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TOPICS SCHADENSPIEGEL Das Magazin für Schadenmanager Ausgabe 2/2012 Bittere Pillen Arzneimittelhaftungsfälle umfassen hochkomplexe Sachverhalte mit einer Vielzahl von Beteiligten. Noch komplizierter wird die Gemengelage bei internationalen Fällen. SEITE 6 Flut Thailand nach der Katastrophe Aviation Teure Reparatur eines Airbus 380 Haftpflicht Facebook-Partys und der Kater danach Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, wissen Sie, wie viele Kalorien Sie heute bereits verbraucht haben? Anwendungen für Smartphones, die rund um die Uhr Rückmeldung über unsere Biofunktionen geben, sind der neueste Schrei auf dem Gesundheitsmarkt und zeigen den hohen Stellenwert von Medizin- und Gesundheitsthemen im Leben vieler Menschen. Auch das öffentliche Interesse an Life-Sciences-Themen war nie größer. Damit geraten auch Fälle von Arzneimittelhaftung bei ungewollten Nebenwirkungen von Medikamenten in den Fokus der Medien – und das weltweit. Die Zahl der Klagen gegen die Pharmaindustrie nimmt zu. Vor allem in den USA bringt die Aussicht auf lange, teure Prozesse viele Unternehmen dazu, Streitigkeiten durch Vergleiche beizulegen. Zwischen 1991 und 2010 kosteten zivil- oder strafrechtliche Vergleiche die Industrie die gigantische Summe von fast 20 Milliarden US-Dollar. Auch rechtliche und gesetzliche Entwicklungen beeinflussen regelmäßig die Haftung der Unternehmen. Dies zeigt aktuell eine viel diskutierte Entscheidung des US Supreme Court zur Kennzeichnungspflicht von Medikamenten. Das Gericht entschied, dass für Hersteller von O-Präparaten andere Pflichten gelten als für die Hersteller von Generika. Insbesondere die Generikahersteller, aber auch Patienten und Versicherer befinden sich in einem Dilemma, da der zukünftige Umgang mit dem Urteil noch offen ist. Sollten Sie nach der Lektüre der beiden Beiträge zu unserem Titel thema „Pharmaschäden“ noch Fragen haben, fragen Sie besser nicht Ihren Arzt oder Apotheker, sondern kontaktieren Sie einfach unsere Autoren. Wir freuen uns, wenn Sie wieder einige der vorgestellten Themen für Ihre Arbeit nutzen können. Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihr Schadenspiegel-Team [email protected] NOT IF, BUT HOW Munich Re Schadenspiegel 2/2012 1 Ganzheitliche Therapie Manchmal genügt schon, dass ein Beipackzettel aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse angepasst werden muss. Spezialisierte Klägeranwälte reagieren dann schnell und spüren mögliche betroffene Anwender auf der ganzen Welt auf. Um Reputations- und wirtschaftliche Schäden zu vermeiden, sollten alle Beteiligten mit einer gemeinsamen Strategie reagieren. 2 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 6 Inhalt Die schwerste Überflutung in Thailand seit über 50 Jahren richtete in Bangkok und seinen Außenbezirken schwere Schäden an. 20 Pharma Ganzheitliche Therapie Internationale Haftungsfälle erfordern eine einheitliche Strategie. Pharma Bitte fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker Wie sicher Medikamente sind, bewegt Verbraucher wie Versicherer. 12 30 Property Bankraub im Supermarkt Schlecht geschützte Geldautomaten bieten Dieben leichte Beute. Property Brandgefährliche Romantik Ethanolkamine – die beliebten Alternativen zum Kaminfeuer können schwere Brände auslösen. flut Ein Land unter Wasser 20 Die Regulierung der Schäden in Thailands Industrie und Landwirtschaft nach der Überschwemmung. Schadenliteratur Wer uns wirklich beeinflusst Zwei amerikanische Wissenschaftler zeigen, wie soziale Netzwerke unser Verhalten bestimmen. Aviation Knapp an der Katastrophe vorbei Der Beinahe-Absturz eines A380 war der teuerste reine Kaskoschaden der Luftfahrtbranche. KOLUMNE Mehr Haftpflichtfälle nach Naturkatastrophen? Haftpflichtversicherer tragen immer häufiger fast die Hälfte von NatCat-Schäden. haftpflicht Die Macht der Masse 2.0 Neue Schadenszenarien durch Facebook, Twitter und Co. 6 Trotz eines explodierten Triebwerks landete ein A380 sicher in Singapur. Die Reparatur des Großraumjets dauerte 16 Monate und kostete rund 113 Millionen Euro. 30 34 38 40 43 46 Vorwort1 Unternehmensnachrichten4 Großschadenliste44 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 3 Nachrichten Munich Re SPONSORING Neue Technologien Topics Schadenspiegel jetzt auch als E-Mail-Service Erdbebensichere Schulen in Indien Publikation über Cyberrisiken Mit unserem kostenlosen E-MailService können Sie jetzt noch schneller auf Topics Schadenspiegel zugreifen. Melden Sie sich einfach auf der Homepage von Munich Re an, dann senden wir Ihnen regel mäßig am Erscheinungstag des Schadenspiegels einen Newsletter zu, der auf die elektronische PDF-Ausgabe des Magazins (deutsch oder englisch) verlinkt. Den Newsletter können Sie selbstverständlich jederzeit abbestellen. Das Kundenmagazin Topics Schadenspiegel berichtet zweimal im Jahr über bedeutsame oder spektakuläre weltweite Schadenereignisse sowie über Risiko themen. Zur Topics-Reihe gehören auch Topics Magazin und Topics Geo, die Sie ebenfalls künftig per HTML-Newsletter beziehen können. Seit August 2012 unterstützt Munich Re ein zweijähriges Projekt zum Schutz von Menschen, Gebäuden und Infrastruktur in Aizawl, Indien. Partner ist die Non-ProfitOrganisation GeoHazardsInternational, die versucht, Tod und Leid durch Katastrophenvorsorge in den ärmsten Teilen der Welt zu mindern. Um die Lebensbedingungen der Einwohner von Aizawl zu verbessern initiiert das Projekt ein Programm zur Sicherung von Schulen vor Erdbebengefahren. Dieses beinhaltet neben Aufklärungsveranstaltungen für Lehrer und Schüler auch die Einrichtung eines Schulsicherheitsausschusses und die Erstellung von Notfallplänen für Erdbeben und Brände. Die allumfassende elektronische Vernetzung vereinfacht vieles. Für Wirtschaft, Industrie und Handel sowie für Infrastrukturen wie Energie- und Gesundheitsversorgung ist ein Funktionieren ohne Internet und elektronischen Datenaustausch inzwischen unvorstellbar. Damit ist allerdings die Abhängigkeit von Internet, IT-Systemen und Datentransfer weltweit auf ein Höchstmaß gewachsen. In der neuen Kundenpublikation zum Thema Cyberrisiken befassen sich Experten mit den neuen Entwicklungen der Informationstechnologie und deren Risiken. Sie analysieren Haftungs fragen im Cyberspace und zeigen die Bandbreite der Versicherungslösungen auf. >> Anmeldung Topics Schadenspiegel Newsletter: www.munichre.com/de/ topics >> Mehr Informationen über www.geohaz.org >> Die Publikation erhalten Sie über unser Kundenportal connect.munichre.com Kurznachrichten Im neuen Informationsbereich Touch Engineering prä sentiert Munich Re Lösungskompetenz für die Ver sicherung von technischen Risiken: www.munichre.com/ engineering. Die Onlineversion unseres Service zur Einschätzung von Naturgefahren, Nathan Single Risk Online, wurde aktualisiert. Über unserer Kundenportal connect.munichre.com steht Ihnen die neue Version zur Verfügung. Nordamerika verzeichnet noch vor Asien den höchsten Anstieg an wetterbedingten Schadenereignissen. In unserer neuen Kundenpublikation „Wetterrisiken in Nordamerika“ finden Sie detaillierte Informationen über die verschiedenen Risiken und deren Exponierung sowie einen Überblick über die versicherungstechnischen Besonderheiten in den USA und in Kanada. Sie erhalten die Publikation „Severe weather in North America: Perils – Risks – Insurance“ über unser Kundenportal connect.munichre.com Nach langem Zögern haben sich Staaten und Reeder im Kampf gegen die Piraterie auf See für den Einsatz von Militärschiffen und für bewaffnetes Sicherheitspersonal entschieden. Die Anzahl erfolgreicher Angriffe sank 2011 deutlich sichtbar. Dafür steigt die Gewaltbereitschaft. Unsere neue Publikation „Piraterie – die Gewalt auf See eskaliert“ bündelt die neuesten Erkenntnisse über die aktuelle Risikosituation und zeigt rechtliche und versicherungstechnische Aspekte auf. www.munichre.com/ piracy 4 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Nachrichten Dürre in den USA Jeder Ackerbauer trägt ein gigantisches Risiko Die Dürre in den USA gefährdete die Ernte unzähliger Bauern, nicht aber ihre Existenz. Karl Murr, Landwirt und Agro-Experte bei Munich Re, über SystemAgro. Das Erntever sicherungssystem, das auf einer Teilung der Risiken durch private Versicherer und dem Staat basiert, gilt für viele Versicherer als Vorbild. Schadenspiegel: Herr Murr, was lernen wir aus der Dürre und ihren Folgen in den USA? Karl Murr: Wir mussten wegen der ungewöhnlich langen Dürreperiode für Ernteausfälle in den USA bereits 160 Millionen Euro reservieren. Das ist der bislang mit Abstand größte Schaden in dem Geschäft für uns und auch weltweit. In europäischen Ländern springt im Notfall die öffentliche Hand ein. Die USA – wie Kanada und Spanien – holen dagegen private Versicherer ins Boot, und diese übernehmen viele „normale“ Schäden. Was uns der Dürreschaden in erster Linie zeigt, ist, dass in dieser Versicherungssparte spezialisierte Agrarversicherer gefragt sind. Aber auch der Staat trägt einen Teil der Schäden – je höher die Schäden, desto mehr. Außerdem hat der Staat in der USA ein Ernteversicherungsgesetz erlassen, subventioniert die Beiträge und gibt einheitliche Bedingungen für alle Beteiligten vor. Ist SystemAgro eine Zwangs versicherung? Nein! Aber jeder Ackerbauer hat folgendes Problem: Er hat zwölf Monate lang Ausgaben, aber nur einmal im Jahr Einnahmen. Deshalb trägt er ein gigantisches Risiko. Er kann unver sichert bleiben und seine Existenz aufs Spiel setzen oder er sichert sich ab. SystemAgro sieht vor, dass der Staat jedem Landwirt eine Absicherung ermöglicht, und zwar durch die privaten Versicherer. Der Staat hat sich dazu entschieden, weil die Land- Karl Murr, Landwirt und Leiter des Geschäftsbereichs Agro bei Munich Re wirtschaft in den USA vor allem für den Export wichtig ist. Und trotz der hohen Exponierung für die Versicherungswirtschaft funktioniert das System. Die Versicherungssumme beträgt ca. 100 Milliarden US-Dollar. Die Subventionen liegen im Jahresdurchschnitt bei 7 bis 8 Milliarden US-Dollar, hinzu kommen in einem Überschadenjahr die Schadenzahlungen durch den Staat. Ökonomen sagen: Dies ist die beste Form der Subvention, weil nicht nur der einzelne Bauer profitiert, sondern das gesamte ländliche Amerika. Es ist schlicht gerechter als Ad-hoc-Kata strophenzahlungen. Mit SystemAgro erhalten Bauern, die in einer höheren Risikolage produzieren, mehr Subvention. Was genau zeichnet SystemAgro aus? Aus über 35 Jahren Erfahrungen mit Ernteversicherungssystemen hat Munich Re eine Best Practice der Ernteversicherung definiert. System Agro ist eine nach Versicherungs prinzipien ausgestaltete Public Private Partnership (PPP), bei der alle wichtigen versicherungsrelevanten Bedingungen für die Absicherung des Anbaus landwirtschaftlicher Kulturen durch Gesetze und Verordnungen geregelt sind. Welchen Effekt hat die aktuelle Dürre in den USA auf die Versicherungsindustrie und SystemAgro? Mit der Erfahrung aus anderen Ver sicherungssparten würde man vermuten, dass die Versicherungsbeiträge immens nach oben schnellen. In PPP-Ernteversicherungssystemen gemäß SystemAgro ist dies fest geregelt und eben nicht der Fall. Genau gesagt wird dem Bauern sein individueller Durchschnittsertrag der vergangenen zehn Jahre versichert. Dazu kommt, dass Agrar-Versicherungen extrem „short tail“ sind. Unsere Exponierung beginnt mit der Aussaat und endet mit der Ernte. So können die Ereignisse dieses Jahres in die Versicherungsbedingungen einfließen. In den USA sind bereits 85 Prozent, ungefähr 100 Millionen Hektar, versichert. Weltweit sind nach Schätzungen bislang nur etwa 20 bis 25 Prozent der Agrarproduktion gegen Naturkatastrophen versichert. Diese Dürre wird zu einer vermehrten Nachfrage nach SystemAgro aus agrarisch geprägten L ändern führen, die ihre Landwirte bisher bei Naturkatastrophen sprichwörtlich verhungern lassen. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 5 PHarma Ganzheitliche Therapie Arzneimittelhaftungsfälle umfassen hoch komplexe Sachverhalte mit einer Vielzahl von Beteiligten. Noch komplizierter wird die Gemengelage bei internationalen Fällen. Hier erweist sich eine einheitliche Strategie als essenziell. von Ina Brock und Simone Schönberger Mit der globalen Vermarktung von Arzneimitteln erhalten auch mögliche Haftungsfälle eine internationale Komponente. Dabei muss nicht unbedingt ein Produktrückruf vorangehen. Es genügt schon, dass ein Beipackzettel aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse angepasst werden muss. Klägeranwälte, die auf Arzneimittelhaftungsfälle spezialisiert sind, reagieren darauf umgehend und beginnen, angeblich betroffene Anwender aufzuspüren und mögliche Ansprüche zu bündeln. Das Internet sowie die zunehmende Vernetzung der Klägeranwälte haben dieses Vorgehen erleichtert. Teilweise entsteht ein reger Handel mit entsprechenden Datenbanken, auch über Ländergrenzen hinweg. Eine häufig gewählte Vorgehensweise zielt darauf ab, zunächst im Rahmen einer in den USA angestrengten weltweiten Class Action auch Ansprüche von Betroffenen geltend zu machen, die weder US-Bürger sind noch das Arzneimittel in den USA eingenommen haben. Stellt sich später heraus, dass sich US-Gerichte für solche Ansprüche als nicht zuständig erklären (sogenannter Einwand des Forum Non Conveniens), folgt meist eine Klagewelle in den jeweiligen Heimatstaaten der Arzneimittelanwender. Hierbei werden häufig Informationen und Unterlagen herangezogen, die Kläger anwälte zuvor im Rahmen von weitreichenden Discovery-Maßnahmen vor US-Gerichten erhalten haben. Darüber hinaus zeigen sich auch Krankenkassen oder Verbraucherschutzverbände wegen möglicher Regressansprüche immer klagewilliger. Medien springen auf den Zug auf Weiterer Druck auf einen Pharmahersteller entsteht, wenn die nationalen und internationalen Arzneimittelbehörden Maßnahmen ergreifen oder Untersuchungen einleiten bzw. Staatsanwaltschaften gegen Mitarbeiter des Unternehmens in unterschiedlichen Staaten ermitteln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Behörden ebenfalls zunehmend untereinander vernetzt sind. Nicht unterschätzt werden darf zudem der Einfluss der Medien. Schon aufgrund eines allgemein gesteigerten öffentlichen Interesses an Life-Sciences-Themen sind mögliche Arzneimittelhaftungsfälle und damit verbundene Verfahren immer öfter Gegenstand einer weltweiten Berichterstattung. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 7 Pharma Teilweise lancieren Klägeranwälte auch bewusst Meldungen, um die Medien für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Mitunter wird sogar auf die wissenschaftliche Diskussion Einfluss genommen, indem wissenschaftliche Berater der Klägeranwälte gezielt ihre Sicht der Dinge publizieren. Dabei können sie sich auf Unterlagen stützen, die ihnen aufgrund von Informationsansprüchen wie dem Freedom of Information Act zur Verfügung stehen. Mit zunehmender Intensität der öffentlichen Diskussion und wachsender Zahl möglicher Klagen finden Arzneimittelhaftungsfälle auch Eingang in politische Debatten, beispielsweise im Zusammenhang mit Reformen des Arzneimittelrechts. Will ein Pharmahersteller unter solchen Bedingungen Reputations- und wirtschaftliche Schäden vermeiden, muss er gegebenenfalls zusammen mit seinem Haftpflichtversicherer mit entsprechenden Stellungnahmen und Maßnahmen reagieren. Wegen der Vielzahl von Beteiligten ist das Risiko groß, nach außen keine einheitliche Linie zu vertreten. Die Folge ist ein Vertrauensverlust, der spätere Verfahren negativ beeinflusst. Daher ist eine Strategie erforderlich, welche die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Stake holder gleichermaßen berücksichtigt. Ziele einer internationalen Kommunikations- und Verteidigungsstrategie Eine umfassende Kommunikations- und Verteidigungsstrategie muss zum einen auf die Abwehr von Haftungsansprüchen gegen das Pharmaunternehmen abzielen. Dabei sind unterschiedliche rechtliche Haftungsvoraussetzungen in den verschiedenen betroffenen Staaten einzubeziehen. Zum anderen ist es wichtig, eine mögliche persönliche straf- und zivilrechtliche Verantwortlichkeit von Vertretern und Mitarbeitern des Unternehmens zu bedenken. Ferner gilt es, die Auswirkungen der öffentlichen und poli tischen Diskussion im Auge zu behalten. Dies alles erfordert eine Strategie, die sich nicht nur auf recht liche Erwägungen beschränkt. Der Weg: Koordination und Abstimmung In einem ersten Schritt muss dazu ein Krisenteam gebildet werden. Als Mitglieder kommen vor allem Entscheidungsträger aus dem Management, interne und externe Rechtsberater, interne und externe Sachverständige, Pressesprecher des Unternehmens und externe Medienberater infrage. Daneben sollte der Versicherer mit der Arbeit des Krisenteams eng vernetzt werden. Abb. 1: Beteiligte in internationalen Arzneimittelhaftungsverfahren Haftpflichtversicherungen Arzneimittelbehörden Medien Staatsanwaltschaft Wissenschaftliche Experten Grundlegende Verteidigungsstrategie Politik Klägervertreter Finanzmärkte Die Verteidigungsstrategie muss die unterschiedlichen Interessen aller beteiligten Stakeholder berücksichtigen. Quelle: Hogan Lovells 8 Verbraucherschutzverbände Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Krankenkassen Pharma Die Aufgaben des Teams sind so mannigfaltig wie die Ziele, die es zu erreichen gilt. Zunächst geht es darum, den Sachverhalt genau zu analysieren. Unterlaufen hier Fehler, besteht die Gefahr, dass zu einem späteren Zeitpunkt die Strategie verändert werden muss. Das sollte unter allen Umständen vermieden werden, kann dieser Strategieschwenk doch einem Schuldeingeständnis gleichkommen. Die Aufarbeitung des Sachverhalts bedeutet, alle für den Fall relevanten Tatsachen aufzulisten: Wie stellt sich der wissenschaftliche und regulatorische Hintergrund des Geschehens dar? Sind weitere Arznei mittel (auch von Wettbewerbern) betroffen? Welche Stellungnahmen hat das Unternehmen in der Vergangenheit abgegeben? Welche Positionen haben einzelne (wissenschaftliche) Mitarbeiter öffentlich vertreten? Welche Maßnahmen haben die zuständigen Behörden in den unterschiedlichen Ländern ergriffen? Wie ist der rechtliche Hintergrund für mögliche zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Sanktionen in den betroffenen Ländern zu beurteilen? Die auf dieser Grundlage zu erarbeitenden gemein samen Positionen dienen einer einheitlichen Sprach regelung im Umgang mit Behörden, Anspruchstellern und Medien. Dabei ist es wichtig, Key Messages herauszuarbeiten, welche die Positionen des Unternehmens zu einzelnen Fragestellungen glaubhaft und verständlich transportieren. Gleichzeitig muss das Krisenteam entsprechende Key Legal Defence Themes identifizieren und vorbereiten. Sämtliche Punkte sollten in einem Master Brief festgehalten werden, der als Grundlage für Stellungnahmen gegenüber den unterschiedlichen Beteiligten dient. Klare Strukturen helfen bei unterschiedlichen Zuständigkeiten Sobald die Eckpunkte stehen, muss das Krisenteam Abläufe und Mechanismen festlegen, um die Strategie konsistent umzusetzen. Das erfordert klare Strukturen, die unterschiedliche Zuständigkeiten bei der internen Abstimmung berücksichtigen. Innerhalb des Unternehmens sind gegebenenfalls die Bereiche Arzneimittelsicherheit, Zulassung, Recht, Marketing und Vertrieb sowie Public Relations einzubeziehen. Von außerhalb kommen die Versicherer und externe Berater dazu. Der Status einzelner Fälle und bestimmter Projekte sollte für alle Beteiligten jederzeit abrufbar sein. Das kann über regelmäßig aktualisierte Übersichten erfolgen, die per E-Mail verschickt werden, oder mithilfe von Datenbanken, die alle relevanten Dokumente erfassen und verfügbar machen. Arzneimittel werden zunehmend global ver marktet. Ein geänderter Beipackzettel kann ausreichen, um Klägeranwälte international zu mobilisieren. Um einzelne wiederkehrende Arbeitsschritte zu optimieren und weiterzuentwickeln, hat sich ein Knowhow-Management bewährt. Hilfreich ist hier die Pflege einer Datenbank, die Antworten auf regel mäßig wiederkehrende Argumentationsmuster enthält. Auch Standardschreiben, zum Beispiel Antworten auf außergerichtliche Anspruchsschreiben, lassen sich nach einmaliger Abstimmung mit den beteiligten Stellen einfach an den individuellen Fall anpassen, ohne dass dafür eine erneute aufwendige Abstimmung nötig wäre. Damit die Entscheidungsträger über die allgemeinen Entwicklungen und wichtige Zwischenschritte regelmäßig und zeitnah auf dem Laufenden bleiben, hat sich ein standardisiertes und koordiniertes Reporting-System bewährt. Sind Strategie, Abläufe und Verantwortlichkeiten festgelegt, sollten die Beteiligten in den einzelnen betroffenen Staaten unterrichtet und in die Materie eingeführt werden. Für das Management der natio nalen Niederlassungen des Pharmaherstellers sowie deren lokale Rechtsanwälte und Prozessvertreter bietet sich ein Kick-off-Meeting an, in dem die relevanten Unterlagen in zusammengefasster Form (Starter-Kits) übergeben werden. Gerichtliche Schriftsätze werden grundsätzlich von den lokalen Prozessvertretern auf Grundlage des nationalen Rechts erstellt. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 9 Pharma Für den entsprechenden Tatsachenvortrag und die taktischen Weichenstellungen kommen die Informationen aus dem Starter-Kit zum Einsatz. Gerade für diese Arbeitsschritte empfiehlt es sich jedoch, einen effektiven Review-Prozess aufzusetzen, der die Konsistenz von Key Messages und Strategie sicherstellt. Das geschieht am besten mithilfe einer koordinierenden Rechtsanwaltskanzlei, die sämtliche Stellungnahmen, die vor den nationalen Gerichten eingereicht werden sollen, überprüft und gegebenenfalls korrigiert. Somit ist sichergestellt, dass in allen Gerichtsprozessen eine einheitliche Linie verfolgt wird. Rechtliche Grundlagen in Europa Obwohl die Produkthaftungsrichtlinie (85/374 EWG) zivilrechtliche Ansprüche in Europa in wichtigen Bereichen harmonisiert hat, bestehen in den einzelnen Mitgliedsstaaten zum Teil beachtliche Unterschiede, die im Bereich Arzneimittelhaftung relevant werden können. So hat beispielsweise Deutschland mit § 84 Abs. 2 des Arzneimittelgesetzes (AMG) eine Kausalitätsvermutung eingeführt, die den Kausalitätsnachweis für den Arzneimittelanwender erleichtern soll. Gleichzeitig hat der Arzneimittelanwender mit § 84a AMG einen Anspruch auf Auskunft hinsichtlich bekannter Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen. Dieser Anspruch bezieht sich auch auf bekannt gewordene Verdachtsfälle von Neben- und Wechselwirkungen sowie auf sämtliche weitere Erkenntnisse, die es erlauben, die Vertretbarkeit schädlicher Wirkungen zu bewerten. Auch andere Mitgliedsstaaten wie Spanien oder Frankreich räumen möglichen Geschädigten Erleichterungen bei der Durchsetzung von Arzneimittelhaftungsansprüchen ein. Das gilt insbesondere in Form von (richterrechtlichen) Beweiserleichterungen, um einen Kausalzusammenhang zwischen Arzneimittelanwendung und dem geltend gemachten Schaden nachzuweisen. So ist in Frankreich nach einer ober gerichtlichen Entscheidung der wissenschaftliche Vollbeweis der Kausalität nicht mehr erforderlich. Es genügt, wenn die Kausalkette auf „ernst zu nehmenden, konkreten und übereinstimmenden Vermutungen“ beruht. Italienische Gerichte verlangen grundsätzlich zwar weiterhin den Vollbeweis der Kausalität. Neuere Entscheidungen nehmen jedoch auch auf einen „Wahrscheinlichkeitstest“ Bezug. Das ist ein ähnlicher Ansatz, wie ihn England bereits seit einigen Jahren verfolgt und der die strikten Anforderungen an die Kausalität möglicherweise etwas lockert. Unabhängig von den materiell rechtlichen und zivilrechtlichen Haftungsvoraussetzungen wurde in Italien zudem versucht, die Ansprüche auf prozessualer Ebene leichter durchzusetzen. Die italienische Class Action findet ausdrücklich auch auf Produkthaftungsansprüche und damit grundsätzlich auch auf Arzneimittelhaftungsansprüche Anwendung. 10 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Ein anderes Modell verfolgen die Niederlande: Dort existiert ein sogenanntes Sammelvergleichsgesetz zur kollektiven Geltendmachung von Ansprüchen. Eine Organisation, welche die angeblich Geschädigten repräsentiert, kann mit dem vermeintlichen Schädiger einen Vergleich schließen, der allerdings gerichtlich genehmigt werden muss. Sobald diese Genehmigung vorliegt, werden alle angeblich Geschädigten, die per Definition zum Kreis der möglichen Geschädigten gehören, von der Wirkung des Vergleichs erfasst. Sie können allerdings förmlich den Austritt (Opt-out) erklären, wenn sie die Rechtskraftwirkung vermeiden wollen. Fazit Für den Versicherer ist es bei der Abwicklung mög licher internationaler Haftungsfälle entscheidend, dass das versicherte Unternehmen Berater und Rechts anwälte beauftragt, die nicht nur Teilaspekte berücksichtigen. Vielmehr müssen sie in der Lage sein, eine einheitliche Strategie zu entwickeln, die sämtliche Interessen der Betroffenen umfasst. Zudem sollte eine zentrale Einheit bestimmt werden, welche die Umsetzung der einheitlichen Strategie koordiniert und überwacht. Unsere Autoren: Ina Brock ist Rechtsanwältin und Partnerin im Münchner Büro von Hogan Lovells International LLP und Mitglied der Praxisgruppe Prozess führung & Schiedsverfahren. Sie ist spezialisiert auf die Abwehr und Koordinierung von internationalen Produkthaftungsfällen. [email protected] Dr. Simone Schönberger LL.M. ist Rechtsanwältin im Münchner Büro von Hogan Lovells International LLP und Mitglied der Praxisgruppe Prozessführung & Schiedsverfahren. Sie berät und vertritt deutsche und internationale Mandanten in Fragen der Produkthaftung. simone.schoenberger@ hoganlovells.com Was ist an Rückversicherung eigentlich so spannend? In TOPICS ONLINE finden Sie die Antworten. Unser digitales Magazin für Versicherer wirft einen Blick hinter die Kulissen von Munich Re und zeigt, was uns antreibt. Wir stellen interessante Persönlichkeiten vor, greifen aktuelle Themen aus der Versicherungsund Finanzwelt auf, präsentieren Trends sowie neueste Lösungen und Services. Und Sie sind mittendrin: Über eine Kommentarfunktion können Sie anregende Diskussionen mit uns anstoßen. Interaktive Umfragen spiegeln Ihr Meinungsbild wider. http://www.munichre.com/de/topicsonline not if, but how Munich Re Schadenspiegel 2/2012 11 Pharma Bitte fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker Jedes Arzneimittel kann selbst bei bestimmungsgemäßen Gebrauch ungewollte Nebenwirkungen hervorrufen. Wie sicher Medikamente sind, bewegt nicht nur die Verbraucher. Auch Erst- und Rückversicherer sind unmittelbar von Pharmarisiken betroffen. Bis ein neues Medikament auf den Markt kommt, vergehen viele Jahre kostspieliger Forschung und Entwicklung. 12 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Pharma Beispiele für Schadenzahlungen durch Pharmaunternehmen in den vergangenen Jahren. Hersteller Medikament Grund Vergleichszahlung (US$) Merck Vioxx Mangelnde Sicherheit 4,8 Mrd. Pfizer Bextra Off-Label-Werbung 2,3 Mrd. Eli Lilly Zyprexa Off-Label-Use 1,4 Mrd. GlaxoSmithKline Paxil Mangelnde Sicherheit 1 Mrd. GlaxoSmithKline Avandia Mangelnde Sicherheit 460 Mio. Schering-Pough Temodar, Intron A Off-Label-Use 435 Mio. Eli Lilly Zyprexa Off-Label-Use 1,4 Mrd. Quelle: US-Rechnungshof GOA, US-Justizministerium, Justizministerium des Staates Oregon, Pfizer Inc. von Henriette Heine, Kathrin Ittner und Helga Munger Im aktuellen Marktumfeld eine angemessene Balance zwischen Nutzen und Risiko zu erreichen kann eine Herausforderung für Pharmaunternehmen darstellen. Sie müssen sicherstellen, dass sie dauerhaft ertrag reich hochwertige und sichere Produkte zu einem ver tretbaren Preis auf den Markt bringen. Gleichzeitig müssen sie dem Verbraucherschutz ausreichend Beachtung schenken. Während einige Länder zum Schutz der Verbraucher die verschuldensunabhängige Haftung eingeführt haben, sind andere der Ansicht, dass dies eine Abwanderung der Pharmaindustrie zur Folge hätte. −−unzureichende Warnhinweise oder Verstöße gegen Kennzeichnungsvorschriften, −−Verunreinigungen während des Produktions‑ prozesses, −−ungeeignete bzw. abgelaufene Wirkstoffe. Jedes Medikament birgt Risiken Risikofaktoren, die speziell in den USA hinzutreten, sind etwa: Jedes Medikament kann Nebenwirkungen auslösen. Ob diese annehmbar sind, ist jeweils im Einzelfall abzuwägen. Risiken, die bei Behandlung einer kleinen Gruppe schwer kranker Patienten noch akzeptabel sind, können bei einer Erweiterung des Anwendungs bereichs auf größere Patientengruppen oder Indika tionen schnell als unangemessen erachtet werden. Pharmaunternehmen sehen sich daher regelmäßig Ansprüchen von Anwenderseite ausgesetzt, wobei häufig folgende Vorwürfe erhoben werden: −−fehlende Warnung vor möglichen Schäden oder Nebenwirkungen, einschließlich der Wechselwir kungen mit anderen Medikamenten, −−unzureichende Erprobung vor Markteinführung, −−übertriebenes und aggressives Marketing, Nirgendwo sind die Risiken höher als in den USA. Dort bringt die Aussicht auf jahrelange, kostspielige Prozesse mit unsicherem Ausgang sowie eine mögliche Verurteilung zu Strafschadenersatz viele Unternehmen dazu, Streitigkeiten durch Vergleiche beizulegen. −−die Möglichkeit der Anwälte, Werbung für ihre Dienste zu machen, −−das fehlende Kostenrisiko der Anspruchsteller aufgrund der Möglichkeit, Erfolgshonorare zu vereinbaren, −−die Höhe der Vergleichszahlungen (hohe Entschädi gungssummen und teilweise auch Strafschaden‑ ersatz) sowie −−die Möglichkeit, dass vor Schwurgerichten ver handelt wird mit der Folge, dass komplexe wissen schaftliche oder juristische Zusammenhänge von Laien beurteilt werden. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 13 Pharma Einer Studie zufolge kam es in den USA zwischen 1991 und 2010 zu 165 zivil- oder strafrechtlichen Ver gleichen in Höhe von insgesamt 19,81 Milliarden USDollar, wobei nahezu drei Viertel der Fälle in den Zeit raum von 2006 bis 2011 fielen (Public Citizen’s Health Research Group, Rapidly Increasing Criminal and Civil Monetary Penalties against the Pharmaceutical Industry: 1991 to 2010). Rechtliche und gesetzliche Entwicklungen haben regelmäßig Einfluss auf die Haftung der Unterneh men. So wird zum Beispiel die 2011 ergangene Ent scheidung des US Supreme Court zum Vorrang von Bundesrecht im Bereich der Medikamentenkenn zeichnungspflichten intensiv diskutiert (siehe Kasten Seite 16 oben). Die Feststellungen des Gerichts haben zur Folge, dass die Haftung für Verletzungen von Kennzeichnungspflichten für generische Produkte abgelehnt werden kann, obwohl dieselbe Kennzeich nung für den Hersteller von Markenprodukten eine solche begründen kann. Häufig werden Ansprüche schon dann erhoben, wenn die zuständige Arzneimittelbehörde eine Sicherheits warnung oder eine Abmahnung ausgesprochen hat. Andere Auslöser für die Geltendmachung von Ansprü chen können Rücknahmen vom Markt, pharmazeu tische Studien oder auch Berichte über eine zuneh mende Anzahl von Klagen wegen eines bestimmten Medikaments sein. Entsprechende Datenbanken und Foren im Internet sowie Anwaltskanzleien, die sich auf Pharmaprozesse spezialisiert haben, erleichtern es den Verbrauchern, Prozesse anzustrengen. Von der Zulassung bis zur Schadensregulierung – ein fiktives Beispiel 2003 Vermarktung an erweiterten Patientenkreis. Für den Mas senmarkt des Medikaments besteht noch Patentschutz bzw. die Lizenzen sind noch nicht abgelaufen. Die FDA erteilt im April 2000 die Genehmigung für einen speziellen Anwen dungsbereich. Es erfolgt die klinische Erprobung für einen breiter gefassten Patientenkreis. 14 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Ende 2004 Den Versicherern wird im Rahmen der Erneuerungs gespräche eine Aufstellung der gemeldeten Fälle über geben. Vor allem aufgrund von Zweifeln an der Kau salität bestehe jedoch kein Grund zur Besorgnis. Anfang 2004 FDA-Genehmigung zur Anwendung wird erteilt, aber nach dem Inverkehr bringen sind weitere Unter suchungen notwendig. Es gibt erste Berichte über unerwünschte Nebenwir kungen, wobei die Patien tengruppe gesundheitlich vorbelastet ist. 2007 Die Zahlen sind inzwischen auf mehr als 300 angestie gen. US-Anwaltskanzleien fordern über das Internet die Betroffenen oder Familien mitglieder auf, sich bei ihnen zu melden. 2005/2006 Bei der Erneuerung wird ein geringer Anstieg der Fälle gemeldet, aber die Zahlen sind nach wie vor relativ stabil. Ende 2007 Die FDA veröffentlicht eine Warnung vor potenziell erhöhten Risiken in Bezug auf das Medikament. Pharma Versicherungsrechtliche Aspekte Um sich gegen Haftpflichtrisiken abzusichern, schließen Pharmaunternehmen entsprechende Versicherungen ab, üblicherweise mit einem signifikanten Selbstbehalt. Einige Pharmafirmen decken Schäden teilweise über hauseigene Captives (Eigenversicherung) ab. Die Bedingungen der unteren Layer können von denen der oberen Layer abweichen. So kann es vorkommen, dass in unteren Layern der Versicherungsfall nach dem Schadenerhebungsprinzip (Claims Made) ein tritt, für die oberen Layer jedoch das Schadenereignis (Occurrence) relevant ist (siehe Kasten Seite 16/17 unten). März 2008 Die Inanspruchnahmen stei gen auf über 100 Fälle pro Woche. Eine Sammelklage wird anhängig gemacht. Es erfolgt eine offizielle Scha denmeldung an den Ver sicherer unter der ClaimsMade-Deckung zum ersten Layer der Deckung. April 2008 Eine neue Studie bringt die Anwendung mit erhöhten Risiken in Verbindung und stellt die Wirksamkeit in Bezug auf die Anwendung am erweiterten Patienten kreis infrage. In diesen Fällen können die Schadeneintrittsdaten differieren mit der Folge, dass unterschiedliche Poli cenjahre bei verschiedenen Versicherern für einen Pharmaschadenkomplex betroffen sein können. Hier spielen auch die jeweiligen Serienschadenklauseln eine Rolle. Wenn man die marktüblichen hohen Deckungssummen und entsprechenden Prämien betrachtet, sollte man auch im Hinterkopf behalten, dass Schadenersatz- und Vergleichszahlungen sowie insbesondere auch die Kosten für Anwälte und Gut achter teilweise sehr hoch sind. Im Ergebnis macht die Versicherungsleistung oft nur einen kleinen Teil dessen aus, was an Dritte und an Prozesskosten ins gesamt bezahlt wurde. Dezember 2008 Die Erneuerungsunterlagen enthalten Informationen über 3.500 Inanspruch nahmen. Die Kosten für die aufwendige Verteidigung steigen dramatisch. November 2009 Es erfolgt eine Schaden meldung an den ersten und zweiten Layer der Deckung nach dem Occurrence-Prin zip. Die Ansprüche werden weiterhin verteidigt, das Mittel bleibt auf dem Markt und wird zur Behandlung des erweiterten Patienten kreises verschrieben. Juni 2010 Der erste Prozess über eine Anzahl von Fällen beginnt. Dezember 2010 Es erfolgt eine Meldung an weitere Layer im Rahmen der Integrated-OccurrenceDeckung einer BermudaPolice, die im Anschluss an die beiden unteren Layer gezeichnet wurde. Januar 2011 Erste Ansprüche werden befriedigt. Die Entschädi gungszahlungen und weitere Kosten zehren die ersten beiden Layer des Versicherungsprogramms auf. Es wird erwartet, dass die Zahlungen die zur Ver‑ fügung stehende Deckungs summe übersteigen. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 15 Pharma Rechtsunsicherheit für Generika-Hersteller Für Hersteller von Original präparaten gelten andere Pflichten als für Hersteller von Generika. So kann es für einen geschädigten Ver braucher im Schadenfall von Bedeutung sein, ob sein Apotheker ihm das Original präparat oder ein Generikum ausgehändigt hat. Nach den Vorschriften der Zulas sungsbehörde FDA müssen die auf Medikamentenpackungen und Bei packzetteln aufgedruckten Warnhin weise über Risiken bei den jeweiligen Markenprodukten und bei Generika identisch sein. Hersteller von Gene rika müssen die Kennzeichnung der Originalpräparate selbst dann über nehmen, wenn in der Zwischenzeit neue Risiken bekannt worden sind. Gleichzeitig kann ein Pharmaunter nehmen nach einzelstaatlichem Recht wegen unzureichender Warn hinweise haftbar gemacht werden. Dieser Konflikt ist für einen Herstel ler nicht lösbar und wurde in dem Verfahren Pliva./.Mensing nach der Doktrin des Vorrangs des Bundes entschieden. Hiernach hat das Bun desrecht Vorrang gegenüber dem einzelstaatlichem Recht, weil ein Konflikt zwischen den beiden Rege lungen vorliegt. Haftungsansprüche nach einzelstaatlichem Recht sind ausgeschlossen, weil es für den Generikahersteller unmöglich ist, sowohl die Bundes- als auch die ein zelstaatlichen Anforderungen an die Kennzeichnung zu erfüllen. Die Ent scheidung hat zur Folge, dass Her steller von Originalpräparaten andere Pflichten haben wie die Hersteller von Generika. Wie künftig mit dieser Entscheidung praktisch umgegangen wird, bleibt abzuwarten. Deckungskonzepte im Bereich Pharma Ein typisches Versicherungs programm im Bereich Pharma kann unterschiedliche Deckungskonzepte für die ver schiedenen Layer umfassen. Folglich ist es möglich, dass ein Pharmaschaden aufgrund der divergierenden Trigger verschiedene Deckungsjahre betrifft. 16 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Claims-Made-Prinzip (Anspruchserhebung): Die Claims-Made-Deckung ist ins besondere in den unteren Layern eines Versicherungsprogramms sehr beliebt. Grundsätzlich wird die Police mit der ersten Anspruchs erhebung gegen den Versicherten getriggert. −−Versicherungsschutz besteht für die Versicherungsfälle, die wäh rend der Laufzeit des Versiche rungsvertrags eingetreten sind. Es besteht jedoch die Möglichkeit, ein Rückwirkungsdatum (sogenannte Retrodeckung) für unbekannte Schadenereignisse zu vereinbaren oder eine Nachlaufzeit zu verein baren. Dabei wird davon ausgegan gen, dass Ansprüche nur innerhalb eines sehr begrenzten Zeitraums gemeldet werden. −−In der Regel gehört es zu den Oblie genheiten des Versicherten, den Schaden „so bald wie möglich“ oder „so bald wie praktisch möglich“ zu melden. Occurrence-Prinzip (Ereignis): Bei der Ereignisdeckung wird die Police zum Zeitpunkt des Eintritts des schadenbegründenden Ereignis ses getriggert. Für den Versicherer kann dies zur Folge haben, dass zwi schen dem Eintritt des Ereignisses sowie der Anspruchserhebung eine lange Zeitspanne liegt. −−Der Zeitpunkt des Eintritts eines Ereignisses im Pharmabereich wird oft definiert mit dem Zeitpunkt, an dem ein Anwender aufgrund ent sprechender Symptome erstmalig einen Arzt konsultiert. Pharma Die Pharmaindustrie ist verpflichtet, ein engmaschiges Kontrollnetz zur Sicherheit von Arzneimitteln zu unterhalten. −−Die Policen enthalten oftmals ein Rückwirkungsdatum zur Eingren zung der Fälle, in denen sich die nachteiligen Wirkungen eines Medikaments erst nach vielen Jahren zeigen. „Occurrence Reported“ bzw. „Integrated Occurrence“: Diese Wordings – auch als BermudaForm bekannt – sind eine Weiterent wicklung der Occurrence-Deckung. Sie entstanden als Reaktion auf den Bedarf an größeren Versicherungs summen in den höheren Layern. Ähnliche Ereignisse, die innerhalb der Policenlaufzeit eingetreten sind, können vom Versicherten zu einem Schadenereignis zusammengefasst werden und fallen demnach unab hängig vom jeweiligen Eintrittszeit punkt in eine Versicherungsperiode. −−Besonderes Merkmal der Integra ted-Occurrence-Deckung ist die Art und Weise der Bündelung von Ansprüchen in einer Kombination von Ereignis und Meldung. Zwei Trigger werden zusammengeführt. Solange beispielsweise Berichte über Nebenwirkungen eines Medi kaments nur vereinzelt auftreten – eine Schadenanfälligkeit der Police somit nicht angenommen werden muss –, ist eine Meldung an den Versicherer noch nicht angezeigt. Das ändert sich, sobald die Scha denhäufigkeit deutlich zunimmt. Dann müsste sich der Pharmaher steller Gedanken darüber machen, ob bei einer weiteren Nichtmel dung die Gefahr besteht, dass der Ausschluss der erwarteten oder geplanten (expected or intended) Schäden greift. Vor diesem Hinter grund bewegen sich die Unterneh men auf einem schmalen Grat und müssen verantwortungsbewusst entscheiden, wann die Melde schwelle überschritten ist. −−Einige Policen enthalten einen Aus schluss von Personenschäden im Zusammenhang mit Medikamen ten, die verkauft wurden, nachdem die Schadenmeldung an den Ver sicherer erfolgt ist. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 17 Pharma Als „klassischen Pharmaschaden“ bezeichnet man weitläufig Fälle, die aus unerwünschten Neben wirkungen eines zugelassenen Medikaments bzw. aufgrund von (vermeintlich) irreführenden/unzu reichenden Angaben auf dem Beipackzettel entstehen. Allerdings sollten Versicherer, die Pharmarisiken zeichnen, weitere Risikoquellen im Auge behalten, bei denen eine Haftung nicht ausgeschlossen werden kann. Off-Label-Use Ein Off-Label-Use liegt immer dann vor, wenn ein Medikament außerhalb seiner zugelassenen Indika tion (Label) eingesetzt wird. Die Indikation legt dabei den Anwendungsbereich fest, für den die nationalen bzw. europäischen Behörden das Medikament zuge lassen haben. Bei einem Off-Label-Use weichen in aller Regel Darreichungsform und/oder Dosierung von den genehmigten Anwendungsmodalitäten ab. Zwar setzt grundsätzlich jede Ausweitung des Anwendungsgebiets eine entsprechende Zulassung bzw. zustimmungsbedürftige Änderungsanzeige voraus. Abweichungen von diesem Grundsatz sind mittlerweile jedoch unverzichtbare Bestandteile der Medizin. Ärzte stehen manchmal vor dem Problem, dass für seltene Indikationen zugelassene Medika mente fehlen. So hinkt die Zulassung von Arzneimit teln zum Beispiel in Gebieten mit rasch voranschrei tender Forschung den Therapiestandards hinterher. Gründe dafür sind unter anderem, dass die für die Zulassung erforderlichen Verfahren sehr zeitintensiv und kostspielig sind. Der Off-Label-Use ist daher durchaus gängige Praxis, die auch von der grundsätz lichen Therapiefreiheit des Arztes gestützt wird. Ins besondere im Bereich der Kinderheilkunde, der Onko logie, der Infektiologie sowie der Neurologie ist eine Therapie ohne Off-Label-Use nicht mehr vorstellbar. Vom Off-Label-Use zu unterscheiden ist die Anwen dung eines (noch) nicht zugelassenen Medikaments („Compassionate Use“). Beim Einsatz von Medikamenten im Off-Label-Use treten natürlich auch zum Teil schwerwiegende und unerwünschte Nebenwirkungen auf. Es stellt sich daher die Frage, ob ein Pharmaunternehmen für sol che Schäden in die Haftung genommen werden kann. Haftung des Pharmaunternehmens Grundsätzlich ist eine Haftung des Pharmaunterneh mens nur bei bestimmungsgemäßem Gebrauch eines Medikaments denkbar. Dieser hängt aber nicht allein von den Vorgaben des Beipackzettels ab. Ein bestim mungsgemäßer Gebrauch liegt auch vor, wenn es sich um eine wissenschaftlich anerkannte und weit verbreitete Anwendung oder einen typischen Fehlge brauch handelt, der naheliegt oder in großem Umfang 18 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 praktiziert wird. Das Pharmaunternehmen hat somit auch nach der Zulassung eines Medikaments die Pflicht zur Produktbeobachtung und gegebenenfalls zur Reaktion. Eine grundsätzliche Haftung des Unter nehmens erscheint insoweit gerechtfertigt, als es im Gegenzug von den Umsatzsteigerungen profitiert, die mit einem Off-Label-Use verbunden sind. Dem Her steller steht es allerdings frei, einen Off-Label-Use als Kontraindikation in die Warnhinweise aufzunehmen. Bei einem bewusst bestimmungswidrigen Gebrauch des Medikaments scheidet eine Haftung aus. Bedeutung für den Versicherungsschutz des Pharmaunternehmens Wird ein Pharmahersteller wegen schwerwiegender Nebenwirkungen im Off-Label-Use in Anspruch genommen, erfolgt dies aufgrund gesetzlicher Haf tungsbestimmungen. In Betracht kommen hier in erster Linie die Gefährdungs- bzw. deliktische Haftung. Wie bereits dargestellt, umfasst der Versicherungs schutz naturgemäß gerade diese Haftungsszenarien. Haftungsansprüche von Anwendern, die sich im Bereich des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Medikaments bewegen, fallen daher grundsätzlich unter den Schutz des Haftpflichtprogramms. Marketing und neue Medien Bis ein neues Medikament auf den Markt kommt, vergehen viele Jahre kostenintensiver Forschung und Entwicklung. Zwar laufen Patente grundsätzlich 20 Jahre ab Anmeldung. Wegen der langwierigen Marktzulassung kann das Patent jedoch in aller Regel lediglich circa zehn Jahre lang wirtschaftlich genutzt werden. Insoweit ist nachvollziehbar, dass Pharma‑ unternehmen diese Zeitspanne möglichst intensiv zur Vermarktung nutzen möchten. Denn um Forschung und Entwicklung zu betreiben, benötigen sie die Aus sicht, dass sich ihre Investitionen auch lohnen. Der rechtliche Rahmen für die Vermarktung von ver schreibungspflichtigen Medikamenten ist von Land zu Land unterschiedlich. So ist zum Beispiel in den USA die Direkt- oder auch Laienwerbung erlaubt, in Deutschland dagegen verboten. Lediglich in Fach publikationen dürfen hier solche Produkte beworben werden. Problematisch ist allerdings, dass das Verbot der Laienwerbung durch das Internet samt seinen sozialen Netzwerken leicht unterlaufen werden kann. Dies dürfte mit ein Grund für Bestrebungen sein, EU-weit das strikte Verbot der Laienwerbung aufzu weichen. Pharma Bei einer unmittelbaren Ansprache des medizini schen Laien via Direktwerbung besteht die Gefahr, dass −−die Beeinflussung der Patienten zu vermehrten Wunschverschreibungen führt, −−durch den erhöhten Bekanntheitsgrad und die gesteigerten Erwartungen/Hoffnungen die Gefahr von Inanspruchnahmen durch geschädigte/ent täuschte Patienten steigt, −−Produktangaben verkürzt und/oder verfälscht dargestellt werden, wodurch ebenfalls die Gefahr von Inanspruchnahmen steigt. Stellt beispielsweise eine Werbekampagne für Ver hütungsmittel im TV oder im Internet gezielt Vorzüge einer Anti-Baby-Pille wie schönere Haut, Vermeidung von Stimmungsschwankungen etc. neben ihrem eigentlichen Einsatzgebiet heraus, besteht die Gefahr, dass insbesondere bei jungen Konsumentinnen die möglichen Nebenwirkungen als lediglich abstrakte Gefahr in den Hintergrund treten. Dies wirft insbe sondere Probleme auf, sofern das Produkt für die erwähnten zusätzlichen Vorzüge keine Zulassung hat. Auch im Bereich chronischer Krankheiten besteht die Gefahr, dass das Marketing den Fokus primär auf eine bessere Verträglichkeit richtet, eventuelle mittelfris tige Nebenwirkungen aber vernachlässigt. Auch hier fällt die Werbung auf fruchtbaren Boden, weil es den Patienten um die Verbesserung ihrer täglichen Lebens situation geht. Die FDA hat zwar die Möglichkeit, die Pharmaunternehmen zu einer Richtigstellung zu ver pflichten. Das ändert aber nichts daran, dass verzerrte Produktinformationen im Umlauf sind. Die wachsende Verbreitung von sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter und die leichte Informa tionsbeschaffung über das Internet ermöglichen es den Verbrauchern, potenzielle Nebenwirkungen eines Medikaments zu identifizieren und sich mit anderen Betroffenen zusammenzuschließen. In den USA ist es zudem möglich, als vermeintlich Geschädigter Infor mationen über Klägeranwälte und Sammelklagen zu erhalten. So kann eine Vielzahl von Anspruchstellern innerhalb kürzester Zeit zusammenkommen. Hier ist für die Zukunft eher noch mit einer Zunahme der Aktivitäten zu rechnen. Fazit Die Pharmaindustrie gehört aufgrund rechtlicher Vorgaben zu den am stärksten reglementierten Bran chen. Sie ist verpflichtet, ein engmaschiges Kontroll netz zur Sicherheit von Arzneimitteln zu unterhalten. Entscheidend ist, ob die beteiligten Akteure diese Regeln eher als Pflicht sehen oder als eigenständige Möglichkeit, Risiken zu steuern und zu minimieren. Klar ist, dass sich das Risikomanagement heute nicht mehr allein an medizinischen Aspekten orientieren kann. Vielmehr müssen neben dem Produktdesign auch die Vermarktungsstrategie und die Werbe botschaften hinsichtlich möglicher Haftungsfragen geprüft werden. Unsere ExpertEN: Dr. Henriette Heine ist Schadenjuristin für Casualty-Schadenfälle im Bereich Global Clients/North America. Sie ist Mitglied im Topic Network Casualty Claims. [email protected] Kathrin Ittner ist Schadenjuristin für Casualty-Schadenfälle im Bereich Global Clients/North America. Sie ist zudem Mitglied im Topic Network Fidelity. [email protected] Helga Munger ist als Senior Legal Counsel im Bereich Global Clients/ North America für Casualty-Schaden fälle tätig. Zudem ist sie die Leiterin des Topic Networks Casualty Claims. [email protected] Munich Re Schadenspiegel 2/2012 19 Flut Ein Land unter Wasser Heftige Regenfälle überfluteten 2011 weite Teile von Thailand. Die größte Katastrophe in der Geschichte des Landes kostete mehrere Hundert Menschen das Leben und verursachte in Industrie und Landwirtschaft schwere Schäden. von Alfons Maier und Michelle Chan Die Niederschläge in der Monsunsaison waren so intensiv, dass sie in einigen Gegenden das historische das langjährige Mittel über zwei Monate um bis zu 1.000 Millimeter übertrafen. Von Ende Juli an, ausgelöst durch den Tropischen Sturm Nock-ten, dehnten sich die Überschwemmungen entlang der Flüsse Mekong und Chao Phraya auf den Norden, Nordosten und auf Zentral-Thailand aus. Ab Mitte September waren nahezu alle niedrig gelegenen Gebiete in Zentral-Thailand und auch die nördlichen Regionen Bangkoks überschwemmt, im Oktober standen sogar weite Teile der Hauptstadt unter Wasser. Begünstigt durch die nur leicht erhöhte Lage der zentral-thai ländischen Ebene über dem Meeresspiegel und aufgrund der damit verbundenen geringen Abflussgeschwindigkeit hielten sich die Überschwemmungen in manchen Gegenden bis Januar 2012. 65 von 77 Provinzen wurden zum Katastrophengebiet erklärt, mehr als 800 Todesopfer waren zu beklagen. Insgesamt waren etwa 14 Millionen Menschen betroffen. Viertteuerste Naturkatastrophe weltweit Die Weltbank schätzt die volkswirtschaftlichen Schäden auf etwa 1.425 Milliarden Baht (etwa 43 Milliarden US-Dollar). Der Großteil davon entstand in sieben größeren Industriegebieten, die teilweise zwei Meter und mehr unter Wasser standen. Insgesamt waren rund 15.000 Unternehmen in 20 Provinzen betroffen. Die versicherten Schäden werden weltweit auf mehr als 10 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Rückwirkungsschäden auch außerhalb von Thailand können diese Zahl noch weiter nach oben treiben. Rückwirkungsschäden sind komplex und zeitaufwendig bei der Schadenregulierung und können im Extremfall im dreistelligen Millionen-Dollar-Bereich pro Ver sicherungsnehmer liegen, so dass der endgültig ver sicherte Schaden aus dem Ereignis vermutlich erst nach der Regulierung der Rückwirkungsschäden feststeht. Überflutete Straße in Bangkok am 22. Oktober 2011. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 21 FLUT Neben der Industrie war vor allem die Landwirtschaft betroffen, zum Beispiel mehr als zwölf Prozent der thailändischen Reisfarmen. Thailand ist hier mit einem Weltmarktanteil von 30 Prozent ein wichtiger Exporteur. Außerdem verbuchte der Tourismus, eine der Haupteinnahmequellen der thailändischen Wirtschaft, erhebliche Umsatzeinbußen. Immerhin gelang es, durch das Öffnen von Dämmen und Flutbarrieren sowie durch temporäre Schutzmaßnahmen das zentrale Geschäftsviertel Bangkoks weitgehend von den Fluten zu verschonen. Schlimmstenfalls wäre die Hauptstadt mit ihren mehr als acht Millionen Einwohnern etwa 1,5 Meter tief in den Fluten versunken, was die Schäden noch einmal deutlich nach oben getrieben hätte. Bangkok steht als ökonomisches Zentrum für rund 40 Prozent des thailändischen Bruttosozialprodukts. Während der Inlandsflughafen Don Muang Airport einschließlich des Country’s Flood Relief Headquarters überschwemmt wurde, blieb der internationale Flughafen verschont. Nach offiziellen Angaben waren rund 535 Kilometer Autobahnen zeitweise nicht befahrbar, 67 Fernverbindungsstraßen wurden zerstört, was hohe Folgekosten nach sich zog. Die Schäden in Höhe von etwa 43 Milliarden US-Dollar machen die Thailand-Überschwemmungen zur viertteuersten Naturkatastrophe weltweit. Kostspie liger waren nur das Tohoku-Erdbeben mit Tsunami in Japan 2011 (210 Milliarden US-Dollar), Hurrikan Katrina in den USA 2005 (125 Milliarden US-Dollar) und das Kobe-Erdbeben in Japan 1995 (100 Milliarden US-Dollar). Für Thailand selbst war es die teuerste Naturkatastrophe in der Geschichte und global gesehen das kostenträchtigste Überschwemmungsereignis überhaupt. Japanische Versicherer am schwersten betroffen Das thailändische OIC (Office of Insurance Commission) schätzte die Industrie-Flutschäden auf zunächst 140 Milliarden Baht (4,5 Milliarden US-Dollar) und kalkulierte, dass die sieben Industrieparks Bang Pa-In, Hi-Tech, Factory Land, Nava Nakorn, Rojana, Saha Rattana Nakorn und Bang Kadi über eine kombinierte Versicherungsdeckung von 450 Milliarden Baht (14,5 Milliarden US-Dollar) verfügen. Das thailändische Permanent Secretary of Finance geht sogar von einem Versicherungsschutz in Höhe von 600 Milliarden Baht (19,5 Milliarden US-Dollar) aus. 22 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Nahezu alle Industrieparks des Landes standen über längere Zeit bis zu zwei Meter unter Wasser. Thailands General Insurance Association (GIA) bestätigte die hohe Naturgefahren-Versicherungsdichte in den Industriegebieten. Dagegen hätten weniger als ein Prozent der privaten Haushalte entsprechende Deckungen abgeschlossen. Als größter ausländischer Investor in Thailand waren besonders japanische Unternehmen von der Katastro phe betroffen. Viele mussten ihre Geschäftserwartungen für 2011 und teilweise auch den Ausblick für 2012 korrigieren. Die Schäden an den Industrieanlagen, so schätzt man, gehen etwa zu 80 Prozent zulasten japanischer Versicherer. Liefer- und Versorgungsketten unterbrochen Die Produktionsausfälle in den großen Industrieparks waren weltweit zu spüren. Zum Beispiel im Bereich der Computerfestplatten (HDDs = Hard Disk Drives), wo Thailand mit etwa einem Viertel der globalen Produktion der zweitwichtigste Lieferant ist. Die plötzliche Angebotsverknappung trieb die durch schnittlichen Verkaufspreise im vierten Quartal 2011 um 28 Prozent nach oben. Zusätzlich preissteigernd wirkten sich die höheren Kosten infolge von Produk tionsverlagerungen sowie die anziehenden Komponen tenkosten von Zulieferern aus, die ebenfalls von den Überschwemmungen betroffen waren. FLUT Erhöht gelegene Straßen waren oft die letzte Rettung für Autofahrer. Die liegen gebliebenen Fahrzeuge blockierten allerdings die Verkehrswege. Bei einem HDD-Hersteller stand die Fabrik ab Mitte Oktober unter Wasser und konnte erst Mitte November trockengelegt werden. Weil sich die Sanierungsarbeiten über Monate hinzogen, wurde die volle Produktion erst im ersten Quartal 2012 wieder erreicht. Die flutbedingten Sonderausgaben bezifferte der Hersteller auf rund 300 Millionen US-Dollar. Hinzu kamen erhebliche Umsatzeinbußen. Davon profitierte ein Konkurrent, der zum Marktführer aufstieg, weil seine Fabrik etwas erhöht lag und nicht überschwemmt wurde. Auch die großen japanischen Automobilhersteller mussten ihre Produktion in Thailand für mehrere Wochen einstellen, was zu Ausfällen von täglich insgesamt 6.000 Einheiten führte. Selbst wenn ein Standort nicht direkt von den Fluten betroffen war, brachten Lieferschwierigkeiten aufgrund von Infrastrukturproblemen (überschwemmte oder beschädigte Straßen) die Fertigung zum Erliegen. Die unterbrochenen Lieferketten wirkten sich auch auf Fabriken beispielsweise in Indonesien, Vietnam, auf den Philippinen, in den USA, in Kanada und Südafrika aus. Die Ereignisse in Thailand haben die Verletzbarkeit von Lieferketten ins Bewusstsein gerückt. Dieses Risiko lässt sich verringern, indem Unternehmen ihre Lieferbeziehungen genau analysieren und Pläne entwickeln, wie sich ein Ausfall von Zulieferern kompensieren lässt (Business Continuity Planning – BCP). Als weiteres Instrument des Risikomanagements bietet sich der Risikotransfer an. So ermöglicht die klassische Betriebsunterbrechungsversicherung (BU) Schutz gegenüber Vermögensschäden infolge des Stillstands der eigenen Produktionsanlagen, die Rück wirkungsschaden-Deckung (Contingent Business Interruption – CBI) greift beim Ausfall eines Zulieferers oder Abnehmers. Rückwirkungsschäden sind im Prinzip versicherbar, wenn die Versicherten ausreichend Transparenz über Art und Höhe des transferierten Risikos herstellen können. Die Daten sollten dem Versicherer Aufschluss darüber geben, welche Kunden in welchem Ausmaß vom Ausfall eines bestimmten Zulieferers betroffen sind. Das gilt insbesondere in der Rückversicherung, da hier die Gefahr einer noch weitergehenden Kumulierung von Schäden besteht. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 23 Flut Die Schadenregulierung Aufgrund der lang anhaltenden und großflächigen Überschwemmungen haben sich viele Fragen zur Abwicklung und Schadenregulierung ergeben. Beispielsweise wurde eine Reihe von Vorabzahlungen geleistet, um industriellen Versicherungsnehmern eine rasche Wiederaufnahme des Betriebs zu ermöglichen. Mit fortschreitender Schadenabwicklung rücken technische Regulierungsaspekte in den Vordergrund, deren wichtigste im Folgenden dargestellt werden: −−Vorläufige Schadenberichte Schadenregulierer, externe Loss Adjuster und selbst Versicherungsnehmer konnten die überschwemmten Gebiete wochenlang weder inspizieren noch Maß nahmen zur Schadenminderung und Sanierung ergreifen. Deshalb sind bei Munich Re erst nach und nach detaillierte Schadenberichte eingegangen, die bei Schäden dieser Größenordnung erforderlich sind. −−Selbstbehalte Sind verschiedene Betriebe und Versicherungsorte betroffen, für die eine gemeinsame Versicherungs police besteht, muss die Anzahl von Selbstbehalten für Sach- und Betriebsunterbrechungsschäden sorgfältig geklärt werden. −−Sanierung Die finanzielle Entschädigung des Versicherungsnehmers zielt im Allgemeinen darauf ab, den Zustand vor Schadeneintritt wiederherzustellen. Das kann im Einzelfall auf eine kostengünstigere Sanierung statt auf eine Neubeschaffung von Anlagen hinauslaufen. Die Gründe für eine Neuanschaffung (zum Beispiel Lieferschwierigkeiten von Originalersatzteilen, fehlender Sanierungserfolg, Garantiethemen, Kostenvergleiche) muss der Schadenbericht nachvollziehbar dokumentieren. −−Schadendatum Das Datum des Schadeneintritts ist in der Regel durch den Zeitpunkt der Überschwemmung gegeben. Abweichungen davon, etwa wenn die Feststellung am mangelnden Zutritt scheiterte oder die Gründe auf der Zulieferer-/Abnehmer-Seite entstanden, sind im Schadenregulierungsbericht zu vermerken. Beispiel einer komplexen BU-Schadenregulierung 1. Woche Einige Zulieferer und Abnehmer des Versicherungsnehmers sind überschwemmt. 2. Woche Die Überschwemmungen erreichen den Versicherungsnehmer und hindern ihn am Zutritt zum Betriebsgelände. Die Stromversorgung fällt aus. 24 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 3. Woche Ein nicht von der Überschwemmung betroffener Zulieferer (Tier 1) kann nicht liefern, weil sein eigener Zulieferer (Tier 2) betroffen ist. 4. Woche 5. Woche 7. Woche 6. Woche Flut −−Verbesserungen In vielen Fällen wird es unmöglich sein, den Ursprungszustand wiederherzustellen. Sei es, weil eine wirtschaftliche Sanierung nicht möglich ist oder weil die Entwicklung von Maschinen und Produktionstechnik in Hightech-Betrieben rasch fortschreitet. Derartige Verbesserungen muss der Schadenbericht offenlegen. −−Abschreibungen Der Schadenregulierer prüft bei der Ermittlung der Versicherungssumme, welche Abschreibungssätze auf Maschinen zur Anwendung kamen. Die ent sprechenden Beträge sollten mit den Wertelisten zum Zeitpunkt der Annahme der Police verglichen werden. −−Restwerte Ein Kommentar des Schadenregulierers zu Sanierungsaufwand und Restwerten ist sinnvoll. Das gilt insbesondere beim Verkauf teurer, aber irreparabler Maschinen. −−Schadenverhütungskosten Die Entschädigung von Schadenverhütungskosten muss begründet sein auf Basis der zugrunde liegenden Police und der jeweiligen Rechtsprechung. Schadenregulierungsberichte sollten zur Begründetheit von Schadenverhütungskosten und deren Höhe nachvollziehbar Stellung beziehen. Indes steht die GIA auf dem Standpunkt, dass diese Kosten nicht zu erstatten sind, wenn die Maßnahmen nicht erfolgreich oder unnötig waren, weil das Wasser den Versicherungsnehmer gar nicht erreicht hat. −−Wiederaufbau an anderer Stelle Thailand ist für globale Hersteller aus der Elektronik-, Halbleiter- oder Automobilindustrie ein wich tiges Produktionszentrum. Wegen der engen Vernetzung mit Zulieferern und Abnehmern dürfte eine Verlagerung von Produktionsstätten eher selten erwogen werden. Falls doch, ist ein Kostenvergleich sinnvoll, insbesondere wenn der Wiederaufbau am neuen Ort teurer ist. Zusätzlich sollte der Schadenbericht Verbesserungen wie Steuervorteile, eine effizientere Produktionstechnik etc. klar heraus arbeiten. Generell sollte eine Verlagerung der Produktionsstätte der Schadenminderung dienen, etwa durch eine kürzere Betriebsunterbrechung. Der Zeitstrahl zeigt die Bedeutung mitwirkender Schadenursachen für die Entschädigung, wenn die Deckung auf einen Tier-1-Zulieferer begrenzt ist. 9.–14. Woche Der Versicherungsnehmer reinigt und repariert, bei Zulieferer/Abnehmer halten die Probleme an. Ab der 11. Woche steht die Stromversorgung wieder. 8. Woche Die Überschwemmungen gehen zurück, Versicherungsnehmer kann das Betriebsgelände betreten und mit den Reparaturen beginnen. 15. Woche Alle überschwemmten Zulieferer können wieder liefern. 16. Woche Aufnahme der normalen Produktion. Nach englischem Verständnis der Policen-Interpretation würde in der ersten Woche die Extension-Deckung greifen, und die Schäden durch Ausfall des Zulieferers beim Versicherungsnehmer decken, obwohl noch kein Sachschaden beim Versicherungsnehmer eingetreten ist. In der zweiten Woche kommt als mitwirkende Schadenursache der Ausfall der Stromversorgung dazu, der nicht versichert ist. Eine Deckung des Schadens ist hier fraglich. In der 8.–14. Woche besteht theoretisch keine Deckung, da die Zulieferer aufgrund einer nicht versicherten Gefahr nicht liefern können (Ausfall des Tier2-Zulieferers). Munich Re Schadenspiegel 2/2012 25 Flut −−Angemessenheit der Versicherungssumme Entscheidend für die Versicherungssumme ist der Zeitpunkt der Policenzeichnung. Bei großen Sachund BU-Schäden müssen Experten und unabhängige Wertermittler das Thema Unterversicherung klären. Obwohl es nicht Praxis sein sollte, existieren Policen, die gleichzeitig die „Average Relief Clause“ und die „Uplift Clause“ enthalten. Bei der Analyse solch komplexer Wordings kann Munich Re Unterstützung bieten. Dies gilt auch für Deckungsfragen mit Blick auf Doppelversicherung (bei überlappenden Waren- und Transportpolicen). Betriebsunterbrechung und Wide Area Damage Für die Abwicklung größerer Betriebsunterbrechungsschäden im Millionen-Dollar-Bereich sollten externe Experten, zum Beispiel bei Gericht zugelassene Bilanzbuchhalter/Wirtschaftsprüfer (forensic accountants), hinzugezogen werden. Insbesondere die sogenannten Wide Area Damages können weitere Deckungsfragen aufwerfen. Darunter versteht man eine Konstellation, in der sich ein Versicherungs nehmer in einer Umgebung mit erheblichen Schäden befindet. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Betriebsunterbrechung aufgrund von unabhängigen mitwirkenden, jedoch nicht gedeckten Schaden ursachen, zum Beispiel eingeschränktem Zugang, Stromausfall, Ausfall von Zulieferern, deutlich. Feuchtigkeit und Schimmel zerstörten Trockenbauteile in den Fabriken. 26 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Infolgedessen könnte der Betriebsunterbrechungsschaden als nicht gegeben eingeschätzt werden, wie in dem bekannten Urteil „Orient Express Hotels vs. Assicurazioni Generali“ (2010) EWHC 1186 nach Hurri kan Katrina. Bislang haben thailändische Gerichte Interpretationsfragen hinsichtlich Betriebsunterbrechungspolicen und möglicher mitwirkender Schadenursachen noch nicht behandelt. Da auch kein Präzedenzfall existiert, muss jeder Fall mit seinen entscheidungsrelevanten Sachverhalten geprüft werden. Munich Re geht davon aus, dass die meisten Policen den britischen Standardund Wording-Definitionen folgen. Mitwirkende Ursachen sind bei der Ermittlung des Schadens jedenfalls zu berücksichtigen. Darunter fallen Probleme bei Zulieferern oder Abnehmern, fehlende Stromversorgung etc., welche die Produktion oder den Absatz des Versicherungsnehmers beeinträchtigen. −−Komplexe Lieferketten Experten sind ebenfalls gefragt, wenn mehrere Zulieferer und Abnehmer im Spiel sind und die Lieferkette an verschiedenen Stellen unterbrochen ist. Zu klären ist beispielsweise, ob mitversicherte Zulieferer gemäß Police benannt sind, ob sie als Tier 1 oder als Flut Subzulieferer versichert sind und ob die Unterbrechung der Lieferkette auf einer versicherten Schadenursache oder anderen Umständen beruht (siehe Zeitstrahl Seite 24/25). Auch ist zu prüfen, ob Schadenursachen mitwirkend oder konkurrierend sind und welchen Anteil diese am Schaden haben. Schäden beim Abnehmer sind meist leichter einzuschätzen, da man sich an Kaufaufträgen (zum Beispiel Stücklisten) orientieren kann. Gleichwohl sind auch hier andere Einflussfaktoren, wie die Preis- und Marktentwicklung, zu berücksichtigen. Im industriellen Bereich kommen häufig BU-Deckungen zur Anwendung (Standard Gross Profit Wording) mit „Suppliers and Customers Extension“ und „Prevention of Access Extension“. −−Zugangsbeschränkungen (Denial of Access) Diese üblicherweise unter der Sachschadendeckung vereinbarte Klausel betrifft den Zugang zum Ver sicherungsort. Die Anwendung dieser Klausel ist oft nicht einfach; es gilt, folgende Fragen zu klären: ··Ist die Denial-of-Access-Klausel mit der Sach‑ schadendeckung-Section der Police verknüpft? ··Erfordert zum Beispiel das „Schließen“ einer Straße eine zuständige Behörde und wenn ja, für wie lange gilt diese Anordnung? ··Ist die Klausel im geografischen Anwendungs bereich beschränkt? ··Erfordert die Police einen Sachschaden (eine überschwemmte Straße muss nicht gleichzeitig beschädigt sein)? −−Regress Beim Thema Regress gegen Dritte bestehen noch offene Fragen. Bereits während der Überschwemmungen wurde das staatliche Flutmanagement kontrovers und öffentlich diskutiert. Dabei kam die Frage auf, ob das Entlasten von Wasserreservoirs/ Dämmen zur Verschlimmerung der Überschwemmungsschäden beigetragen habe. Nach dem Thai Civil and Commercial Code ist Regress zwar zugelassen, jedoch sind die Erfolgsaussichten einer Klage schwierig einzuschätzen. −−Ereignis Die Allokation auf ein oder mehrere Versicherungsereignisse erfolgt je nachdem, wie die VertragsWordings formuliert sind. Beispielsweise können Erstversicherer eine Aufteilung in Zeiträume von 72 Stunden, 7 Tagen etc. vornehmen, je nachdem, wie die Stundenklausel gestaltet ist. Daher ist es zweckmäßig, dass Erstversicherer dem Rückversicherer den Namen der Versicherten sowie den Ort angeben, um nachvollziehen zu können, welche Schäden welchen Zeiträumen zugeordnet wurden. Weitere Regulierungsthemen von Erst- und Rückversicherung Das beispiellose Ausmaß an Überschwemmungsschäden stellte die Erstversicherer vor große Herausforderungen. Es mussten sukzessive hohe Kapazitäten an Schadenregulierungs-Expertise in Thailand aufgebaut werden. Da das Wasser nur langsam zurückging und die Schäden schleppend aufgenommen werden konnten, zogen sich Reservestellung und -schätzung in die Länge. Das Ereignis war insofern herausragend, als viele Zedenten das Ausmaß und die Konzentration der industriellen Schäden unterschätzt hatten. Auch die Einschätzung von Rückwirkungsschäden war anfänglich nahezu unmöglich, da die Erstversicherer nur teilweise einen Überblick über Lieferketten und Deckungen hatten. Mangels genauer Informationen musste Munich Re eine erste Schadeneinschätzung anhand der eigenen Exponierungen im Rückversicherungsverhältnis vor nehmen und eine entsprechende Belastung von Verträgen annehmen. Als Basis hierfür dienten aggregierte versicherte Werte und Schadensätze. Nach ersten Besichtigungen von Schadenregulierern zeigte sich, dass Industriegebäude meist geringe bis mittlere Schäden davongetragen hatten, jedoch bei Ausstattung, Maschinen und Lagerbeständen hohe Schadensätze anzunehmen waren. Wichtig für den Rückversicherer ist – das hat die Thai land-Flut demonstriert –, dass der Erstversicherer zeit nah über die Erstreservestellung und über wesentliche Änderungen der Reserven informiert. Um die Schadenmeldung zu erleichtern, kann unseren Zedenten ein standardisiertes NatCat-Reporting-Bordereaux-Format zur Verfügung gestellt werden. Das trägt zur fundierten Reservestellung bei und erlaubt es, Zahlungseinforderungen effektiver abzuwickeln. Auch wenn eine Inspection Clause nicht ausdrücklich vereinbart wurde, ist bei verzögerten oder rudimen tären Schadeninformationen der Anspruch auf ein Schadenaudit bzw. eine Inspektion im allgemeinen Rückversicherungsrecht implizit enthalten. Rückversicherer können ihre Inspektions- und Schaden mitwirkungsrechte ausüben. Das stellt sicher, dass der Rückversicherer nach dem Vertrag geschuldete Zahlungen an den Zedenten rasch realisieren kann. Munich Re war mit Knden und Los Adjustern in Überschwemmungsgebieten vor Ort, um die Schaden regulierung und den Wiederaufbau zu unterstützen. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 27 Flut Um die Reparaturmöglichkeiten dieser wochenlang unter Wasser stehenden Photovoltaik-Anlage nördlich von Bangkok einschätzen zu können, klärte Munich Re vor Ort mit dem Erstversicherer Korrosionseffekte und Einbußen beim Wirkungsgrad der Anlage. Mit Aufräumarbeiten konnte erst nach dem Abfließen des Wassers begonnen werden. Sandsackbarrieren wurden entfernt und viele nässeempfindliche Lagerbestände und Produkte mussten entsorgt werden. 28 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Flut Auch Anfang 2012 war die Höhe der Flutschäden noch nicht abschließend einschätzbar. Es steht zu befürchten, dass die noch nicht gemeldeten (incurred but not reported – IBNR) Schäden den Gesamtschaden des Rückversicherers nach oben treiben, zumal einzelne Versicherer nach Besichtigungen vor Ort ihre ursprünglichen Schätzungen teilweise um mehr als das Dreifache nach oben korrigiert haben. Schadenprävention und Risikomanagement Die bei Überschwemmungen üblichen Vorwarnzeiten erlauben es gewöhnlich, Maßnahmen zur Schadenverhütung und -minderung zu ergreifen. Bei Katastrophen dieses Ausmaßes stoßen solche Bemühungen jedoch an Grenzen. In Thailand kam hinzu, dass viele Dämme, Schleusen und temporäre Schutzeinrichtungen wie Sandsackbarrieren ihre Wirkung angesichts der enormen Wassermassen nicht entfalten konnten. Verlässliche Informationen über die zu erwartende Höhe der Fluten, die geplanten Gegenmaßnahmen und die Gefahrenlage waren während der Katastrophe nicht immer zu erhalten. Viele Industriebetriebe konnten ihre Maschinen und Einrichtungen daher nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen. Firmen, die über ein gutes Katastrophenmanagement und über effiziente Evakuierungs- und Schadenminderungspläne verfügten, waren hier im Vorteil. Fazit Die Überschwemmungen 2011 waren für Thailand die teuerste Naturkatastrophe in der Geschichte und global gesehen das bislang kostenträchtigste Überschwemmungsereignis. Beispiellos war nicht nur das Ausmaß der Schäden durch die lang anhaltenden und großflächigen Überschwemmungen, sondern auch die Zahl der betroffenen Industrieparks mit weltweiten Auswirkungen auf die Lieferketten. Ein Ereignis dieses Ausmaßes zeigt aber auch, dass Rückversicherung und Erstversicherung von Anfang an eng zusammenarbeiten müssen, um eine weit gehende Transparenz über die Schäden, die Schaden regulierung und damit verbundene Deckungsfragen herzustellen. Die Katastrophe hat der Wirtschaft und den Versicherern die Verletzbarkeit von Lieferketten, also das Rückwirkungsschaden-Risiko, drastisch vor Augen geführt. Dabei zeigte sich, dass Lieferketten noch nicht bzw. nicht mehr vollständig transparent waren. Die nationalen Versicherungsmärkte stehen vor der Herausforderung, Gefährdungen aus Naturgefahren und anderen Exponierungen wie CBI zu identifizieren und Produkte und Preise dem Risiko angemessen festzulegen. Munich Re fordert Transparenz bei schwer einschätzbaren Risiken und unterstützt bessere Schutzbestimmungen in den Bereichen Überschwemmungs-Schadenverhütung und Baustandards. Unsere ExperteN: Dr. Alfons Maier ist Senior Claims Manager im Bereich Schaden Germany, Asia Pacific and Africa in München und Experte für das Schadenmanagement nach Naturkatastrophen. [email protected] >> Haben Sie Interesse an unserem Leitfaden für Gespräche mit Kunden zum Thema „Supply Chain Risk Management“? Bitte sprechen Sie mit Ihrem Client Manager. Den Leitfaden erhalten Sie auch über unser Kundenportal connect.munichre.com Michelle Chan ist in England und in Singapur als Rechtsanwältin zuge lassen und ist Mitglied der Singapore Academy of Law. Seit 2006 leitet sie bei Munich Re in Singapur die Schadenabteilung. [email protected] Munich Re Schadenspiegel 2/2012 29 aviation Knapp an der Katastrophe vorbei Die Notlandung des Airbus A380 nach der Explosion eines seiner Triebwerke verlief glimpflich. Bei dem Schaden handelt es sich dennoch um den teuersten reinen Kaskoschaden der Passagierluftfahrt. Das Australian Transport Safety Bureau, eine für die Untersuchung von Unfällen im zivilen Transportwesen zuständige Behörde, überwacht die Reparatur der defekten Turbine nach ihrem Ausbau aus dem A380. Aus Gründen des Personenschutzes wurden die abgebildeten Personen unkenntlich gemacht. 30 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 aviation von Thomas Endriß und Astrid Lehmann Am 4. November 2010 kam es auf dem Flug des Airbus A380-842 „Nancy-Bird Walton“ der australischen Fluglinie Qantas zu einem schweren Triebwerksschaden. Im inneren Triebwerk der linken Tragfläche brach die Turbinenscheibe der Mitteldruckturbine in Stücke. Bei der nachfolgenden Explosion wurden diese Teile mit hoher Geschwindigkeit aus dem Triebwerk geschleudert. Sie durchschlugen den linken Flügel des Airbus an mehreren Stellen und beschädigten Treibstofftanks, Hydraulikleitungen, elektrische Versorgungs- und Steuerleitungen. Die Piloten kehrten für eine Notlandung nach Singapur zurück. Von den 440 Passagieren, fünf Piloten und 24 Flugbegleitern kam niemand zu Schaden. Vor der Notlandung am Flughafen Changi ließen die Piloten Treibstoff ab. Aufgrund der beschädigten Tragflächen, in denen sich die Kerosintanks befinden, und der niedrigen Flughöhe gelang dies aber nicht im eigentlich erforderlichen Maß. Nach knapp zwei Stunden Flugzeit landete der Airbus A380 daher 50 Tonnen schwerer als normalerweise empfohlen. Zwischen der linken und rechten Tragfläche bestand ein Gewichtsunterschied von zehn Tonnen. Qantas war zu dieser Zeit die einzige Fluggesellschaft, die den Airbus A380-842 mit den etwas stärkeren Rolls-Royce-Trent-972-Triebwerken einsetzt. Die einzigen anderen Betreiber von A380 mit RollsRoyce-Triebwerken – Lufthansa und Singapore Airlines – führten nach dem Vorfall ebenfalls besondere Triebwerkskontrollen an ihren A380-841 (mit den etwas schwächeren Trent-970-Triebwerken) durch. Auch hier wurden an insgesamt fünf Triebwerken Spuren von ausgetretenem Öl festgestellt, worauf vier dieser Triebwerke ausgetauscht wurden. Nicht nur die Reparatur selbst, sondern auch die Probleme in der Umsetzung führen zu einem enormen Kostenanstieg dieses Kaskoschadens. So mussten sämtliche Reparaturen in Singapur durchgeführt werden, was eine hohe Hangarmiete, Einfliegen der Experten und Probleme bei der Belegung des Hangars bedeutet, da auch die Singapore Airlines den Hangar für ihre Wartungsarbeiten am A380 benötigte. Auslaufendes Öl gilt als Brandursache Nach Angaben des ATSB-Reports vom 3. Dezember 2011 gab es einen Ermüdungsbruch einer Ölleitung zum Turbinenlager zwischen der Hoch- und der Mitteldruckturbine des Triebwerks als Folge einer nicht zentrisch ausgeführten Bohrung. Das Rohr wurde offenbar durch von beiden Enden ausgehenden Bohrungen aus einem soliden Werkstück herausgearbeitet. Die Flugsicherheitsbehörde der europäischen Union für zivile Luftfahrt (EASA) nennt nach vorläufigen Erkenntnissen einen Ölaustritt an einem defekten Lager als Fehlerquelle. Auslaufendes Öl entzündete sich und führte zu Überhitzung. Als Folge davon brach in der Mitteldruckturbine eine Scheibe, und die Trümmer der Scheibe durchschlugen die Turbinenverkleidung und den Flügel. Dieses als Ölbrand bekannte Phänomen war von der EASA bereits im August 2010 in einer Direktive als mögliche Folge einer festgestellten stärkeren Abnutzung bestimmter Teile in Triebwerken der Trent-900-Reihe beschrieben worden. Auch vor dem möglichen Austreten von Teilen aus dem Triebwerk wurde in dieser Direktive bereits gewarnt. Ferner sah die Direktive verschärfte Kontrollen aller Triebwerke dieser Reihe vor. Auslaufendes Öl gilt bislang als die Ursache für den Brand und die Explosion der Turbine. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 31 aviation Die 440 Passagiere verlassen den Airbus A380 am 4. November 2010 nach der Notlandung in Singapur. Der Ermüdungsbruch der Ölleitung ist wahrscheinlich auf eine falsche, auf der Seite statt in der Mitte gelegene Bohrung am Stutzen zurückzuführen. Die Leitungswand war damit dünner als geplant. 32 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 aviation Neue Schadendimension Glücklicherweise verlief der Flug und die Notfall landung in Singapur nach der dramatischen Explosion eines Triebwerks für Passagiere und Flugbesatzung harmlos. Für die Luftfahrtversicherer stellte sich allerdings nach wenigen Tagen heraus, dass dieser Schaden am A380 eine neue finanzielle Größenordnung erreichte. Neben den Schäden am linken Flügel des Airbus, beschädigten Treibstofftanks, Hydraulik leitungen sowie elektrischen Versorgungs- und Steuerleitungen waren auch die hydraulischen Systeme nur noch eingeschränkt intakt, die Auftriebshilfen waren außer Betrieb. Doch nicht nur Einzelteile waren beschädigt. Das Übergewicht des Flugzeugs bei der Notlandung und die ungleichmäßige Verteilung des Gewichts zogen die gesamte Konstruktion des Flugzeugs in Mitleidenschaft. Grund dafür ist die neue, gewichtssparende Verbundtechnik, die beim Bau des A380 eingesetzt wird. Nach Aussage von Qantas-CEO Alan Joyce gegenüber dem Branchenmagazin „Air transport World“ kosteten die Arbeiten an dem Großraumjet 157 Millionen Australische Dollar (113 Millionen Euro). Im Juni 2011 stimmten Qantas und Rolls-Royce einem Vergleich zu. Qantas nahm das Angebot des Triebwerksherstellers Rolls-Royce von 95 Millionen Austra lischen Dollar (70 Millionen Euro) laut Qantas-CEO Joyce an. Rolls-Royce rechnet für 2010 mit Schäden in Höhe von 56 Millionen Britischen Pfund. Damit ist das der teuerste Hull-Repair-Schaden in der Geschichte der Passagierluftfahrt. Fazit Der Airbus A380 steht aufgrund seiner Größe und seiner einmaligen hohen Passagierzahl weltweit im Rampenlicht der Berichterstattung. Damit besteht für EADS wie auch die Fluglinien in einem Schadenfall ein erhöhtes Reputationsrisiko. Auch wurde mit dem Airbus A380 eine neue Dimension des Passagierflugverkehrs erreicht. Bei diesem Schaden stellte sich heraus, dass mit der neuen Größenordnung des Flugzeugs eine neue Größenordnung der Reparaturlogistik eingeführt werden muss, die auch die Luftfahrtversicherer kalkulieren müssen. Das Erfordernis eines ausreichend großen Hangars, die Sicherstellung mit der Versorgung von Ersatzteilen, die sehr große Ausmaße haben – wie das Triebwerk mit einem Durchmesser von drei Metern –, müssen künftig berücksichtigt werden und die entsprechenden Notfallpläne bzw. die entsprechenden Notfallstützpunkte für den A380-Typ eingerichtet werden. Trotz intensiver Zusammenarbeit von Airbus-Hersteller EADS und Qantas zogen sich die Reparaturarbeiten an dem schwer beschädigten A380 in die Länge. Erst am 21. April 2012 konnte das Flugzeug wieder nach Sydney überstellt werden. Am 28. April nahm der A380 mit einem Flug nach Hongkong wieder den Dienst auf. UnserE ExpertEN: Thomas Endriß ist Underwriter Luftfahrt Fakultativ, zuständig für Fluglinien aus Nordamerika, Kanada und Afrika sowie Hersteller von Kleinflugzeugen. Er betreut die Versicherung von Leasinggebern weltweit. [email protected] Astrid Lehmann ist Claims Handler in der Luftfahrtabteilung. Sie ist Ansprechpartnerin für fakultative Risiken im Bereich Airlines und Frachtfluglinien weltweit. [email protected] Munich Re Schadenspiegel 2/2012 33 Haftpflicht Die Macht der Masse 2.0 Facebook, Twitter und Co.: Soziale Netzwerke im Internet dienen inzwischen auch als Medium für mehr oder weniger spontane Massenverabredungen. Nicht selten entstehen daraus komplexe Großschadenereignisse, die Versicherer vor neue Herausforderungen stellen. Ein Blick auf die zentralen haftungsrechtlichen Fragen und Aufgaben im Schadenmanagement. von Stephan Dreyer Als sich am 7. und 8. Mai dieses Jahres die Schaden manager der führenden deutschen Versicherer auf dem Munich Re Schadenforum bei München trafen, beherrschte ein Thema die Nachrichten: Der baye rische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer hatte via Facebook öffentlich zu einer Party am Abend des 8. Mai in die Münchner Diskothek „P1“ eingeladen. Die Resonanz im Netz war gewaltig. Weit über 2.500 Menschen hatten sich binnen weniger Tage angemeldet und standen auf der virtuellen Gästeliste – darunter befanden sich Medienberichten zufolge auch Anhänger rechtsradikaler Parteien. Entsprechend groß waren die Befürchtungen im Vor feld der Veranstaltung und das Aufgebot an Sicher heitskräften. Medien, Politik und Öffentlichkeit waren alarmiert: Würde es zu einem Massenansturm und möglicherweise tumultartigen Ausschreitung kom men? Und wenn ja, wer trüge dann die Verantwortung und wäre für eventuelle Personen- und Sachschäden haftbar zu machen? Antworten waren am Ende zum Glück nicht gefordert. Die Facebook-Party des CSUVorsitzenden verlief ruhig, es kamen gerade mal 500 Gäste – beobachtet von rund 150 Journalisten. Der „Fall Thessa“ aus Hamburg-Bramfeld Welche haftungsrechtlichen Schwierigkeiten entste hen, wenn sogenannte Facebook-Partys, Flashmobs und andere Formen elektronisch initiierter Massen versammlungen eine unkontrollierbare Dynamik ent wickeln, zeigt auch der „Fall Thessa“. Im Frühjahr 2011 hatte die Jugendliche auf Facebook zu ihrem 16. Geburtstag eingeladen – und zwar versehentlich im öffentlichen Bereich des sozialen Netzwerks. Die Einladung ging damit nicht – wie ursprünglich vor gesehen – nur an die engsten Freunde von Thessa, sondern war sichtbar für die gesamte deutsche Face book-Gemeinde mit damals bereits über 20 Millionen Mitgliedern. Schon wenige Tage später hatten online rund 15.000 Menschen ihr Kommen angekündigt. Thessa nahm die Einladung zurück, versuchte ihr Facebook-Profil zu löschen und informierte ihre Eltern. Die Familie schaltete die Polizei ein und engagierte vor sorglich einen privaten Sicherheitsdienst. 34 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Die über das soziale Netzwerk ausgelöste Massendynamik war durch diese Maßnahmen jedoch nicht mehr zu stoppen. Zu Thessas Geburtstag strömten trotz massiver Polizeipräsenz – sogar die Hamburger Reiterstaffel war im Einsatz – rund 1.500 Jugendliche in den Hamburger Stadtteil Bramfeld. Die Folgen waren Krawalle, elf Festnahmen, acht Verletzte und erhebliche Schäden an öffentlichem sowie privatem Eigentum. Haftungsrechtliche Herausforderungen Aus Versicherungssicht stellt sich die Frage, wer für die Schäden haftbar zu machen ist und für die Kosten beispielsweise des Polizeieinsatzes aufkommen muss. Allgemein und juristisch abschließend geklärt ist die Frage bislang nicht. So sind bei Facebook-Partys wie im geschilderten Fall die traditionellen Anspruchs gegner nur schwierig zu identifizieren. Konkrete Täter bleiben in der anonymen Masse meist verborgen, die Teilnehmer sind nicht bekannt und kennen sich in der Regel auch untereinander nicht, vor allem aber gibt es keinen Veranstalter im eigentlichen Sinne. Doch wel che Personen kommen dann als mögliche Anspruchs gegner infrage: der Initiator und Aufrufende zu einer Facebook-Party, die Weiterverbreiter des Aufrufs oder die Betreiber der dafür genutzten Online-Plattform? Beispiel Thessa: Die damals 15-Jährige kann ordnungs rechtlich zwar als Initiatorin der dann folgenden Mas senversammlung gelten, denn ohne ihre öffentlich gepostete Einladung wäre es nicht dazu gekommen. Allerdings hat sie die Einladung frühzeitig zurück genommen und auch im Wortlaut selbst nicht zu Aus schreitungen aufgerufen. Für eine deliktsrechtliche Verantwortlichkeit ist zudem die sogenannte Adäquanz der Kausalität zu prüfen. Es muss also die Frage gestellt werden, ob Thessa hätte wissen und erwarten müssen, dass ihre Einladung derartige Folgen haben kann. Im geschilderten Fall ist dies wohl zu verneinen. Bei neueren Fällen dürfte die Bewertung anders aus fallen, denn inzwischen erscheint auf Plattformen wie Facebook ein Warnhinweis, wenn der Nutzer Nach richten im öffentlichen Bereich des Netzwerks posten will. Die Plattformbetreiber, die für die Inhalte ihrer Haftpflicht Formen elektronisch initiierter Massenversammlungen Facebook-Partys Flashmobs Occupy Camps −−Entstehen aus dem Aufruf oder der Einladung zu Freizeitveranstal tungen. Teils handelt es sich um bewusst öffentliche Aufrufe oder um von Dritten unvorhergesehen weitergeleitete Einladungen im Netz. −−Die Partys finden im öffentlichen, halböffentlichen oder privaten Raum statt. −−In der Gruppe gibt es keine Hierar chie, die Teilnehmer kennen sich meist nicht. −−Versammlungszweck ist offen, aber häufig mit ausgelassenem Feiern und Alkoholkonsum ver bunden. −−Flashmobs sind Verabredungen zu kurzen, zeitlich genau getakteten Zusammenkünften, die für Außen stehende wie spontan organisiert wirken. −−Flashmobs finden im öffentlichen oder halböffentlichen Raum statt. −−In der Gruppe gibt es keine Hierar chie, die Teilnehmer kennen sich meist nicht. −−Versammlungszweck kann der Unterhaltung oder Belustigung dienen, einfach nur skurril sein oder auch kommerzielle Interessen verfolgen. −−Einem Occupy Camp geht der Aufruf oder die Verabredung zur Besetzung bestimmter Orte vor aus, um zum Beispiel für soziale Gerechtigkeit oder gegen den Ein fluss der Wirtschaft auf Gesetz gebung und Politik zu demonstrieren. −−Die Camps finden im öffentlichen oder halböffentlichen Raum statt, oftmals in Form von Zeltlagern, in denen die Teilnehmer dann weitere Aktionen planen. −−In der Gruppe gibt es flache Hierar chien, die Teilnehmer kennen sich zum Teil. −−Die Versammlungen haben eine innere Organisation und Struktur. Häufig gibt es bereits Repräsentan ten, die für das Camp als Sprecher auftreten. Smartmobs −−Smartmobs sind Flashmobs, die sich vor allem hinsichtlich des Ver sammlungszwecks unterscheiden: Hier geht es um politische, soziale oder künstlerische Motive. In Hamburg feierten am 30. September 2011 mehrere tausend Gäste einer über Facebook organisierten Party das neue Alkoholverbot in den öffentlichen Ver kehrsmitteln der Stadt. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 35 Haftpflicht Nutzer nicht ohne Hinzutreten weiterer Umstände haftbar gemacht werden können, sichern sich mit entsprechenden Warnungen rechtlich ab. Zudem dürfte die mediale Berichterstattung über ausufernde Facebook-Partys die Nutzer hier hinsichtlich mög licher Folgen öffentlicher Einladungen sensibilisiert haben. Die Motivation ist entscheidend Auch wenn das Recht prinzipiell Instrumente bietet, gegen die Einladenden vorzugehen, führt im Umkehr schluss nicht jede öffentlich zugängliche Einladung ohne Umschweife zu der Haftung für durch Dritte vor Ort verursachte Schäden. Hier müssen weitere Krite rien hinzutreten, um aus dem Mausklick eine Verant wortung für spätere Schäden zu lesen: So sind die Form des Aufrufs und das Motiv der Versammlung ein wichtiger Indikator. Während Aufrufe zu politisch oder sozial motivierten Aktionen von der verfassungs rechtlich geschützten Versammlungsfreiheit gedeckt sind, sind Einladungen zu Saufgelagen oder Partys dies gerade nicht. Da sogenannte Smartmobs und Occupy Camps regelmäßig gesellschaftlich relevante Interessen verfolgen, sind dies Versammlungen im Sinne des Versammlungsrechts. Bei der Frage der Zulässigkeit und der Verantwortlichkeit des Initiators müssen Gerichte daher das Grundrecht auf Versamm lungsfreiheit (Art. 8 GG) zu dessen Schutz berück sichtigen. Hier sind die Aufrufenden ordnungsrecht lich und deliktisch in der Regel nicht ohne Weiteres haftbar. Auch der ursprünglich intendierte Adressatenkreis der Einladung bzw. die Breite des Aufrufs ist haf tungsrelevant: Eine Einladung an eine eng begrenzte Freundesgruppe, die durch das Zutun Dritter öffent lich wird, muss haftungsrechtlich anders betrachtet werden als eine bewusst an die breite Öffentlichkeit gepostete Einladung. Daneben ist die Form und der Wortlaut der Einladung zu berücksichtigen. Es macht einen Unterschied, ob jemand bereits bei der Einladung zu Alkoholkonsum, Randale und Beschädigungen aufruft oder eine Bitte um Zurückhaltung beim Trinken und Rücksicht beim Feiern mitschickt. Letztlich wird es auch darauf ankommen, wie sich der Initiator angesichts zusagender Menschenmassen verhält. Kommt es aufgrund der Dynamik des Netzes absehbar zu einer Massenbewegung, wird sich die Verantwortlichkeit des Aufrufenden auch anhand sei ner Schutzmaßnahmen im Vorfeld bestimmen. Hat der Initiator die Einladung zurückgenommen, die Ver anstaltung abgesagt, die Behörden informiert, einen Ordnungsdienst beauftragt? Fazit Facebook-Partys, Flash- oder Smartmobs und Occupy Camps sind auch schadenjuristisch ein völlig neues Phänomen. Kaum ein Versicherer verfügt bislang über entsprechende Erfahrungen im Schadenmanagement. Um im Ernstfall nicht unvorbereitet und mit potenziell erheblichen Negativfolgen für die eigene Geschäfts entwicklung dazustehen, sollten Versicherer frühzeitig das nötige Wissen aufbauen und geeignete Notfall strategien entwickeln. Die hier nur grob und unvollständig skizzierten Aspekte der juristischen Bewertung lassen die Komplexität in der Praxis bereits erahnen. >> Mehr zum Thema finden Sie in unserer neu erschienen Sonderpublikation über Cyberrisiken, die über unser Kundenportal connect.munichre.com auch online abrufbar ist. Der Autor: Stephan Dreyer ist wissenschaftlicher Referent am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg. Im Zentrum seiner Forschung stehen Rechts- und Regulierungsfragen der neuen Medien und neue Regulie rungsansätze und -instrumente im Bereich aktueller Onlinedienste. [email protected] 36 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 Ist Ihr Fachwissen auf dem neuesten Stand ? * *Die Basis-Formel jeder Versicherung: Prämie gleich Eintrittswahrscheinlichkeit mal versicherte Schadenssumme. In den Seminaren von Munich Re können Sie Ihre Fachkenntnisse vertiefen und sich über die neuesten Entwicklungen der Branche informieren. Profitieren Sie von dem exzellenten Fachwissen unserer Experten und dem Austausch mit Fachkollegen aus anderen Unternehmen der Branche. Im Seminarprogramm von Munich Re finden Sie garantiert das passende Angebot. Für weitere Informationen zu unserem Seminarangebot kontaktieren Sie bitte Ihren Clientmanager oder besuchen Sie unser Kundenportal unter connect.munichre.com not if, but how Munich Re Schadenspiegel 2/2012 37 property Bankraub im Supermarkt Eine 13-köpfige Einbrecherbande hatte es auf Geldautomaten im Eingangsbereich von Supermärkten abgesehen. Beim Aufbrechen eines der Geldautomaten entstand ein Brand, der ein ganzes Gebäude in Schutt und Asche legte. von Harald Ochsenkühn und Klaus Wenselowski Mit einem gestohlenen Fahrzeug fuhr die Bande spätabends zum Tatort. Die Täter gelangte vermutlich über eine Feuerschutztür ins Gebäude. Die am Morgen offen stehend aufgefundene Tür ließ keine Rückschlüsse zu, ob die Einbrecher die Sicherheitsvorkehrungen entfernt hatten oder ob die Angestellten des Supermarkts die Tür beim Verlassen des Gebäudes unverschlossen gelassen hatten. Von einem Überwachungsraum des Supermarkts aus öffneten die Täter mit einem Winkelschleifer und einem Autogenschweißgerät die Rückseite des Geldautomaten und stahlen das Geld. Als bei der Feuerwehr eine Brandmeldung für den Überwachungsraum des Supermarkts einging, nahm der bis dahin aus Sicht der Versicherungen nicht ungewöhnliche Verlauf eines Einbruchdiebstahls eine fatale Wendung: Die durch einen Rauchmelder alarmierte Feuerwehr konnte gerade noch verhindern, dass die sich rasch ausbreitenden Flammen auf ein benachbartes Umspannwerk übergriffen. Der Supermarkt sowie ein im selben Gebäude gelegenes Reisebüro brannten vollständig aus. Die Einbrecherbande entkam mit einem gestohlenen Fluchtfahrzeug, das die Polizei später ausgebrannt auf einem Feld fand. Ob der Brand eine unbeabsichtigte Folge der Schweißarbeiten war oder ob die Täter vorsätzlich Feuer legten, um ihre Spuren zu verwischen, blieb ungeklärt. Ziel der Täter sind meist kleinere und schlecht gesicherte Geldautomaten in Geschäften und Einkaufszentren. 38 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 property Warum wurden die Täter im Gebäude nicht entdeckt? Da die installierten Infrarot-Melder (PIR) keinen Alarm auslösten, liegt die Vermutung nahe, dass die Bewegungsmelder vor dem Diebstahl manipuliert worden waren. Bei weiteren Einbrüchen hatte die Bande nachweislich diesen Weg gewählt. Möglich wäre auch, dass Angestellte des Supermarkts als Komplizen die Alarmanlagen zuvor abgeschaltet hatten. Vor Gericht gestanden 13 der von einer Sonderkommission der Polizei gestellten Mitglieder der Einbrecherbande 17 der vorgeworfenen 40 Einbrüche. Die Täter wurden zu Gefängnisstrafen zwischen 3,5 und 8,5 Jahren verurteilt. Für den Einbruch im Supermarkt mit dem anschließenden Feuerschaden gab es aus Beweismangel keine Verurteilung und es gab keine Möglichkeit zum Regress. Betriebsunterbrechungsschaden geringer als erwartet Schneller als ursprünglich geplant konnte der abgebrannte Supermarkt abgerissen und neu aufgebaut werden. Der Betrieb ging im Rahmen der Schadenminderung währenddessen in einem auf dem angrenzenden Parkplatz aufgestellten provisorischen Zelt weiter. Lediglich die Gebäudeheizung sowie die Kühlung der Lebensmittel stellten eine größere finanzielle und technische Herausforderung dar. Bereits kurz nach der Neueröffnung erreichte der Supermarkt wieder die ursprünglichen Umsatzzahlen. Fazit Professionelle Täter sind in der Lage, einen Geldautomaten innerhalb weniger Minuten zu öffnen. Die gewaltsame Öffnung kann zu Folgeschäden führen, die den Originalschaden deutlich übersteigen. Erfahrungswerte zeigen, dass neben den Sachbeschädigungen an Geldautomaten in einer Größenordnung von bis zu 25.000 Euro regelmäßig nur Bargeldbestände bis maximal 50.000 Euro entwendet werden. Sollten Banknoten durch Moneyinking, also durch die Kennzeichnung des Gelds, bei Diebstahl unbrauchbar geworden sein, werden diese durch die Bundesbank ersetzt und fallen nicht dem Versicherer zur Last. Wie beschrieben kann ein Folgebrand allerdings auch zum Verlust ganzer Gebäude führen, wodurch sich eine vielfach höhere Belastung für die Versicherungsindustrie ergeben kann. Ziel der Täter sind meist kleinere und wenig gesicherte Automaten zum Beispiel in Lebensmittelgeschäften oder Baumärkten. In Deutschland gibt es keine gesetzlichen Sicherheitsstandards für das Aufstellen von Geldausgabeautomaten in Supermärkten. Sicherungskonzepte sind deshalb mit jedem Versicherungsnehmer im Einzelnen zu vereinbaren. Grundlage hierfür sollte die Sicherungsrichtlinie für Banken, Sparkassen und sonstige Zahlstellen, VdS 5052, sein. Unsere ExpertEn: Harald Ochsenkühn ist als Legal Counsel und Claims Manager zuständig für Property-Schadenfälle im Bereich Global Clients/North America. [email protected] Klaus Wenselowski ist als Leiter des Property-Schadenreferats im Bereich Schaden für die globalen Kunden tätig und gründete und leitet das Topic Network „Eigentumsdelikte“. [email protected] Munich Re Schadenspiegel 2/2012 39 property Brandgefährliche Romantik Kamine ohne Rauchabzug, die mit Ethanol betrieben werden, werden immer beliebter. Was nach Gemütlichkeit klingt, ist in Wahrheit höchst gefährlich. Kurz vor seiner Explosion war der Kamin in Kempen am Niederrhein in Deutschland mit Ethanol aufgefüllt worden. Der Sach schaden betrug circa 30.000 Euro. 40 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 property von Eckhard Schäper Die Vorteile der Ethanolkamine liegen auf der Hand: Sie sind einfach zu bedienen, erfordern wenig Platz und sind schon für teilweise weniger als 50 Euro erhältlich. Da sie keine Zulassung benötigen, kann man sie überall aufstellen und sogar von Zimmer zu Zimmer tragen. Auch bringen die geruch- und rauch losen Flammen eine gewisse Wärmeleistung. Der Umgang mit Ethanol ist problematisch Allerdings häufen sich in der letzten Zeit Berichte über schwere Unfälle mit Verletzten oder sogar Toten. Denn die Nutzer solcher Deko-Kamine setzen sich zwangsläufig einer Reihe von Gefahren aus. Bereits bei Raumtemperatur bildet sich über einem geöffneten Ethanolbehälter ein leicht entzündliches Gasgemisch. Wird Ethanol in einen noch betriebs warmen Ofen nachgefüllt und wieder angezündet, kommt es leicht zu Verpuffungen. Außerdem können weniger standfeste Modelle umkippen und auslau fendes Ethanol die Umgebung in Brand setzen. Ein weiterer Gefahrenpunkt besteht oft im Aufstellort des Kamins. Ist der Kamin direkt neben einem Möbel stück oder in der Nähe von brennbaren Materialen wie Holz oder Papier montiert, können diese bei falschem Füllen oder Anzünden sofort mit in Brand geraten. Angeraten ist ein Abstand von mindestens einem halben Meter. Da beim Verbrennen des Ethanols Koh lenstoffdioxid und Wasser entstehen, muss während des Betriebs der Kamine immer ausreichend gelüftet werden. Zu den maßgeblichen Kriterien, die ein sicheres Gerät erfüllen muss, zählen eine maximale Verbrennmenge von 0,5 Liter Bio-Ethanol pro Stunde, eine geprüfte Standsicherheit, eine Auffangwanne für überlaufen des Bio-Ethanol sowie vorgeschriebene Höchst temperaturen an den Oberflächen. Verlangt werden außerdem eine integrierte Schließtechnik zum soforti gen Ersticken der Flammen sowie eine sichere Zünd vorrichtung. Außerdem müssen die Geräte mit einem Typen- und Warnschild auf der Verpackung gekenn zeichnet sein. Gesetzlich geregelte Prüfzeichen wie die europäische CE-Kennzeichnung oder das GS-Zei chen (Geprüfte Sicherheit) bleiben jedoch außen vor, da entsprechende Bestimmungen für Ethanolkamine noch nicht verabschiedet wurden. Für die Verwendung von Ethanolkaminen in gewerblichen Bereichen ist eine Norm DIN 4734 Teil 2 in Arbeit. Fazit Auch wenn TÜV-zertifizierte Kamine eine Verbesse rung darstellen, bergen derartige Feuerstellen weiter hin Risiken. Es bleibt zu hoffen, dass angesichts der steigenden Zahl von Unfällen die Sensibilität beim Umgang mit Ethanolkaminen zunimmt. Die genaue Lektüre der Betriebsanleitung sowie der Gefahren hinweise auf der Verpackung sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die Sicherheitsanforderungen steigen Seit Beginn der Heizperiode 2011/2012 häufen sich bei einigen Versicherern Meldungen von Wohnungs bränden, die auf Ethanolkamine zurückzuführen waren. Daher warnen immer mehr Fachleute vor der Unbere chenbarkeit dieser Feuerstellen. Verbraucherschützer wie die Stiftung Warentest sprechen sogar von einer „brandgefährlichen Deko“. Mit dem vermehrten Auf tauchen von Billigimporten auf dem deutschen Markt, deren Herkunft fragwürdig ist, steigt das Risiko wei ter. Einige dieser Produkte lassen elementare Sicher heitsstandards vermissen. Um zu verhindern, dass unsichere Kamine weiter den Markt überschwemmen und Unfälle oder Brände auslösen, haben Hersteller gemeinsam mit dem tech nischen Dienstleistungskonzern TÜV SÜD eine ent sprechende Norm entwickelt. Sie wurde im Januar 2011 als DIN 4734-1 verabschiedet und legt sicherheitstech nische Anforderungen an Ethanolfeuerstätten in Privat haushalten fest. Unser Experte: Eckhard Schäper ist Brandschutz ingenieur und Experte für Einbruch/ Diebstahl im Bereich Global Clients/ North America bei Munich Re. [email protected] Munich Re Schadenspiegel 2/2012 41 Wissen Sie immer genau, wer für einen Schaden geradestehen muss? Unsere Reihe „Risk, Liability & Insurance“ beschäftigt sich mit wichtigen Fragen des Haftungsrechts und ihrer Bedeutung für die Versicherungswirtschaft. Dabei werden auch die gesellschaftlichen Einflüsse auf die Versicherungs- und Haftungspraxis behandelt. Die bisher erschienen Bände liegen nunmehr im neuen Layout vor: – Schwer objektivierbare Krankheiten In englischer Sprache: −−Non-objectifiable diseases −−Compensation for pain and suffering −−Tort law and liability insurance −−Asbestos – Anatomy of a mass tort Die Publikationen erhalten Sie als Download über unser Kundenportal connect.munichre.com oder von Ihrem Client Manager. not if, but how 42 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 schadenliteratur Netzwerke als Schlüssel der Gesellschaft von Zoran Andrić Mit Networking zum Erfolg? Nach der Lektüre von „Connected! Die Macht sozialer Netzwerke und warum Glück ansteckend ist“ erfahren Sie mehr über die Hintergründe der Netzwerkpflege. Netzwerke helfen beim Lösen vielfältigster Probleme. Davon sind die beiden amerikanischen Autoren, Nicholas A. Christakis und James H. Fowler, ein Mediziner von der Harvard University und ein Politologe von der University of California in San Diego zutiefst überzeugt. Nicht nur etwas so wenig Fassbares, aber höchst Erstrebenswertes wie Glück ist ansteckend, sondern auch Einsamkeit, politische Ein stellungen oder das Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern. Für diese Ansteckung sorgen keine Viren und Bakterien, sondern die vielfältigen Beziehungen der Menschen untereinander: „Um uns selbst zu ver stehen, müssen wir verstehen, wie wir miteinander vernetzt sind.“ Der Einfluss des Einzelnen reicht immer über drei Ecken. Die Autoren nennen es das „Gesetz der drei Schritte“. Alles, was wir tun oder sagen, wird durch unser Netzwerk weitergegeben, vom Freund des Freundes eines Freundes. Beim dritten Glied allerdings endet der Einfluss des Individuums. Innerhalb dieses Umkreises können sich jedoch ohne Weiteres tausend Personen befinden. Der Reiz dieses Denkens in Netzwerken besteht darin, dass es zwischen individualistischen und kollektivistischen Theorien wie denjenigen von Adam Smith und von Karl Marx einen dritten Weg gibt: Der Mensch ist weder nur seines Glückes Schmied noch Rad im Getriebe, sondern empfängt zahllose Impulse und gibt sie weiter. Der Homo dictyous, der Netzwerkmensch, löst den Homo oeconomicus ab. Im Idealfall bedeute dies, dass sich der Mensch zunehmend auch am Gemeinwohl orientiert. Die Evolutionsgeschichte, seine Gene sowie die Struktur seines Gehirns zeigen, dass der Mensch für soziale Netzwerke geboren ist. Nicholas A. Christakis, James H. Fowler: „Connected! Die Macht sozialer Netzwerke und warum Glück ansteckend ist“ Munich Re Schadenspiegel 2/2012 43 Großschadenliste 2011–2012 Imprelis Herbicide, DuPont, USA Aircraft Crash Reno Air Races, USA Erdbeben Emilia Romagna, Italien Das von DuPont hergestellte, frei verkäufliche Herbizid „Imprelis“ wurde auf Golfplätzen in den USA verstärkt eingesetzt, um den Rasen von breitblättrigen Unkrautarten freizuhalten. Es schädigte jedoch auch Bäume. Im Bundesstaat Nevada stürzte am 16. September 2011 ein Flugzeug des Typs North American P-51 während des Reno Air Race vor einer Zuschauertribüne ab. Dabei starben der Pilot und zehn Zuschauer, weitere 68 Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Am 20. und am 29. Mai erschütterte zwei schwere Erdbeben Norditalien. Zahlreiche historische Bauten aus Mittelalter und Renaissance stürzten ein. 24 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Havarie der Costa Concordia, Italien Tornado, USA Am 13. Januar 2012 lief das Kreuzfahrtsschiff Costa Concordia vor der Insel Giglio in Italien auf Grund. 32 Menschen verloren ihr Leben. Im Auge des Sturms: Im April 2012 beschädigte ein Tornado bei dem Unternehmen Spirit Aerosystems in Wichita im US-Bundesstaat Kansas 245 von 250 Firmengebäuden. Havarie des Containerschiffs Rena, Neuseeland Das Containerschiff „Rena“ lief im Oktober 2011 in der Nähe eines Naturschutzgebiets auf Grund und verursachte eine Ölpest. 44 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 grossschäden Flut in Thailand Feuer Sperrholzfabrik, Chile Die schwersten Überschwemmungen in Thailand seit 50 Jahren verursachten im Oktober 2011 hohe Schäden. Sieben Industrieparks wurden überflutet, Liefer- und Versorgungsketten wochenlang unterbrochen. Ein Waldbrand im Süden Chiles zerstörte am 2. Januar 2012 einen der größten holzverarbeitenden Betriebe Lateinamerikas. Auch das an diesem Standort betriebene Zellstoff- und Sägewerk wurde in Mitleidenschaft gezogen. Telkom 3, Orbit Dürre, USA Am 7. August 2012 erreichte der indonesische Telekommunikationssatellit Telkom 3 nicht seine geostationäre Umlaufbahn, weil sich die Raketenoberstufe Breeze-M der ProtonTrägerrakete außerplanmäßig abgeschaltet hatte. Der Satellit gilt als Totalschaden. 2012 war der Mittlere Westen, die Kornkammer der USA, von einer der extremsten Dürren der letzten 50 bis 100 Jahre betroffen. Es gab enorme Ernteausfälle. Das Ereignis belegt die wirtschaftliche Bedeutung und Notwendigkeit eines staatlich geförderten Agrarversicherungssystems für den Landwirtschaftsektor. Munich Re Schadenspiegel 2/2012 45 KOLUMNE Veränderungen in der Regresspraxis nach Naturkatastrophen Möglicher Anstieg der Haftpflichtfälle nach Naturkatastrophen Nicholas Roenneberg, Head of Claims Management & Consulting bei Munich Re [email protected] Bei NatCat-Schäden denkt man normalerweise vorrangig an Sachversicherungs- und Personen schäden. Haftungsaspekte werden dagegen oft vernachlässigt. Seit einigen Jahren gibt es jedoch Anzeichen für eine verstärkte Geltendmachung von Haftungsund Regressansprüchen nach Naturkatastrophen. Ein gutes Beispiel für diesen mög lichen Trend sind die Waldbrände in Kalifornien und Australien. Sie gehen einher mit häufigeren und längeren Hitzeperioden. Dies könnte einer seits zu einer Unterversicherung im Bereich der Sach-, Unfall- und Lebensversicherung führen, anderer seits den Anreiz für First-party-Ver sicherer verstärken, Regressforde rungen gegen Haftpflichtversicherer zu erheben. Opfer von Naturkat a- strophen haben sich in letzter Zeit daher verstärkt nach „deep pockets“ umgesehen, auf die sie ihre Schäden abwälzen können. Es ist schwer vorherzusagen, welcher dieser Aspekte stärkere Auswirkungen auf die Haftpflichtversicherung haben wird. Regressforderungen gegen Haft pflichtversicherer liegen natürlich bei NatCats näher, die durch mensch liches Verhalten zumindest mitver ursacht wurden, als bei Stürmen oder Erdbeben, wo ein menschlicher Bei trag weniger offensichtlich ist. Selbst in den letztgenannten Fällen wurden aber schon Haftungsklagen erhoben, etwa nach Katrina. Nicht nur wegen der unzureichenden Berücksichtigung von NatCat-Risiken, etwa durch Bau unternehmen, sondern auch wegen 46 Munich Re Schadenspiegel 2/2012 der Verursachung der Naturkatastro phe als solcher. Dies könnte ein Zeichen dafür sein, dass der „deep pocket“-Aspekt noch wichtiger ist als der einer Unterversicherung. Ein Beispiel: Haftungsfragen waren nach NatCats immer schon ein Thema. Architekten, Ingenieure, Wartungsund Rettungskräfte – irgendwas geht immer schief und führt zu Ent schädigungsforderungen. Oft werden Waldbrände jedoch von Privatperso nen verursacht, gegen die kaum nennenswerte Regressforderungen durchsetzbar sind. Der Waldbrand in Kalifornien im Oktober 2007 war anders. Er wurde möglicherweise durch die Glasfaserkabel eines Ener gieversorgers verursacht. Dies führte zu massiven Regressforderungen. Der versicherte Marktschaden betrug 2,2 Milliarden US-Dollar. Hiervon wurden ursprünglich 1,6 Milliarden gegen den Energieversorger geltend gemacht. Am Ende verglich man sich über fast eine Milliarde. Es ist doch überraschend: Da hat man einen scheinbaren NatCatSchaden, und letztlich tragen Haft pflichtversicherer fast die Hälfte davon. Das ist aus meiner Sicht eine neue Dimension. Einen annähernd so hohen Anteil der Haftpflichtver sicherer hatten wir bislang nicht ein mal nach rein menschlich verursach ten Katastrophen wie 9/11. Könnten solche Szenarien künftig üblicher werden? Waldbrände wer den nicht selten von Stromleitungen, technischen Geräten oder Fahrzeugen oder von brennendem Schutt verur sacht. In diesen Fällen könnte es Anknüpfungspunkte für Haftungs ansprüche geben. Energieversorger, Wartungsunternehmen, das Bauge werbe und Arbeitgeber scheinen bis lang die wahrscheinlichsten Gegner solcher Ansprüche. Andere Entwicklungen könnten den Anstieg der Haftungsfälle nach Nat Cats noch verstärken: Der demogra fische Wandel führt zu einer höheren Konzentration von Sachwerten. Die Schäden nach den Erdbeben in Neu seeland sind dafür ein guter Beleg. Aber auch der Mangel an hinreichen der First-party-Deckung nach einem Schaden legt es nahe, anderweitig nach „deep pockets“ zu suchen. Weitere Aspekte sind eine über alterte Infrastruktur, unzulängliche Wartung und Rechtsänderungen, etwa im Hinblick auf Sammelklagen oder Prozesskostenfinanzierung. Es erscheint daher lohnend, diese Entwicklung im Auge zu behalten. >> Weitere Informationen zum Thema finden Sie in unserer Broschüre zum 15. Internationalen Haftpflichtforum auf unserem Kundenportal Connect unter http://www.munichre.com/15thinternationalliability-forum und in unserer Serie zu Ageing Infrastructure im Topics Schadenspiegel unter http://www.munichre.com/topics- schadenspiegel -1-2011. © 2012 Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft Königinstraße 107 80802 München Telefon: +49 89 38 91-0 Telefax: +49 89 39 90 56 www.munichre.com Verantwortlich für den Inhalt Claims Management & Consulting: Nicholas Roenneberg, Prof. Dr. Ina Ebert Geo Risks Research/Corporate Climate Centre: Prof. Dr. Peter Höppe Marine: Olaf Köberl Raumfahrt: Dr. Achim Enzian Schaden: Dr. Paolo Bussolera, Dr. Stefan Klein, Arno Studener, Dr. Eberhard Witthoff Redaktion Corinna Moormann, Group Communications (Anschrift wie oben) Telefon: +49 89 38 91-47 29 Telefax: +49 89 38 91-7 47 29 [email protected] Bildnachweis Titelbild, S. 4 rechts, 37, 38: Getty images S. 2, 3 rechts, 4 mitte, 6, 9, 32 oben, 44 (1, 3, 4, 5, 6 von links nach rechts): picture-alliance S. 3 links, 12, 17, 20, 22, 23, 35: Reuters S. 5, 26, 28, 42: Munich Re S. 10, 19, 29, 33, 36, 39, 41: Foto Meinen S. 11: Shutterstock S. 30, 31, 32 unten: ao-2010-089 preliminary report S. 40: Polizei Viersen S. 44 Bild 2 (von links nach rechts): ddp images S. 45 von links nach rechts: Reuters, Getty images, 2 x picture alliance S. 46: Kevin Sprouls Druck Druckerei Fritz Kriechbaumer Wettersteinstraße 12 82024 Taufkirchen/München Weitere Hefte sind gegen eine Schutzgebühr von 8 € erhältlich. 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