kommen Versicherern bei Sandy teuer zu stehen. 10 Was Versicherer von Sandy lernen können Tipps für Versicherer im Umgang mit Massenklagen nach Naturkatastrophen 14 Sandy war ein Weckruf So leidet die marode Infrastruktur der USA durch Extremwetter. Kunstgalerien unter Wasser Sandy sensibilisiert die Kunstversicherung für Naturgefahren. 20 Obliegenheiten in der Kunstversicherung Rechtsfolgen für Galeristen nach Sandy 28 Property Das Hochwasser in Alberta Die Naturkatastrophe in Kanada – ein aktuelles Beispiel für die Anwendung der ACC-Klauseln 24 31 Der Absturz von Intelsat 27 geht als teuerster Schaden in die Geschichte der Raumfahrtversicherung ein. Satelliten dieser Größe kosten im Schadenfall fast die Hälfte der Weltmarktprämien eines Jahres. 40 interview Ein Vergleich wird langer Ungewissheit oft vorgezogen Warum beklagte US-Unternehmen vor Gericht oft einen Vergleich einem Urteil vorziehen. 32 Property Bruch der Ansaugleitung einer Meerwasserentsalzungsanlage34 Bei falscher Installation der Leitungsrohre drohen aufwendige Reparaturen und hohe BU-Schäden. Raumfahrt Teurer Fehlstart im Pazifik Defekte Steuerung verursacht teuersten Raketenabsturz aller Zeiten. Property Überschwemmung auf der Großbaustelle Schnelles und effektives Schadenmanagement spart Geld. 40 45 Vorwort1 Unternehmensnachrichten4 Kolumne48 Impressum Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 3 nachrichten schadenmanagement I Schadenmanagement II Schadensmanagement III Wetterextreme im östlichen Asien Schadenmanagement nach Naturkatastrophen Nathan Risk Suite mit erweiterten Optionen Nirgendwo auf der Welt ändern sich Wetterrisiken rascher als im östlichen Asien. Unsere neue Publikation „Severe weather in Eastern Asia“ befasst sich mit den Wettergefahren in der Region aus der Sicht des Rückversicherers. Die jüngste Häufung großer Natur katastrophen in verschiedenen Teilen der Welt hat gezeigt, welche Schlüsselrolle die Assekuranz für die Fähigkeit von Gesellschaften spielt, Großschäden zu bewältigen und sich davon zu erholen. Die Publikation erläutert die Grundlagen und physikalischen Prinzipien von Naturgefahrenphänomenen, erörtert deren Auftreten und Aus wirkungen und analysiert die damit verbundenen Schadenaspekte. Sie beschreibt die Faktoren, die den sich ändernden Risiken zugrunde liegen, darunter Klimavariabilität und Klimawandel, und unterlegt sie mit statistisch gesicherten Erkenntnissen. „Severe weather in Eastern Asia“ enthält außerdem Empfehlungen zur Risikominderung sowie zur Vorbereitung auf und zum Umgang mit Extremereignissen. Aus den dargestellten Erkenntnissen werden Schluss folgerungen für die ostasiatischen Versicherungsmärkte abgeleitet. Unsere neue Publikation “Claims management following natural catastrophes” untersucht große Naturkatastrophen der jüngsten Vergangenheit und versucht Erkenntnisse abzuleiten, die Versicherern helfen, ihre Vorsorge und ihr Schadenmanagement weiter zu verbessern. Untersucht werden die Ereignisse Hurrikan Katrina, die Erdbeben in Tohoku, Christchurch und Chile, die Überschwemmung in Thailand, Unwetter in den USA sowie der Supersturm Sandy. Die Publikation unterstreicht die Bedeutung einer professionellen Notfallplanung und liefert praktische Richtlinien, anhand derer Unternehmen ihre eigenen Pläne entwickeln und weiter verfeinern können. Die bewährte NATHAN Risk Suite verfügt ab sofort über noch mehr Funktionen. Mit den zusätzlichen Tools ist es möglich, Risiken aus Naturgefahren noch transparenter zu machen und Portfolios passgenau zu analysieren. Eine zusätzliche Funktion ermöglicht es, individuell bestimmbare Daten wie Versicherungssummen oder Schadenzahlungen in die Analyse einzubeziehen und für ein Portfolio auswerten zu lassen. >> Mehr Informationen erhalten Sie von ihrem Clientmanager oder unter: connect.munichre.com >> Mehr Informationen erhalten Sie von ihrem Clientmanager oder unter: connect.munichre.com Versicherungswerte lassen sich nun räumlich bestimmten Naturgefahren zonen und CRESTA-Zonen zuordnen. Der automatisch generierbare Portfolio Risk Assessment Report bietet Statistiken zu Daten wie Schaden höhen oder Versicherungssummen. Eine exakte Visualisierung der Risiken nach geographischer Lage rundet das Bild ab. >> Mehr Informationen unter: www.munichre.com/nathan Kurznachrichten Dieses Jahr feiert unsere Niederlassung in Peking 10-jähriges Jubiläum. Mit der Eröffnung der Niederlassung war Munich Re der erste internationale Rückversicherer, der eine Lizenz für Mehrsparten-Rückversicherungen im ganzen Land erhielt. Heute sind wir in China in allen Sparten des Rückversicherungsgeschäfts vertreten. Munich Re hat Bernhard Kaufmann (44) zum 1. Januar 2014 als Group Chief Risk Officer berufen. Kaufmann übernimmt diese Position von Joachim Oechslin, der in die Geschäftsleitung der Credit Suisse Group wechselt. 4 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Das neue Kundenseminar-Programm “Knowledge in dialogue 2014” ist da. Auch im kommenden Jahr bieten wir unseren internationalen Kunden ein umfangreiches Programm an Seminaren und Workshops. Zur Auswahl stehen Angebote zu allen wichtigen Versicherungs sparten wie auch zu speziellen Themenbereichen wie etwa „Financial lines insurance“ oder „Enterprise risk management“. Bitte kontaktieren Sie für weitere Informationen Ihren Client Manager. nachrichten 10 Jahre connect.munichre Sind Sie „connected“? Das exklusive Kundenportal von Munich Re feiert zehnjähriges Jubiläum. Mit connect bietet Munich Re Ihren Kunden eine sichere Online-Plattform mit Fachwissen, elektroni schem Datenaustausch und Dokumentenmanagement. Eine Nutzerbefragung ergab: Fast 90 Prozent der Kunden waren mit der Plattform zufrieden oder sehr zufrieden. Auf connect.munichre können unsere Kunden und Geschäftspartner rund um die Uhr Fachwissen und aktuelle Informationen aus der Versicherungswelt abrufen. Die bedarfsgerechte Online-Plattform bringt die Kunden mit den hausinternen Experten von Munich Re und ihrer jahrelangen Branchenerfahrung zusammen. Das Portal bietet dank modernster Technik und passwortgeschütztem Zugang eine sichere virtuelle Umgebung und gewährleistet den sicheren Austausch selbst hoch vertraulicher Informationen in den Bereichen Produktentwicklung, Underwriting, Risikomanagement und Schadenbearbeitung. Die Startseite bringt die neuesten Meldungen und führt die Anwender mit wenigen Klicks zu den breit gefächerten, informativen Inhalten des Portals. Die richtigen Lösungen für Ihr Geschäft Über 7.000 Nutzer der Projekträume profitieren vom elektronischen Datenaustausch und der Verwaltung von Dokumenten in Echtzeit – Informationen lassen sich damit oft sicherer und schneller übermitteln als per E-Mail und die Arbeit lässt sich besser organi sieren. Spezielle Online-Tools unterstützen die Kunden zum Beispiel bei der Identifizierung und Einschätzung von Risiken und vereinfachen so den Underwritingprozess. Topaktuelle Meldungen aus der Versicherungswelt und bequeme PDF-Downloads beliebter Publikationen wie Topics Magazin und Topics Schadenspiegel halten die Anwender stets auf dem neuesten Stand, was die aktuellen Trends auf dem globalen Versicherungsmarkt betrifft. Das Learning Centre bietet zur Auffrischung Ihres Fachwissens ein reichhaltiges Angebot an Seminaren und Workshops, die von Munich Re rund um den Globus angeboten werden, sowie schnelle und effektive E-Learning-Lösungen und Webinare. 2013 ist connect.munichre mit mehreren Tausend regelmäßigen Nutzern und einer wachsenden Zahl von Interessenten Marktführer. Fast 60 Prozent der User arbeiten schon seit über zwei Jahren mit connect.munichre. 2010 überschritt connect.munichre die Marke von einer Million Anwendersitzungen. Heute sind es rund 1,6 Millionen User Sessions – und fast drei Viertel der Kunden von Munich Re haben Zugang zu den Online-Services. >> Mehr Informationen erhalten Sie von ihrem Clientmanager oder unter: connect.munichre.com Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 5 Sandy Wie verwundbar ist New York ? Trotz genauer Vorhersagen und tagelanger Vorbereitungen richtete Sandy in den Küsten regionen im Nordosten der USA verheerende Schäden an. Auch wenn hier eine Verkettung von wenig wahrscheinlichen Einzelfaktoren ntscheidend war, weiß man schon länger, dass der Großraum New York anfällig für extreme Sturmereignisse ist. Was Sandy auch zeigte: Die bisher geplanten Schutzmaßnahmen reichen nicht aus. von Peter Miesen Als Sandy am 29. Oktober 2012 über den Nordosten der USA hereinbricht, ist er schon nicht mehr als tropischer, sondern als post-tropischer Sturm deklariert. Das bedeutet nicht zwingend – wie auch in diesem Fall – eine geringere Intensität, auch wenn dies oft so gedeutet wird. Es besagt lediglich, dass der Übergang von einem tropischen zu einem außertro pischen Sturmsystem mit all seinen Charakteristika abgeschlossen ist. Typischerweise verbreitern sich die Stürme im Lauf dieses manchmal tagelangen Übergangs, der sogenannten „extratropical transition“. Auch Sandy bildete hier keine Ausnahme und wird nun als größtes tropisches Sturmsystem im Atlantik geführt. Die Ausdehnung des Windfelds mit tropischer Sturmstärke (das heißt mindestens 64 km/h im 1-Minuten-Mittelwind) betrug maximal 1.500 Kilometer. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 7 sandy Abb. 1: Evakuierungszonen nach Sandy in New York City Zone A: Zwangsevakuierung auf Anordnung von BürgerEsri.com meister Bloomberg Nutzungsbedingungen 0 1.5 3km Zone B: Datenschutz Missbrauch Überschwemmungsgefahr melden ab Hurrikan Kategorie 2 Zone C: Überschwemmungsgefahr bei Hurrikan der Kategorie 3 bis 4 unmittelbar südlich von NYC Evakuierungszentren Quelle: State of New Jersey, NHD Plus, NPS, Esri, DeLorme, NAVTEQ, USGS, USDA, EPA, IPC, TomTom, NGA Für die Schadenentwicklung entscheidend war nicht nur die enorme Ausdehnung des Windfelds, sondern auch die Zugbahn von Sandy. Weil ein Hochdruck gebiet über dem Atlantik den Weg blockierte und gleichzeitig tiefer Druck über dem amerikanischen Kontinent einen Sog entfaltete, driftete der Sturm eher untypisch Richtung Westen ab und traf praktisch rechtwinklig auf die Küste. Erschwerend hinzu kam, dass in vielen Gebieten – darunter an der Südspitze Manhattans und an der Atlantikküste von New Jersey – die stärkste Intensität der Sturmflut mit der Springtide des Vollmonds zusammentraf. Sie zieht schon unter normalen Verhältnissen einen der höchsten Wasserstände im Monat nach sich. Als Folge dieser Faktoren traten entlang der gesamten Küste von New Jersey bis nach Cape Cod Sturmfluten auf, die an einigen Pegelstationen wie The Battery an der Südspitze von Manhattan noch nie gesehene Rekordwerte seit Beginn der Aufzeich nungen im Jahr 1880 auslösten. Das ausgedehnte Windfeld hinterließ Schäden bis hinauf nach Kanada. http://www.arcgis.com/home/webmap/viewer.html?webmap=78acf73ae5df4a569231229a636dcc72 8 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Sandy Trotz treffsicherer Vorhersagen und tagelanger Vorbereitungen waren die Auswirkungen von Sandy verheerend. Insgesamt verloren allein in den USA 127 Personen ihr Leben. Es wurden mehr als 650.000 Gebäude und 330.000 Fahrzeuge beschädigt oder zerstört. Der gesamte versicherte Schaden (inklusive National Flood Insurance Program) beläuft sich auf fast 30 Milliarden US-Dollar; die volkswirtschaftlichen Schäden werden diesen Wert um mehr als das Doppelte übersteigen. In 17 Bundesstaaten kam es zu Stromausfällen, insgesamt waren davon ca. 8,5 Mil lionen Einwohner betroffen. Die Schäden an Infrastruktur wie Bahngleisen, Straßen und Tunnel dürften sich auf mehrere Milliarden US-Dollar summieren und brachten den Verkehr teilweise zum Erliegen. Am stärksten betroffen waren die Staaten New York und New Jersey, die nach den Zahlen von Property Claims Service (PCS) etwa 85 Prozent der Gesamtschäden auf sich vereinen. Bezogen auf einzelne Versicherungssparten sticht das Marine-Geschäft besonders heraus. Hier wurde mit Schadenzahlungen in Höhe von etwa drei Milliarden US-Dollar aus einem Ereignis ein noch nie gesehener Rekordwert erreicht. Bei Sandy hat eine Verkettung von wenig wahrscheinlichen Einzelfaktoren letztlich dazu geführt, dass ein Sturm mit moderaten Windgeschwindigkeiten in einem ausgedehnten Gebiet eine derart starke Sturmflut auslösen konnte. Allerdings war man sich schon länger bewusst, dass der Großraum New York durchaus für stärkere Stürme mit ähnlichen Auswirkungen anfällig ist. Im Zuge des Klimawandels wird die Wahrscheinlichkeit dafür weiter zunehmen. Für die Küstengebiete des Bundesstaats New Jersey gibt es keinen vergleichbar detaillierten Plan. Hier beschränken sich die Bemühungen bisher darauf, die Küste mithilfe von Sanddünen zu verstärken und Gebäude in von Sandy zerstörten Gebieten höher zu legen, damit sie den neuen Regularien der Katas trophenschutzbehörde Federal Emergency Management Agency (FEMA) entsprechen. Was fehlt, ist eine übergeordnete Planung, welche die künftige Klimaentwicklung und deren Folgen berücksichtigt. Viel Verantwortung wurde auf die einzelnen Gemeinden übertragen, deren Hauptfokus derzeit natürlich auf dem zügigen Wiederaufbau liegt. Um die Gefährdung aus großräumigen Ereignissen wie Stürmen und Sturmfluten zu minimieren, ist aber auch eine regionale Strategie nötig, die lokale Besonderheiten und das Knowhow vor Ort berücksichtigt. Insofern macht der Weg New Yorks Hoffnung, dass man hier die richtigen Lehren aus Sandy gezogen hat. Völlig vermeiden lassen sich Schäden dadurch nicht. Vielmehr geht es darum, der stetig steigenden Gefahr mit entsprechenden Strategien entgegenzuwirken. Bei konsequenter Umsetzung der beschriebenen Ansätze könnte New York das Ziel, mögliche Schäden zu minimieren, zumindest mittelfristig erreichen. >> W eiterführende Informationen über PlaNYC unter: http://www.nyc.gov/html/sirr/html/ report/report.shtml Unter anderem aus diesem Grund hat New York im Jahr 2007 den sogenannten PlaNYC aufgelegt. Ein Großteil der geplanten Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur war vor Sandy jedoch noch nicht einmal in Angriff genommen. Dort, wo Maßnahmen bereits abgeschlossen waren, zeigte sich aber, dass renaturierte Küstenbiotope oder neue Vorschriften, Gebäude höher zu legen, durchaus effektiv sind. Allerdings verdeutlichte der Sturm, dass noch stärkere Anstrengungen nötig sind als bisher geplant. Folgerichtig wurde der Maßnahmenkatalog innerhalb kurzer Zeit nach Sandy auf ein Programm im Volumen von 20 Milliarden US-Dollar ausgedehnt. Der Bericht „A stronger, more resilient New York“ beschreibt auf über 400 Seiten unter anderem, wie sich Küstenschutz sowie Bauvorschriften verbessern lassen. Er enthält zudem Vorschläge für die Bereiche Versicherung, Infrastruktur inklusive Energiever sorgung und Telekommunikation, für das Gesundheitswesen und das Verkehrswesen. Der Bericht stellte aber auch klar, dass alle Maßnahmen angesichts des Klimawandels und des daraus resultie renden Anstiegs des Meeresspiegels mittel- bis lang fristig Schäden allenfalls vermindern, nicht aber vermeiden können. Unser Experte: Peter Miesen ist spezialisiert auf die Erstellung und Validierung von Naturgefahrenmodellen sowie die Abschätzung von Risiken in Bezug auf meteorologische Gefahren. [email protected] Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 9 Sandy Hochwasser oder Sturm? Wohngebäudeversicherungen in den USA schließen Schäden durch „Hochwasser“ oft aus, nicht jedoch Schäden, die durch „Sturm“ verursacht wurden. Bei Sandy allerdings haben sowohl Hochwasser als auch Sturm schwere Schäden verursacht. Können sich Versicherer dennoch auf den Ausschluss berufen? von Leon Taylor und Aidan M. McCormack Sandy verwüstete vor über einem Jahr die Mittel atlantikküste der USA und richtete Zerstörungen in zahlreichen Bundesstaaten an, darunter auch in New York, wo Manhattan von schweren Überschwem mungen betroffen war, die zu Hundertt ausenden von Gebäude- und Gewerbeschadenmeldungen in ganz unterschiedlichen Versicherungssparten führten. Allein im Bundesstaat New York wurden ca. 350.000 Wohnungen beschädigt oder zerstört. Darüber hin aus gab es rund 250.000 Fahrzeugversicherungs schäden. Eine ähnliche Zahl von Unternehmen war ebenfalls betroffen. Die Überflutungen der New Yorker U-Bahn und des Geländes des World Trade Center führten zu Schadenmeldungen von mehreren Milliarden US-Dollar. Der Sandy zuzurechnende volkswirtschaftliche Gesamtschaden wird inzwischen auf ca. 70 Milliarden US-Dollar beziffert. Sandy ist damit nach dem Hurrikan Katrina der zweitteuerste Sturm in der Geschichte der USA. Sandy stellt eines der bedeutendsten wetterbedingten Ereignisse der vergangenen Jahre dar, war aber auch gekennzeichnet durch die schnelle versicherungs technische Abwicklung von rund 500.000 Wohnge bäudeschäden, die durch die entschiedene Haltung zahlreicher Behörden und Politiker gefördert wurde. Selbstbehalte und Sublimits Die meisten US-Wohngebäudeversicherungen sehen in Küstenregionen hohe Selbstbehalte für Hurrikaner eignisse vor, die in der Regel zwei bis fünf Prozent des Versicherungswerts betragen. Jeder Bundesstaat hat Vom Wolkencluster zum Supersturm 22.10.2012 500 km südlich von Kingston, Jamaika Cluster formiert sich 24.10.2012 Jamaika Landübertritt östlich von Kingston als Kategorie 1 10 25.10.2012 Santiago de Cuba, Bahamas Landübertritt als Kategorie 3 im östlichen Kuba mit Kurs auf die Bahamas 26.10.2012 Zentrum weit vor der Küste Floridas Das Windfeld vergrößert sich dramatisch bei nachlassender Windgeschwindigkeit Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 27.10.2012 Zentrum weit vor der Küste von South und North Carolina zieht nach Nordosten Stärkere Konvektion nahe dem Zentrum 29.10.2012 17.00 Uhr Ortszeit Mittelatlantik- und Nordostküste Sandy prallt auf kalte Luftmassen und gewinnt dadurch an Kraft; das National Hurricane Center erklärt Sandy zum extratropischen Sturm Sandy eigene Vorschriften zur Anwendbarkeit von Selbstbehalten bei Hurrikanen. So können etwa in New York Hurrikanselbstbehalte angewandt werden, wenn ein Sturm vom National Weather Service in die Kategorie 1 oder höher eingestuft wird und im Bundesstaat New York auf die Küste trifft. In New Jersey muss der Sturm vom National Weather Service als Hurrikan eingestuft sein und an einem beliebigen Ort im Staat anhaltende Windgeschwindigkeiten von 74 Meilen pro Stunde (ca. 120 km/h) aufweisen. Für durch bestimmte Ereignisse verursachte Schäden, etwa einen benannten Sturm oder Hochwasser, können in manchen gewerblichen Policen auch gesonderte Sublimits gelten. Unmittelbar nach Sandy forderten einige Gouverneure und Versicherungsaufsichtsbehörden die Versicherungsträger öffentlich auf, von der Anwendung von Hurrikanselbstbehalten abzusehen, weil der Sturm die Kriterien für Selbstbehalte, die in einigen Staaten dafür vorgegeben werden, nicht erfüllte. Dies war der erste Hinweis auf eine bemerkenswert harte und proaktive Haltung der Aufsichtsbehörden gegenüber den Versicherern und ihrer Regulierung von durch Sandy verursachten Wohngebäudeschäden. Selbstbehalte und Sublimits können zu Schwierig keiten bei der Berechnung der Entschädigung führen, wenn etwa mehrere Standorte desselben Versicherungsnehmers betroffen sind oder ein Sturm in einem großen geografischen Gebiet und über einen längeren Zeitraum auf Land trifft. Für die Fragen der Aggregierbarkeit wurde der Hurrikan Katrina generell als ein einziges Ereignis behandelt. Sandy wirft 29.10.2012 Abend (Ortszeit) Manhattan, Südspitze Sturmflut im Battery Park und im East River überschwemmt Tunnel und U-Bahnen dahingehend andere Fragen auf, da die Wetterlage einzigartig war: Zwei Wetterfronten kamen zusammen; eine westliche mit Schnee, Wind und Regen (sog. Nor‘easter) traf direkt an der Küste auf Sandy und machte ihn laut der Klassifikation des National Hurricane Center zu einem posttropischen Zyklon, bevor er an Land ging. Zudem folgte auf Sandy ein sogenannter Nor´easter, der am 7. November 2012 die Metropolregion New York traf. Daher stellt sich die Frage: Handelt es sich um ein oder zwei Ereignisse? Wie diese zu beantworten ist, hängt stark vom jeweiligen Wortlaut der Aggregierungsklausel im Versicherungsvertrag und von den genauen tatsächlichen Umständen ab, auf welche die Klausel angewandt wird. Wind oder Hochwasser im Fall von Sturmfluten Eines der bedeutendsten Probleme, das nach Katrina auftrat und bei Versicherungsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Sandy noch auftreten könnte, betrifft die Frage, ob durch Sturmflut verursachte Hochwasserschäden ausgeschlossen werden können. Nach der Definition des National Hurricane Center der USA wird eine Sturmflut durch Wasser verursacht, das „von zyklonal um den Sturm kreisenden Winden in Richtung der Küste gedrückt“ wird. Die meisten Wohngebäudeversicherungen in den USA schließen Schäden durch „Hochwasser“ aus und in gewerblichen Versicherungen sind dafür gewöhnlich Sublimits festgelegt. In der Regel ist „Sturm“ jedoch eine versicherte Gefahr. Versicherungsnehmer argumentieren deshalb gewöhnlich, die eigentliche Ursache eines Sturmflutschadens sei nicht „Hochwasser“, sondern „Sturm“. 29.10.2012 Gebiet um Brigantine, New Jersey Sandy trifft in den USA auf Land; höchste Windstärken an der Westseite des Wirbelsturms; höchste Pegelstände an der Nordostküste nördlich des Rotationszentrums 29.10.2012 Abend (Ortszeit) Atlantikküste New Jersey bis Long Island und südliches Rhode Island Sandy verursacht schwerste Überschwemmungsschäden in den Küstengebieten 31.10.2012 Osten Kanadas Nach weiterer Abschwächung über Land verschmelzen Reste von Sandy mit einem Tiefdruckgebiet über dem Osten Kanadas 30.10.2012 Appalachen Blizzard-Bedingungen in weiten Teilen des Gebirgszugs Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 11 Sandy Mitwirkende oder unmittelbare Ursache? Was geschieht, wenn mehr als eine Ursache – eine versicherte und eine ausgeschlossene – zu dem Schaden beigetragen hat, wenn also etwa im Fall einer Sturmflut ein Gericht sowohl Hochwasser als auch Sturm als Ursachen feststellt? Können sich Versicherer dann auf den Ausschluss berufen? Lässt sich der Schaden auf die beiden Ursachen aufteilen, etwa ein Hochwasserschaden am Keller eines Hauses und ein Sturmschaden am Dach, bereitet die Regulierung meist keine Schwierigkeiten, weil die Einzelschäden den beiden Ursachen genau zugeordnet werden können. Wenn jedoch beide Ursachen gleichzeitig gewirkt haben oder jede der Ursachen allein den gesamten Schaden hätte verursachen können, richtet sich die Antwort, sofern kein Mitursächlichkeitsausschluss vereinbart wurde, nach dem jeweils anzuwendenden Kausalitätstest. In den einzelnen US-Bundesstaaten gelten hierfür verschiedene Maßstäbe. In den meisten Staaten, darunter auch New Jersey, muss beispielsweise entschieden werden, welche der Ursachen die „wirksame oder unmittelbare Ursache“ („efficient or proximate cause“) ist, also diejenige, die den Kausalverlauf in Gang gesetzt hat. Ist die „wirksame oder unmittelbare“ Ursache ausgeschlossen, kann der Versicherer die Entschädigung insgesamt ablehnen. Einige Gerichte, darunter solche in New York, verfolgen einen ähnlichen Ansatz und prüfen, ob eine Mitursächlichkeit („concurrent cause“) vorliegt. Sandy verursachte über 650.000 Wohngebäudeschäden wie hier auf Long Island, NY, USA. Mitursächlichkeitsausschlüsse und Folgeschädenklauseln Derartige Kausalitätsfragen können die Verwendung von Mitursächlichkeitsausschlüssen (sogenannten ACC-Klauseln) und Folgeschädenklauseln im Ver sicherungsvertrag nahelegen. Folgeschädenklauseln bewirken Ausnahmen von Ausschlüssen, wenn sich als Folge eines ausgeschlossenen Risikos ein be stimmtes, abgrenzbares, versichertes Risiko realisiert. Dies könnte etwa der Fall sein, wenn die Über schwemmung eines Gebäudes ein Feuer verursacht. ACC-Klauseln erlauben es dagegen dem Versicherer, sich selbst dann auf Ausschlüsse zu berufen, wenn eine mitwirkende versicherte Ursache beteiligt ist. Eine typische ACC-Klausel könnte folgendermaßen lauten: „Der Versicherungsschutz erstreckt sich ohne Rück sicht auf mitwirkende Ursachen nicht auf unmittelbare oder mittelbare Schäden durch … Derartige Schäden sind selbst dann ausgeschlossen, wenn andere mit wirkende Ursachen oder Ereignisse, gleichzeitig oder in beliebiger Reihenfolge, zu dem Schaden beigetra gen haben.“ Solche Klauseln sind in einigen US-Staaten (etwa Washington und West Virginia) rechtlich nicht durchsetzbar. Die meisten Gerichte haben sie nach Katrina aber anerkannt, wenn sich Versicherer auf sie beriefen. 12 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 sandy Nach Sandy sind ACC-Klauseln auf erhebliche Kritik gestoßen, zumindest im Hinblick auf Haus- und Wohnungseigentümer. Im Staat New York berät der Gesetzgeber derzeit im Rahmen einer Reihe von Gesetzgebungsvorhaben zum Schutz von Versicherungsnehmern bei Wohngebäudeversicherungen unter anderem über ein Gesetz, das die Anwendung von ACC-Klauseln verbieten soll. Rückversicherungsthematik Rückversicherungsfragen im Zusammenhang mit Sandy haben sich erst langsam herauskristallisiert. Es könnten sich noch Probleme hinsichtlich der Lehre von der Folgepflicht und Schicksalsteilung sowie bei der Frage der Aggregierbarkeit von Schäden ergeben. Zweifellos hatte die Einführung neuer Vorschriften Zedenten unter Druck gesetzt, Sandy-Schäden schnell zu regulieren. Neben ihrer erklärten Ablehnung von Hurrikanselbstbehalten haben verschiedene Versicherungsbehörden neue Vorgaben für die Regulierung von Sandy-Schäden eingeführt, die das Verfahren für Haus- und Wohnungseigentümer beschleunigen und vereinfachen sollten. Darüber hinaus könnten auf der Rückversicherungsebene Fragen hinsichtlich der Aggregierbarkeit der Schäden auftreten. Viele Rückversicherungsverträge enthalten Stundenklauseln, nach denen Schäden, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums (in der Regel 72 Stunden) auftreten, zu einem Schadenereignis zusammengefasst werden. Weil die von Sandy angerichteten Schäden über einen längeren Zeitraum hinweg eintraten, kann es sein, dass sie nach diesen Klauseln nicht mehr aggregiert werden können. So lagen etwa mehr als 72 Stunden zwischen den Schäden in der Karibik und denen im Nordosten der USA, insbesondere wenn der sekundäre Nor’easter berücksichtigt wird. Wenn der Zedent Unternehmen an beiden Orten versichert, könnte es sich dabei nach dem Rückversicherungsvertrag um mehr als ein Ereignis handeln. >> http://www.dlapiper.com/Leon-Taylor/ http://www.dlapiper.com/aidan_mccormack/ So hatte etwa im Staat New York das Department of Financial Services (DFS) vorgeschrieben, dass Versicherer Schäden innerhalb von 15 Tagen nach der Schadenmeldung besichtigen und innerhalb von 15 Werktagen (in einigen Countys sogar innerhalb von sechs Werktagen) nach Abschluss ihrer Unter suchung über die Regulierung entscheiden müssen. Das DFS verlangte außerdem von den Versicherern, Foto- und Videodokumentationen von Schäden zu akzeptieren. Diese Maßnahmen haben zweifellos zur raschen Regulierung vieler Sandy-Schäden beige tragen. Hier könnte es jedoch zu Zweifeln kommen, ob eine derartige Schadenregulierung unternehme rischen Grundsätzen und den Anforderungen von Treu und Glauben entspricht, ob also Rückversicherer an solche Vergleiche gebunden sind. UNSERE Experten: Leon Taylor ist Partner im Insurance & Reinsurance Team von DLA Piper in London und New York. Aidan M. McCormack ist Partner im Insurance & Reinsurance Team von DLA Piper in London und New York. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 13 Sandy Was Versicherer von Sandy lernen können Massenklagen wegen Sachschäden nach Naturkatastrophen sind in den USA weit ver breitet. Dahinter stehen häufig finanzstarke Anwaltskanzleien. Wer deren Methoden kennt, kann gegensteuern, um ungerechtfertigte Ansprüche abzuwehren. von Roger D. Higgins und J. Richard Harmon Ob bei Katrina, Rita, Ike oder Dolly – bei den tropischen Wirbelstürmen an der US-Golfküste zeigte sich stets das gleiche Schema: Kaum war der Hurrikan abgezogen, traten Bauunternehmer, Dachdecker und öffentliche Schadengutachter auf den Plan, um mit den Geschädigten ins Geschäft zu kommen. Aber auch Anwaltskanzleien versuchten, Kapital aus der Situation zu schlagen. Mit Anzeigenkampagnen und kostenlosen Seminaren über „Rechte von Versicherungsnehmern” wollten sie möglichst viele Geschädigte als Mandanten gewinnen. Ziel war es, die Schäden unabhängig vom eigentlichen Sachverhalt mit eigenen Gutachtern in die Höhe und in die Breite zu treiben. Dabei versuchten sie nach Möglichkeit, gerichtlichen Auseinandersetzungen über die tatsächlich versicherten Schäden ihrer Mandanten aus dem Weg zu gehen. Sie suchten stattdessen gezielt Schwach stellen bei der Schadenregulierung sowie in den Versicherungsbedingungen, um diese dann juristisch anzugehen. Wie real diese Gefahr ist, konnte man bei Sturm Sandy erneut feststellen. Auf was sich Versicherer einstellen müssen, lässt sich anhand ähnlicher Fälle nach Hurrikanen in Louisiana, Mississippi und Texas erahnen. Im Mittelpunkt stehen häufig Auseinandersetzungen wegen Ausschlussklauseln bei Mitursächlichkeit (Anti-Concurrent Causation Clauses oder ACC-Klauseln). Sie schließen den Versicherungsschutz für solche Schäden aus, die gleichzeitig von einer versicherten Gefahr (zum Beispiel Sturm) und einer nicht versicherten Gefahr (zum Beispiel Hochwasser) verursacht wurden, unabhängig davon, welches Ereignis die unmittelbare oder überwiegende Ursache des Schadens ist. Dabei argumentieren die Anwälte, die Versicherer würden die ACC-Klauseln entweder widerrechtlich anwenden oder dass die Schadenregulierungsverfahren im Hinblick auf die Mitursächlichkeit fehlerhaft seien. Wind und Sturmflut rissen Stege und die daran befestigten Boote aus den Verankerungen und versetzten sie in eine nahe Feriensiedlung im Hafen von Great Kills an der Ostküste von Staten Island, NY, USA. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 15 sandy Darauf zielen auch Bestrebungen ab, Verfahren bevorzugt bei klägerfreundlichen Gerichten anzustrengen. Die Anwälte hoffen, die dort erwirkten Beschlüsse in Beweisverfahren als bindende Präzedenzfälle mit wesentlich größerer Tragweite verwenden zu können. Um diesen Bestrebungen zu begegnen, beantragten einige Versicherer die Zusammenlegung von Fällen im Rahmen der „Multidistrict Litigation“ (MDL; vgl. 28 U.S.C. § 1407 Übertragung von Rechtssachen mit übergreifenden Fragen an ein bestimmtes Gericht). Die MDL bietet die Möglichkeit eines einheitlichen Beweisverfahrens, das weniger Doppelarbeit mit schriftlichen Zeugen aussagen und größere Sicherheit in den im Vorver fahren erlassenen Verfügungen mit sich bringt. Kläger mit effektiver Schadenregulierung ausbremsen So schwer wurden die Häuser in der ersten Reihe am Atlantikstrand von Rockaway Beach, Long Island, NY, USA beschädigt. Obwohl jeder Sachschaden ein Einzelfall ist, versuchen die Anwälte der Versicherungsnehmer außerdem oftmals, mehrere Fälle in Sammelklagen zusammenzufassen, um eine größere Tragweite des jeweiligen Gerichtsurteils zu erreichen. Nicht immer gelang es den Versicherern in der Vergangenheit, die Zulassung von Sammelklagen abzuwehren. Mehrere Gerichte ließen derartige Klagen zu oder genehmigten Sammelvergleiche. Eine weitere Strategie stellen sogenannte „Blast Filings“ dar. Dabei werden gegen einen oder mehrere Versicherer gleichzeitig mehrere Klagen erhoben, um die Ressourcen der Beklagten zu strapazieren und so die Möglichkeit zu schaffen, strittige Fragen zugunsten der Versicherten zu regeln. 16 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Eine Lehre aus den Hurrikanen an der Golfküste ist die Bedeutung einer effektiven Schadenregulierung. In Hunderten von Prozessen versuchten dort die Klägeranwälte zu beweisen, dass bestimmte Handlungen oder Unterlassungen bei der Schadenregulierung auf Versicherungsseite eine unternehmensweite oder „institutionelle“ Ursache hatten. Dahinter steckt das Kalkül, Schwachstellen in den Versicherungsbe dingungen und im Umgang mit Ansprüchen von Ver sicherten offenzulegen, um von Problemen des Ver sicherten beim Nachweis des versicherten Schadens abzulenken. Diesem schablonenhaften Vorgehen begegnet man am besten durch eine proaktive, zeitnahe Schaden regulierung. Mit ordnungsgemäß regulierten Schäden und detaillierten Schadenakten können Versicherer nachweisen, dass jeder Schaden sowohl in Bezug auf den Versicherungsschutz als auch hinsichtlich der Schadensumme einzigartig ist. Die folgenden Vorschläge zur Verbesserung der Schadenregulierung beruhen auf Lehren aus früheren Katastrophen schäden. Sie stellen keine erschöpfende Analyse dar, können sich aber als nützlich erweisen. Schriftwechsel mit dem Versicherten dokumentieren Nach den Hurrikanen in der Golfregion haben Versicherte vor Gericht häufig angeführt, sie hätten Reparaturbelege nicht aufbewahrt oder Schäden nicht fotografiert, weil sie nie dazu aufgefordert worden seien. Damit versuchen sie, die Beweislast für die Existenz eines versicherten Schadens abzuwälzen. Ein Geschworenengericht dürfte Verständnis für einen Versicherten zeigen, sofern der Versicherer nicht entsprechende Nachweise zu seiner Entlastung erbringen kann. sandy Schäden fotografieren In Texas machten Versicherungsnehmer mehr als ein Jahr nach der ursprünglichen Schadenregulierung Beanstandungen geltend, häufig in Form eines Mahnschreibens oder einer Klage. Sie trugen vor, die Schäden seien wesentlich größer, als im Rahmen der ursprünglichen Schadenregulierung festgestellt worden war. Derartige Behauptungen lassen sich einfach mithilfe von Fotos entkräften. Dabei sind Aufnahmen der Schäden ebenso wichtig wie des unbeschädigten Eigentums (Hausrat, Wände, Decken etc.). So lassen sich auch Behauptungen widerlegen, die Gutachter hätten bestimmte Teile eines Gebäudes nicht inspiziert. Im Zeitalter der Digitalfotografie ist es fast unentschuldbar, einen Schaden nicht umfassend zu dokumentieren. Die Schadenakte zeitnah und präzise führen Im Beweisverfahren muss der Versicherer möglicherweise die Schadenakte oder Terminaufzeichnungen vorlegen. Deshalb sollte die Akte möglichst zeitnah und präzise geführt werden und die gesamte Kommunikation mit dem Versicherten, den involvierten Gutachtern sowie anderen an der Schadenregulierung beteiligten Personen enthalten. Wie bei Hurrikan Katrina geht es bei Sandy häufig darum, ob Sturm oder Hochwasser einen Sach schaden verursacht hat. Es stellt sich die Frage, wie es sich mit dem Versicherungsschutz verhält, wenn ein Schaden gleichzeitig durch eine versicherte und eine ausgeschlossene Gefahr verursacht wurde. Eine gerichtliche Auslegung, wie die ACC-Klausel in diesem Fall anzuwenden ist, dürfte enorme Auswir kungen für die Versicherer haben. Denn nur vier Prozent der New Yorker Hauseigentümer sind eigenen Angaben zufolge gegen Hochwasser versichert. Auch Schäden infolge von Abwasserrückstau könnten zur Anwendung der ACC-Klausel führen. Die meisten Sachversicherungsverträge enthalten ACC-ähnliche Ausschlüsse für Wasserschäden mit etwa folgendem Wortlaut: „Der Versicherer haftet nicht für Verluste oder Schäden, die direkt oder indirekt [durch die im Wasserschaden ausschluss aufgeführte Ereignisse] verursacht wurden. Dieser Ausschluss gilt ohne Rücksicht auf mitwirkende Ursachen oder Ereignisse, die gleichzeitig oder in beliebiger Reihenfolge zu dem Schaden beigetragen haben.“ Nach Ablauf der Sturmflut behinderten salzhaltiger Sand und beschädigte Autos die Rettungs- und Aufräum arbeiten in New Jersey. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 17 sandy Dieser Wortlaut schließt die Anwendung der „efficient proximate cause rule” aus, wonach sich die Deckung danach bestimmt, welchen Anteil versicherte und ausgeschlossene Gefahren an dem Sachschaden tragen. Das Berufungsgericht des fünften Gerichtsbezirks hat im Rahmen der Auslegung der Rechtsvorschriften von Louisiana, Mississippi und Texas mehrfach die Anwendung von ACC-Klauseln bestätigt. Allerdings hat der Oberste Gerichtshof von Mississippi die Auslegung des Berufungsgerichts für den fünften Gerichtsbezirk deutlich eingeschränkt. In der Rechtssache Corban gegen United States Automobile Insurance befand das Gericht Folgendes: „Nur wenn sich aus dem Sachverhalt in einem bestimmten Fall eine echte mitwirkende Ursache ergibt, also nur Sturm und Hochwasser im Zusammenwirken den Sachschaden verursacht haben, können wir nach dem Recht von Mississippi einen unteilbaren Schaden erkennen, auf den die ACC-Klausel anwendbar wäre.“ Aufgrund dieser Auslegung entschied das Gericht, dass alle „direkten materiellen Schäden“ infolge von Sturm versichert sind, alle durch Hochwasser oder durch Hochwasser „unter Mitwirkung“ von Sturm verursachten „direkten materiellen Schäden“ hingegen ausgeschlossen sind. Mit der Anwendung von ACC-Klauseln nach dem Recht von New York, New Jersey und Pennsylvania hat sich bislang vergleichsweise selten ein Gericht befasst. Ein New Yorker Berufungsgericht bestätigte eine ACC-Klausel in einer Rechtssache, bei der es um den Ausschluss von Grundwasserdruck auf ein Schwimmbecken ging, obwohl das vorherige Ablassen des Wassers aus dem Pool und Regen zu dem Schaden beigetragen hatten. Auch in New Jersey wurde in einem nicht veröffentlichten Berufungsgutachten die Anwendung einer ACC-Klausel bestätigt. Hingegen befand ein Berufungsgericht in Pennsyl vania im Jahr 2009, die Klausel sei mehrdeutig und müsse zugunsten des Versicherten und zuungunsten des Versicherers ausgelegt werden. UNSERE Experten: Roger D. Higgins vertritt und berät als Rechtsanwalt bei der Kanzlei Thompson, Coe, Cousins & Irons, LLP Versicherer und trat in vielen Prozessen, Schiedsverfahren und Sammelklagen als Hauptanwalt auf. >> D er Artikel beruht auf einem Beitrag der Zeitschrift „Declarations“, International Association of Claim Professionals, Ausgabe Winter 2013. 18 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 J. Richard Harmon, Thompson hat als Rechtsanwalt bei der Kanzlei Coe, Cousins & Irons, LLP zahlreiche Versicherer in großen gewerblichen Sachver sicherungsprozessen nach den Hurrikanen Rita, Katrina, Dolly und Ike vertreten. Was kann Ihr Schadenmanagement ? Veränderte Wetterrisiken haben erhebliche Auswirkungen auf die Assekuranz. Sie muss Antworten finden, die es ermöglichen, Großschäden zu bewältigen und sich rasch davon zu erholen. Zwei neuen Publikationen unserer Reihe „Knowledge Series“ helfen dabei. In „Claims management following natural catastrophes“ untersuchen wir die großen, auch wetterbedingten Naturkatastrophen der jüngsten Vergangenheit und leiten Erkenntnisse ab, die Versicherer bei ihrer Vorsorge und ihrem Schadenmanagement unterstützen. „Severe weather in Eastern Asia“ geht speziell auf die veränderte Gefährdungslage in Ostasien ein. Beide Publikationen erhalten Sie in englischer Sprache als Download über unser Kundenportal connect.munichre.com oder von Ihrem Client Manager. Für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte Ihren Client Manager. not if, but how Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 19 Interview Sandy war ein Weckruf Der Sturm Sandy hat die Infrastruktur der USA schwer beschädigt, und die Bedrohung der Ostküste durch Unwetter nimmt ständig zu. Tony Kuczinski über Möglichkeiten, die Region wetterfest zu machen. Tony Kuczinski ist President und Chief Executive Officer von Munich Re America. Schadenspiegel: Herr Kuczinski, wie haben Sie den Sturm Sandy persönlich erlebt? Tony Kuczinski: Als Sandy auf die Ostküste der USA traf, war ich mit Kollegen aus den USA in München. Unsere Rückkehr in die Staaten verzögerte sich deshalb etwas. Unmittelbar nach dem Sturm hatte ich einige Schwierigkeiten, das Büro in Princeton und meine Familie in Pennsylvania zu erreichen, weil Strom- und Telefonleitungen aus gefallen waren. Was war Ihre erste Einschätzung, als Sie von dem Sturm erfuhren? Ich traf mich in München mit meh reren Kollegen, und unsere erste Einschätzung war, dass die Schäden infolge des Sturms mit denen von Irene vergleichbar sein mussten. Als wir in Deutschland jedoch mehr Bilder zu sehen bekamen, wurde das Ausmaß der Schäden deutlicher. Wir erkannten, dass der Versicherungsschaden dieses Ereignisses wegen der Teilschäden durch Hochwasser und Sturmfluten schwer abzuschätzen sein würde. 20 Wie teuer wurde Sandy am Ende? Sandy kostete Munich Re rund 800 Millionen Euro vor Steuern. Der Gesamtversicherungsschaden lag bei etwa 30 Milliarden US-Dollar und der wirtschaftliche Schaden bei etwa 70 Milliarden US-Dollar. Die Infrastruktur in den USA gilt im Allgemeinen als anfällig und vielfach veraltet. Hat Sie das Ausmaß der Schäden an der Infrastruktur dennoch überrascht? Wenngleich Sandy einzigartig war, hatte Munich Re in der kurz vorher veröffentlichten Publikation „Severe Weather in North America“ in einem Artikel über Irene ein vergleichbares Szenario vorhergesagt: „Ein stärkerer Hurrikan als der Neuengland-Hurrikan von 1938 würde in der gesamten Re gion größere Sturmschäden bewirken und eine Sturmflut auslösen, die Küstengemeinden und das Finanzzentrum der USA verwüsten und damit Schäden verursachen könnte. Diese Schäden wären um ein Vielfaches höher als die von Irene.“ Diese Publikation enthält eine Karte, die die hochwassergefährdeten Gebiete in New York im Fall eines Hurrikanes zeigt, und die tatsächlich überschwemmten Gebiete in New York stimmten ziemlich genau überein. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Warum wird dennoch nicht besser vorgesorgt? Alle vier Jahre veröffentlicht die American Society of Civil Engineers eine Beurteilung der Infrastruktur des Landes. Im Jahr 2013 wurde unsere Infrastruktur mit D+ 1 (mangelhaft) benotet. Vier Jahre zuvor hatte sie ein D erhalten. In Anbetracht dieses Zustands unserer Infrastruktur und der Anfälligkeit der Ostküste für atlantische Hurrikane hätte man die Folgen voraussehen können. Leider muss oft erst ein verheerendes Ereignis eintreten, bevor Behörden reagieren. Es war bekannt, dass das Deichsystem, die Hochwasserschutzmauern und die Pumpen in New Orleans technisch überholungsbedürftig waren. Es ist verständlich und menschlich, Sachen so lange zu verschieben, bis sie kritisch werden, vor allem wenn die Mittel begrenzt sind. Ich frage mich jedoch, wie viel Geld man in all den Jahren hätte sparen und wie viele Leben retten können, wenn man das nicht hinausgezögert hätte. 1 iehe „American Society of Civil s Engineers Infrastructure Report Card http://www.asce.org/ interview Welche Maßnahmen könnten das Schadenpotenzial bei ähnlichen Ereignissen in der Region künftig verringern? Bei Investitionen in die Infrastruktur und anderen Maßnahmen müssen wir die sich ändernden Witterungsverhältnisse berücksichtigen und den Klimawandel einbeziehen. Nehmen Sie New Jersey, wo Munich Re America ihren Sitz hat: Der Bundesstaat hat durch Sandy enorme Sturmflut- und Hochwasserschäden erlitten. Nach den aktuellen Klimamodellen ist zu erwarten, dass New Jersey künftig einem noch höheren Starkregen-, Hurrikan-, Hochwasserund Sturmflutrisiko ausgesetzt ist. Mit Wasser verbundene Schaden ereignisse sind daher für New Jersey die größte künftige Gefahr, zumal eine Karte des American Geosciences Institute zeigt, dass zwischen zehn und 20 Prozent des Staates in einem Überschwemmungsgebiet liegen. Fragt man sich also, für welche Verbesserungen der Infrastruktur die begrenzten Finanzmittel ausgegeben werden sollen, so sollte der Schwerpunkt auf dem Hochwasserschutz liegen. Verbesserungen an der Wasser- und Abwasserversorgung sowie an Strom- und Energienetzen würden die Auswirkungen solcher Ereignisse ebenfalls auf ein Minimum begrenzen und unser Land robuster und wetterfester machen. Wir müssen auch darauf achten, wo wir wieder aufbauen, und dürfen nicht ständig in Gebieten bauen, die regelmäßig überflutet werden. Außerdem sollten unsere Bauten höheren Standards entsprechen. Sandy war für die breite Öffentlichkeit das, was Hurrikan Andrew 1992 für die Versicherungswirtschaft war: ein Weckruf. Raumplanung und wirksame Bauvorschriften können viel dazu beitragen, künftige Schäden zu verhindern. Was bedeutet Sandy für die Ver sicherungswirtschaft in den USA? Andrew rückte einige Diskussionen in den Mittelpunkt, etwa über die Folgen von Unwettern für marode Infrastruktur. Durch den Sturm wurde den Menschen bewusst, was ihre Wohngebäudeversicherungen einschließen und was nicht und welche Schäden durch Hochwasser- Nach dem Rückgang des Hochwassers zeigte sich das Ausmaß der Schäden in den Straßen New Jerseys. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 21 interview Eines von vielen zerstörten Häusern auf Long Island, NY, USA. versicherungen abgedeckt sind und welche nicht. Sie schauen sich ihre Versicherungsverträge jetzt genauer an und erkennen, wie wichtig eine angemessene Absicherung und Maßnahmen zur Risikobegrenzung sind. Es ist eine Debatte darüber in Gang gekommen, wer die Kosten für die Risiken tragen soll und ob der Ver sicherungsschutz für die Küsten bewohner von denjenigen subventioniert werden soll, die in weniger gefährdeten Regionen leben. Über diese Themen wird in der Ver sicherungswirtschaft seit Jahren diskutiert, doch nach Sandy ist auch die Öffentlichkeit darauf aufmerksam geworden. Ist erst einmal ein Bewusstsein dafür da, dass Probleme bestehen, wird es wahrscheinlicher, dass die Industrie, die Öffentlichkeit und die Politik gemeinsam an Lösungen arbeiten. Nach dem Hurrikan ist immer auch vor dem Hurrikan. Welches Fazit für Munich Re ziehen Sie aus Sandy für ähnliche Ereignisse? Wir müssen die Veränderungen analysieren und quantifizieren. Falls sich herausstellt, dass ihnen veränderte Gefahren oder Schwachstellen 22 zugrunde liegen, müssen wir diese Veränderungen in unseren Risiko modellen berücksichtigen. So gehen wir mit jeder Art von Änderungs risiko um. Darüber hinaus müssen wir als Marktführer in der Versicherungsund Rückversicherungsbranche eine führende Rolle in der Aufklärung unserer gewählten Vertreter und der Öffentlichkeit über mögliche künftige Unwetter einnehmen. Wir müssen auch an den Lösungen mitwirken, die uns in der Zukunft robuster machen, indem wir zur Modernisierung einer alternden und unzureichenden Infrastruktur beitragen, eine bessere Landnutzung befürworten und den Bau von stabilen Häusern fördern. Wie hat Munich Re America ihre Kunden nach dieser Katastrophe unterstützt ? Unser Ziel war es, unsere Versicherungskunden so gut wie möglich zu unterstützen, damit sie wiederum ihren Kunden helfen konnten. Dazu zählte eine möglichst schnelle Schadenabwicklung. Wenn wir bei kleineren regionalen Kunden wussten, dass wir die Schäden ohnehin bezahlen würden, beschleunigten wir auch schon mal die Zahlung, um Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Cashflow-Probleme zu entschärfen. Wir wollten, dass das Geld dorthin fließt, wo es gebraucht wurde. Die zu Munich Re gehörenden Gesellschaften American Modern Insurance und Hartford Steam Boiler (HSB) haben in den betroffenen Gebieten ebenfalls Geschäft gezeichnet. Beide Unternehmen schickten Schadenregulierer, sobald dort keine Gefahr mehr bestand, wobei HSB ein eigenes CAT-Team bildete, das ausschließlich für SandyGeschädigte zuständig war. Zuallererst wollten wir unsere Kunden beruhigen und ihnen vermitteln, dass wir mit ihnen Lösungen finden wollten. interview Wie können Forschungen am Insurance Institute for Business & Home Safety (IBHS), das von Munich Re unterstützt wird, dazu beitragen, künftige Schäden zu minimieren? Das IBHS ist eine unabhängige, gemeinnützige Forschungseinrichtung und Kommunikationsorga nisation, die von der Sachversiche rungswirtschaft unterstützt wird. Seine Mission ist es, durch objektive Forschung wirksame Maßnahmen zum Schutz von Gebäuden, Unternehmen und Gemeinden gegen Naturkatastrophen und andere Schadenursachen zu identifizieren und zu fördern. Zu diesem Zweck forscht das IBHS und setzt sich für bessere Bauplanungs-, -durch führungs- und ‑sicherungsmethoden sowie für bessere Instandhaltungs-, Reparatur- und Vorsorgepraktiken ein. Mehrere Bundesstaaten haben einige der IBHS-Baunormen in Gesetzen oder Verordnungen zur Resilienz von Gebäuden, vor allem in den Küstenregionen, verankert. Dass eine solide Bauforschung, die Gebäude, Unternehmen und Gemeinden robuster und sicherer macht, notwendig ist, war noch nie so offensichtlich. Nirgendwo auf der Welt ist die Zunahme von Natur katastrophen augenscheinlicher als in Nordamerika, wo sich die Zahl der wetterbedingten Schadenereignisse in den vergangenen drei Jahrzehnten fast verfünffacht hat. Wie profitieren unsere Kunden davon? grenzungsmaßnahmen zu ihrer Minderung beitragen sowie auf welche risikomindernden Merkmale bei der Besichtigung von Wohn- oder Gewerbegebäuden zu achten ist. Dies stärkt ein Underwriting und eine Preispolitik auf Risikobasis, wie sie von einigen Versicherern praktiziert werden. Munich Re und andere Mitglieds unternehmen gehen davon aus, dass diese Bemühungen die Kosten für wetterbedingte Schäden verringern und somit einen starken und stabilen Sachversicherungsmarkt gewährleisten. Die Forschung des IBHS hilft den Mitgliedsunternehmen außerdem, besser zu verstehen, was strukturelle Anfälligkeit ist und wie Risikobe- Mit der Zerstörung der MantolokingBrücke in New Jersey, USA wurde die Verbindung mit einer dem Festland vorgelagerten Insel gekappt. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 23 Sandy Kunstgalerien unter Wasser Überschwemmungen, Stromausfall, zerstörte Kunstobjekte: Sandy hat im Oktober 2012 in New Yorker Galerien schwere Schäden hinterlassen. Für die Versicherer erwies sich das hohe Kumulrisiko als kostenträchtig. Viele Kunstgalerien in Chelsea, New York, mussten nach der Sturmflut aufwendig restauriert werden. 24 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Sandy von Charlotte Buchmeier New York gehört zu den bedeutendsten Kunstzentren der Welt. Vor allem im Stadtteil Chelsea, der im Westen Manhattans am Hudson River liegt, hat sich über die Jahre eine Vielzahl von Galerien angesiedelt. Nirgendwo sonst, außer in den großen Museen der Stadt, findet man Kunst in so konzentrierter Form als in den Hunderten kleineren und größeren Ausstellungsräumen zwischen der 14. und 26. Straße West. Als Hurrikan Sandy am 29. Oktober 2012 über New York hinwegfegte, trat der Hudson über die Ufer. Die Fluten überschwemmten auch Teile von Chelsea und richteten in den Galerien schwere Schäden an. Die eindringenden Fluten zerstörten oder beschä digten Tausende von Kunstwerken. Besonders betroffen waren ebenerdige Galerien unterhalb der 10. und 11. Avenue, wo das Wasser bis zu sechs Meter hoch stand. Lagerstätten und Galerien, die sich unterhalb des Straßenniveaus befanden, wurden fast ausnahmslos überschwemmt. Mit geschätzten 400 bis 500 Millionen Dollar müssen die auf Kunstversicherung spezialisierten Assekuranzen in etwa so viel für die Schäden in New York ausgeben, wie sie insgesamt in einem Jahr an Prämien einnehmen. Allein der Pop-Art-Künstler Peter Max reklamierte anfangs einen Schaden von 300 Millionen Dollar für Werke, die sich in einem überschwemmten Lagerhaus in New Jersey befanden. Inzwischen konnte die Schadenforderung deutlich reduziert werden. Allerdings spricht man immer noch von dem größten Einzelschaden in der Geschichte der Kunstver sicherung. Frühwarnung nur teilweise erfolgreich Nachdem sich abzeichnete, dass Hurrikan Sandy in der Region New York auf Land treffen wird, versuchten Erstversicherer, mit ihren Versicherungsnehmern in Kontakt zu treten, um adäquate Schadenverhütungsmaßnahmen im Vorfeld abzustimmen. Große Teile des Kunstviertels in Chelsea lagen in der Evakuierungszone, sodass rechtzeitig eingeleitete Maß nahmen Schäden verhindern konnten. Auch wenn nicht alle Kunden erreicht wurden, waren die Frühwarnungen erfolgreich: Vielen Galeristen gelang es, ihre Bestände in Kunstlager außerhalb von Man hattan unterzubringen, bevor Brücken und Tunnel geschlossen wurden. Allerdings ließ sich nicht jedes Kunstwerk unter dem bestehenden Zeitdruck an einen anderen Ort bringen. Die teilweise großen Dimensionen und die Empfindlichkeit mancher Werke hätten aufwendige Vorbe reitungen für den Transport nötig gemacht. Zu allem Unglück stellte sich später heraus, dass vermeintlich sichere Lagerstätten außerhalb von Manhattan, etwa in New Jersey, ebenfalls überschwemmt wurden. Als weiteres Problem kam hinzu, dass viele Galeristen nach der Erfahrung mit früheren, glimpflich abge laufenen Wirbelstürmen das mögliche Ausmaß der Überflutung unterschätzt hatten. Am Ende war die Flut deutlich höher als erwartet, sodass sich viele Schutzmaßnahmen als wirkungslos erwiesen. Komplexe Schadenregulierung Nach Freigabe der Evakuierungszonen machten sich die Versicherer unverzüglich an die Schaden evaluierung. Ein Krisenstab aus Schadenregulierern, Gutachtern und Restauratoren übernahm die erste Bestandsaufnahme. Es zeigte sich, dass fast ausschließlich zeitgenössische moderne Kunst und Fotografien betroffen waren. Das Schadenmanagement erfolgte – wie bei großen Katastropheneinsätzen üblich – auf dem Weg der Triage. Man unternahm eine erste Einteilung der Schäden in „Totalschäden”, deren Rettung aussichtslos bzw. unrentabel erscheint, und in „Teilschäden“, bei denen sich Rettung bzw. Restaurierung als möglich und wirtschaftlich sinnvoll erweisen. Obwohl dieser Prozess sehr zeitintensiv ist, konnten erste Schadenzahlungen bereits eine Woche nach dem Ereignis geleistet werden. Entschied man sich für eine Restaurierung des Werks, mussten vor Ort rasch Maßnahmen einge leitet werden, um Folgeschäden zu vermeiden. Wo immer möglich, wurden Kunstwerke in trockene Lagerstätten transportiert, um einem Schimmelbefall vorzubeugen. In feuchter Luft kann sich Schimmel sogar auf Objekten bilden, die selbst gar nicht mit Wasser in Berührung gekommen sind. Auch das Salz aus dem Meerwasser sowie die Kälte – Strom und Heizung waren tagelang ausgefallen – erhöhten die Gefahr von weiteren Spätschäden und erschwerten die Rettungsmaßnahmen. Außerdem galt es, mit den Transporten an einen sicheren Ort Plünderungen vorzubeugen, denen beispielsweise viele Kunstwerke nach Hurrikan Katrina in New Orleans zum Opfer gefallen waren. Unterstützung erhielten Galeristen und Restauratoren von zahlreichen Institutionen wie dem American Institute for Conservation - Collections Emergency Response Team (AIC-CERT) und dem Museum of Modern Art (MoMA). Sie standen den Betroffenen mit Ratschlägen zur Seite, welche Notmaßnahmen sinnvoll sind und wie sich Spätschäden am besten vermeiden lassen. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 25 Sandy Kein Einzelfall: Bilder in der überfluteten Klemens Gasser & Tanja Grunert Galerie, in Chelsea, New York. Fehlende Inventurlisten problematisch Galeristen schließen in aller Regel AllgefahrenDeckungen (all risk covers) ab, die auch Schäden aus Elementargefahren umfassen. Je nach Art des Risikos ist der Einschluss dieser Gefahren mit der Zahlung einer Zusatzprämie verbunden oder muss sogar abgelehnt werden. Weil die Stadtverwaltung von New York fast vier Tage vor der Überflutung vor einem wahrscheinlichen Landfall von Hurrikan Sandy in der Region gewarnt hat, mussten die Versicherer klären, ob die Galeristen angemessen und rechtzeitig reagiert haben. Ein Problem stellten verloren gegangene oder zerstörte Inventurlisten dar, die die Gale risten führen müssen. Diese Listen belegen, welche Kunstwerke zum Verkauf standen und damit unter den Versicherungsschutz fallen und welchen Preis man dem Kunstobjekt zugeordnet hat. Fehlen diese Listen, erweist sich die Schadenregulierung als schwierig. Agreed Value als Obergrenze Im angloamerikanischen Bereich ist es üblich, Kunstpolicen auf Basis fester Taxen (Agreed Value) abzus chließen. Dabei vereinbaren Versicherer und Versicherungsnehmer individuell für jedes Kunstwerk einen bestimmten Wert. Im Fall von Galerien regeln spezielle Bewertungsklauseln in den Policen die Ermittlung des Agreed Value pro Bild. Diese Klauseln können stark variieren. Standardmäßig empfiehlt es 26 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 sich, die Wertermittlung auf Basis des Kauf- oder Verkaufspreises mit einem jeweils prozentualen Zu- b zw. Abschlag zu regeln. Neben Verlust und Be schädigung decken die Policen gewöhnlich die Kosten für Schadenfeststellung, Restaurierung sowie einen möglichen Wertverlust. Der Agreed Value stellt im Fall eines Totalschadens die verbindliche Obergrenze für die Entschädigungsleistung dar. Das Gleiche gilt für den Fall, dass die Kosten der Restaurierung und der geschätzte Wertverlust die vereinbarte Taxe übersteigen. Liegt bei Eintritt des Schadenfalls der tatsächliche Wert des Kunstobjekts über dem Agreed Value, so kommt die Unterversicherungsregelung zum Tragen. Um d iesem Risiko entgegenzuwirken, sollten die Werte in den Inventurlisten der Galeristen regelmäßig überprüft und den aktuellen Entwicklungen angepasst werden. Häufig wird gegen Prämienzuschlag die Unter versicherungsregelung durch eine entsprechende Verzichtserklärung abbedungen (Waiver of Average Clause). Sollte also der Wert der versicherten Kunstgegenstände weit über der vereinbarten Versicherungssumme liegen, so wird bei der Schadenberechnung darauf verzichtet, einen entsprechenden Abschlag vorzunehmen. Sandy Schwierige Wertermittlung Für die Ermittlung von Schadenersatzansprüchen im Kunstbereich gibt es keine vorgefertigten Muster. Jeder Fall ist so einzigartig wie das Kunstwerk selbst. Dabei haben alle Beteiligten – Galerist, Versicherer, Sachverständiger, Restaurator, Künstler – unterschiedliche Sichtweisen und gelangen entsprechend zu differierenden Wertansätzen. Während ein Galerist einen Totalschaden etwa danach bemisst, ob das Werk für ihn noch verkäuflich ist, beurteilt der Künstler den Wert seiner Bilder emotional und subjektiv. Für ihn kann schon eine geringe Veränderung den Totalschaden bedeuten. Für den Restaurator wiederum geht es in erster Linie um die Frage, ob es handwerklich und mit vertretbarem Aufwand möglich ist, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Auf der Seite des Gutachters führen fehlende Richtlinien und Vorschriften, nach welchen Kriterien eine Wertminderung zu eruieren ist, häufig zu einer rein subjektiven Einschätzung. Bei zeitgenössischen Werken, bei denen der Künstler noch lebt, gilt es, bestehende Urheberrechte zu berücksichtigen. In der deutschen Rechtsprechung finden sich dazu zahlreiche Präzedenzfälle. Eine Restaurierung ohne Einverständnis des noch lebenden Künstlers wäre fatal und hätte erhebliche Kon sequenzen auf den späteren Wertansatz eines Kunstsachverständigen. getreten ist. Ein Zustandsprotokoll vor Übernahme des Risikos liegt in den seltensten Fällen vor. Als wichtiges Hilfsmittel können Datenbanken wie Artprice, Artnet oder Artfacts dienen, die Auktions ergebnisse, aber auch Beschaffenheit von Kunst werken auflisten. Kunstversicherung nach Sandy Versicherer sind nun auch im Kunstbereich stärker für Risiken aus Naturgefahren sensibilisiert. Sie müssen künftig noch genauer auf diese Gefährdungs situationen achten und ihre Zeichnungspolitik an die jüngsten Schadenerfahrungen anpassen. Aufgabe wird es sein, weitere Hurrikan-Flutszenarien zu eruieren und als mögliche Schadenexposures einzukalkulieren. Die individuelle Lage von Galerien und Kunsträumen (Souterrain, Erdgeschoss, erster Stock) wird ebenfalls verstärkt ins Blickfeld rücken. Das könnte dazu führen, dass in Zukunft mehr Ausschlüsse in den Verträgen vereinbart werden. Ein Ereignis wie Sandy wird aber auch Galeristen und Sammlern bewusst machen, wie wichtig eine adäquate Versicherung ist. Mit der steigenden Nachfrage sollte der Trend rückläufiger Preise bei den Policen zum Stillstand kommen. Weil manche Kunstversicherer angesichts des höheren Risikobewusstseins ihre Kapazitäten verringern werden, sind auch steigende Prämien nicht auszuschließen. Um unter diesen Bedingungen zu einer einvernehm lichen Lösung zu gelangen, müssen alle Seiten ein besonderes Verständnis für andere Standpunkte aufbringen und mit dem nötigen Augenmaß an die Sache herangehen. Nur wenn alle Parteien frühzeitig in die offenen Regulierungsfragen einbezogen werden und sich über das weitere Vorgehen einig werden, lassen sich langwierige Streitigkeiten vor Gericht vermeiden. Wertminderung oft strittig Bei Teilschäden führt die Diskussion über die Höhe der Wertminderung häufig zum Streit. Ob angesichts der technischen und handwerklichen Möglichkeiten der Restauratoren überhaupt eine Wertminderung vorliegt, hängt vom Erfolg des konservatorischen Eingriffs ab. Zur Beurteilung dieser Frage sollte unbedingt ein Gutachter herangezogen werden. Aus Gutachtersicht ist eine Restaurierung von Kunstwerken umso problematischer, je stärker der Eingriff in die Originalsubstanz ist. Generell gilt, dass ein Wertverlust erst nach erfolgter Restaurierung ermittelt werden kann. Oft muss der Sachverständige auch entscheiden, ob ein Schaden möglicherweise älteren Datums war und schon vor Versicherungsbeginn ein- Unsere Expertin: Charlotte Buchmeier ist Claims Manager im Bereich Marine Claims und spezialisiert auf Specie-, Fine Art- und Jewellers’ Block-Schäden. [email protected] Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 27 Sandy Obliegenheiten in der Kunstversicherung von Eva-Maria Goergen Da bei Sturm Sandy mit längerer Vorlaufzeit absehbar war, dass New York und damit auch die Kunstszene in Chelsea in einer Gefährdungszone liegen, stellt sich die Frage: Was hätte den Galeristen zum Schutz des versicherten Risikos abverlangt werden können ? Wie wird ein Versagen im Deckungsverhältnis sanktioniert? In Policen nach US-Recht sind für den Schadenfall bestimmte Pflichten formuliert. Weil die US-Ver sicherungswirtschaft immer noch stark von Unterschieden in den Bundesstaaten geprägt ist und die Relevanz der Rechtsprechung dem kodifizierten Recht, wenn überhaupt, nur geringfügig nachsteht, sollte man an erster Stelle das Augenmerk auf das Wording legen. In Sachversicherungsverträgen sind üblicherweise Formulierungen zu finden, die in den zentralen Vereinbarungen zur Schadenminderung die Klausel „Duties in The Event of Loss Or Damage“ enthält: „You must see that the following are done in the Event of Loss or Damage to Covered Property: a take all reasonable steps to protect the Covered Property from further damage and keep record of Your expenses necessary to protect the Covered Property for con sideration in the settlement of the claim. This will not increase the Limit of Insurance. However, we will not pay for any subsequent Loss or Damage resulting from a cause of loss that is not a Covered Cause of loss. Also, if feasible, set the Damaged Property aside and in the best possible ordered for examination.“ Frage der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit Dem strikten Wortlaut der Klausel nach („in the event of loss“ und „protect ... from further damage“) wird dem Versicherungsnehmer ein Handeln abverlangt, sobald der Versicherungsfall eingetreten ist. Der in den Policen definierte Versicherungsfall ist aber oftmals nicht so weit vorverlagert, dass schon die Warnungen vor einem Hurrikan das versicherte Ereignis auslösen. In der Regel ist dafür eine nachteilige Veränderung der Sachsubstanz Voraussetzung. Daher ist die rechtliche Handhabe schwierig, vor dem Auftreffen eines Hurrikans an Land versicherte Gegenstände aus einem möglichen Gefahrenbereich entfernen zu lassen. Hat der Hurrikan den Versicherungsort erreicht, greift zwar die vertragliche Vereinbarung. Dann ist aber sorgfältig zu prüfen, ob eine Schaden- 28 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 abwendung und -minderung verhältnismäßig und dem Versicherungsnehmer zumutbar ist, solange der Sturm tobt. Bei Sandy war in den Evakuierungszonen eine akute Gefahr für Leib und Leben gegeben. Außerdem lagen formelle Evakuierungsanordnungen vor. Nachdem der Hurrikan Manhattan erreicht hatte, waren sinnvolle Rettungsaktionen für die Kunstobjekte kaum noch möglich. Eine Abwägung von Nutzen, Aufwand und Gefahren hätte allenfalls Maßnahmen innerhalb eines sicheren Gebäudes erlaubt, also etwa das Verlagern von Kunstobjekten in höhere Etagen. Das hätte aber vorausgesetzt, dass der Versicherungsnehmer die zuvor angeordnete Evakuierung ignoriert hätte. Schutzmaßnahmen nach dem Ereignis Nach Abzug des Hurrikans aus Manhattan hatte oberste Priorität, Folgeschäden abzuwenden. Wie häufig in Katastrophengebieten bestand die Gefahr von Plünderungen. Sobald die Evakuierungszonen wieder betreten werden konnten, war es dem Ver sicherungsnehmer zumutbar, Sicherungsmaßnahmen hiergegen einzuleiten. Im Rahmen der Schadenminderung war er angehalten, Kunstwerke, die Feuchtigkeit oder infolge der unterbrochenen und beschädigten Strom- und Gasversorgung Feuer und Rauch ausgesetzt waren, mit der notwendigen Sorgfalt aus der Gefahrenzone zu bringen. Bei der Frage, ob ein Kunstwerk zu restaurieren ist, ist eine Abwägungsentscheidung unter Berücksichtigung der post-sales rights des Künstlers (der auch Versicherungsnehmer sein kann) erforderlich. Eine objektiv nicht begründete Entscheidung kann Auswirkungen auf die Höhe der Versicherungsleistung haben. Sandy Zusätzliche Risikoausschlüsse In US-Verträgen ist es außerdem üblich, die Pflichten im Versicherungsfall vertraglich über einen Risikoausschluss abzurunden, um den Versicherungsnehmer zum Handeln zu motivieren. Häufig verwendet wird der folgende Ausschluss: „We will not pay for Loss or Damage caused directly or indirectly by any of the following: Such Loss or Damage is excluded regardless of any other cause or event that contributes concurrently or in any sequence to the Loss. Neglect of an insured to use all reasonable means to save and preserve property from further damage at and after the time of loss.“ Der Versicherungsnehmer soll sein Handeln nicht sorglos an dem Umstand ausrichten, dass er Versicherungsschutz genießt. Hat ein Versicherungsnehmer auf die Sturmwarnungen nicht reagiert, muss also hinterfragt werden, welche Maßnahmen ihm zumutbar gewesen wären, um den Schaden abzuwenden. Dabei ist es allerdings bei Naturgewalten relativ schwierig, den genauen Ver antwortungsbereich abzugrenzen. Es besteht immer die Möglichkeit, dass ein Hurrikan kurzfristig die pro gnostizierte Zugbahn verlässt. Bei Sandy ist aber davon auszugehen, dass die Pro gnosen und die behördlichen Anordnungen die Bevölkerung für eine herannahende Katastrophe ausreichend sensibilisiert haben. Hat der Versicherungs nehmer keine Maßnahmen zum Schutz der versicherten Sache ergriffen, bietet sich mithin zumindest ein Ansatzpunkt, um Vergleichsgespräche über eine Reduzierung der Schadenzahlung aufzunehmen. Kostentragung und Risikoerweiterung Maßnahmen zur Schadenabwehr und -minderung können Kosten verursachen. Diese sind in angloamerikanischen Verträgen in der Regel über sogenannte „mitigation expense clauses“ gedeckt. Das bedeutet im Gegenzug, dass eine ex ante berechtigte, im Ergebnis aber erfolglose Schadenminderungsmaßnahme erstattungsfähige Kosten im Rahmen der Versicherungssumme nach sich ziehen kann. Das gilt erst recht, wenn der Versicherer nicht nur auf bestehende Unwetterwarnungen aufmerksam macht, sondern gar eine Weisung erteilt, ein bestimmtes Objekt aus einer Gefahrenzone zu entfernen. Leider hat Sandy trotz der guten Prognosen gezeigt, wie unberechenbar Naturgewalten bleiben. So wurden auch als sicher geltende Gebiete in Mitleidenschaft gezogen, was wiederum Elementar- und Folgeschäden bei dorthin ausgelagerten Kunstobjekten auslöste. Das Risiko, dass ein Schaden an einem anderen als dem ursprünglichen Versicherungsort eintritt, kann nicht dem Versicherungsnehmer allein aufgebürdet werden. Selbst ohne ausdrückliche Außenversicherung sollte in einem solchen Fall geprüft werden, ob Versicherungsschutz für einen – beispielsweise in New Jersey eingetretenen – Sachschaden besteht, auch wenn im Vertrag als Versicherungsort ausschließlich eine Galerie in Chelsea vereinbart war. Nachweis der Schadenhöhe Zu den Pflichten des Versicherungsnehmers gehört es auch, eine Schadenbewertung zu ermöglichen. Oft wird dabei die Behauptung aufgestellt, die für den Beleg des Sachschadens erforderlichen Unter lagen seien ohne Zutun und Verschulden des Ver sicherungsnehmers beim Schadenereignis unter gegangen. Solche Aussagen des Versicherungsnehmers gilt es im ersten Schritt kritisch zu hinterfragen. Inventur listen und Wertgutachten werden in der Regel nicht ausschließlich zu Versicherungszwecken erstellt. Die Unterlagen werden auch benötigt, um Bilanzen zu erstellen, Verkäufe zu arrangieren und nicht zuletzt steuerliche Positionen zu belegen. Im Zeitalter der elektronischen Korrespondenz finden sich Kopien solcher Nachweise oft auf einem externen Server, oder sie sind zumindest bei einem Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater archiviert. Wurden solche Unterlagen zerstört und bestand keine entsprechende Verpflichtung zur separaten Lagerung im Versicherungsvertrag, handelt es sich zumeist mehr um ein Beweisproblem als um eine Frage des Versicherungsschutzes. Die Beweislast für den Wert des versicherten Objekts – sofern kein Agreed Value vereinbart wurde – liegt im Regelfall aufseiten des Versicherungsnehmers. Zweifel an der Schadenhöhe gehen zu seinen Lasten. Der Aufwand für den Versicherer, der die Forderung prüfen muss, ist in diesem Fall allerdings wesentlich größer. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 29 Sandy Rechtsfolgen Rechtsfolgen einer unterlassenen vertraglich vorgesehenen Handlung sind im amerikanischen Recht differenziert zu betrachten. Entscheidend ist an erster Stelle, was im Versicherungsvertrag vereinbart wurde. Fehlen entsprechende Abmachungen, ordnen damit befasste Gerichte die Pflicht zunächst ihrer Art nach durch Vertragsauslegung ein. Im Wesentlichen sind drei Kategorien zu unterscheiden: Ausschlüsse (Exclusions), Bedingungen, die vor dem Entstehen eines Deckungsanspruchs erfüllt werden müssen (Conditions Precedent to Recovery), und Pflichten im Zusammenhang mit der Versicherungsleistung (Duties bearing on the Amount of Recovery). Ausschlüsse und Bedingungen, die vor dem Ent stehen eines Deckungsanspruchs erfüllt werden müssen, ziehen am ehesten eine Leistungskürzung auf null nach sich. Zwar könnte ein Anspruch auf Deckung im Fall einer nicht erfüllten Bedingung entstehen, der Nichteintritt der Bedingung lässt den Versicherungsschutz jedoch in der Regel vollständig entfallen. Fazit In der Kunstversicherung kann schon ein geringer prozentualer Abzug von der Versicherungssumme einen erheblichen Betrag ausmachen. Deshalb lohnt es sich in jedem Fall zu prüfen, ob ein Versicherungsnehmer Einfluss auf die Entstehung und die Höhe des von ihm gemeldeten Schadens nehmen konnte und ob er seinen vertraglichen Pflichten ausreichend nachgekommen ist. In einem ersten Schritt geht es darum, Schadenfälle herauszufiltern, deren Ausmaß der Versicherungsnehmer hätte vermeiden können. Danach muss geprüft werden, ob er für den Schutz vor Folgeschäden ausreichend Sorge getragen hat. Nicht zu vergessen ist, dass die dafür nötigen Kosten dem Versicherungsschutz unterfallen können. Sie reduzieren zwar in der Regel den Schadenaufwand, können aber zu Ansprüchen führen, selbst wenn kein Sachschaden entstanden ist. Davon zu unterscheiden sind die Rechtsfolgen bei Verstößen in der dritten Gruppe, den Pflichten im Zusammenhang mit der Versicherungsleistung. Versäumt der Versicherungsnehmer hier, seinen Pflichten nachzukommen, bleibt sein Deckungsanspruch erhalten. Die Leistung des Versicherers wird jedoch gekürzt. Gerade in einem Rechtssystem, das Jurys zulässt, stellt diese Kürzung ein erhebliches Risiko für den Versicherungsnehmer dar. Unsere Expertin: Eva-Maria Goergen ist Fachanwältin für Versicherungsrecht und Partnerin bei der Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft. [email protected] 30 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Property Das Hochwasser in Alberta Die Überflutung von Calgary und der angrenzenden Regionen im Sommer 2013 war die wohl teuerste Naturkatastrophe in der Geschichte Kanadas. Darüber hinaus ist sie ein aktuelles Beispiel für die Anwendung der ACC-Klauseln. von Jordan Solway Southern Alberta gehört gewöhnlich nicht zu den niederschlagsreichen Regionen Kanadas. Doch in den Tagen vor dem 19. Juni 2013 hatte ein Tiefdruckgebiet in Northern Alberta starke Regenfälle von teilweise mehr als 200 mm in 36 Stunden ausgelöst, vor allem westlich und südwestlich der Stadt Calgary. Die massiven Niederschläge machten den durch die späte Schneeschmelze bereits gesättigten Boden noch feuchter. Das steil abfallende Wassereinzugsgebiet und die umfangreichen Schneelasten in den vorderen Gebirgszügen der Rocky Mountains ließen mehrere Flüsse stark anschwellen. Schätzungen zufolge beläuft sich der Gesamtschaden auf über sechs Milliarden kanadische Dollar und der versicherte Schaden auf ca. 1,7 Milliarden kanadische Dollar. Laut dem Insurance Bureau of Canada wird das Calgary-Hochwasser von 2013 als teuerste Naturkatastrophe in die Geschichte Kanadas eingehen. Frage der Versicherbarkeit Die langfristigen Folgen dieses Ereignisses werfen eine Reihe von Fragen auf. So gilt es etwa zu klären, ob sich Wohnungseigentümer in den gefährdeten Gebieten in Southern Alberta künftig gegen Hochwasser versichern können. In Kanada gibt es für Wohnimmobilien keine Hochwasserversicherung, für gewerbliche Immobilien hingegen schon, allerdings in der Regel mit Sublimits oder je nach Risiko mit einem höheren Selbstbehalt. Da Wohnungseigentümer bislang nicht versichert sind, will die Regierung von Alberta die Menschen zum Umzug bewegen. Wohngebäudeversicherer bieten in Kanada gewöhnlich Schutz gegen Schäden aus einem Kanalisationsrückstau an. Sie verlangen dafür einen Beitrags zuschlag und legen selbst dann mitunter ein Sublimit fest. Hier standen die Erstversicherer vor dem Pro blem, wie sie die Versicherungsverträge angesichts der in einigen Fällen vielfältigen Schadenursachen auslegen sollten. Denn häufig war zwar der Kanali sationsrückstau die faktische Ursache für überschwemmte Keller, die unmittelbare oder rechtlich wirksame Ursache des Schadens war jedoch die oberirdische Überflutung. Etwa weil das Wasser von überfluteten Straßen oder bei hohem Grund wasserstand in die Kanalisation geflossen ist oder Regenwassersysteme überlastet waren. Grundsatzurteil zur Mitursächlichkeit Wenn ein Schaden durch das Zusammenwirken mehrerer möglicher Ursachen entsteht, die nicht alle versichert sind, stellt sich die Frage der Mitursächlichkeit. Nach einer Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs Kanadas aus dem Jahr 2001 in der Rechtssache Derksen gegen 539938 Ontario Ltd. (2001 SCC 72) muss der Versicherer denjenigen Schaden regulieren, der nicht der ausgeschlossenen Ursache zuzurechnen ist, sofern der Versicherungsvertrag nicht ausdrücklich etwas anderes vorsieht. Der Fall Derksen stellte eine grundlegende Wende in der Rechtsprechung dar. Bis zu diesem Zeitpunkt galt: Ist die ausgeschlossene Gefahr für die zu dem Schaden führende Kausalkette von wesentlicher Bedeutung, so ist der Schaden nicht versichert. Anders ausgedrückt: Ohne oberirdische Überflutung hätte es keinen Kanalisationsrückstau gegeben. Nach der Rechtssache Derksen ist es nun Auslegungs sache, ob ein Ausschluss den Versicherungsschutz verdrängt. Das wirft das Problem auf, wie man die Entschädigung gerecht und nachvollziehbar bemisst. Das gilt vor allem, wenn sich nur unter hohem Aufwand feststellen lässt, welcher Schadenanteil auf eine bestimmte Ursache entfällt. Da weiterhin Schäden im Zusammenhang mit dem Hochwasser in Alberta reguliert und den Rückversicherern zur Prüfung vorgelegt werden, wird diese Problematik nun im Mittelpunkt der Beratungen zwischen Zedenten und ihren Rückversicherern stehen. Jordan S. Solway LL.B, J.D., Munich Reinsurance Company of Canada General Counsel & Senior Vice President, Claims [email protected] Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 31 interview Ein Vergleich wird langer Ungewissheit oft vorgezogen Der Rechtsexperte Professor John Goldberg erläutert, warum US-Unternehmen vor Gericht oftmals einen Vergleich mit ihren Klägern einem Urteil vorziehen und wie sich das Deliktsrecht über die Jahre verändert hat. John Goldberg ist Professor für Deliktsrecht an der Harvard Law School. 2010 erstellte er das Gutachten für die Entschädigung von Vermögensschäden nach der Explo sion auf der „Deepwater Horizon“. Schadenspiegel: Prof. Goldberg, in den USA ist die Vergleichsquote in Haftungsverfahren extrem hoch. Wieso ? Prof. John Goldberg: Die überwie gende Mehrheit der Entschädigungs klagen wird nicht gerichtlich entschie den, sondern durch einen Vergleich beigelegt. Bei Verfahren, in denen die Entschädigungsforderung nicht allzu hoch ist, liegen die Gründe klar auf der Hand. Das Verfahren bis zur Gerichtsverhandlung durchzuziehen kostet Zeit und Geld. Da die meisten Verhandlungen vor einem Schwur gericht stattfinden, ist ihr Ausgang zudem schwer vorhersehbar. Bei Massenklagen, in denen es um eine Vielzahl von Personenschäden und hohe Entschädigungssummen geht, können Kosten und Zeit eben falls von Bedeutung sein, etwa wenn dem Beklagten, wie beispielsweise Exxon im Zusammenhang mit der Valdez-Ölkatastrophe im Prinz-Wil liam-Sund in Alaska, ein jahre- oder gar jahrzehntelanger Prozess droht. Welche Faktoren neben Kosten und Zeit spielen darüber hinaus eine Rolle ? In einigen sogenannten „Bet the company“-Fällen (existenzbedrohen den Verfahren) wollen die Beklagten 32 keine Gerichtsverhandlung riskieren. In anderen Fällen haben die Parteien keine Gewissheit darüber, wie die Rechtslage in ihrem Fall ist. So kann etwa unklar sein, welches Recht überhaupt zur Anwendung kommt. Doch selbst wenn dies klar ist, befürchten die Parteien möglicher weise, dass die Gerichte von ihrer Befugnis nach dem Common Law Gebrauch machen, das Recht modifi ziert anzuwenden, weil es sich um einen besonderen Fall handelt, bei dem besonders viel auf dem Spiel steht. Hat die öffentliche Meinung Einfluss auf die Vergleichsbereitschaft ? Bei Massenklagen können zusätz liche Überlegungen ins Spiel kom men. Ganz offensichtlich sind Repu tationsrisiken zu berücksichtigen: Verfahren, bei denen es um eine Vielzahl schwerer Personenschäden geht, ziehen die Medien an, und die Beklagten wollen Vorwürfe, unver antwortlich zu handeln oder sich nicht um das Wohl ihrer Kunden oder der Öffentlichkeit zu kümmern, tun lichst vermeiden. Darüber hinaus geraten Großereignisse schnell ins Visier der Behörden und können neben der deliktischen Haftung Strafverfolgungsmaßnahmen und andere Sanktionen nach sich ziehen. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Deshalb kann es im Interesse der Beklagten liegen, Deliktsansprüche im Rahmen einer umfassenden Stra tegie zur Vermeidung unerwünschter behördlicher Maßnahmen auf dem Vergleichsweg zu regeln. Schließlich stellt ein unverzüglicher und voll ständiger Schlussstrich einen Wert für sich dar. Denn die Betroffenen und die Märkte scheinen die Gewiss heit einer Vergleichsregelung – selbst wenn es sich um einen teuren Vergleich handelt – einer Ungewiss heit vorzuziehen. Können Sie Beispiele dafür nennen ? Der Pharmakonzern Merck wurde von Tausenden von Verbrauchern wegen Herzinfarkten und Schlagan fällen im Zusammenhang mit dem Schmerzmittel Vioxx verklagt. Die Kläger hatten Beweise dafür, dass Merck das Risiko kannte und es gegenüber den Regulierungsbehör den und der Öffentlichkeit herunter gespielt hatte. Doch für viele der Kläger war es äußerst schwierig zu beweisen, dass ihre Schädigungen tatsächlich auf Vioxx und nicht auf andere Faktoren wie Alter, Rauchen oder Übergewicht zurückzuführen waren. Im US-amerikanischen Sys tem ist diese Frage der individuellen Kausalität von den Geschworenen zu beantworten. Die Anwälte der interview Kläger von Merck einigten sich auf eine Reihe von Musterverfahren (sogenannten Bellwether Trials), um herauszufinden, ob die Geschwo renen zu der Ansicht neigten, dass die Herzinfarkte und Schlaganfälle der jeweiligen Kläger durch Vioxx verursacht worden waren. Und obwohl Merck die meisten dieser Probeverfahren klar gewann und nahezu alle Geschworenenurteile, die zugunsten der Kläger ausfielen, im Berufungsverfahren aufgehoben wurden, schloss Merck einen Ver gleich, der den Konzern fast fünf Mil liarden US-Dollar kostete. Wahr scheinlich tat Merck dies aus einigen der oben genannten Gründe. Man vermied dadurch vor allem jahreoder jahrzehntelange Prozesse und konnte unter die Angelegenheit einen Schlussstrich ziehen. Bemer kenswerterweise stieg der Wert der Merck-Aktie an dem Tag, an dem der Vergleich angekündigt wurde. Ein weiterer noch nicht abgeschlos sener Fall betrifft die Haftung von BP aufgrund der „Deepwater Horizon“Ölkatastrophe. BP hat an Unterneh men der Golfregion bereits Millionen US-Dollar als Entschädigung für ent gangene Gewinne gezahlt. Die Zah lungen erfolgten sowohl durch die zur Regelung von Ansprüchen eigens von BP gegründete Gulf Coast Claims Facility (GCCF) als auch auf grund eines kürzlich geschlossenen Vergleichs zur Beilegung Tausender vor einem Bundesgericht in Louisi ana anhängiger Klagen. Dabei steht gar nicht fest, dass BP nach Com mon Law oder aufgrund des Oil Pol lution Act verpflichtet ist, alle diese Entschädigungen zu zahlen. Das gilt insbesondere bei Schäden, die auf den allgemeinen wirtschaftlichen Abschwung infolge des Ausbleibens von Touristen an der Golfküste zurückzuführen sind und nicht auf die Beschädigung von Eigentum. Hier besteht hochgradige Rechtsun sicherheit. Denn der Oil Pollution Act ist ein relativ neues Bundesgesetz, und bislang hat noch kein Gericht den sich daraus ergebenden genauen Haftungsumfang verbindlich festge stellt. Außerdem ist BP ohne Zweifel um seinen Ruf besorgt. Wohl am schwersten wiegt aber, dass BP Strafsanktionen drohen und der Kon zern damit rechnen muss, dass das US-Innenministerium die Erteilung von Offshore-Bohrgenehmigungen verweigert. Ein relativ großzügiges Vorgehen bei der Entschädigung der Opfer verbessert die Position von BP in den Verhandlungen mit der USRegierung. Erkennen Sie in diesem Bereich in den USA neue Entwicklungen ? Seit etwa 1980 stehen die amerika nische Öffentlichkeit und die US Gerichte dem Deliktsrecht mehrheit lich zunehmend skeptisch gegenüber. Im Rahmen der „Deliktsrechts reform“ bemühen sich der Gesetz geber und die Gerichte, erkannte Auswüchse zu stutzen. Diese Ent wicklungen werden den Vergleichs druck, dem die Beklagten in der Regel ausgesetzt sind, wahrschein lich verringern. zugrunde, so spricht vieles dafür, dass die Fluggesellschaften nicht verpflichtet waren, Schutzmaßnah men zugunsten dieser Immobilien eigentümer zu treffen. Dann könnten sie aber auch nicht haftbar gemacht werden, selbst wenn ihre Nachlässig keit die Anschläge begünstigt hätte. Das zuständige Bundesgericht scheint aber Hemmungen gehabt zu haben, diesen Grundsatz anzuwen den. Möglicherweise war das Gericht der Ansicht, dass die Fluggesell schaften in gewisser Weise für den Schaden mitverantwortlich waren und daher zumindest einen Teil der Schadenkosten übernehmen sollten. Allerdings sind auch einige gegen läufige Tendenzen zu beobachten, wenngleich diese diffuser und schwieriger zu beschreiben sind. Im gesamten Land verfolgen inzwischen viele Richter bei Massenklagen einen „Managementansatz“. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, alle Opfer, die ihre Schädigung glaubhaft darlegen können, sowie sämtliche Personen, deren Handlungen mit diesen Schä digungen im Zusammenhang stehen könnten, in das Verfahren einzu beziehen. Ziel ist es, eine gerechte Aufteilung der Kosten unter allen Beteiligten gerichtlich herbeizu führen. Zwar spricht einiges für diesen „Kostenaufteilungsansatz“. Jedoch weicht er von den traditio nellen Grundsätzen des Delikts rechts ab, wonach nur haftet, wer die Opfer durch Verletzung einer ihnen gegenüber bestehenden Pflicht geschädigt hat. Wie sieht dieser Kostenauf teilungsansatz in der Praxis aus ? Nach den Terroranschlägen vom 11. September verklagten beispiels weise Eigentümer und Mieter von beschädigten oder zerstörten Immo bilien unter anderem die Flugge sellschaften American Airlines und United Airlines. Diese hätten die Schäden nicht durch eine bessere Sicherung ihrer Flugzeuge gegen das Risiko von Entführungen verhin dert. Legt man New Yorker Recht Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 33 PROPERTY Bruch der Ansaugleitung einer Meerwasserentsalzungsanlage Trinkwasser wird immer öfter aus dem Meer gewonnen. Sind die Ansaugleitungen der Entsalzungsanlagen jedoch nicht ausreichend am Meeresgrund befestigt, drohen aufwändige Reparaturen und hohe Betriebsunterbrechungsschäden. Meerwasserentsalzungsanlagen sind wartungsintensiv und ihre Reparatur oft aufwändig: An der algerischen Küste wird ein defektes Leitungsstück ersetzt. 34 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Property von Alfons Maier Die Meerwasserentsalzungsanlage an der algerischen Küste förderte Meerwasser über eine im Meer liegen de Ansaugleitung in eine Pumpstation und Wasser aufbereitungsanlage. Am 10. Februar 2010 fiel plötz lich der Druck in der Meerwasseransaugleitung. An diesem Tag gab es durchschnittlich drei bis fünf Meter hohe Wellen in der Anlage bei einer maximalen Wellenhöhe von sieben bis neun Metern. Die Unter wasser-Inspektion der Leitung sechs Tage später ergab, dass die Leitung gebrochen war. Unterwasser aufnahmen zeigten, dass beide Leitungsbruchenden mit insgesamt 30 Meter Leitung im Meeresboden eingesunken waren. Sand war vom Meeresboden in die Ansaugleitung gesogen worden und hatte einen etwa 60 Meter breiten Krater an der Bruchstelle gebildet. Nur ein Teil der Leitung verläuft unter dem Meeres grund. Die Leitung setzt sich aus jeweils sechs Meter langen Rohrteilen in drei Abschnitten zusammen (Sektion T0 mit 140 Meter, Sektion T1 mit 460 Meter und Sektion T2 mit 571 Meter Länge). Der Schaden ereignete sich in Sektion T2, etwa 350 Meter von der Ansaugöffnung und 821 Meter vom Ufer entfernt. Sektion T0 und T1 waren im Meeresboden eingegra ben, Sektion T2 offen am Meeresgrund mit ringförmi gen Beschwerungselementen verlegt ( siehe Abb. 1). Nach dem Schaden fiel die Leistung der Meerwasser entsalzungsanlage auf etwa 40 Prozent. Durch die Installation einer temporären Ersatzansaugleitung parallel zur beschädigten Leitung gelang es aber kurze Zeit später, die Leistung der Anlage schritt weise auf 80 Prozent zu erhöhen. Nach der erfolgrei chen Reparatur konnte der Normalbetrieb im Dezem ber desselben Jahres wieder aufgenommen werden. Die Schadenursache war ein Design-Fehler Die Ansaugleitung war auf dem Meeresgrund verlegt. Befestigt wurde die Leitung auf in dieser Region hoch dynamischem Sandboden mit durchschnittlicher Korngrößenverteilung mit ring- und U-förmigen Beschwerungsgewichten. Die Rohrstücke einer Ansaugleitung werden an Land thermisch verbunden, bevor die Konstruktion schwimmend zum Einbauort im Meer gebracht wird. Versicherungsnehmer, Versicherer und führender Rückversicherer verzichteten auf die Bergung des beschädigten Leitungsstücks. So konnten Kosten gespart, aber auch die Schadenursache nicht mehr eindeutig ermittelt werden. Mögliche Schaden ursachen wie fehlerhafte Ausführung (etwa Bauaus führungsfehler an Land, beim Schweißen, beim Einbringen in das Meer oder Absenken auf den Mee resgrund) oder mangelhaftes Material etwa konnten nicht ausgeschlossen werden. Vermutlich war die nicht ausreichende Befestigung der Ansaugleitung auf dem dynamischen Meeresgrund in der Sektion T2 die Schadenursache. Empfehlenswert wäre, die Ansaugleitung komplett am Meeresgrund mit Mate rial zu überdecken oder mit Mikropfählung zu fixieren. Da weitere Verzögerungen mit hohen Betriebsunter brechungskosten zu Buche schlagen würden, stand die möglichst schnelle Reparatur der Anlage im Vor dergrund. Der Sturm und damit verbundene Wellengang zum Zeitpunkt des Schadens lag deutlich unter den Bedin gungen, für die die Ansaugleitung ausgelegt wurde (durchschnittliche Wellenhöhe von 6,2 Meter und maximale Wellenhöhe von 11,2 Meter). In Bezug auf die Auslegungsbedingungen wurde der Sturm daher nicht als außergewöhnliches Ereignis eingestuft. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 35 Property Abb. 1: Die Bruchstelle der Ansaugleitung Meter 20 15 Pumpeneinlaufbauwerk Bruchstelle 10 Ansaugturm 5 0 –5 –10 –15 –20 T0 = 140 m T1 = 460 m Die Meerwasseransaugleitung aus Kunst stoff (HDPE = HighDensityPolyEthylen) mit einem Durchmesser von 1,80 Meter ist etwa 1,2 km lang und wurde in einer maximalen Wassertiefe von 18 Meter am Meeresgrund verlegt. Sektion T0 und T1 waren im Meeresboden eingegraben. Sektion T2 offen am Meeresgrund mit ringförmigen Beschwerungselementen verlegt. T2 = 571 m Quelle: Munich Re Trinkwassergewinnung aus dem Meer Steigendes Bevölkerungswachstum, ein immer höherer Lebensstandard weltweit und das Versiegen natür licher Wasserquellen sind die Ursachen, warum Meerwasserent salzungsanlagen immer häufiger gebaut werden. Traditionell wird in solchen Anlagen das Vakuum-Destillationsverfahren genutzt. Dabei wird Wasser bei stark erniedrigtem Druck zum Sieden gebracht. Der Siedepunkt liegt dabei niedriger, da eine Flüssigkeit dann ihren Siedepunkt erreicht, wenn der Dampfdruck gleich dem Luftdruck ist, wobei der Dampfdruck mit der Temperatur steigt. Aufgrund der benötigten niedrigen Betriebstempe ratur kann „Abfallwärme“ aus der 36 Stromerzeugung oder aus industriel len Prozessen genutzt werden. Ein weiteres Entsalzungsverfahren basiert auf dem Prinzip der Umkehr osmose. Bei diesen Verfahren werden Salz und Wasser unter Einsatz von Druck mithilfe einer semipermeablen Membran voneinander getrennt. Anlagen, die nach dem Prinzip der Umkehrosmose arbeiten, ver brauchen meist weniger Energie als solche, die thermische Destillation einsetzen. Dies hat dazu geführt, dass die Kosten der Meerwasser entsalzung in den vergangenen zehn Jahren insgesamt zurückgegangen sind. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Dennoch ist die Entsalzung nach wie vor energieintensiv und teuer. Die Qualität des gereinigten Wassers und auch die Leistung der Anlage können beeinträchtigt werden durch verschmutztes Meerwasser, hohe Sedimentanteile im Wasser nach einem Sturm oder durch Algen- und Seegraseintrag. Meerwasserentsalzungsanlagen benötigen eine zuverlässige Strom versorgung und sind wartungsinten siv. In manchen Ländern mit Wasser knappheit stellen sie kritische Infrastrukturen dar, die mitunter aus politischen Gründen von mutwilliger Zerstörung betroffen sein können. Property Aus wirtschaftlichen und praktischen Gründen wur den bei der Reparatur etwa 100 Meter der Ansauglei tung um die Bruchstelle entfernt. Die Bruchstücke blieben im Meeresboden. Anschließend wurde der Krater um die Bruchstelle gefüllt und die etwa 100 Meter fehlende Leitung mit drei Teilstücken geschlos sen. Die gebrochenen Leitungsenden wurden im Meeresboden zurückgelassen. Sach- und Betriebsunterbrechungsschaden und Regulierungsaspekte Unmittelbar nach dem Druckverlust im Pumpenhaus stand die Meerwasserentsalzungsanlage nach dem Leitungsbruch der Meerwasseransaugleitung im Februar 2010 für eine Woche still. In dieser Zeit wurde als erste schadenmindernde Maßnahme eine temporäre Ersatzansaugleitung par allel zur bestehenden beschädigten Ansaugleitung installiert. Stufenweise wurde eine Steigerung der Leistung bis auf 80 Prozent erzielt. In der Aufberei tungsanlage wird das Meerwasser durch Kerzenfilter gepresst und anschließend in die UmkehrosmoseModule geleitet. Danach werden Salze zugesetzt und eine Chlorbehandlung durchgeführt. Die fünf vorhan denen Umkehrosmose-Einheiten erzeugen jeweils 20 Prozent der gesamten Anlagenleistung. Als zweite Schadenminderungsmaßnahme wurde mehr Perso nal zur Reinigung der gesamten Anlage eingesetzt. Da die temporäre Ansaugleitung näher an der Küste und in flacherem Gewässer lag, wurden größere Men gen an Sand und Feststoffteilchen (Algen etc.) ange saugt, die wiederum mit erhöhtem Personalaufwand aus den Ansaugpumpen, Vorfiltern und Filterstufen entfernt werden mussten, um erhöhten Verschleiß zu vermeiden. Verschleißteile und auch Filter wurden erneuert. Da im Konzept der Anlage bereits eine Ersatzansaugpumpe vorgesehen war, war es möglich, die Reparatur- und Reinigungsarbeiten wechselnd an den Pumpen vorzunehmen, ohne den laufenden Betrieb zu stören. Meeressand, der sich im Ansaugleitungssystem aufgrund des Leitungsbruchs angesammelt hatte, verminderte allerdings die Leistung der Anlage und erhöhte gleichzeitig den Verschleiß. Durch aufwen diges und längerfristiges „Spülen“ der Anlage im Betrieb gelang es nach einiger Zeit aber, die Leis tungsminderung zu beseitigen. Nach erfolgter Repa ratur im Dezember 2010 bestand die Leistungsmin derung, bedingt durch den Meeressand in der Anlage, noch bis Juli 2011 und damit fünf Monate über die Haftungszeit hinaus. Fehlende Klimadaten können sowohl das Design wie auch im Schadenfall die Schadenabwicklung negativ beeinflussen. Sturm, die Dynamik des Meeresgrundes sowie Strö mungen oder Ankerwurf können die Ansaugleitung schädigen. Meerwasserentsalzungsanlage nach dem UmkehrosmosePrinzip in Barcelona, Spanien. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 37 Property Nicht dem Schaden zurechenbare Leistungsein schränkungen wie reguläre Wartung oder Transfor matorausfall wurden bei der Berechnung des Betriebsunterbrechungsschadens herausgerechnet. Bei der Ermittlung des Brutto-Gewinnausfalls wurden wichtige, nach dem Schaden verminderte variable Kosten wie Stromverbrauch und Chemikalieneinsatz berücksichtigt. Mehrkosten (ICoW) zum Aufrecht erhalten der Produktion wie die Installation einer tem porären provisorischen Meerwasseransaugleitung, die verstärkte Reinigung von Anlagenteilen (wie Pum pen und Filter von erheblichen Sandeinträgen) und der Austausch von Verschleißteilen wie Pumpen dichtungen, Feinfiltern (mit Anrechnung von Nut zungsdauern) wurden ebenfalls im Schadenausmaß berücksichtigt. Der Sachschaden belief sich auf etwa 1,3 Millionen Euro. Der Betriebsunterbrechungs schaden hingegen lag mit 4,8 Millionen Euro weit höher als der Sachschaden. Deckung bestand über eine Property All Risk Police (einschließlich Maschinenbruch und Betriebsunter brechung), bei der weder fehlerhaftes Design oder Material noch „normal action of the sea“ ausgeschlos sen waren, sodass Deckung gegeben war. Bei diesem Schaden wurde auf die Bergung des Leitungsbruch stücks aus Kosten- und Zeitgründen verzichtet. Scha denreparaturen können anspruchsvoll sein, wenn wetter- und strömungsbedingt nur ein enges Zeit fenster zur Verfügung steht, hier nur etwa zwei bis zweieinhalb Monate im Jahr. Dies kann bei einem fortlaufenden Betriebsunterbrechungsschaden einen erheblichen Schadentreiber darstellen, wenn es nicht gelingt, innerhalb dieses Zeitfensters die Reparaturen auszuführen. Unser Experte: Alfons Maier ist Senior Claims Manager im Bereich Schaden Germany, Asia Pacific and Africa in München und Experte für das Schadenmanagement nach Naturkatastrophen. [email protected] 38 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Ist Ihr Geschäft geointelligent genug ? Wer heute Risiken ganzheitlich managen will, muss das räumliche Umfeld exakt kennen. Mit der NATHAN Risk Suite können Sie Naturgefahrenrisiken adresssgenau einschätzen und ganze Risikobestände analysieren – und das weltweit. UNSERE LÖSUNGEN, IHR ERFOLG Mit der NATHAN Risk Suite profitieren Sie von – ortsgenauem Wissen für eine maßgeschneiderte Tarifierung, – transparenten Zusammenhängen für klare Entscheidungen sowie – mehr Wissen für eine optimale Risikostreuung. Für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte Ihren Client Manager oder besuchen Sie connect.munichre.com not if, but how Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 39 Raumfahrt Teurer Fehlstart im Pazifik Der Absturz einer Rakete am 31. Januar 2013 verursachte den höchsten Schaden in der Geschichte der Raumfahrtversicherung. von Achim Enzian Die Zenit-3SL ist eine ukrainisch-russische Träger rakete, die von einer umgebauten Ölbohrplattform im Pazifik kommerzielle Telekommunikationssatelliten mit einem Gewicht von mehr als sechs Tonnen in den Orbit befördert. Durch die optimale Startposition am Äquator, unweit des Inselstaats Kiribati, nutzt man neben der maximalen Geschwindigkeit der Erdumdrehung außerdem den Vorteil, ohne Inklination direkt in die geosynchrone Bahnebene starten zu können. Dadurch lassen sich zwei Tonnen Nutzlast mehr in den geostationären Orbit transportieren als mit praktisch der gleichen Rakete bei einem Start vom kasachisch-russischen Kosmodrom in Baikonur. Bordcomputer übernimmt Startprozess Die Raketenstufen für den Start am 31. Januar 2013 waren wenige Monate zuvor ohne besondere Auffälligkeiten in der Ukraine und in Russland gefertigt und zur Endmontage nach Long Beach in Kalifornien verschifft worden. Dort wurde der Satellit Intelsat 27 in die Raketenspitze eingebaut und der gesamte Flugkörper im Hafen auf die mobile Startplattform verladen. Zusammen mit einem Begleitschiff, das auch als Kontrollzentrum während des Starts dient, ging es dann auf eine mehrwöchige Seereise in den Zentralpazifik. Die Zündung eines Raketenmotors ist immer ein besonders kritischer Augenblick. Hier kam es bereits 2007 bei der Zenit-3SL zu einem Fehlstart, als die Rakete wegen eines metallischen Fremdkörpers in der Flüssigsauerstoffpumpe auf der Plattform explodierte. Am Startort angekommen wurden die Rakete sowie der Satellit betankt, und nach den letzten manuellen Startvorbereitungen erfolgte die Evakuierung der Plattform. Zu diesem Zeitpunkt ist es noch möglich, vom Begleitschiff aus den Startprozess jederzeit abzubrechen. Sobald jedoch der Bordcomputer das alleinige Kommando übernommen hat – bei der Zenit sind das wenige Sekunden vor dem Zünden der ersten Stufe –, kann der Startprozess nur noch in bestimmten programmierten Situationen gestoppt werden. Unmittelbar vor dem Zünden des Motors müssen die Schubrichtung des Triebwerks überprüft und die Schubdüse ausgerichtet werden. Kleinere Raketen antriebe schwenken die Düse mit elektrischen Aktuatoren. Bei großen Triebwerken wie dem RD-171M der Zenit verwendet man stärkere hydraulische Zylinder. Eine Zenit-3SL-Rakete startet im Pazifik. Durch die Vibrationen fallen Eissplitter und Wärmedämmmaterial vom kalten Flüssigsauerstofftank. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 41 Raumfahrt Der Satellit Intelsat 27 wird horizontal in die Oberstufe der Rakete eingebaut. Vor der Zündung des Motors kommt der hierzu notwendige Öldruck von einer Hydraulikpumpe mit angeschlossener Kaltgasturbine. Das Gasreservoir ist allerdings nur für wenige Sekunden Betriebsdauer ausgelegt, bis der Treibstoffkreislauf des Motors für den Antrieb einer stärkeren Hydraulikturbine genutzt werden kann. Schubvektorsteuerung versagt Für die Beobachter auf dem Begleitschiff und live im Internet schien die Zündung zunächst normal zu verlaufen. Doch bereits nach wenigen Sekunden konnte man sehen, wie der Schubstrahl von der vertikalen Flugrichtung wegdriftete und die Rakete mehr und mehr in eine falsche Richtung geriet. Wie die Flugdatenauswertung später ergab, versagte die Hydraulikturbine der Schubvektorsteuerung schon beim Abheben der Rakete von der Plattform, sodass von Anfang an eine normale Steuerung unmöglich war und die Rakete binnen weniger Sekunden aus der Bahn geraten musste. Der Bordcomputer erkannte dies zwar, konnte den Start zu diesem kritischen Zeitpunkt aber nicht mehr abbrechen. Wie für solche Notfallsituationen vorgesehen, leitete der Bordcomputer ein kontrolliertes Manöver ein. Er ließ den Motor zunächst noch wenige Sekunden weiterlaufen, stellte dann mit ausreichend Abstand zur Plattform das Triebwerk ab und brachte die Rakete so zum Absturz. Sie schlug auf dem Wasser auf, zerbrach und ging mitsamt ihrer Nutzlast unter. Das Begleitschiff befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem Sicherheitsabstand von mehreren Kilometern von der Plattform. Personen kamen daher nicht zu Schaden. 42 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Im Lauf der Unfalluntersuchungen stellte sich heraus, dass die Hydraulikturbine zwar kurzzeitig die erforderliche Rotationsgeschwindigkeit erreicht hatte, gleich danach aber wegen zu hoher Reibung zwischen einem rotierenden und einem feststehenden Turbinenteil zum Stillstand kam. Dies geschah, obwohl die betroffenen Turbinenteile einzeln betrachtet die noch akzeptierte Toleranz erreichten. Im zusammengebauten Zustand war das Toleranzspiel zwischen den beiden Bauteilen aber grenzwertig, der Fehler konnte jedoch nicht mehr direkt gemessen werden. Nur ein Funktionstest unter realistischen Flugbedingungen hätte das Problem rechtzeitig offenbart. Qualitätsprobleme waren bekannt Die Zenit-3SL ist seit 1999 zu insgesamt 35 Raumflügen gestartet. Der erste Fehlstart trat bereits im Jahr 2000 auf, als der Flug wegen einer Triebwerksstörung in der zweiten Stufe vorzeitig abgebrochen werden musste. Ähnliche Qualitätsprobleme kennt man im Übrigen auch bei der russischen Proton, die in den vergangenen Jahren nahezu jährlich einen Fehlstart hatte. Weil der Fehlstart einer erprobten Rakete häufig nicht auf einem Konstruktions-, sondern auf einem Qualitätsmangel beruht, sollten zusätzliche Kontrollen in den Fertigungsprozessen Abhilfe schaffen. Die Maßnahmen erwiesen sich allerdings in den vergangenen Jahren als wenig erfolgreich. Um grundsätzliche Veränderungen wie das rigorose Einhalten qualifizierter Prozesse sicherzustellen, wären tiefgreifendere Veränderungen nötig. Neben den technischen Problemen erwies sich nach dem Fehlstart von 2007 die ursprünglich internationale Firmenstruktur von Sea Launch ebenso als nicht tragfähig. Das Unternehmen ging 2009 in die Insolvenz und konnte nur mithilfe des russischen Raumfahrtkonzerns Energia saniert werden. Der erneute Fehlschlag Ende Januar 2013 dürfte das Unternehmen wieder in eine schwierige Lage bringen. Raumfahrt Die Startposition am Äquator Baikonur 5.100 km Cape Canaveral 3.150 km Kourou, Französisch-Guayana 580 km Äquator Quelle: Munich Re Durch die ideale Startposition am Äquator kann die Zenit-3SL ihre Nutzlasten direkt in die geosynchrone Bahnebene transportieren. Dadurch ist es möglich, wesentlich größere Satelliten in den geostatio nären Orbit zu befördern als vom Weltraumbahnhof in Baikonur. Die Startplattform „Odyssey“ und das Begleitschiff „Commander“ im Hafen von Long Beach in Kalifornien. Zu Beginn des Sea-Launch-Projekts war es geplant, bis zu drei Raketen auf hoher See vom Begleitschiff auf die Startplattform zu verladen. Dieser Plan konnte jedoch von Anfang an wegen technischer Probleme nie umgesetzt werden, sodass die Zenit3SL bereits im Hafen auf die Plattform transferiert werden muss. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 43 Raumfahrt Versicherung für Betreiber essenziell Raumfahrtpolicen decken während des Starts typischerweise den Sachwert der Rakete und des Satelliten. Die Deckung beginnt je nach Trägersystem zeitgleich mit dem Einleiten der Zündung oder mit dem Abheben der Rakete und endet automatisch ein Jahr später. In den meisten Policen ist der Satelliten betreiber auch der Versicherungsnehmer, da er das wirtschaftliche Risiko eines Fehlstarts trägt. Da kein Raketenbetreiber eine Erfolgsgarantie geben kann, ist der Transfer des Verlustrisikos in den Versicherungsmarkt von hoher Bedeutung. Nahezu alle kommerziellen Satellitenbetreiber versichern daher den Start ihrer Satelliten und erneuern die Deckung dann jährlich bis zu dessen Lebensende nach bis zu 15 Jahren. Intelsat 27 an Bord der verunglückten Rakete gehörte dem weltweit größten kommerziellen Satellitenbetreiber Intelsat. Er sollte das Angebot für Sprach- und Breitbandanwendungen in Amerika, den Atlantikregionen und in Europa erweitern. Der von Boeing Satellite Systems gebaute Intelsat war mit 20 C-Band-, 20 Ku-Band- und 20 UHF-Band-Transpondern bestückt und gehörte mit über 6,2 Tonnen Gewicht zu den größten kommerziellen Satelliten überhaupt. Dementsprechend hoch war mit 406 Millionen US-Dollar auch die Versicherungssumme, sodass Intelsat 27 zum teuersten Schaden in der Geschichte der Raumfahrtversicherung wurde. Die Versicherer haben den Schaden binnen weniger Wochen beglichen, da der Verlust des Satelliten und die Schadenhöhe unstrittig waren. Satelliten dieser Größe kosten die Raumfahrtver sicherer im Schadenfall nahezu die Hälfte der gesamten Weltmarktprämien eines Jahres. Dabei wird der Großteil mit nur wenigen Risiken von 25 bis 30 ver sicherten Starts pro Jahr verdient, sodass bereits ein zusätzlicher Schaden erhebliche Auswirkungen auf das Jahresergebnis hat. >> W eitere Informationen zur Raumfahrtversicherung von Munich Re finden Sie unter: https://www.munichre.com/touch/ space/de/homepage/default.aspx >>Video des Starts von Intelsat 27: http://www.sea-launch.com/ missions-q11132-Launch_Video.aspx Unser Experte: Achim Enzian ist Senior Underwriter und Experte für Raumfahrtrisiken bei Munich Re. [email protected] 44 Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 Property Überschwemmung auf der Großbaustelle Ein heftiger Sturm mit sintflutartigen Regenfällen wütete im Mai 2009 auf einer Großbaustelle in Rumänien. Vor allem in den neuen Elektroräumen des Einkaufszentrums waren die Schäden immens. Dank guten Schadenmangements konnte der erwartete zweistellige Millionenschaden wesentlich reduziert werden. von Alfons Maier Nachdem ein Sturm mehrere provisorische Dachkon struktionen und Glaselemente geöffnet hatte, über fluteten Wassermassen die Baustelle. Auch über geneigte Parkflächen, offene Außenwände oder noch fehlende Fenster drang der Regen ins Gebäude. Das Wasser lief die Treppen hinunter, gelangte durch die Decke in die Tiefgarage und überschwemmte die neuen elektrischen Schaltanlagen im Untergeschoss. Auch an den bereits gestrichenen Wänden und Decken der Shopping Mall mit einer Bruttomietfläche von 80.000 Quadratmetern entstanden Wasser schäden. Wände, Decken, Träger- und Säulenverklei dungen aus Gips saugten sich mit Wasser voll, bogen sich und fielen herunter oder schimmelten. Zunächst wurde der Schaden in die Kategorien „Gebäudeschäden“ (vorwiegend Schäden an Gips platten und Malerarbeiten) und „ElektroanlagenSchaden“ (Wassereinbruch in Elektroräume) einge teilt und mit einigen Hunderttausend Euro als relativ gering eingeschätzt. Beunruhigend waren jedoch die Schäden, die das Regen- und Oberflächenwasser in den im Unterge schoss gelegenen drei großen Elektroräumen ange richtet hatte. Bei den Transformatoren, Elektrovertei lungen und aufgeständerten Böden mit darunter verlaufender Verkabelung für Hoch- und Nieder spannung zeigten sich aufgrund der hohen Luftfeuch tigkeit schnell erste Anzeichen von Korrosion. Der Regen drang vom Dach des Einkaufs zentrums aus in die Baustelle. Munich Re Schadenspiegel 2/2013 45 property Durch Deckendurchbrüche und provi sorische Öffnungen gelangte das Wasser bis ins Untergeschoss, wo es erheblichen Schaden anrichtete. Die im Untergeschoss eingebauten Transformatoren und Schaltanlagen mussten nach dem Abpumpen des schmutzigen Wassers aufwendig getrocknet werden. Die den Bau ausführenden Firmen planten, die Elek troanlagen nach dem Abpumpen des verschmutzten Wassers möglichst rasch wieder in Betrieb zu nehmen. Loss Adjuster und Versicherer empfahlen, nach der Reparatur eine professionelle Sanierung durch zuführen – schließlich drohte ein bis zu 20 Millionen Euro teurer Schaden an den Elektroanlagen einzu treten. Gemeinsame Schadenbesichtigung von Erst- und Rückversicherer sinnvoll Schnelles und professionelles Vorgehen zur Schadenminderung Da bereits die Versicherungssumme der Elektroanlagen einen zweistelligen Millionen-Euro-Betrag bedeutete, durfte weder ein durch mangelhafte Sanierung hervorgerufener Totalschaden riskiert werden noch die Verzögerung der Inbetriebnahme durch Reparaturarbeiten oder lange Lieferzeiten von Elektroanlagen in Kauf genommen werden. Der vom Erstversicherer beauftragte Loss Adjuster ließ die Elektrobereiche nach dem Abpumpen des verschmutzten Wassers professionell durch eine Sanierungsfirma trocknen, entfeuchten sowie AntiKorrosionsmaßnahmen durchführen. Da selbst die Betonstrukturen des Gebäudes Feuchtigkeit aufge nommen hatten, mussten diese getrocknet werden, bevor der sichere Betrieb der Elektroanlagen gewähr leistet werden konnte. Dank der raschen und pro fessionellen Restaurierung der Anlagen blieb sogar die Garantie des Originalherstellers erhalten. 46 Munich Re Schadenspiegel 2/2013 Aufgrund des erwarteten hohen Schadens besichtig ten Erst- und Rückversicherer gemeinsam die Bau stelle und beschlossen weitere Sofortmaßnahmen: Viele der mit trockenem Schlamm verstopften Gullys und Leitungen im Untergeschoss mussten gereinigt werden. Da noch nicht alle Öffnungen in den Decken zu den Elektroräumen abgedichtet worden waren, empfahlen die Versicherer bei Schadenbesichtigung, präventiv Regenabdeckungen für die Transforma toren und Schaltanlagen bereit zu halten. Auch im Brandschutz und im Abfallmanagement gab es einige Mängel, die schnell beseitigt wurden. Präventive Schadenverhütung war besonders wichtig Wie bei komplexen und langwierigen Bauleistungs projekten üblich, wurde die künftige Baustelle schon vor Baubeginn auf eventuell auftretende Schäden und deren Auswirkungen untersucht und auf die strikte Einhaltung der daraufhin beschlossenen Maßnahmen geachtet. Über die gesamte Bauphase der Shopping Mall hin weg waren mehrere Überschwemmungen aufgetre ten. Bereits einige Jahre zuvor hatte es in der näheren Umgebung Überschwemmungen von bis zu einem Meter Höhe gegeben. In den Wintermonaten bestand bei Aushubarbeiten durch den schnell ansteigenden Grundwasserpegel die Gefahr von Überschwemmun gen in der Baugrube. Property Schadenverhütungsmaßnahmen vor Baubeginn und in der Bauphase: −−Während der Bauphase müssen genügend Wasser- bzw. Schlammpumpen mit angemessener Notstromversorgung vorhanden sein. −−Entwässerungsvorrichtungen wie Gullys und Leitungen müssen während der gesamten Bauphase funktionsfähig sein. −−Offene Gebäudekonstruktionen, Leitungsgräben etc. müssen vor Sturm und Regen geschütz werden. −−Baustellenmaterial sollte weitab von Gewässern (Überschwemmungsgefahr) deponiert werden, feuchtigkeitsempfindliche Materialien wie Gipsbau stoffe müssen an trockenen Orten gelagert werden. Fazit Je früher nach einem Überschwemmungsschaden die Maßnahmen zur Schadenminderung eingeleitet werden, desto effektiver wirken sie. Voraussetzung ist allerdings, dass der Versicherungsnehmer die Maßnahmen rechtzeitig erkennt und umsetzt. Auch der Einsatz von professionellen Sanierungs firmen trägt oft zur erheblichen Reduzierung des Schadenausmaßes bei. Die professionelle Trocknung und Sanierung der Elektroanlagen reduzierte im vorliegenden Fall den drohenden zweistelligen Millionen-Euro-Überschwemmungsschaden auf einen einstelligen Betrag. Bei großen Projekten hat sich die engmaschige Risikobegleitung in der Bau phase durch den Versicherer bewährt. Das gemein same Vorgehen zur professionellen Schadenminde rung und die verschiedenen Reparaturoptionen sollten eng zwischen Versicherer (zusammen mit dem beauftragten Loss Adjuster) und Versicherungs nehmer abgestimmt werden. Um Überschwemmungsschäden im Vorfeld zu vermeiden, hilft die strikte Umsetzung der Empfeh lungen zur Schadenverhütung. Die Schaden- und Schadenverhütungsexperten von Munich Re beraten Sie hierzu gern. Unser ExpertE: Alfons Maier ist Senior Claims Manager im Bereich Schaden für Germany, Asia Pacific und Africa, in München und Experte für das Schadenmanagement nach Natur katastrophen. [email protected] Munich Re Schadenspiegel 2/2013 47 kolumne Reputationsschäden und Überkompensation Steigender Druck zur Kompensation jenseits von Haftung und Deckung ? Nicholas Roenneberg, Head of Claims Management & Consulting bei Munich Re [email protected] Nicht immer richtet sich die Höhe einer Entschädigung allein nach den Vorgaben des Haftungsrechts. Bestimmte Faktoren können so starken Druck auf den Haftenden und seinen Versicherer ausüben, dass Geschädigte höhere Zahlungen erhalten, als dies nach der Rechtslage allein angemessen erscheint. Altbekannt ist der Wunsch, Prozess risiken zu vermeiden und durch einen Vergleich frühzeitig klare Ver hältnisse hinsichtlich der geschulde ten Entschädigungshöhe zu schaf fen. Dieses Bestreben ist vor allem in solchen Märkten ausgeprägt, in denen der Prozessausgang wegen der Beteiligung von Jurys am Verfah ren oder wegen der drohenden Ver hängung von Punitive Damages besonders unberechenbar erscheint. Hinzu kommt, dass der Börsenkurs eines Unternehmens meist sogar auf hohe Entschädigungsverpflichtun gen positiver reagiert als auf die vor her bestehende Rechtsunsicherheit. Der durch einen umfassenden Ver gleich herbeigeführte „Global Peace“ erscheint daher oft selbst dann vor zugswürdig, wenn der Preis dafür hoch ist (vgl. das Interview mit John Goldberg auf Seite 32). Eng hiermit verbunden ist der Versuch, eine Ver lagerung der Klagen in besonders klägerfreundliche Rechtsordnungen (Forum Shopping) zu vermeiden (mehr hierzu in der Kolumne in „Topics Schadenspiegel“ 1/2013). 48 Neben dem Wunsch, Prozessrisiken aus dem Weg zu gehen, haben in jüngster Zeit weitere Faktoren die Neigung zu Überkompensation spür bar verstärkt. Da ist zum einen der durch Medien aufgebaute Druck von Öffentlichkeit und Interessenver bänden, der dank Internet heute schneller und nachhaltiger ausgeübt werden kann als noch vor wenigen Jahren. Besonders deutlich wird dies bei medienwirksamen, politisch brisanten Großschäden. Zu denken wäre etwa an den Victims Compen sation Fund nach den Anschlägen vom 11. September 2001, an die Ölkatastrophe nach dem Unfall auf der Bohrinsel „Deepwater Horizon“ oder an die Explosion von Welt kriegsbomben in deutschen Groß städten in den vergangenen Jahren (zu Letzteren vgl. den Artikel von Leonhard Rolwes im „Topics Scha denspiegel“ 1/2013). Aber auch im Bereich der Produkthaftung kann eine Überkompensation zur Abwen dung von Reputationsschäden erfor derlich erscheinen. Das gilt insbe sondere dann, wenn die (potenziell) Geschädigten besonders schutz würdig sind, zum Beispiel bei Män geln von Babynahrung oder Kinder spielzeug. Ein weiterer Grund für Überkompen sation ist das Bestreben, eine strik tere Regulierung und damit eine wei tergehende Haftung bei ähnlichen künftigen Schäden zu vermeiden. Auch das Ziel, öffentlich-rechtliche Sanktionen (Bußgelder, Entzug von Zulassungen) oder gar Kriminalstra fen abzuwenden oder abzumildern, kann in bestimmten Haftungsszena rien eine Überkompensation von Schäden ratsam erscheinen lassen. Munich Re Topics Schadenspiegel 2/2013 So etwa, wenn der Haftungsstreit zu einer unerwünschten Klärung der Schwere des Verschuldens des Haf tenden beitragen könnte. Der Druck zum Abschluss hoher Vergleiche kann sich noch verstärken, wenn ver trauliche Unternehmensdaten oder Produktinformationen nicht zum Gegenstand einer umfassenden Beweisaufnahme werden sollen. Zu bedenken ist allerdings, dass die durch Überkompensation erkaufte Klarheit bei der Haftung oft zu Unsicherheiten auf der Deckungs seite führt. Das gilt hinsichtlich der Deckung überobligatorischer Zahlun gen, aber auch im Hinblick auf die Grenzen der Folgepflicht des Rück versicherers. Hierbei zeigt sich einmal mehr die Bedeutung eines klaren Wordings, das auf einer ganzheitlichen Würdigung des ver sicherten Risikos beruht und nicht nur haftungsrechtliche Aspekte berücksichtigt. © 2013 Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft Königinstraße 107 80802 München Telefon: +49 89 38 91-0 Telefax: +49 89 39 90 56 www.munichre.com Verantwortlich für den Inhalt Claims Management & Consulting: Nicholas Roenneberg, Prof. Dr. Ina Ebert Naturgefahren: Prof. Dr. Peter Höppe Marine: Olaf Köberl Raumfahrt: Dr. Achim Enzian Schaden: Dr. Paolo Bussolera, Dr. Stefan Klein, Arno Studener, Dr. Eberhard Witthoff Redaktion Corinna Moormann, Group Communications (Anschrift wie oben) Telefon: +49 89 38 91-47 29 Telefax: +49 89 38 91-7 47 29 [email protected] Anmerkung der Redaktion In Veröffentlichungen von Munich Re verwenden wir in der Regel aus Gründen des Leseflusses die männliche Form von Personenbezeichnungen. Damit sind grundsätzlich – sofern inhaltlich zutreffend – Frauen und Männer gemeint. ISSN 0940-8878 Bildnachweis Titelbild: LUCAS JACKSON/Reuters/Corbis S. 1: Gerhard Blank S. 2: Getty Images/Andrew Burton S. 3 rechts, 40, 42, 43 unten: Sea Launch AG S. 3 links, 34, 35: RTS, Tasadores de Seguros S. 4 links, Mitte, 9, 19, 27, 38, 44, 47: Munich Re S. 4 rechts: NASA S. 5: Shutterstock S. 6, 7: EDUARDO MUNOZ/Reuters/Corbis S. 45, 46: Munich Re, Alfons Maier S. 12, 16, 22: Munich Re, Thomas Verduzco-Weisel S. 13 oben: Leon Taylor S. 13 unten: Aidan M. McCormack S. 14: Munich Re, Klaus Wenselowsky S. 17: GIL COHEN MAGEN/Reuters/Corbis S. 18 oben: Roger D. Higgins S. 18 unten: J. Richard Harmon S. 20: Am Re S. 21: Munich Re, Peter Miesen S. 23: POOL/Reuters/Corbis S. 24: AFP PHOTO/Stan HONDA S. 26: Art in America/Brian Boucher S. 30: Eva-Maria Goergen S. 32: John Goldberg S. 37: http://www.crowley.com, James Grellier S. 39: NASA S. 46, 47: Munich Re, Alfons Maier S. 48: Kevin Sprouls Druck Mediahaus Biering GmbH Grafischer Betrieb Freisinger Landstraße 21 80939 München Weitere Hefte sind gegen eine Schutzgebühr von 8 € erhältlich. 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