NATION UND SPRACHE
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NATION UND SPRACHE
NATION UND SPRACHE Elisabeth Simon 1 "Nation und Sprache" nennt de Gardt das von ihm herausgegebene Buch, das 1. die historische Dimension des Deutschen, 2. das Deutsche in der Gegenwart und 3. die Sprachen Europas und der Welt diskutiert. Sprache ist nicht nur ein Gegenstand der Germanistik und Literaturwissenschaft sondern auch der Geschichte, Linguistik, Theologie und zunehmend der Medizin und Biochemie. Seitdem man weiß, daß unser Sprachvermögen nicht in einem Zentrum im Gehirn angesiedelt ist - so die Meinung viele Jahre lang -, sondern sich auf das gesamte Gehirn verteilt, hat die Neurologie neue Räume der Forschung erschlossen. Man weiß heute auch, daß die Sprache wie die Musik von emotionalen Verbindungen lebt. Dies bescheinigt der modernen, intellektuell bestimmten, abstrakten Musik der 60er und 70er Jahre z.B. keine guten Aussichten auf die Liebe ihrer Zuhörer. Damit erhält auch der Aufsatz von Heinrich von Kleist: "Über die 2 allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" eine ganz neue Aktualität. Diese Linie ließ sich fortsetzen von Luther bis zu Heidegger und dem Philosophen George Steiner, der sich mit den philosophischen und psychologischen Räumen der Sprache in unserem 3 Dasein auseinandersetzt. Dieses könnte uns hier Tage beschäftigen, soll aber nicht der Gegenstand dieser kurzen Ausführungen sein, die die Aufmerksamkeit auf das Jahr der Sprachen lenken soll, das die EU in diesem Jahr ausgerufen hat und das auch neue Formen der Sprachvermittlung für ein zukünftiges Europa in den Raum stellt. l. Sprache als Instrument nationaler Identifikation „Nation“ soll uns ebenfalls nur am Rande beschäftigen, obwohl dieses Thema - auch durch die Entwicklung in Mittel und Osteuropa, ganz besonders in Südosteuropa wie in Rumänien heute von großer Wichtigkeit und Aktualität ist, da Traditionen und kulturelle Entwürfe von langer Dauer sichtbar werden und das zukünftige politische Bild Europas bestimmen könnten. Dieses könnte die Entwicklung eines Europas bedingen, das sich wesentlich von dem Bild unter4 scheidet, was heute für diesen Kontinent in Zukunft entworfen wird. Nationalismus ist vor allem ein historisches Prinzip, das besagt, das politische und nationale Einheiten deckungsgleich sein sollten. Nationalismus als Empfindung - oder Bewegung - läßt sich am besten mit Hilfe dieses Prinzips definieren. Das Nationalgefühl ist die Empfindung von Zorn über die 1 Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. Von Andreas Gardt. Berlin, New York, 2000. 924 S. 2 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band. Kunst und Weltbetrachtung Hrsg. Von Helmut Sembdner, München 1952, S. 321-327. 3 George Steiner: Langage et science. 4 Heinz Schilling: Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hrsg. von Bernhard Giesen, Frankfurt a.M. 1991, 577 S. Er weist nach, daß die säkulare Definition moderner Gesellschaften, die darauf achtet, daß politische und soziale Strukturen möglichst autonom bleiben, durch die Ereignisse in Polen, einigen Sowjetrepubliken und ansatzweise in Rumänien in Frage gestellt wird. Kirchen und Glaube können politische Instanzen sein, die wesentlich dazu beitragen, ganze Völker zu gemeinsamen politischen und gesellschaftlichen Handeln zusammenzuführen. Nation und Sprache Verletzung des Prinzips oder von Befriedigung angesichts seiner Erfüllung, eine nationalistische Be5 wegung wird durch eine derartige Empfindung angetrieben. Wenn also Karl dem IV., dem Luxenburger und späteren Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation von den deutschen Kurfürsten die Stimme in ihrem Gremium wegen mangelnder Deutschkenntnisse versagt wurde, so mögen die wahren politischen Gründe für diese Ablehnung der anderen Fürsten vielleicht andere Beweggründe gehabt haben, die uns heute nicht bekannt sind. Es kann aber sein, daß diese nationale Begründung für die Charakterisierung dieses beliebten böhmischen Königs im nachhinein gefunden wurde. Es ist nämlich vielmehr wahrscheinlich, daß die Umgebung des Kaisers als „Umgangssprache“ auch zu dieser Zeit noch Latein sprach. Die Beherrschung der tschechischen Sprache durch diesen Herrscher mag aber ein weiterer Aspekt in der Skala der Beliebtheit dieses Kaisers und böhmischen Königs 6 sein, dessen nationaler Mythos als Errichter der Hungermauer heute noch lebendig ist. Aber auch die Gründung der Universität von Prag mag die Definition als Sprachnation gefördert haben, da hier - wie auch an der neu gegründeten Universität von Padua – die Universitätskörper7 schaften als Sprachnationen definiert wurden. Diese Beobachtung um den Kaiser Karl IV. soll aber andeuten, daß Sprache zunehmend zur nationalen Identifikation beitrug. So waren die Deutschen seit dem Ende des 11. Jahrhunderts 8 eine prinzipiell durch ihre Sprache definierte Nation mit beträchtlichen regionalen Unterschieden, wie man heute noch weiß. Diese deutsche Nation war als politische Größe nur indirekt begreifbar und berief sich auf ein Imperium, das eschatologische Züge aufwies und daß nicht nur die deutschen Lande sondern auch die spanischen Stände Karls V umfaßte. Von dort 9 führt die Linie zu den Reden von Johann Gottlieb Fichte und der Definition der „Kulturnation“. Das Aufkommen eines patriotisch motivierten Nationalsprachenbewußtseins findet seine ersten Gründe in den veränderten sprachkulturellen Rahmenbedingungen. Im Zuge der frühneuzeitlichen Territorialisierung entstehen neue politische Ordnung- und Gemeinschaftsvorstellungen. Der Sinn für den Staat als Gebietskörperschaft ist endgültig erwacht. Staatliche Einheiten sind jetzt im politischen Bewußtsein stärker als territoriale Manifestationen mit allen ihren Begleitkomponenten re10 präsentiert als feudalrechtliche personale Lehnsverbände. Wir können hier nur einige generelle Beobachtungen aufzeigen, ohne auf dieses komplexe Gebilde wie Territorialisierung und Herausbildung des frühneuzeitlichen Staates, der dann zu der Konstitution der Nationalstaaten führte, einzugehen. Wenn aber die Sprache als Identität stiftendes Element einer Kulturnation anzusehen ist, so führten die Bildung der Nationalstaaten und die kulturellen Wurzeln der jeweiligen „Regionalstaaten“ in fast allen Ländern Europas zu Konflikten, die heute noch sichtbar und nicht überwunden sind. Diese Konflikte beeinflussen das kulturelle und soziale Leben besonders, wenn sich eine Sprachgruppe auch sozial von der anderen absetzt, Belgien und auch Kanada sind gute Beispiele dafür. 5 Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Hamburg 1995, S. 8. Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Hrsg. von Monika Flacke. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmuth Kohl. Begleitband zur Ausstellung vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998. Emmanuel Dité, Der Bau der Hungermauer zur Zeit Karls IV. vor 1891, S. 393. 7 Heinz Thomas: Sprache und Nation, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 91. 8 Heinz Tomas: Sprache und Nation, a.a.O., S. 95. 9 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die Deutsche Nation. Mit einer Einleitung von Reinhard Lauth. 5. durchgesehene Auflage. Hamburg 1978, XLI, 268 S. 10 Joachim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation. In: Nation und Sprache, a.a.O., S. 113. 6 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 447 Elisabeth Simon 2. Muttersprache – Fremdsprache – Sprachen in Europa Es gab keinen Nationalstaat in Europa, in dem sich Landesgrenzen mit denen der Sprache decken und diese Konflikte haben sich mit der zunehmenden Herausbildung eines gemeinsamen Europas nicht verringert, besonders dort nicht, wo die „fremdsprachige Bevölkerungsgrupe“ die Herrschaft ausübte, wie zum Beispiel in Großbritannien. Die Muttersprache muß also nicht die Landessprache sein, wie zum Beispiel in Frankreich und Spanien. Die Staatssprache kann aber auch eine Fremdsprache sein, wie jahrelang in Moldawien, in dem Russisch die Staatssprache war, bis es nach dem Fall der kommunistischen Mauer durch Rumänisch abgelöst wurde. Die Muttersprache mag wohl ein Instrument nationaler Identi11 fikation sein, ist aber in diesen Fällen nicht deckungsgleich mit der Sprache des Vaterlandes. Dieses auf Sprache gegründete Nationalgefühl war den europäischen Völkern bis 1500 12 weitgehend fremd. Mit der Ausbildung des Territorialstaats wurde die Sprache aber zur kulturellen Identifikation des sich im 18. Jahrhundert ausbildenden Nationalstaates und damit zu einem politischen Konfliktpotential bis zur Moderne und in unsere Zeit. Man muß sich vor Augen halten, daß die Waliser trotz gegenteiliger Gesetzgebung und starker sozialer und politischer Benachteiligung ihre Sprache bewahrten, wobei zu untersuchen wäre, wieweit das durch die Bindung der Sprache mit dem religiösen Bereich bedingt war. Obwohl in den letzten Jahren ein Wechsel zum Englischen beobachtet werden kann, ist das Walisische als Merkmal einer nationalen Identität nicht ersetzbar. So kommt es zu der merkwürdigen Situation, daß das Nationalgefühl der Waliser sehr stark durch eine Sprache bestimmt wird, die aber nur 18% der 13 Bevölkerung beherrschen . Ähnlich verhält es sich mit dem Schottischen, das in den letzten Jahren, bedingt durch die stärkere Hinwendung zur schottischen Geschichte und Kultur, ein Revival erlebt. Schottland hat (wie wir es auch im Falle von Walisisch gesehen haben) eine dominierende Sprache: Englisch. Damit ist eine einheimische zweisprachige Basis mit Statusproblemen entstatanden. Es gibt auch etablierte Sprachen, die von den Einwanderern gesprochen werden. Bei allen diesen Sprachen treten angesichts der gegenwärtigen Phase der legalen und politischen Veränderungen Probleme auf, die die Stellung und Präsenz betreffen. Für Schottland begann am 6. Mai 1999 mit der Loslösung der parlamentarischen Aufgaben vom Westminster Parlament in London und der Einrichtung eines schottischen Parlaments in 14 Edinburgh in Holyrood eine neue Ära. Nornisch, Kornisch, Manisch und Gälisch sind andere Sprachen Großbritanniens, die zum Teil heute wiederbelebt werden, aber keinen Platz mehr als gesprochene Muttersprachen haben. Der Erhalt dieser Sprachen und ihrer Texte, ihre Übersetzungen und Überlieferungen gehören zu den großen ungelösten Fragen der „europäischen Kultur“. Diese Probleme erfordern eine neue und intensive Zusammenarbeit zwischen Forschung und Lehre, Archiv, Verlag und Bibliothek. Mit einem Aufsehen erregenden Buch hat Karl Markus Gauß auf die „sterbenden Europäer“ aufmerksam gemacht. Seine Reisen zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen, Arbereshen und Sepharden von Sarajevo lehren uns das Staunen über den Reichtum 11 Vergleiche dazu: Gotthard Lerchner: Nation und Sprache im Spannungsfeld zwischen Sprachwissenschaft und Politik in der Bundesrepublik und der DDR bis 1989, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 297. Manfred Görlach: Nation und Sprache: Das Englische, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 614. 13 Manfred Görlach, a.a.O., S. 617. 14 Wendy Axford: Die englischen und die schottischen Sprachen im Kontext der Sprachen von Großbritannien. In: Literatur und Sprache. Ausländische Literatur und Spracherwerb durch Bibliotheken. Literature and Language. Foreign Literature and Language Skills by and with Libraries. Proceedings des internationalen Seminars 1999 /of the international seminar 1999., deutsch/englisch, S. 53-75. 12 448 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Nation und Sprache Europas. Diesen Reichtum können wir uns erhalten - vergessene Stämme und Kulturen, die bei 15 der Bildung der Nationalstaaten an den Rand gedrängt wurden. Ein anderes Beispiel: Sprachen in Spanien zeigen eine Entwicklung, die im Vergleich mit Großbritannien in eine andere Richtung läuft. Spanien ist ein mehrsprachiges Land, in dem sich im Laufe der Zeit das Kastilische als Staatssprache durchgesetzt hat. Das Katalanische war dem gegenüber genau so weit verbreitet, erstreckte sich aber über zwei Staaten: Spanien und Frankreich (Süden). Das Verhältnis von Sprache und Nation ist heute ein ungelöstes Problem in Spanien, was teilweise die Attentate der ETA deutlich machen. Das Spanische (Kastilische) ist nur als Amts- und Staatssprache statuiert, wobei eine gewisse Distanz allen denjenigen Spaniern erlaubt ist, die andere Muttersprachen sprechen. Tatsächlich erklärt das Autonomiestatut (Generalitat de Catalunya, 1979) das Katalanische zur „eigenen“ und zur „offiziellen“ Sprache, das wiederum „Kastilisch“ genannte Spanisch nur zur kooffiziellen Sprache der Autonomen Gemeinschaft. Es entstehen die geradezu paradoxe Situation, daß die staatlich unabhängige Nation über eine Sprache verfügt, welche ihre Angehörigen nur kennen aber nicht sprechen müssen, während die nur autonome Nationalität eine ihr eigene Sprache besitzt. Insofern stehen heute in Spanien Nationalität und Sprache in einem weit engeren Zusammenhang als Na16 tion und Sprache. Wir finden also in Spanien die Situation, daß in einem gesamtstaatlichen Zusammenhang die Vertreter der verschiedenen Regionen in ihrer Muttersprache sprachen: Katalanisch, Galizisch und Baskisch, wobei zu erwähnen ist, daß Baskisch nicht zu den indogermanischen Sprachen gehört. Wie schon kurz angedeutet, verbinden sich die Unterdrückung einer Sprache, mag das nun politisch gewollt sein oder sich aus den kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen ergeben, mit nationalen und oft sozialen Ressentiments. Dieses war in Walisien der Fall, als den Kindern untersagt wurde, walisisch zu sprechen und das Land nicht die gewünschte Zweisprachigkeit 17 erhielt. Der soziale und politische Machtfaktor verbindet sich dann mit der Landessprache , die nicht die Muttersprache ist und damit für zusätzlichen Konfliktstoff sorgt. Das vorliegende Buch „Nation und Sprache“ von de Gruyter führt hierzu als Beispiel aus Mitteleuropa das Tschechische und Slovakische an. Es ist bezeichnend, daß für alle Staaten, in denen der Nationalismus eine besondere Schubkraft in den letzten Jahren entwickelte, generell gilt, daß die Muttersprache durch die vorherrschende Landes- oder Staatssprache – sehr oft das Russische – überdeckt wurde: nämlich Moldawien, die Ukraine und Weißrußland. Die slovakische Republik hat sich in vielerlei Hinsicht durch den tschechischen Bruder unterdrückt gefühlt, was nach 1989 zur Betonung der eigenen Sprache führte. Dieses ist ein besonders krasser Fall einer nationalen Überhöhung des Sprachgebrauchs, weil beide Sprachen sich wirklich sehr ähneln, so daß Vertreter beider Sprachen miteinander kommunizieren können. Wenn wir Europa verlassen, so sei hier Kasachstan genannt, dessen nationale Erweckung zu einer besonders rigiden Anwendung der „Muttersprache“ Kasachisch führte, die - darin dem Walisischen vergleichbar - nur von einem Bruchteil der Bevölkerung korrekt gesprochen wird, 18 was große Probleme für die Erziehung und Ausbildung mit sich brachte. Nun mag man mei15 Karl Markus Gauß: Die sterbenden Europäer. Unterwegs zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen, Arbereshen und den Sepharden von Zarajevo. Wien 2001, 240 S. Franz Lebsanft: Nation und Sprache: Das Spanische, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 636. 17 Tilmann Berger: Nation und Sprache: das Tschechische und das Slovakische, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 825864. 18 Die Bibliothekarische Auslandsstelle am Deutschen Bibliotheksinstitut führte im Jahr 1997 ein Seminar zum Thema Bibliotheksmanagement durch. Der Entschluß, dieses Seminar in Russisch zu halten, basierte auf praktischen Überlegungen, das Seminar nicht durch zusätzliche Sprachprobleme zu belasten. Trotzdem welchselte die Direktorin der Na16 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 449 Elisabeth Simon nen, daß die Länder außerhalb Europas bei dieser Diskussion nur mittelbar beteiligt sind. Dies ist ein Irrtum, denn sowohl innerhalb Europas durch die laufende Einwanderung, die die europäischen Staaten zu multikulturellen umwandeln wird, als auch außerhalb Europas durch die zunehmende Internationalisierung und Gobalisierung werden Anwendung und Beherrschung von Fremdsprachen auch das Gesicht von Europa bestimmen. 3. Sprachunterricht – Sprache als Kommunikationsmittel – Ausländische Literatur. Konzepte des Lebenslangen Lernens und die Rolle von Bibliotheken Das Erlernen der Muttersprache geht einher mit dem Erwerb der Fähigkeit, sprachliche Äußerungen zu verstehen und situationsgerecht anzuwenden […] dem Erwerb eines Systems von Benennungen und Begriffen, die die Umwelt erfassen und gliedern […] Dieses steht mit der kognitiven Ent19 wicklung in enger Wechselbeziehung. Hier kann auch nicht weiter auf die schichtenspezifischen Unterschiede des Spracherwerbs eingegangen werden, die der generellen Forderung nach Dreisprachigkeit des zukünftigen europäischen Bürgers mindestens ein Fragezeichen entgegen setzen. Der Spracherwerb und die Sprachbarrieren determinieren heute nicht nur den Umgang mit der sogenannten information 20 literacy , sondern sie bestimmen auch weitgehend den Erfolg oder Mißerfolg beim Erlernen von Fremdsprachen. Im Humanismus waren die beiden Sprachen funktional verschieden: Der Laie sprach Deutsch, der Gelehrte Lateinisch und in den meisten Fällen nicht nur dies, sondern auch Griechisch und Hebräisch. Dieser internationale Sprachenkanon garantierte auch die internationale Verständigung mit dem europäischen Wissenstausch und Briefwechsel, der uns heute noch erstaunt. Diese zwei Sprachkulturen, z.B. der lateinischen und der deutschen Sprache, bilden auch schichtenspezifische Sprachenrollen, soziale Strukturen und mit dem ständischen Gefälle 21 verbundene immanente Sprach- und Bildungsbarrieren. Wie stark der Spracherweb in der Kindheit und damit auch das Erlernen von Fremdsprachen von dem sozialen Gefüge der Umwelt determiniert ist, möge jene hübsche Geschichte von dem Pharao unterstreichen, der einem Hirten zwei Kinder zur Aufzucht gab. Diese sollten in einem Raum mit nur Ziegen zu ihrer Nahrung aufwachsen. Keiner durfte mit ihnen sprechen, weil der Pharao wissen wollte, was für ein Wort die Kinder wohl zuerst aussprechen würden, wenn sie das Alter des Lallens hinter sich hätten. Nachdem man das ins Werk gesetzt hatte, öffnete man die Tür, wobei die Kinder ihnen das Wort bekos (ähnliche dem Meckern der Ziegen) entgegen riefen und die Hände entgegen streckten. Nachdem der Pharao erforscht hatte, daß dieses Wort tionalbibliothek in ihrer Begrüßung vom Russischen ins Kasachische. Glücklicherweise war die ausgezeichnete Übersetzerin diesem Sprachwechsel gewachsen. So verständlich der Einsatz für die Muttersprache und für die sich neu konstituierende Nation ist, so bedauerlich ist es, wenn dieser zu Status- und Machtdemonstrationen mißbraucht wird. 19 Theodor Lewandowski: Linguistisches Wörterbuch, Bd. 3, Heidelberg 1976, S. 699f: Spracherwerb. 20 Myoung Wilson: In Daten ertrunken und durstig nach Wissen. Wie „information literacy“ gelehrt wird. Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Informationsversorgung Politik und Strategie/Information Provision, Politics and Strategy. Proceedings des internationalen Seminars /of the international seminar 1998 der Bibliothekarischen Auslandsstelle am Deutschen Bibliotheksinstitut 1998, S. 414-445. 21 Jochim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 107. 450 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Nation und Sprache Brot bei den Phrygern bedeutete, räumte man den Phrygern den ersten Platz als ältestes Volk 22 ein. Man wußte damals noch nicht, daß die ersten Sprachübungen der Kinder auf Nachahmung beruhen und das beginnend mit den ersten Lebenswochen. Spracherwerb und Sprachbarrieren bestimmen weitgehend das intellektuelle und soziale Schicksal jedes Einzelnen, wie es heute mit der wieder aufgenommenen Diskussion um Integration und Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit auch als Problem in der öffentlichen Diskussion neu thematisiert wird. In fast allen Staaten ist der Erwerb der Staatsangehörigkeit mit dem Erlernen der Landessprache verknüpft (so müssen z.B. Deutsche, die in die Schweiz einwandern eine Prüfung in Schweizerdeutsch machen). Leider sind in der Bundesrepublik bis jetzt keine bindenden Standards erarbeitet worden. Die Beherrschung der Landessprache ist aber notwendig, will man keine Unterklasse schaffen, die von dem sozialen und kulturellen Leben 23 eines Staates ausgeschlossen ist. In Europa erfolgte die Identifizierung mit der eigenen Nationalsprache über die Ablösung 24 des Lateinischen und Französischen, vor allem in öffentlichen und wissenschaftlichen Texten. Heute läßt sich gerade bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher Texte wiederum eine Veränderung beobachten. Diese erscheinen meist in Englisch. Deutsche Wissenschaftler veröffentlichen 50-30% ihrer Texte generell in Englisch, vorherrschend auf den Gebieten der Naturwissenschaft und Wirtschaft. Aber auch in den Geisteswissenschaften wird das Englische zur vorherrschenden Wissenschaftssprache. Das mag viele Gründe haben, einer liegt bestimmt in dem Fortschritt der Informationstechnologie in den USA, so daß die Präsenz in weltweit angebotenen Datenbanken und auch im Netz sehr oft einen Text in Englisch oder Amerikanisch 25 erfordert. Im 19. Jahrhundert gab es keinen Zweifel darüber, daß die Sprache der Briten ein Herrschaftsinstrument weltweit wurde, ob sie nun durch Kaufleute, Missionare, Verwalter oder die 26 Armee vertreten wurde. Das Englische breitete sich durch die Kolonialmacht Großbritanniens und die Politik des Dominiums weltweit aus, so daß sie auch außerhalb des angelsächsischen Raumes - USA, Australien Kanada - zur Staatssprache wurde, so z.B. in Singapur oder zur vorherrschenden Sprache der Oberschicht, der Kaufleute, der Wirtschaft und der Banken wurde. Englisch ist heute die Lingua Franca vieler Länder und Gebiete. Der Vergleich der Sprachen auf Grund einer hohen Anzahl von Menschen, die diese Sprache sprechen, verstellt den Blick. Sowohl Chinesisch als auch Spanisch werden von einer größeren Anzahl von Menschen gesprochen als Englisch. Deutsch ist die auf dem europäischen Kontinent am meisten verbreitete Sprache. Trotzdem erreichen diese Sprachen keine dem Englischen vergleichbare kulturelle und wirtschaftliche Stellung. 22 Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu hrsg. und erl. von H. W. Haussig mit einer Einl. von W. F. Otto. 3. Aufl. Stuttgart 1963, S. 99f. Großbritannien und die angelsächsischen Länder haben zu diesem Problem ein entspanntes Verhältnis. Das zeigt sich zum Beispiel auch daran, daß der British Concil alle offiziellen Besucher, die auf Grund des Kulturabkommens nach England eingeladen wurden, einer informellen Sprachüberprüfung unterzogen wurden. 24 Manfred Görlach, a.a.O., S. 615. 25 Die erste Veröffentlichung meiner Tochter Ruth Simon erfolgte in den USA im Rahmen einer renommierten historischen Zeitschrift der University of Virginia, die mit Hilfe eines von der Bundesregierung geförderten Projekts elektronisch angeboten wird. 26 Vgl. dazu Görlach, a.a.O., S. 616. 23 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 451 Elisabeth Simon 4. Die Generaldirektion Bildung und Kultur der Europäischen Kommission. Projekte und Möglichkeiten Europa hat zur Zeit noch keine Identitätskraft für seine Bewohner entwickelt. Die Sprache als Identitätsfaktor, wie er mit allen Problemen in den Staaten und Regionen Europas wirksam wurde, ist für Europa insgesamt nicht anwendbar. Desto wichtiger ist es, die Möglichkeiten der Kommunikation über die Sprache zwischen den Völkern zu stärken, denn über die Sprache finden die einzelnen Nationen einen stärkeren Zugang zu dem Nachbarn, so daß die Kommunikation zwischen den Ländern Europas den Dialog und zwar nicht nur sprachlich sondern auch kulturell fördert. Dadurch könnte es möglich sein, daß dem Wirtschaftsraum Europa der Staatenbund Europa folgt. Aus diesem Grund wurde das von der EU organisierte Jahr der Sprachen 27 einhellig begrüßt. Das Vorhaben versucht, nicht nur bestimmte Projekte anzustoßen, sondern auch jedermann anzusprechen: “Jeder kann Sprachen lernen, ohne Rücksicht auf Alter Herkunft oder Beruf und jeder kann von den Vorteilen profitieren. Mit modernen Methoden macht das Lernen sogar Spaß.“ Europäische Kommission und Europarat haben dazu einen Leitfaden herausgegeben, „Sprachenlernen für alle“, und ein Logo entwickelt, eine Art Eidechse. Diese Hinwendung zu einem allgemeinen Publikum wird ausdrücklich in dem Informationstext betont. Die zentrale Botschaft lautet wir folgt: „Fremdsprachen lernen öffnet die Türen und jeder kann es“. Das ist sehr nützlich und gut, fragt sich nur, wie viele Menschen damit wirklich erreicht werden, denn diese Texte sind alle nur durch das Internet abrufbar. Den ersten Ausschreibungstext hatte ich während eines Seminars in Cluj zum Anlaß genommen, mit Studenten ein europäisches Projekt 28 ansatzweise zu entwickeln. Diese Initiative umfaßte nur Länder der EU, so daß sich z.B. die Untersuchungen auf die westlichen Sprachen konzentrieren. Auch der Leitfaden für die Antragsstellung zeigt dies ganz deutlich. Antragsstellung und Information laufen über nationale Koordinierungsstellen und diese sind nur in den Ländern der EU eingerichtet. Trotz dieser Enttäuschung – hätte man sich angesichts der sich entwickelnden Europäischen Gemeinschaft mit der Osterweiterung doch die Einbeziehung zumindest einiger Länder Mittel- und Osteuropas gewünscht – ist der veröffentlichte Eurobarometer Report 54 für unser Thema wichtig. Neben Informationen, die wir schon kennen, daß z.B. die Muttersprache oft nicht identisch mit der Nationalsprache ist, daß man als dritte Fremdsprache der EU-Bürger das Deutsche betrachtet – sind besonders die Befragungen zum Thema Fremdsprachenerwerb wichtig und interessant. Bevor einige Vergleichsdaten zum Spracherwerb in europäischen Ländern aufgeführt werden, sind zwei Beobachtungen für zukünftiges Handeln wichtig: Die erste betrifft Deutschland. Der Prozentsatz derjenigen, die Spracherwerb nicht für wichtig halten, ist in den neuen Bundesländern besonders hoch, nämlich 39% – im Vergleich dazu, halten generell 74 % der Befragten Fremdsprachenerwerb für sehr wichtig. Auf der anderen Seite glaubt der überwiegende Teil der Bevölkerung in Ostdeutschland, daß Spracherwerb für die berufliche Ausbildung und das berufliche Auskommen der Jugendlichen wichtig sind, nämlich 100% aller Eltern. Dieses diffuse Bild könnte nicht so sehr viel über die Einschätzung des Fremdsprachenerwerbes aussagen als vielmehr der Ausdruck einer allgemeinen negativen depressiven Haltung 27 28 http://europa.eu.int/comm/education/languages/actions/year2001htm siehe Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft vom 8.4.2000. 452 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Nation und Sprache der Menschen in den neuen Bundesländern Deutschlands gegenüber der gegenwärtigen Situation sein. Das Ergebnis der Befragung, wann und wie man Sprachen lernt, ist für die zukünftige Entwicklung der Didaktik besonders wichtig. Ein großer Teil der Befragten gab an, daß die Zeit zum Erlernen einer Sprache fehlt. Das ist realistisch und legt offen dar, daß die Anstrengung und die Zeit zum Erwerb einer Fremdsprache sehr oft falsch eingeschätzt werden. Das mag auch erklären, warum nach 3 bis 6 Monaten die meisten Sprachenschüler die Fremdsprachenschule verlassen. Es bleiben in den Kursen meist nicht mehr als 10 % der Studenten übrig, die sich am Anfang angemeldet hatten. Weniger häufig wurde angegeben, daß es an Gelegenheiten fehlte, was darauf schließen läßt, daß das Angebot zum Erwerb einer Fremdsprache recht gut ist. Die meisten Befragten gaben an, daß sie die Sprache bei einem Aufenthalt im Lande erlernen wollten. Die bessere Verständigung für Ferien im Lande wurde häufig als Grund für den Erwerb einer Fremdsprache angegeben – ein Beweis dafür, daß der viel gescholtene Tourismus sehr positive kulturelle Aus29 wirkungen haben kann. Dieses Ergebnis gibt den Veranstaltern von Sprachreisen Recht. So 30 bietet z.B. die Carl Duisberg Gesellschaft Sprachreisen für ältere Menschen an (ab 50 Jahren). Dies führt uns aber zum dritten Hindernis beim Erlernen einer Sprache - die Kosten. Dies trifft auch auf das erwähnte Angebot der Carl Duisberg Gesesllschaft zu. Generell läßt sich sagen, daß der Wunsch zum Spracherwerb eine Schule zu besuchen bei der Allgemeinheit weniger stark ausgeprägt ist als angenommen. Die Gründe sind, zusammengefaßt: Mangel an Zeit und Geld und ein fehlendes, auf die individuellen Bedürfnisse zu31 geschnittenes Programm. Die bis zum 9. Januar dieses Jahres ausgewählten Projekte der EU zum Jahr der Sprachen unterstützen finanziell mehr Sprachfestivals und dienen dem „Marketing“, als daß sie ihre Aufmerksamkeit auf Strategien richten, wie der Spracherwerb in 32 der EU langfristig zu fördern ist. Der aufgezeigte Trend zum Spracherwerb zusammen mit der Forderung, daß alle Sprachen in der EU vertreten sind und daß jeder Bürger der EU neben der Muttersprache und der zweiten perfekt beherrschten Fremdsprache eine dritte sprechen soll, erfordert neue Wege und neue Möglichkeiten der Sprachvermittlung und des Spracherwerbs in einer engen Zusasmmenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen: Schule, Universität, Sprachenschulen und Bibliotheken, die sich verstärkt in das System des Lebenslangen Lernens einbringen müssten. Von dem Ausspruch: “As for actions in the field of youth, sport and civil society they will enhance social cohesion in Europe and bring citizens to the forefront of encouraging active citizenship among Europeans. And promoting awareness of Europe‘s rich culture heritage will help to foster a 29 In Berlin und anderen Städten findet alle zwei Jahre eine Messe von Pro Lingua statt, in der Sprachreisen und Sprachschulen ihre Produkte anbieten. Neben dieser Messe findet auch ein Kulturprogramm statt mit Vorträgen und Diskussionen, an denen sich die Botschaften und Konsulate wie auch die ausländischen Kulturinstitutionen beteiligen. 30 Adresse: 50676 Köln, Weyerstr. 79-83. 31 INRA – International Research Associates. Eurobarometer 54. Special. Les Européens et les langues. Rapport redigé par INRA (Europe) European Coordination Office S.A. pour la Direction Générale de l’Education de la Culture, geré et organisé par la Direction Générale de L’Education et de la Culture Unité Centre pour le citoyen. Analyse de l’opinion publique, Fev. 2001, 55 S. mit Anhang. http://europa.eu.int/comm/education/lanugues/call/call/htm 32 European Year of Languages 2001, list of Projects selected for Co-Financing under Call for Proposayls Nr. DG EAC 66/00 publsihed on 8 September 2000 /these are the first group of Proejcts to be selected. Projects may be sumbitted for the second and final deadline until 15 febr.) Project organiser: Gillian McLaughlin Tel. 00322296 1172 Olga Snoeks 003222996642. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 453 Elisabeth Simon 33 truly European identity" sind wir noch sehr weit entfernt. Das Jahr der Sprachen hat aber gezeigt, daß die mangelnde europäische Identität und Kohäsion Sprengstoff für die Europäische Gemeinschaft werden können. Dies wird um so gravierender, wenn nicht die reichen Kulturen Mitteleuropas in den europäischen Dialog einbezogen werden. Dies kann heute geschehen. Die 34 35 Digitalisierung des kulturellen Erbes der einzelnen Länder und der Einsatz des e-Learning in das System des Lebenslangen Lernens sind dafür. Dies erfordert eine Vernetzung der „Anbieter“. Spracherwerb wird - in den neuen Berufs- und Lebenswelten - zu einem zunehmend individualisierten Prozeß. Es müssen Schnittstellen neu definiert und Partnerschaften gefunden werden, damit Spracherwerb in Europa zu besserer Kommunikation, Öffnung der Nationen und schließlich zu einer Köhäsion der Bürger dieses Kontinents führen kann. * * * Literatur: 1. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen (Imagined Communities) von Benedikt Burkard und Christoph Münz. Erweiterte Ausgabe. Berlin: Ullstein 1996. 252 S. 2. Boeckenfoerde, Ernst-Wolfgang: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. 1. Aufl. Frankfurt a.M. Suhrkamp 1999. 290 S. (Suhrkamp Taschenbuch – Wissenschaft. 1419). 3. Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort. Aus dem Franz. (Choses dites) übers. von Bernd Schwibs. l. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. 236 S. 4. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. (Aus dem Franz.: Le sens practique) übersetzt von Günter Seib. 3. Aufl. Frankfurt a.M: Suhrkamp 1999. 503 S. 5. Foucault, Michel: les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard 1966. 398 S. 6. Gauger, Jörg Dieter und Justin Stagl: Staatsrepräsentation. Berlin: Dietrich Reimer 1992. 251 S. (Schriften zur Kultursoziologie. Hrsg. von Justin Stagl. Bd. 12). 7. Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne. Aus dem Englischen (Nations and Nationalism) von Meino Büning. l. Aufl. Hamburg: rotbuch Verlag 1995. 214 S. 8. Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu hrsg. und erl.von H.We. Haussig. Mit e. Einf. von W.F. Otto 3. Auflage mit 4 Tafeln und 2 Ktn. Stuttgart: Kröner 1963. XXVIII, 792 S. 9. Informationsversorgung. Politik und Strategie. Information Provision- Politics and Strategy. Proceedings des internationalen Seminars 1998. Deutsch/Englisch. Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1998. 445 S. 10. Konersmann, Ralf: Kulturphilosophie. 2. Aufl. Leipzig: Reclam 1998. 376 S. 11. Lewandowski, Theodor: Linguistisches Wörterbuch. Bd 1-3. 2. durchgesehene und erw. Aufl. Heidelberg: Quelle & Meyer 1976. 973 S. (Uni Taschenbücher 200, 201, 300). 12. Literatur und Spracher. Ausländische Literatur und Spracherwerb durch Bibliotheken. Literature and Language. Foreign Literature and Language Skills by and with libraries. Proceedings des internationalen Seminars 1999. Deutsch/Englisch Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1999. 307 S. 33 Europea “Ecuation and Culture at a glance“ published bi-monthly by the Directorate for Edu-cation and Culture of tghe European Community. http.//europa.euint/comm/d...n_culture/publ/news/01/newsletter_en.htm 34 e-culture. A newsletter on cultural content and digital heritage. http://www.cordis.lu/ist/ka3/digicult/ennewsletter.htm 35 eLearning. What’s New in eLearning. May 2001 http://europa.eu.int/comm/education/elearning/what.htm 454 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Nation und Sprache 13. Metzlers Lexikon der Sprache. Hrsg. von Helmut Glück. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. XX, 710 S. 14. Mythen der Nationen. Ein Europäisches Panorama. hrsg. von Monika Flacke. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Begleitband zur Ausstellung vom 20. März 1998 bis 15. 9. Juni 1998. Bonn: DHM – Deutsches Historisches Museum. 600 S. 16. Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Andreas Gardt. Berlin, New York: de Gruyter 2000. 924 S. 17. Nationale und kultruelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hrsg. von Bernhard Giese. 2. Aufl.Frankfurt a.M. Suhrkamp. 1991, 577 S. Suhrkamp Taschenbuch – Wissenschaft. 940. 18. Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer umheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg: rowohlts enzyklopädie im Rowohlt Taschenbuch Verlag. 2000. 679 S. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 455 AKZENT UND RHYTHMUS IM DEUTSCHEN UND RUMÄNISCHEN Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten Maria Ileana Moise 1. Allgemeines Akzent und Rhythmus sind für die suprasegmentalen Charakteristika einer Sprache determinant. Der sprachliche Rhythmus ist ein systemübergreifendes Phänomen, er vereint mehrere Sprachebenen und bringt sie zum Ausdruck. Er konstituiert den typischen Klang einer Sprache und gilt als Hauptdeterminante des „fremden Akzents“. Der Rhythmus basiert auf Akzenten, Pausen, Tempovariationen und auf dem Tonhöhenverlauf. Der Akzent ist als Basiskomponente des Rhythmus zu betrachten und wird im Folgenden näher analysiert. In der Fachliteratur wer1 2 den in den meisten Fällen Sprach - und Sprechrhythmus zusammen behandelt, was eine Simplifizierung des Phänomens zur Folge hat. Die Erklärung liegt hauptsächlich darin, dass beim heutigen Stand der Forschung der Rhythmus nicht eindeutig definiert werden konnte. 2. Der Akzent im Deutschen und Rumänischen Die Gegenüberstellung des Akzents im Deutschen und Rumänischen lässt die Schlussfolgerung zu, dass sich die beiden Sprachen unter diesem Aspekt wesentlich unterscheiden. Die Unterschiede betreffen alle Ebenen, d. h. den Wort-, Wortgruppen- und Satzakzent. Für die Konfrontation der beiden Sprachen werden im Folgenden: a. die Relevanz der Funktionen, b. die Mittel der Akzentuierung, c. die Akzentplatzierungsregeln berücksichtigt. 2. 1 Unterschiede in der Wortakzentuierung Hinsichtlich der Funktionen des Wortakzents kann behauptet werden, dass in beiden Sprachen die universal gültigen Leistungen desselben wirksam sind. Ihre Relevanz und Ausprägung ergibt aber zwischen den beiden Sprachen wesentliche Unterschiede: a. die integrierende, gruppenbildende Funktion ist im Deutschen infolge des stark zentralisierenden Charakters des Akzents bedeutend stärker ausgeprägt als im Rumänischen. Un1 Damit bezeichne ich in Anlehnung an METZLER (2000), STOCK (1996), PU{CARIU (1994), GLR (1963) den geregelten Wechsel von betonten und unbetonten Silben/Wörtern, die Wiederkehr der rhythmischen Einheiten in zeitlich ungefähr gleichen Intervallen. Der Sprachrhythmus basiert auf dem jeweiligen System, auf der “langue” und ist ein typologisches Merkmal. Die Einteilung der natürlichen Sprachen (PIKE 1945; ABERCROMBIE 1967) in akzent-, silben- und morenzähende wird in der Rhythmologie auch heute verwendet. 2 Damit bezeichne ich in Anlehnung an STOCK/VELIČKOVA (2002) die zeitliche Organisation des Sprechens, die annähernd symmetrische Anordnung der rhythmischen Einheiten im Sprechfluss, die Umsetzung der sprachspezifischen mentalen Musterhierarchien in Wirklichkeit, die “parole”. Bei der rhythmischen Gliederung werden Silbenfolgen und Wörter zu Gruppen zusammengefasst, zu Takten, Akzentgruppen, rhythmischen Gruppen, zum Satz, usw. Diese Einheiten sind als ähnlich zu betrachten, wenn sich ihre Silbenzahl geringfügig unterscheidet oder wenn ihre Aufeinanderfolge auf Grund von Tempovariationen und der damit verbundenen segmentalen Reduktionen/Elisionen in ungefähr gleichen Zeitintervallen stattfindet. Außer sprachspezifischen, grammatischen (syntaktischen), semantischen und intonatorischen Aspekten spielen auch Redeweise und Expressivität des Sprechers, sowie Alliteration, Assonanz und Reim eine Rhythmus prägende Rolle. Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten betonte Vor- und Nachakzentsilben werden punktförmig an die Akzentsilbe gebunden, die phonetisch sehr stark signalisiert wird. Im Rumänischen ist wegen des vergleichsweise geringen Kontrasts zwischen betonten und unbetonten Silben die Bindung der inhaltlich und grammatisch zusammengehörenden Wörter loser. b. Die bedeutungsdifferenzierende Funktion ist im Rumänischen stärker wirksam. Der Akzent ist lexikalisch und grammatisch distinktiv, er unterscheidet Wortpaare wie ´copii vs. co´pii, Wortarten, wie ´barem vs. ba´rem, àcele vs. a´cele oder Tempora, z. B. ´plou` vs. plou´`. Im Deutschen ist diese Leistung nur marginal relevant, Wortpaare wie ´Perfekt vs. per´fekt, ´wiederholen vs. wieder´holen sind nur im beschränkten Maße vorhanden. Was die intonatorische Realisierung des Wortakzents anbelangt, sind Unterschiede bezüglich des Beitrags der phonetischen Mittel Lautheit, Tonhöhe, Dauer und Klangfarbe zu erkennen. a. Während im Deutschen an der Akzentrealisierung alle intonatorischen Parameter gleich stark beteiligt sind und zusätzlich auch die Spannung der Muskulatur von Relevanz ist, die Akzentsilbe deutlicher signalisiert wird, wird im Rumänischen der Akzent primär auf Grund der Intensität realisiert, Tonhöhe und Dauer wirken eher kompensatorisch. Der Kontrast ist i. d. R. nur apparativ feststellbar. b. Wesentliche Unterschiede betreffen auch den Charakter der Betonung, im Deutschen ist er zentralisierend, im Rumänischen dezentralisierend. Die Unterschiede in der Wortakzentplatzierung betreffen: a. den Einheitscharakter des Wortschatzes. Im Deutschen ist beim jetzigen Stand der Forschung eine Differenzierung zwischen Erbund Fremdwörtern erforderlich. Für die erste Kategorie gilt eine kapochrone Betonung, die Akzentstelle wird morphologisch bestimmt, es ist zwischen betonbaren und unbetonbaren Präfixen zu differenzieren. Die nicht-nativen Wörter werden kodachron betont, dabei das Silbengewicht beachtet; der Akzent liegt auf der letzten, vorletzten oder vorvorletzten Silbe. Die Versuche, einheitliche Regeln für den gesamten Wortschatz zu formulieren, z. B. GIEGERICHs (1983; 1985) das Silbengewicht berücksichtigende metrische Theorie, EISENBERGs (1991) rhythmische Theorie und VENNEMANNs (1991) mehrere phonologische Aspekte in Betracht ziehenden Prinzipien und Normalitätsbeziehungen haben beim jetzigen Stand explorativen Charakter und bedürfen einer Ergänzung und Revision. Nach ihrer Vollendung könnten sie aber für die Konfrontation des Deutschen und Rumänischen als Ausgangsbasis dienen, weil sie den Akzent vom Wortende her bestimmen, und EISENBERG zusätzlich Regularitäten des Wortrhythmus formuliert und mit Beispielen belegt. Im Rumänischen ist der Unterschied zwischen nativen und nicht-nativen Wörtern infolge der kodachronen Betonung vergleichsweise gering. Hier bestehen aber Akzentdubletten, z. B. ´tempo vs. tem´po, ohne bedeutungsdifferenzierenden Charakter, je nach den Regularitäten der jeweiligen Ausgangssprache. b. Unterschiede liegen auch bezüglich der Stabilität der Akzentstelle vor. Während der Wortakzent im Deutschen in der Mehrzahl der Wörter fest ist, hat er im Rumänischen einen freien Charakter, bei Verben der 1. Konjugation auch einen beweglichen, z. B. ‘cânt` vs. cân’t`. Die stabile Akzentstelle im Deutschen führt in Simplizia zu einem Trochäus oder Daktylus, der freie und bewegliche Akzent im Rumänischen zu einer größeren Differenziertheit, einem Jambus, Trochäus, Daktylus, Amphibrachys oder einem Peon. c. Unterschiedlich ist auch die Anwendbarkeit der universalen Akzentprinzipien von W. WURZEL (1980). Während im Deutschen alle sechs Prinzipipien: das segmental-phonologische, morphologische, syntaktische, semantische, kommunikative und rhythmische zur Geltung ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 457 Maria Ileana Moise kommen, sind im Rumänischen nur das rhythmische, z. T. das segmental-phonologische in Fremdwörtern, das semantische und das kommunikative Prinzip anwendbar. d. Hinsichtlich der Akzentplatzierung in Derivata fungieren in den beiden Sprachen entgegengesetzte Regeln. Während im Deutschen die Präfixe betont und unbetont auftreten und auch eine doppelte Präfigierung möglich ist, die Suffixe i. d. R. unbetont sind, z. B. ´anfangen, be´obachten, ´aufbewahren, be´mitleiden, die ´Fertigkeit, werden im Rumänischen die Präfixe i. d. R. nicht betont, die Suffixe hingegen betont, wobei auch eine doppelte Suffigierung möglich ist, z. B. a des´face, c`´lu], slu´garnic. e. Auch bezüglich der Akzentstelle in Komposita wirken in den beiden Sprachen entgegengesetzte Regeln. Im Deutschen liegt der Hauptakzent initial, der Nebenakzent auf der 2. oder 3. Komponente, bei Idiomatisierungen fungieren Sonderregeln, z. B. ´Straßenbahn,haltestelle oder Alt´weiberfastnacht, Lieb´frauenmilch; im Rumänischen liegt der Hauptakzent final, der Nebenakzent initial, z. B. ,supra´vie]uire. f. Unterschiedlich ist auch der Charakter des Nebenakzents. Im Deutschen ist er etymologisch bedingt und fest, hat morphologisch und semantisch distinktiven Charakter, z. B. ´Sandstein,kunsthalle vs. ´Sandsteinkunst,halle oder ‘wiederholen vs. wieder’holen, im Rumänischen ist er mobil und hat eher rhythmischen Charakter. Außerdem ist die Anzahl der Komposita vergleichsweise zum Deutschen geringer. 2.2 Unterschiede in der Wortgruppen- und Satzakzentuierung Da die Ausmaße der Wortgruppe stark sprechsituativ bedingt sind und der Wortgruppenakzent ein potenzieller Satzakzent ist, wird der Akzent auf diesen zwei Ebenen zusammen behandelt. Die Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen betreffen auch auf dieser Ebene: a. die Relevanz der Funktionen, b. die Mittel der Akzentuierung und den Beitrag der Konstituenten, c. die Akzentuierungsregeln. Die Relevanz der Funktionen steht mit der Betonungsart in Verbindung: a. Der zentralisierende Charakter des Akzents im Deutschen offenbart sich auf dieser Ebene durch die starke Bindung der unbetonten und deakzentuierten Silben/Wörter an den Akzent. Im Rumänischen ist infolge des dezentralisierenden Charakters des Akzents die Verbindung zwischen den Wörtern innerhalb der Wortgruppe loser, was zu mehr Pausen führt. b. Damit im Zusammenhang steht auch die kulminative oder gipfelbildende Leis-tung des Akzents. Im Deutschen ist sie sehr stark ausgeprägt, der Kontrast zwischen betonter und unbetonter Silbe extrem. Im Rumänischen ist der Kontrast gering. c. Die charakteristische Betonungsart führt im Deutschen zu einer perzeptiv prägnanteren Gliederung, während im Rumänischen bei gepflegter reproduzierender Sprache, infolge der loseren Bindung der Wörter, die Tendenz zu kürzeren Wortgruppen besteht. Unterschiede ergeben sich auch hinsichtlich der Akzentuierungsmittel und des Beitrages der Konstituenten: a. In beiden Sprachen sind die universal gültigen Komponenten (Akzent, Pausen, Tonhöhenverlauf, Tempo) bei der Konstituierung der Wortgruppen wirksam. Die Unterschiede betreffen aber die Wirkung derselben, besonders diejenige der Tempovariationen. Im Deutschen ergeben sie extreme Unterschiede zwischen Relaxation und Akzeleration, präakzentuell ist das Sprechtempo schneller, postakzentuell deutlich verlangsamt. Die finale Dehnung ist im Deutschen perzeptiv deutlicher als im Rumänischen. Zwar werden auch im Rumänischen wichtige Informationen langsamer gesprochen, der Kontrast zu den weniger wichtigen ist aber geringer, der Charakter der Pro- und Enklise loser, die segmentale Abschwächung vergleichsweise gerin- 458 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten ger, der Kontrast zwischen dem prä- und postakzentuellen Teil der Wortgruppe weniger auffällig als im Deutschen. Zwar treten im Rumänischen in der ungepflegten Sprache phonetische Wörter auf, z. B. du-su-mi-s-a, usw., wo die Selbständigkeit der einzelnen Formative vom lautlichen Gesichtspunkt aufgegeben wird und die Formativ- und Silbengrenzen verwischt werden, die schwachen Formen im Deutschen, z. B. im (in dem), usw. sind aber auch in der Standardsprache gestattet. b. Die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen betreffen weiterhin den Einsatz der phonetischen Mittel. Während im Deutschen, wie im Falle des Wortakzents, bei der Konstituierung des Wortgruppen- und Satzakzents alle Mittel beteiligt sind, kommen im Rumänischen primär die Intensitäts- und Tonhöhenmodifikationen in Frage. Der Akzent ist auch auf dieser Ebene dezentralisierend, während im Deutschen der zentralisierende Charakter stark ausgeprägt ist. c. Unterschiedlich ist auch der Tonhöhenverlauf am Wortgruppen- und Satzende. Zwar bestehen in beiden Sprachen progrediente, terminale und interrogative Verläufe, im Rumänischen ist aber die Amplitüde geringer, was einen tieferen Höhepunkt, bzw. höheren Tiefpunkt des Tonhöhenverlaufs zur Folge hat. Im Deutschen ist das Steigerungs- und Gefälleintervall größer, ADRIAENS (1984) zufolge von zehn Halbtönen. Im Rumänischen erreicht die Melodie am Satzende nicht die Lösungstiefe, was im Deutschen eine Fortsetzung und kein Ende der Äußerung signalisiert. Die Kontraste zwischen den beiden Sprachen betreffen auch die Akzentplatzierungsregeln: a. In beiden Sprachen gilt das Prinzip des Fortschreitens der Information vom Bekannten zum Unbekannten. Unterschiede ergeben sich aber infolge der systembedingten Wortfolge in der jeweiligen Sprache. Während im Rumänischen keine Verbalklammer vorhanden ist und in der sachlich-neutralen Rede das am weitesten rechts befindliche Inhaltswort betont wird (z. B. Attribute, Umstandsbestimmungen, Objekte), liegt im Deutschen der Wortgruppen- und Satzakzent nicht immer final, sondern kann eine leichte Linkstendenz aufweisen, das finite Verb erhält einen Nebenakzent, z. B. Martin Luther wurde im Jahre 1483 in Eisleben als Sohn eines BERGmanns geboren. Martin Luther s-a n`scut în anul 1483 în Eisleben ca fiu de minER. b. Unterschiede ergeben sich auch bezüglich der Regeln zur Betonbarkeit der Formwörter. Prinzipiell gilt für beide Sprachen die Akzentlosigkeit derselben. Die Situationen aber im Rumänischen, wo ein Kontrastakzent gesetzt wird, sind sehr häufig. Außerdem haben die Einsilber einen variablen Status, sie treten mal betont, mal unbetont auf (vgl. SFÎRLEA 1970: 193), z. B. Dac` tu socote[ti c` sunt vinovat`? Dar în ce situa]ie ai pus-o? c. In beiden Sprachen tritt ein rhythmischer Akzent auf, der auf einer Alternation von betonten und unbetonten Silben/Einheiten basiert. Wegen des mobilen Wortakzents, der Akzentdubletten ohne bedeutungsdifferenzierenden Charakter ist aber der rhythmische Akzent im Rumänischen häufiger als im Deutschen, wo er hauptsächlich in Sätzen mit geringem Informationsgehalt auftritt, in denen keine Fokusalternative zur Debatte steht. Untersuchungen von LÖTSCHER (1983: 52) geben für das Deutsche als präferierte Stellen den Satzanfang, den thematischen Teil an, oder das Mittelfeld nach stark hervorgehobenem Element im Vorfeld. Die angeführten systembedingten Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen führen zu potenziellen Fehlern bei rumänischen Deutschlernenden, denen im DaF-Unterricht aus Rumänien Rechnung getragen werden muss. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 459 Maria Ileana Moise 2.3 Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in der Akzentuierung im Deutschen und Rumänischen Trotz zahlreicher Unterschiede in der Akzentuierung bestehen zwischen den beiden Sprachen auch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten. Sie betreffen: a. das Vorhandensein des Akzents auf der Wort-, Wortgruppen- und Satzebene b. die Hierarchie der Akzente (Wortakzent, potenzieller Wortgruppen- und Satzakzent) c. die Wirksamkeit der meisten Funktionen des Akzents (kulminative, bedeutungsdifferenzierende, usw.) d. die Komplexität der Akzentuierungsregeln e. die Existenz des rhythmischen Akzents f. die Wirksamkeit der Thema-Rhema-Gliederung g. die prinzipielle Unbetonbarkeit der Funktionswörter h. die Akzentrealisierung als Komplexerscheinung i. die schwächere intonatorische Realisierung der Nebenakzente 3. Der Rhythmus im Deutschen und Rumänischen 3.1 Unterschiede im Sprachrhythmus Für die Bestimmung des Rhythmustyps einer Sprache wurden in der Fachliteratur (AUER/UHMANN 1988; VÖLTZ 1994; DAUER 1987; DUFTER 1997; KALTENBACHER 1998; 1999) 3 mehrere Kriterien und prototypische Merkmale formuliert . Die einzelnen Autoren berücksichtigen aber dieselben nur selektiv. Bei der Analyse des Rhythmus des Deutschen und Rumänischen habe ich alle Kriterien in Betracht gezogen, dieselben wurden sogar mit phonetisch-intonatorischen erweitert. Es handelt sich um die phonetischen Merkmale des Akzents, die Betonungsart und um charakteristische Phänomene der rhythmischen Euphonie. Berücksichtigt wurde auch die distinktive Funktion des Akzents auf grammatischer Ebene. Meine Absicht war, für den silbenzählenden Charakter des Rumänischen ausführliche theoretisch fundierte Belege bringen zu können. Bezüglich der rumänischen Forschung in diesem Bereich ist festzustellen, dass CHI}ORAN (1970; 1977), POPA/PÂRLOG (1973) und PÂRLOG (1997), die einzigen rumänischen Wissenschaftler, die sich mit dem sprachlichen Rhythmus in unpoetischer Sprache beschäftigt haben, den Rhythmus des Rumänischen als silbenzählend definieren. Die Argumente von POPA/PÂRLOG (1973) basieren aber nur auf Ergebnissen der Fehleranalyse von Äußerungen rumänischer Englischlernenden, ohne genügend fundierte Belege, im Sinne von systembedingten Charakteristika für das Rumänische zu bringen, welche diese Zuordnung untermauern. Für die Konfrontation des Sprachrhythmus in den beiden Sprachen werden im Folgenden: a. die Isochronie herstellenden rhythmischen Grundeinheiten, b. die Silbenstruktur und die sie beeinflussenden Faktoren, c. der sprachspezifische Akzent als Fixpunkt der rhythmischen Ein- 3 A. die perzeptive Isochronie der rhythmischen Einheiten B. die Reduktionsprozesse C. die Silbenstruktur und die Klarheit der Silbengrenzen D. die Beziehungen zwischen Silbenstruktur und Akzentposition E. die Position des Wortakzents F. die distinktive Funktion des Akzents G. Phänomene der rhythmischen Euphonie 460 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten heit analysiert. Diese Kriterien betrachte ich als eine Zusammenfassung der oben angeführten Charakteristika. a. Die Isochronie herstellende rhythmische Grundeinheit bildet den ersten wesentlichen Unterschied zwischen dem Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Im Deutschen ist es theoretisch der Takt, in der gesprochenen Sprache die Akzentgruppe, im Rumänischen die Silbe, betonte oder unbetonte. Diese Einheiten kehren in zeitlich ungefähr gleichen Intervallen wieder. Für die Isochronie der rhythmischen Einheiten finden im Deutschen Reduktionen der unbetonten Silben und Wörter statt, die einen Dauerausgleich zwischen den Akzenten zur Folge haben. Auch im Rumänischen treten Ausgleichprozesse ein, sie betreffen aber nur die Silbe. Die höheren rhythmischen Einheiten entsprechen also hier der Länge der enthaltenen Segmente. Dieser Umstand führt im Deutschen zu einem akzentzählenden, im Rumänischen zu einem silbenzählenden Rhythmus. b. Die Analyse der Silbenstruktur und der sie beeinflussenden Faktoren ergibt zwischen den beiden Sprachen weitere Kontraste. - Obwohl auf den ersten Blick bezüglich der Silbenstruktur in den beiden Sprachen keine wesentlichen Unterschiede vorzuliegen scheinen, da in beiden Sprachen komplexe Konsonantensequenzen im on- und offset möglich sind, ergibt die Analyse der Häufigkeitsrate der Konsonantencluster in der Koda im Deutschen mehr Konsonantenanhäufungen (32 CCCVerbindungen) als im Rumänischen (16 Konsonantencluster). Im Deutschen treten außerdem in flektierter Form infolge der Tempobeschleunigung auch 4 bis 5 Konsonanten auf, z. B. du strolchst, des Herbsts. In dieser Hinsicht kann behauptet werden, dass die Silbenstruktur im Deutschen komplexer ist. Immerhin weicht das Rumänische unter diesem Aspekt von den prototypischen silbenzählenden Merkmalen eindeutig ab. - Wird der Silbentyp in den beiden Sprachen verglichen, so sind laut Angaben von MEINHOLD/STOCK (1982: 204f.), ESSER (1960) im Deutschen die meisten Silben geschlossen, während im Rumänischen nach ROSETTI (1967: 82) die Mehrzahl offen ist. - Wird das Kriterium Erhaltung der Silbengrenze herangezogen, z. B. die Geminaten und ihre Konstanz, so treten andere Kontraste auf. Während im Deutschen ihre Zahl sehr groß ist und an der Silbengrenze eine Reduktion derselben stattfindet, sind im Rumänischen in der Hochsprache Doppelkonsonanten untypisch. In dieser Hinsicht weist das Rumänische intakte Silbengrenzen auf, während diese im Deutschen verwischt sind. Werden auch andere grenzsignalisierende Faktoren in Betracht gezogen, wie z. B. der Knacklaut, die Aspiration der anund auslautenden Klusile oder die Auslautverhärtung im Deutschen, so fungieren sie als deutliche Signale für die Silbengrenze. Diese Grenzsymbole sind für das Rumänische uncharakteristisch, stimmhafte Verschlusslaute, z. B. glob, globului, bleiben ungeachtet ihrer Position immer stimmhaft. Für das Deutsche kann also sowohl von klaren als auch von verwischten Silbengrenzen gesprochen werden, besonders bei beschleunigtem Tempo, während sie im Rumänischen dominant intakt bleiben und deutlich zu erkennen sind. - Werden die auf der segmentalen Ebene stattfindenden koartikulatorischen Prozesse verglichen, die den Charakter des Rhythmus in den beiden Sprachen determinieren, so treten sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen Assimilationen, Reduktionen, Elisionen auf. Wird hingegen der Charakter dieser Prozesse berücksichtigt, so ergeben sich wesentliche Unterschiede. So z. B. sind für den Rhythmus im Deutschen die quantitativen und qualitativen Modifikationen der Vokale in den unbetonten Silben von besonderer Relevanz, z. B. Kürzung und Entspannung der langen Vokale, Öffnung der geschlossenen, Reduktion oder Elision der E-Laute in Endungen, Zentralisierung der Endung -er. Die Akzentvokale heben sich durch Gespanntheit der Muskulatur und deutliche Artikulation ab. Wenn die den Silbenkern betreffenden phonetischen Prozesse im Rumänischen berücksichtigt werden, so können keine qualitativen oder quantitativen Veränderungen beobachtet werden. Im Rumänischen haben ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 461 Maria Ileana Moise die Vokale, ob betont oder unbetont, nur einen Wert, eine mittlere Länge. Auch die Hiatusauflösung durch Hinzufügung der unsilbischen Vokale [i] oder [u], z. B. mitralier`, elogiat, sowie die für die Bildung von phonetischen Wörtern stattfindenden Elisionen, z. B. [I acum > [-acum, se opre[te -> s-opre[te, usw. beeinflussen den Akzentvokal auf keine Weise. Sie können zwar auf der Silbenebene eine komplexere Struktur bewirken, tragen aber zum Ausgleich der einzelnen Silbendauern bei. Während die Modifikationen im konsonantischen Bereich im Deutschen (Auslautverhärtung) den Eindruck von Härte verstärken (vgl. MEINHOLD/STOCK 1982: 208; GREGOR-CHIRI}Ă 1991: 75), so unterstützt die regressive Assimilation (Stimmhaftwerden der Konsonanten) im Rumänischen den weichen, fließenden Klang der Sprache. - Wird das Merkmal Vokalharmonie in den beiden Sprachen verglichen, so kann für das Deutsche von einer annähernden Vokalharmonie gesprochen werden, da allein für den Schwa-Laut in der Akzentsilbe eine totale Restriktion besteht. Im Rumänischen betrifft die Einschränkung nur das entstimmte [i] im Plural einiger Substantive, für die Phoneme /`/ und /î, â/ kann die Akzentverlagerung z. B. in l`u’d`, l`u’da, usw. nicht als Beweis für eine eindeutige Restriktion für diese Vokale in der Akzentsilbe angenommen werden, diese Phoneme treten sowohl in betonter als auch in unbetonter Position auf. Wird die Häufigkeitsrate des Schwa-Lautes im Deutschen und des entstimmten “i” im Rumänischen verglichen, so tritt das letztere seltener auf. Für das Deutsche kann also von einer partiellen Vokalharmonie, für das Rumänische von einer fast totalen ausgegangen werden. c. Unterschiede betreffen auch die Akzentstelle als Fixpunkt für die rhythmische Einheit: - Bezüglich dieses Kriteriums sind die Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen beim heutigen Stand der Forschung des Wortakzents sehr groß. Im Deutschen werden Erbwörter kapochron betont, Fremdwörtern kodachron, im Rumänischen besteht generell eine kodachrone Akzentuierung. - Auf höheren Ebenen sind infolge der wirksamen Thema-Rhema-Gliederung in der sachlichneutralen Rede die Unterschiede geringer. Während aber im Rumänischen eine deutliche Rechtstendenz mit Finalbetonung besteht, so kann im Deutschen infolge der spezifischen Wortfolge eine leichte Linkstendenz festgestellt werden, z. B. Drei Jahre später/ im Jahre fünfzehnhundertzwölf/ wurde er zum Doktor theologiae/ und Professor für Bibelerklärung/ in Wittenberg ernannt/ Trei ani mai târziu/ în anul/ o mie cinci sute doisprezece/ a fost numit doctor în teologie/ [i profesor în interpretarea bibliei/ la Wittenberg/ Hinzu kommen Unterschiede bezüglich des Status der Nebenakzente, als Rhythmus konstituierende Elemente. Im Rumänischen werden die Nebenakzente in geringerem Maße abgeschwächt als im Deutschen und sind i. d. R. als Rhythmus konstituierend wirksam. Im Deutschen ist wegen der Tempovariationen die Tendenz zur Deakzentuierung derselben stärker. Infolgedessen entstehen längere rhythmische Einheiten, während im Rumänischen wegen der Realisierung aller potenziellen Akzente die höheren rhythmischen Einheiten kürzer sind, z. B. Martin Luther // wurde im Jahre 1483 // in Eisleben // als Sohn // eines BERGmanns geboren.// 1 2 3 4 5 Martin Luther // s-a n`scut // în anul 1483// în Eisleben // ca fiu // de minER.// 1 2 3 4 5 6 462 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten 3.2 Unterschiede im Sprechrhythmus Für die Gegenüberstellung des Sprechrhythmus werden: a. Pausen und Sprechtempo als Rhythmus optimierende Faktoren b. die Länge der Interstressintervalle und die Position der rhythmischen Schwere c. die rhythmische Euphonie berücksichtigt. a. In beiden Sprachen sind Pause und Tempo Rhythmus konstituierende Faktoren, zugleich optimieren sie auch denselben. Der Einsatz der Pausen ist allerdings in der reproduzierten Sprache strenger geregelt, in der frei produzierten Sprache ist z. B. die Zahl der Häsitationspausen größer; sie haben oft rhythmischen Charakter und können den Akzent ersetzen, oder die Taktdauer regulieren. Wegen der laxen Bindung zwischen den Wörtern innerhalb der rhythmischen Gruppe ist die Zahl der Pausen im Rumänischen vergleichsweise zum Deutschen größer. Dadurch entstehen mehrere kürzere Akzentgruppen. Im Deutschen hingegen sind infolge der Reduktionsprozesse die Akzentgruppen länger, Atempausen sind nicht notwendig. Zwar treten in beiden Sprachen vom Textinhalt abhängig Tempovariationen auf, ihre Auswirkungen sind aber unterschiedlich. Im Deutschen begünstigen und produzieren sie Vokal- und Konsonantenreduktionen und –elisionen, die Isochronie der höheren rhythmischen Einheiten. Die Anzahl der von den rhythmischen Einheiten enthaltenen Wörter spielt keine besondere Rolle, da durch Reduktionen/Elisionen perzeptiv eine zeitlich ungefähr gleiche Aufeinanderfolge der Akzente gesichert werden kann, ohne dass die Dauer der rhythmischen Einheit wesentlich vergrößert wird. Im Rumänischen bewirken die mit den Tempovariationen verbundenen koartikulatorischen Prozesse eine Optimierung der Silbenränder und der Silbenlänge und nicht der höheren rhythmischen Einheiten. Die Verbindung zwischen den Wörtern bleibt vergleichsweise zum Deutschen loser. b. Auch bezüglich des zweiten Kriteriums, der Länge der Interstressintervalle und der Position der rhythmischen Schwere bestehen zwischen den beiden Sprachen Unterschiede: - Während im Deutschen durch die Tempovariationen die Interstressintervalle ausgeglichen, d. h. gekürzt oder gedehnt werden, so entspricht im Rumänischen die Länge der höheren rhythmischen Einheit der Dauer der enthaltenen Silben. Während die Interstressintervalle im Deutschen infolge der Deakzentuierungen größer sind, betragen sie im Rumänischen nach SFÎRLEA (1970: 191f.) 1 – 3 unbetonte Silben, z. B. Martin Luther // wurde im Jahre vierzehnhundertdreiundachtzig // in Eisleben // als Sohn // 2 10 4 3 eines Bergmanns geboren.// 2 Martin Luther // s-a n`scut // în anul o mie patru sute optzeci [i trei // în Eisleben // ca fiu // 1 1 2 1 2 1 1 2 1 1 3 de miner.// 2 c. Während im Deutschen die Hauptakzentposition in höheren rhythmischen Einheiten eine relative Mobilität (vorletzte, vorvorletzte, viertletzte Silbe oder eine weiter mediale Position) aufweist, liegt im Rumänischen in der sachlich-neutralen Rede der Hauptakzent in den meisten Fällen final, d. h. auf der letzten oder vorletzten Silbe. d. Die rhythmische Euphonie bezieht sich auf die Anwendung von Wohlgeformtheitsregeln wie Schlaghinzufügung, d. h. Konstituierung eines neuen Akzents, Schlagbewegung, Akzentverlagerung, Schlageliminierung, Akzentverlagerung oder Deakzentuierung. Der Rhythmus basiert in beiden Sprachen auf den Haupt- und Nebenakzenten. Der Unterschied in der Herstellung der ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 463 Maria Ileana Moise rhythmischen Euphonie zwischen dem Deutschen und Rumänischen fußt auf: a. der Regelhaftigkeit des Akzents (fest – mobil, Akzentdubletten), b. der Häufigkeit der Verwendung des rhythmischen Akzents und c. der mehr oder weniger strengen Erhaltung der rhythmischen Wohlgeformtheit. M. E. wird im Rumänischen der rhythmische Akzent häufiger verwendet. a. Auf Grund der relativ vielen Akzentdubletten besteht im Rumänischen die Möglichkeit, zu rhythmischen Zwecken Akzente zu versetzen, ohne eine Bedeutungsänderung zu verursachen, ein Phänomen, das im Deutschen fremd ist. b. Die Einsilber haben einen variablen Status, sie treten mal betont, mal unbetont auf. Auch die Rolle der Formwörter ist weniger streng geregelt, als im Deutschen, sie werden oft betont. c. Infolge des schwachen Kontrasts zwischen betonten und unbetonten Silben tritt der Kontrastakzent häufiger auf. d. Im Rumänischen wird die rhythmische Euphonie durch den geringen Kontrast zwischen Haupt- und Nebenakzent unterstützt, d. h. die letzteren werden i. d. R. realisiert, nicht deakzentuiert. e. SFÎRLEA (1970: 192f.) zufolge ist die Alternanz zwischen betonten und unbetonten Silben obligatorisch. f. Im Deutschen werden die Interstressintervalle durch Tempovariationen und segmentale Reduktionen / Elisionen reguliert. Nebenakzente tragende Wörter werden oft deakzentuiert. Zusätzliche Akzente sind demzufolge für die Optimierung der Interstressintervalle selten nötig, was allerdings tempoabhängig ist. Die weiter oben beschriebenen Unterschiede ergeben in den beiden Sprachen verschiedene Rhythmustypen, im Deutschen einen hämmernden, stoßenden staccato-Rhythmus, im Rumänischen einen weichen, gleitenden, fließenden legato-Rhythmus, obwohl die beiden Sprachen die prototypischen Merkmale nicht in idealer Weise erfüllen. Das Deutsche zeigt z. B. beim langsamen Sprechen silbenzählende Merkmale auf, sein akzentzählender Charakter ist auch schwächer ausgeprägt als derjenige des Englischen. Wenn die prototypischen Merkmale der akzentzählenden Sprachen in Betracht gezogen werden, so besteht im Deutschen eine Restriktion inder Akzentsilbe nur für den Schwa-Laut, im Englischen jedoch sind gesonderte Vokalreihen vorhanden, die Silbengrenzen sind sowohl intakt als auch verwischt, die bedeutungsdifferenzierende Funktion des Akzents ist nur marginal wirksam, usw. Untersuchungen für das Deutsche belegen auch Unterschiede zwischen Dialekt und Hochsprache, der Wiener Dialekt soll silbenzählender sein als das österreichische Hochdeutsch. Sprachhistorische Untersuchungen von KALTENBERG (1999: 217) verweisen im AHD und frühen MHD auf deutliche silbenzählende Merkmale. Wenn im Rumänischen die Silbenstruktur, die Relevanz der lexikalisch und grammatisch distinktiven Funktion des Akzents, die Mobilität der Akzentstelle, die Komplexität der Wortakzentuierungsregeln berücksichtigt werden, nähert es sich den Charakteristika der akzentzählenden Sprachen. Auch für das Rumänische ist anzunehmen, dass zwischen Dialekt und Hochsprache Unterschiede bestehen, dass in den verschiedenen Entwicklungsetappen, infolge der Aufnahme von Fremdwörtern aus verschiedenen Sprachen, andere Charakteristika galten als heute. 3.3 Ähnlichkeiten in der Rhythmisierung im Deutschen und Rumänischen Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen dem Rhythmus in den beiden Sprachen kann auch von Ähnlichkeiten gesprochen werden. Die betreffen: a. Die Silbe als Grundeinheit des Rhythmus, als Baustein für die Konstituierung der höheren rhythmischen Einheiten; b. Die Akzente (Hauptakzente) sind Fixpunkte für die Rhythmisierung; 464 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten c. d. e. f. Sprachspezifische koartikulatorische Prozesse dienen zur Optimierung, Angleichung der Silbenstruktur und -länge; In beiden Sprachen kann von einer Rechtstendenz der Akzentstelle in höheren rhythmischen Einheiten ausgegangen werden; Sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen existiert ein rhythmischer Akzent; Pause und Sprechtempo haben eine Rhythmus konstituierende und optimierende Rolle. 4. Potenzielle Fehler rumänischer Deutschlernenden bei der Akzentuierung und Rhythmisierung im Deutschen a. Die angeführten Unterschiede führen zu potenziellen Fehlern bei rumänischen Deutschlernenden, die auch für andere Ausgangssprachen mit silbenzählendem Charakter Gültigkeit haben. Sie beziehen sich hauptsächlich auf: a. die Konstituierung, Konservierung und Optimierung der rhythmischen Einheiten, das Segment und Suprasegment betreffende Prozesse, b. die Akzentplatzierung und -realisierung: b. Die potenziellen Fehler in der Realisierung des Wortrhythmus betreffen die Initialbetonung im Deutschen und die Verteilung der Akzente in Derivata und Komposita. c. Zahlreiche Fehler sind bei der Akzentplatzierung auf der Akzentgruppenebene zu erwarten, da im Rumänischen die Tendenz besteht, den Akzent final zu setzen, im Deutschen aber derselbe infolge der unterschiedlichen Wortfolge eine leichte Linkstendenz aufweisen kann. Der rumänische Lernende wird voraussichtlich auf Grund des negativen Transfers aus der Muttersprache in den rhythmischen Einheiten den Akzent final setzen. e. Weil im Rumänischen alle Silben (betonte und unbetonte) intonatorisch wenig differenziert werden, tendiert der rumänische Deutschlernende auch im Deutschen die Silben alle gleich lang auszusprechen und die unbetonten Silben zu stark zu gewichten. Der Fehler gilt für Lernende mit silbenzählender MS als charakteristisch. d. Damit im Zusammenhang stehen potenzielle Fehler bei der Reduktion der unbetonten Silben, besonders des Schwa-Lautes in Endungen und bei der Realisierung des vokalisierten “r”, die für den Rhythmus des Deutschen von besonderer Relevanz sind und für den Erwerb des Deutschen vielleicht die größte Schwierigkeit bedeuten (vgl. VÖLTZ 1994: 102). Es ist anzunehmen, dass der rumänische Deutschlernende die Endungen voll realisiert, was zur Längung der Akzentgruppe, zur Unisochronie der rhythmischen Einheiten führt. Auch dieser Fehler gilt für Lernende mit einer silbenzählenden MS als charakteristisch. Der Reduktionsprozess des “e” im Stammauslaut und in Flexionsmorphemen ist bei rumänischen Deutschlernenden besonders schwer zu beheben, da es im Rumänischen einen ähnlichen Vokal mit Phonemstatus gibt, das <`>, das dem deutschen Schwa zwar in gewisser Hinsicht ähnlich ist, (zentral gebildeter Vokal), jedoch auf keinen Fall mit ihm identifiziert werden darf. e. Zu erwarten sind auch Koartikulationsprozesse, die im Deutschen normwidrig sind, z. B. regressive Assimilationen, Palatalisierungserscheinungen oder die stimmhafte Realisierung der Konsonanten im Silben- und Wortauslaut. f. Potenzielle Fehler betreffen auch die Realisierung der Knacklaute am Silben- und Wortanfang bei anlautendem Vokal, die im Rumänischen fremd sind und sich letztendlich auf die charakteristische deutsche Rhythmisierung negativ auswirken. g. Da im Rumänischen die Anzahl der unbetonten Silben zwischen den Akzenten im Vergleich zum Deutschen geringer ist, werden die rumänischen Sprecher innerhalb der Akzentgruppe und der rhythmischen Gruppe voraussichtlich zu mehreren Akzenten tendieren. Dadurch wird die rhythmische Struktur der Einheiten zerstört. Auch dieser Fehler ist für Lernende mit silbenzählender MS kennzeichnend. h. Ebenfalls als potenzielle Fehlerquelle gelten auch die in der gesprochenen Sprache sehr häufigen “schwachen Formen”, da das Phänomen im Rumänischen nicht als solches vorhanden ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 465 Maria Ileana Moise ist. Zu erwarten ist, dass der rumänische Deutschlernende die Funktionswörter in ihrer starken Form realisiert. Diese Fehlleistung wirkt sich auf die rhythmische Strukturierung im Deutschen im Sinne der Beeinträchtigung der Dauer der rhythmischen Einheiten negativ aus. i. Eine weitere Fehlerquelle für die rhythmische Strukturierung der Äußerung bildet die Realisierung des rhythmischen Akzents. Es ist anzunehmen, dass der Deutschlernende die Lokalisierung der Nebenakzente, deren Platzierung im Rumänischen hauptsächlich vom Prinzip der rhythmischen Alternation bestimmt wird, im Deutschen verfehlt. j. Potenzielle Fehler sind auch in der Pausensetzung zu erwarten. Infolge der komplexen Komposita und der unterschiedlichen Wortfolge im Deutschen, besonders aber der längeren rhythmischen Gruppen könnte der Lerner zu einer stärkeren Untergliederung der Äußerungen im Deutschen tendieren. Andererseits könnten auf Grund des Transfers der Akzentplatzierung im Rumänischen auch fehlerhafte rhythmische Pausen gesetzt werden. k. Wegen der unterschiedlichen Funktion der Tempovariationen in den beiden Sprachen ist anzunehmen, dass der rumänische Lerner dieselben nicht oder in ungenügendem Maße für die Raffung und Reduktion der unbetonten Silben, für die Konstituierung von Gruppen um das Zentrum einsetzen wird, was ebenfalls zu einer Unisochronie führt. Schlussfolgernd kann behauptet werden, dass Wahrnehmen und Erwerb des Rhythmus und seiner konstituierenden Komponenten im Deutschen von außerordentlicher Bedeutsamkeit für den FU sind. Der Rhythmus bildet den charakteristischen Klang der Sprache und vereint alle sprachlichen Strukturen und Merkmale, angefangen von der Artikulation und bis zum zusammenhängenden Sprechen. In diesem Sinne muss VÖLTZ (1994: 100) darin zugestimmt werden, dass gravierende Fehler in der Rhythmisierung eine Barriere für das normgemäße, flüssige Sprechen sind, gleichzeitig ein Hindernis für die normal und unaufwändig ablaufende Sprachwahrnehmung und Verarbeitung in der Kommunikation mit den native-speakers. Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 466 ABERCROMBIE, D. (1967): Elements of General Phonetics. Edinburgh: University Press. ADRIAENS, L. M. H. (1984): A preliminary description of German intonation. In: IPO-Report 19, 36-41. AUER, P.; UHMANN, S. (1988): Silben- und akzentzählende Sprachen. Literaturüberblick und Diskussion. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 7, 2, 214-259. CHI}ORAN, D. (1970): Limba englez` contemporan`. Fonetic` [i fonologie. Bucure[ti. 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Die Semiotik, die in der Vergangenheit eine Teildisziplin der Philosophie war, hat sich zu einer äußerst transgressiven, also grenzüberschreitenden Wissenschaft entwickelt, die heutzutage innerhalb vielerlei Fächer betrieben wird, darunter im Rahmen der Philosophie, Logik, Ästhetik, Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft und in anderen Fächern. Der Gegenstand der Semiotik ist das Zeichen, also etwas, was für etwas anderes steht und sogleich zu etwas steht, hauptsächlich zu dem wahrnehmenden Menschen. Anders gesagt: das Zeichen ist das, was etwas anderes repräsentiert, und zwar im Bezug auf ein wahrnehmendes Subjekt (Oehler 2000: 18). Das grüne Licht an der Ampel ist ein Zeichen zumindest in dem Sinne, dass es im Kontext des Straßenverkehrs die Erlaubnis zur Fortbewegung repräsentiert (es steht für etwas), und zwar im Bezug auf den Autofahrer, der an der Straßenampel vorbeifährt, oder auf den Fußgänger, der die Straße überquert (es steht zu etwas). Im gleichen Sinne gilt als Zeichen das rote Licht, das in demselben Kontext das Verbot der Fortbewegung vermittelt. Am angeführten Beispiel sind zwei Tatsachen zu beachten: Erstens, das Zeichensein des Zeichens besteht bloß in der kontextgebundenen Relation zwischen dem Zeichen (grünes Licht / rotes Licht) und seiner Bedeutung (Erlaubnis / Verbot): nicht jedes grüne Licht repräsentiert die Erlaubnis und nicht jedes rote Licht repräsentiert das Verbot (vgl. grüne und rote Lichter am Tannenbaum). Diese Relation hat dabei konventionellen, und dadurch arbiträren Charakter: die Bedeutung der Farben könnte auch umgekehrt sein, oder sie könnten durch andere Farben ersetzt werden, wenn sich an dieser Änderung die ganze Sprach- und Kulturgemeinschaft einigen würde. Zweitens, die Repräsentation der Bedeutung durch das Zeichen gilt nicht an sich, sondern, wie gesagt, nur im Bezug auf jemanden, z.B. auf den Autofahrer, der sie zu verstehen weiß — sie gilt etwa nicht für einen Hund, der an der Ampel vorbeiläuft. 1. Verstecktheit der Zeichen Innerhalb der Lebenswelt, die sich dem Menschen meistens als nicht thematisierter, selbstverständlicher Horizont seines Handelns, Wahrnehmens, Erkennens und Verstehens (oder Mißverstehens) darbietet, sind überall Zeichen vorzufinden, auch da, wo man sie gar nicht vermutet hätte. Außer offenkundigen Zeichen, die als solche erkannt werden (z.B. Lichter an Ampeln, Straßenzeichen, Firmenmarken usw.) gibt es überall "versteckte" Zeichen, also Zeichen, die sich an Gestaltung der Lebenswelt beteiligen, ohne dass sich der Mensch dessen unbedingt bewusst sein müsste. Das wesentlichste Zeichensystem, das sich an unserem Wahrnehmen und Handeln beteiligt und uns somit die Welt vermittelt, ist die Sprache. Wenn an allem menschlichen Wahrnehmen und Handeln irgendwelche Zeichensysteme teilhaben, lässt es sich sagen, dass wir in der Welt der Zeichen leben. Der menschliche Weltbezug hat einen Zeichencharakter zumindest in dem Sinne, dass er davon abhängt, welche Zeichensysteme an ihm beteiligt sind. Das heißt wiederum, dass es kaum einen Bereich der menschlichen Erfahrung gibt, der sich der semiotischen Analyse entziehen könnte. Jeder menschliche Weltbezug ist unter dem Gesichtspunkt der Zeichensysteme, die sich an ihm beteiligen, analysierbar. Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus Die Annahme, die Welt werde uns durch Zeichensysteme vermittelt — so, dass die von uns wahrgenommenen Sachverhalte von vornherein mit Zeichen "verschmolzen" sind — bringt mit sich die Frage, ob und inwieweit die von uns wahrgenommenen Sachverhalte können durch die Eigenart des an ihm beteiligten Zeichensystems beeinflusst werden. Da das bedeutendste (oder primäre) natürliche Zeichensystem die Sprache ist, spricht man in diesem Zusammenhang vom Weltbild einer Sprache. Wilhelm von Humboldt (1765-1835), deutscher Gelehrter, der im Kontext der europäischen Sprachwissenschaft die Entdeckung gemacht hat, dass unser Weltbild von der von uns gebrauchten Sprache abhängig sein kann, machte in seiner Abhandlung "Über das vergleichende Sprachstudium" von 1820 folgende Bemerkung: "Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens und des Wortes voneinander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst" (Apel 1991: 106). Anders ausgedrückt heißt es, in ihrer Gesamtheit bestimmen die Wörter einer Sprache in ihrer Gliederung und in ihren Beziehungen zueinander die Möglichkeiten der Setzung, also das, was von der Wirklichkeit erfasst werden kann und wie es erfasst werden kann (Porzig 1950: 366). Dies ist im Kontext der Semiotik nichts anderes als Anerkennung der Rolle des Zeichens (darunter Wortes) und des Zeichensystems (darunter der Sprache) in der menschlichen Wahrnehmung und seiner Fähigkeit das von dem Menschen Wahrgenommene mitzubestimmen und mitzugestalten. Man sieht also, dass es sich hier ein direkter Übergang zwischen der Semiotik und der Theorie des sprachlichen Relativismus ebnet, die im Überprüfen besteht, wie und inwieweit die von dem Menschen wahrgenommenen Sachverhalte von der von ihm gebrauchten Sprache — als Zeichensystem verstanden — abhängig sein können. Die wichtigsten Verfechter dieses Ansatzes auf dem amerikanischen Kontinent waren Edward Sapir (1884-1936) und Benjamin Lee Whorf (1897-1941), in Europa war es der oben erwähnte Wilhelm von Humboldt und alle seine Nachfolger, unter ihnen der Begründer der sog. inhaltbezogenen Sprachwissenschaft, Leo Weisgerber. Ähnliches geschah in der zweiten Hälfte des 20. Jhs auf dem Gebiet der Kulturtheorie, vor allem in Frankreich, wo sich der konstruktivistische Ansatz entwickelte, inspiriert durch das Werk von Ferdinand de Saussure (1857-1913). Im Rahmen dieses Ansatzes wurden vielerlei aufschlussreiche Versuche unternommen, die Welt als Kulturgebilde zu thematisieren, d.h. die Rolle der Kultur als Zeichensystems in der menschlichen Weltauffassung zu erforschen (C. L. Strauss, M. 1 Foucault, R. Barthes, J. Derrida u.a.) . Auf die Relation zwischen Sprache und Kultur, die die gegenwärtige Semiotik als innerlich verschmolzene Zeichensysteme auffasst, kommen wir noch zu sprechen. Der Zugang zu der Frage nach der Beteiligung der Zeichen an der menschlichen Wahrnehmung ist durch die Tatsache erschwert, dass sich dem Menschen seine Lebenswelt als Reich der an sich gebenden Sachverhalte (Dingen und Vorgängen) hergibt und ihn nur selten dazu veranlasst, sie hinsichtlich der Zeichen, die sich an ihrer Setzung beteiligen, zu hinterfragen. — "Wahrnehmen" heißt ja eben, etwas "für wahr zu nehmen". Die innere Sicherheit, man nimmt die Sachverhalte in der Welt unbeteiligt — also "objektiv", so, wie sie in der Tat sind, und wie sie jeder vernünftige Mensch sehen müsste — nennt man Sprachrealismus (vgl. Weisgerber 1929: 53). Da die Gestalt der von dem Menschen wahrgenommenen Tatsachen neben der Sprache noch von anderen Zeichensystemen mitbestimmt wird, wie etwa von der Kultur, wäre es an2 gebracht, vom semiotischen Realismus zu sprechen . 1 2 Eine elementare Einführung in diese Problematik bieten z.B. G. Deleuze 1993 und J. Culler 1993 an. Im mittelalterlichen Denken taucht Realismus als semiotische Konzeption auf, die auf die Ideenlehre Platos zurückzuführen ist. Dieser Begriff darf mit dem gegenwärtigen Begriff Realismus (darunter Sprachrealismus) nicht verwechselt werden, da er im gewissen Sinne seinen Gegensatz bedeutet. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 469 Jan Kajfosz Die Frage nach der Rolle des Zeichens im menschlichen Wahrnehmen, und daher im menschlichen Weltverstehen, kann erst da auftauchen, wo der semiotische Realismus, der in der unreflektierten Einstellung zur Welt gründet, seine Selbstverständlichkeit verliert. Das Zeichen als Gegenstand der Semiotik wird erst da sichtbar, wo die "naive" Ansicht, die Rolle unserer Sprache bestehe bloß im Aufkleben von Etiketten auf die vorgegebenen Gegenstände, überwunden wird (Weisgerber 1971: s. 33-39). Daraus ergibt sich, dass das Zeichen als Gegenstand der Semiotik — und dadurch die Semiotik als solche — können erst bestimmte Metoden "entstehen" lassen, und zwar diejenigen, die im reflexiven Hinterfragen der menschlichen Wahrnehmung, des menschlichen Denkens und Handelns hinsichtlich ihres Zeichencharakters bestehen. Anders gesagt: erst unter Anwendung gewisser Sehens- und Denkungsart kommt man zur Einsicht, die menschliche Lebenswelt ist nicht die Wirklichkeit der Dinge, wie sie "an sich" sind, sondern dass sie uns durch Zeichen vermittelt wird, durch die sie erschlossen und gedeutet, verstellt oder entstellt, in jedem Fall geprägt wird (Oehler 2000: 13). Nehmen wir an, wir spazieren in der Stadt und auf einmal erblicken wir einen laufenden Hund. Man hat dabei den Anschein, man beobachtet einen unmittelbar gegebenen Sachverhalt. Wenn man jedoch sein eigenes Sehen des Hundes zum Thema macht, sieht man ein, dass die einfache Erklärung, der laufende Hund sei die Ursache des von uns beobachteten Geschehens, ungenügend ist. Bevor wir nämlich den laufenden Hund zur Ursache des von uns beobachteten Geschehens erklären konnten, mussten wir ihn eben als HUND erkannt haben. Wir mussten erkannt haben, dass da vorne ETWAS läuft, und dass es LÄUFT (und nicht etwa KRIECHT oder SPRINGT), und dass dieses etwas HUND ist (Weisgerber 1929: 29, 51-52, Apel 1991: 82). An jedem Wahrnehmungsurteil — also an jedem erkannten, gesehenen, gehörten oder gespürten Sachverhalt — beteiligt sich sowohl die postulierte vorbegriffliche Wirklichkeit, die unsere Sinnen affiziert, als auch die Begriffe unserer Sprache (Eco 2000: 76-98, Roesler 2000: 117-118). Man sieht zwar einen singulären laufenden Hund, nun, mit dem Begriff HUND wird eine Reihe von anderen Objekten und mit dem Begriff LAUFEN eine Reihe von anderen Ge3 schehen oder Geschehnissen gestellt . Begriffe, die sich an unserer Wahrnehmung beteiligen, sind somit das Allgemeine, das im Konkreten present ist. Der laufende Hund ist in dem Sinne als eine Synthese des Konkreten und des Allgemeinen (oder: Kategorialen) anzusehen, was u.a. heißt, dass an der konkreten "Ursache unserer Wahrnehmung" das Allgemeine, Kategoriale oder 4 Begriffliche, das im Sprachzeichen seinen Ausdruck findet, von vornherein present ist . Die Anwesenheit des Abstakten (oder: Kategorialen) im wahrgenommenen Konkreten wird in der 5 gegenwärtigen Sprachwissenschaft als Problem der Kategorisierung aufgenommen . Der Mensch hat tatsächlich kein Vermögen, ohne Mitwirkung der Sprache als eines grundlegenden Zeichensystems irgend etwas wahrzunehmen, so dass es sich sagen lässt: Welt ist nur, sofern sie semiotisch, darunter sprachlich, vermittelt ist (Heintel 1991: 162). Das gilt auch für Sachverhalte, die sozusagen "unmittelbar sinnlich" wahrgenommen werden, wie etwa Kopfschmerzen. Sobald wir Kopfschmerzen in dem Sinne verspüren, dass wir den SCHMERZ in un3 Einer der grundlegenden Argumente, an denen sich die Theorie des sprachlichen Relativismus seit ihren Anfängen stützt, ist die Entdeckung, dass dem Menschen ein Sachverhalt eher als ein Ding oder eher als ein Geschehnis erscheinen mag, je nach der Sprache, durch die sein Weltbild gestaltet wird. B.L. Whorf kam als erster mit der These, dass da, wo die Europäer eine klare Trennlinie zwischen Dingen und Geschehnissen sehen, die Indianer Hopi in einigen Fällen nicht unterscheiden können, und dass Sachverhalte, die den Europäern eher als Dinge vorkommen, von den Hopi eher als Geschehnisse angesehen werden (vgl. Whorf 1956). 4 vgl. "Das Verhalten des sprachtüchtigen Menschen und die Art seiner sprachlichen Benennung beruht darauf, daß er die Erscheinungen nicht konkret-vereinzelt sieht, sondern kategorial, in begrifflicher Verarbeitung auffaßt (Weisgerber 1929: 18). 5 vgl. Lakoff 1987, Jackendoff 1983. 470 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus serem KOPF lokalisieren können, geschieht es unter Mitwirkung der sprachlich verankerten Begriffswelt. Gleiches gilt für das Denken: unsere Gedanken müssten in nichts zerflattern, wenn nicht die Begriffe den festen Punkt darstellen würden, um die sie sich kristallisieren könnten. Ohne Sprache wäre unser Denken kaum vorstellbar (Weisgerber 1964: 180). Sprachzeichen haben integrierende Funktion auch im anderen Sinne — sie vermögen die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke zur Einheit zu bringen (Roesler 2000: 117): wenn wir einem Hund begegnen, sehen wir, wie er aussieht; wir hören, wie er uns anbellt oder anwinselt; wir tasten sein Fell, wenn wir ihn streichen; wir spüren vielleicht auch seinen Geruch. Alle Eigenschaften des Hundes erleben wir dabei als integrative Teile einer einzigen wahrgenommenen Entität. Obgleich wir Informationen aus unserer Umgebung über viele verschiedene Sinneskanäle aufnehmen, werden die vielfältigen Sinneseindrücke kohärent zu einer Erlebniswelt zusammengefügt, an deren Gestaltung Begriffe — also Sprachzeichen — teilnehmen (vgl. Schwarz 1992: 92-93). 2. Kontextualität der durch Zeichen erschlossenen Welt Obschon die Wahrnehmungsurteile sprachlichen Charakter haben, heißt es noch nicht, dass sie auch sprachlichen Ausdruck haben müssen. Sie finden ihren Ausdruck hauptsächlich im angewöhnten Handeln: man braucht sich nicht jederzeit, wenn man einem Hund begegnet, vor Augen zu führen, dass er uns keine Auskunft über die neueste Wettervorhersage geben kann; einem geht auch nie durch den Kopf, man könnte von ihm einen Strafzettel bekommen, wenn man falsch geparkt hat. Wenn auf uns auf der Straße ein Hund zukommt, merken wir es in der Regel nur so nebenbei, es sei denn wir schrecken zurück vor Angst, dass er uns beißen könnte, oder wir sprechen ihn freundlich an und streichen ihn. Immerhin weiß man von vornherein, wie man mit so einem "Objekt" umgeht und was von ihm zu erwarten ist. An diesem Beispiel kann man Zweierlei bemerken: erstens, unsere Wahrnehmungsurteile sind kontextbezogen und haben einen direkten Bezug auf unser Handeln, zweitens, über die Beschaffenheit der angetroffenen "Objekte" urteilt man meistens spontan und aus Gewohnheit (van Dijk 2001, 1987). Man urteilt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die angetroffenen Dinge stellen nur selten Gegenstände der gezielten oder theoretischen Betrachtung dar (Roesler 2000: 119). Die meisten Dinge werden dabei mittels ihrer Funktionen wahrgenommen: der HUND dient zum HÜTEN, das AUTO zum FAHREN, der FUSSWEG zum GEHEN, das HAUS zum WOHNEN, die SONNE zum SCHEINEN — diese Funktionen sind von vornherein anwesend, obwohl über sie gezielt gar nicht nachgedacht wird. Wir sehen also, dass unsere Lebenswelt mit unserem Begriffsuniversum untrennbar verbunden ist. Sie stellt sich als Reich des angewöhnten, handlungsbezogenen und nur selten reflektierten Sinnes dar. Die Lebenswelt gibt sich uns als selbstverständliche — "von Anfang an" und "von sich selbst" geltende — Ordnung, sie gibt sich uns als das, was die alten Griechen 6 Kosmos nannten, der für sie den Gegensatz von Chaos bedeutete . Diese Ordnung ist immer als Synthese des Vorsprachlichen und Sprachlichen, des Vorkulturellen und Kulturelen — also des Vorsemiotischen und Semiotischen — zu verstehen, so dass sie weder auf "reine", an sich seiende Natur (Tatsachenwahrheit), noch auf die Sprache und alle anderen semiotischen 7 Systeme, die dem Menschen die Natur vermitteln, zurückgeführt werden kann . 6 Die Lebenswelt als vortheoretisch gegebene Welt, die intentionalen (subjektbezogenen) Charakter hat, wurde zum Thema in der Phänomenologie Edmund Husserls. Sein tschechischer Schüler Jan Patočka versuchte diese Auffassung mit der Erkenntnis über aktive Rolle der Sprache in der Wahrnehmung in Einklang zu bringen (vgl. Patočka J.: Přirozený svět jako filosofický problém, Praha 1992; deutsch: Die natürliche Welt als philosophisches Problem, Stuttgart 1990) 7 vgl. "Die Namen sind ein Mittel, durch das sich die Gemeinschaft mit ihrer Umwelt auseinandersetzt, sie gliedert und deutet. Dabei ist sie abhängig sowohl von der Beschaffenheit des menschlichen Seelenlebens und seinen Antworten auf die Eindrücke der Welt als auch von der geistigen und kulturellen Lage, in der sie sich jeweils befindet." (Porzig W.: Das Wunder der Sprache, Bern 1950, S. 44-45) ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 471 Jan Kajfosz Im Zusammenhang mit der Kontextualität, Handlungsbezogenheit und verhältnismäßiger Unbewusstheit der Wahrnehmungsurteile ist auch ihr axiologischer Aspekt zu erwähnen. Der Mensch ist ständig im Reich der vortheoretisch gegebenen und reflexiv wenig bewussten Werte eingebettet, die ebenso von seiner Begriffswelt nicht wegzudenken sind. Man beachte erneut das Beispiel mit dem laufenden Hund: sobald wir einen HUND bemerken, erkennen wir ihn als unseren FREUND, der sich uns gegenüber freundlich verhält; oder vielleicht als einen herrenlosen PENNER, der HUNGER hat, so dass einem durch den Kopf geht, mann sollte ihm zu essen geben (= Zuneigung); oder wir erkennen ihn als eine BLUTIGE BESTIE (= Abneigung), die uns bestimmt BEISST, sie kann an TOLLWUT leiden, man wird also zum ARZT müssen, wo einem SPRITZEN drohen usw. Jeder von uns wahrgenommene Sachverhalt gibt sich uns in einem Motivationskontext her, der mehr oder weniger axiologisch geprägt ist (vgl. van Dijk: 2001, 1987). Die konkrete Gestalt der wertenden Prägung kann dabei durch unsere frühere unmittelbare oder vermittelte Erfahrungen gegeben werden, die unter Mitwirkung des Begriffsystems unserer Sprache entstanden sind, darunter unter Mitwirkung der Stereotype. Unter Stereotypen versteht man Begriffe oder Begriffststrukturen, die mit erstarrten, vereinfachten, kollektiv bedingten und gepflegten Wirklichkeitsbildern verbunden sind, die eine eindeutige wertende Prägung haben. Sie können sich beziehen auf Sachen, Tiere, Menschen und Menschengemeinschaften, Institutionen usw. Da nicht nur Stereotype, sondern auch alle anderen Begriffe mehr oder weniger mit erstarrten und vereinfachten Wirklichkeitsbildern verbunden sind, ist die Trennlinie zwischen "gewöhnlichen" Begriffen und Stereotypen gar nicht scharf. Aus den vorangegangenen Erwägungen über die Angewöhntheit und Kontextbezogenheit der Sprachzeichen lässt sich schliessen, dass jedes Wort, das etwas bedeutet, mehr oder weniger stereotyp sein muss. Das Leben der Stereotype — wie das Leben aller anderen Begriffe — erfolgt im Rahmen der Zusammenwirkung zwischen der unmittelbaren Erfahrung des einzelnen Menschen und Erfahrungen Anderer, die durch das Erzählte oder im Sprachsystem Niedergeschlagene an ihn vermittelt werden. Die Stereotype — samt aller Begriffe und Begriffstrukturen der Sprache — prägen unsere Erwartungen (z.B.: PITBULLS SIND BLUTIGE BESTIEN), unsere Erwartungen wirken wieder in unsere Erfahrungen hinein (jeder PITBULL jagt uns Angst ein), die Erfahrungen stärken wiederum die mit ensprechenden Stereotypen verbundenen Erwartungen usw. Die Spirale des sich steigenden Einklangs zwischen Begriff, Vorstellung und Erwartung auf der einen Seite und Erfahrung und Handeln auf der anderen kann jederzeit durch eine zufällige Erfahrung durchbrochen werden (DIESER PITBULL IST HARMLOS), sowie durch allerlei andere Anstöße, die die Fähigkeit zum Unterscheiden zwischen dem Allgemeinen und dem Konkreten herbeiführen können. Die Möglichkeiten solcher semiotischen 8 Sprach- und Kulturkritik sind oft selbst sprachlich und kulturell bedingt . Fassen wir zusammen: der Mensch ist immer schon eingespannt in ein System von Überzeugungen, von Fürwahrhaltungen (‘beliefs’), an denen er so lange festhält, wie ein widerstandsloser Umgang mit seinen Umständen ihm dies ratsam erscheinen lässt (Oehler 2000: 16). Anders gesagt: jede faktische Begegnung des Menschen mit "reinen" Tatsachen findet schon im Lichte eines semiotisch — darunter sprachlich — vorgreifenden Bedeutungskontextes oder Weltverständnisses statt, gleichwohl kann solche Begegnung in einem gewissen Sinne "unvoreingenommen" und "ursprünglich" sein (ES GIBT HARMLOSE PITBULLS) (vgl. Apel 1991: 117-119). 8 Je nach dem wie stark und erstarrt die Begriffsstrukturen sind, je nach der Haltbarkeit ihrer Vebindung mit entsprechenden Verhaltensmustern und je nach dem, wie die Verhaltensmuster der Sachlage nach biegsam sind, wird zwischen paradygmatischen und relationalen Kulturtypen unterschieden. (vgl. Fleischer, M.: Die polnische Diskurslandschaft. Über paradigmatische und relationale Kulturtypen in: Cultural Semiotics: Facts and Facets, hrsg. von Peter Grzybek, Bochum 1991, S. 137-159) 472 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus 3. Indexikalität von Zeichenprozessen Oben wurde bemerkt, dass sich die Semiotik sowohl mit Zeichen, als auch mit Zeichenprozessen beschäftigt. Der Zeichenprozess wird in der Semiotik Semiose genannt. Unter Semiose versteht man das Funktionieren eines Zeichens. Zeichen und Semiose sind dabei zwei Aspekte desselben: es gibt keine Zeichen ohne Semiose und keine Semiose ohne Zeichen. Das Wesen des Zeichens besteht bloß in seiner Funktionalität, also in seiner Fähigkeit etwas anderes zu repräsentieren. Wenn das Zeichensein des Zeichens in keiner von vornherein gegebenen ‘Substanz’ besteht, sondern in seiner kontextgebundenen Funktion, die je nach Umständen wechseln kann, heißt das, dass Zeichen prozesuellen Charakter haben, und zwar in dem Sinne, dass es außerhalb der Semiose keine Zeichen gibt. Alles kann Zeichen sein: sobald etwas etwas anderes zu repräsentieren beginnt, haben wir mit einer Zeichenfunktion zu tun. Die Zeichenfunktion können dabei sowohl Concreta, als auch Abstracta haben: sowohl ein gesehenes rotes Licht, als auch ein erdachtes rotes Licht können in unserem Bewusstsein einen Gedanken an das Fahrverbot hervorrufen. Anders ausgedrückt: das Fahrverbot kann sowohl durch ein gesehenes rotes Licht repräsentiert werden, als auch durch ein rotes Licht, das es nur in unseren Gedanken gibt. Noch einmal zusammengefasst: mit der Semiose haben wir überall zu tun, wo für jemanden ein Zeichen (= ein Bezeichnendes) etwas (= ein Bezeichnetes) vermittelt, egal ob man sich dessen Vermittelns bewusst ist. Wie wir oben gesehen haben, ist nicht jede Semiose unmittellbar einsehbar. Jede Semiose besteht im Urteilen aus Zeichen (Oehler 2000: 35, Eco 2000: 76-80) — daher Wahrnehmnungsurteile (siehe oben). Sie kann mehr oder weniger angewöhnt ("automatisch") und dementsprechend weniger oder mehr anstrengend, und dadurch auch bewusst sein. Es gibt sowohl Erfahrungsbereiche, wo man sich seines Urteilens äußerst bewusst ist, z.B. vor Angst, man könnte etwas falsch interpretieren, als auch Erfahrungsbereiche, wo man aus etwas auf etwas schließt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wenn die Straße mit Pfützen bedeckt ist, wissen wir gleichsam, dass es kurz zuvor regnen musste. Die Pfützen stellen im Bezug auf den Regen das Bezeichnende, der Regen wiederum das Bezeichnete dar. Die Gedankenverbindung zwischen den Pfützen und dem Regen ist so selbstverständlich, dass man gar nicht merkt, man schließt aus dem einen auf das andere, und zwar so, dass man einem Zeichen (die Pfütze) eine Bedeutung (der Regen) zuordnet. Solche Zuordnung erfolgt immer innerhalb eines Inter9 pretationsrahmen, der u.a. aus unseren Denkgewohnheiten und früheren Erfahrungen besteht . Diesen Interpretationsrahmen kann man als Vorrat von Regeln verstehen, nach denen die Semiose erfolgt. Diese Regeln werden in der Semiotik Kode genannt. Da jedes Wahrnehmen nach irgendwelchen Regeln erfolgt, die in unseren früheren Erfahrungen und in mit ihnen zusammenhängenden Zeichensystemen (darunter in der Sprache) ihren Ursprung haben, heißt es, 10 die Semiose beginnt nie "von Anfang an" . Jedes Schließen von etwas auf etwas setzt nämlich einen Kode voraus — es setzt voraus, dass man sich inmitten seiner Lebenswelt befindet, die als Horizont (Bedeutungskontext) unseres Wahrnehmens und Interpretierens von vornherein anwesend ist, selbst wenn man mit einem unbekannten Sachverhalt konfrontiert ist, den man zu interpretieren versucht. Jedes Unbekannte, an das wir antreffen, gibt sich uns somit immer im Rahmen des Bekannten und Vertrauten, das den Grund darstellt, aus dem alle Versuche, dieses 9 Wir erinnern daran, dass selbst dieser Interpretationsrahmen einen Zeichencharakter hat, und zwar in dem Sinne, dass unsere Erfahrungen und Gewohnheiten in Begriffen und Begriffstrukturen unserer Muttersprache eingebettet sind (vgl. Weisgerber 1964). 10 vgl. "Wir erlernen die meißten ‘Wortinhalte’ nicht bewußt, erst recht nicht kraft einer Definition; vielmehr ist gerade das die wunderbare Leistung der Sprache, daß unter ihrem Einfluß dieses Wissen unbewußt heranwächst; daß sie es dem Menschen ermöglicht, alle seine Erfahrungen zu einem Weltbild zu vereinigen, und ihn darüber vergessen läßt, wie er früher, vor der Spracherlernung, den Erscheinungen gegenüberstand." (Weisgerber 1929, S. 29-30) ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 473 Jan Kajfosz Unbekannte zu erfassen, unternommen werden. Jeder Sachverhalt wird immer im Bezug auf einen anderen Sachverhalt verstanden, dieser wieder auf einen anderen usw. Mit anderen Worten: die Semiose setzt eine andere (frühere) Semiose voraus, die wieder eine andere usw. bis ins Unendliche (Buczyńska-Garewicz 1978: 3-15). Dies ist nichts anderes als Feststellung der Tatsache, das unser Wahrnehmen, Verstehen und Interpretieren immer kontextgebunden ist, d.h. dass es immer durch etwas mitbestimmt ist. Es wurde schon erwähnt, dass das Urteilen aus Zeichen entweder mehr aus Gewohnheit erfolgt, so dass es eher "automatischen" Verlauf haben kann, oder dass es mehr Anstrengung in Anspruch nimmt. Anders gesagt: die Beziehung zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung kann entweder mehr eindeutig und selbstverständlich sein, oder auch weniger eindeutig, so dass sie von uns gewisse Erfindungskraft fordert. Je nach dem wie eindeutig die Beziehung zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung ist, unterscheidet man zwischen bloßem Wahrnehmen und dem Interpretieren. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass sowohl dem einen, als auch dem anderen Urteilen zu Grunde liegt, so dass es zwischen Wahrnehmen und Interpretieren keinen prinzipiellen Unterschied gibt (vgl. Eco 2000: 76-77). Wie oben gezeigt wurde, auch bloßes Bemerken eines laufenden Hundes, das im Herstellen der Beziehung zwischen dem, was unsere Sinnen affiziert, und Begriffen unserer Sprache be11 steht, Urteilen voraussetzt : ich sehe, in der Ferne BEWEGT SICH ETWAS, und weiter erkenne ich, dass es sich um einen HUND handelt, der LÄUFT. Jeder beobachtete Sachverhalt wird als solcher immer an etwas erkannt. Sofern lässt sich sagen, dass jedes Erkennen von etwas als etwas gewisse Relation zwischen dem Erkannten (repräsentiertes Objekt) und dem, woran das Erkannte erkannt worden ist (repräsentierendes Zeichen), voraussetzt. Jedes Erkennen von einem Sachverhalt beruht also auf Schließen aus etwas auf etwas. Anders gesagt: es beruht auf Schließen aus einem Bezeichnenden auf sein Bezeichnetes. Erst da, wo für den Menschen das Urteilen aus Zeichen mehr Anstrengung und Erfindungskraft fordert, wird das Urteilen als solches erst ausdrücklich bewusst. Liest man eine Zeitung, hat man gar nicht das Gefühl, unser Lesen beruht auf Urteilen. Handelt es sich um einen fremdsprachigen Text, wobei wir die Sprache, in der er aufgeschrieben ist, nur teilweise beherrschen, nimmt die Entzifferung des Textes mehr Anstrengung und Erfindungskraft in Anspruch. Je weniger wir die Regeln (den Kode) beherrschen, nach denen dem Zeichen seine Bedeutung zugeordnet wird und je weniger eindeutig diese Regeln sind, desto mehr wird unser Wahrnehmen zum Interpretieren. Die feinste Interpretationskunst kennen wir aus Kriminalromanen, in denen Detektive seltsame Regeln (Kodes) je nach Bedarf herausfinden müssen, nach denen anscheinend unbedeutenden — und deswegen gar unbemerkbaren — Merkmalen oder Anzeichen bestimmte Bedeutungen zugeordnet werden, was zum Entschlüsseln der Umstände eines Verbrechens und zur Erklärung dieses Verbrechens führt. Hier erscheint uns das Urteilen aus Zeichen (z.B. aus am Tatort hinterlassenen Spuren) auf Umstände eines Verbrechens als feinste, höchstkomplizierte Interpretation. Sherlock Holmes sieht interpretierbare Anzeichen — also Zeichen — auch da, wo es für andere gar keine gibt, und zwar deshalb, weil sein Interpretieren alle herkömmlichen Interpretationskriterien (Kodes) übertrifft (vgl. Sebeok 2000: S. 92-93). Ch.S. Peirce, Schöpfer der gegenwärtigen Semiotik, nannte das Urteilen von etwas auf etwas Abduktion (Eco 1984: 39-43, Eco 2000: 59-98, Wirth 2000: 137-139). Unter diesem Begriff verstand er Erfindung von Hypothesen, die ermöglichen, eine Relation zwischen einem Zeichen und seiner Bedeutung herzustellen, die, wenn sie einmal erfahrungsgemäß verifiziert ist, zu anderen 11 I. Kant spricht in diesem Zusammenhang von Wahrnehmungsurteilen. Die Beziehung zwischen dem Begriff und dem, was unsere Sinnen afiziert, ist nur unvollkommen nachvollziehbar: alles, was wir wahrnehmen, stellt von vornherein eine Synthese des Begrifflichen und des Vorbegrifflichen dar (vgl. Eco 2000, S. 66-98). 474 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus Hypothesen führt oder andere Hypothesen verifiziert. Wie wir oben erwähnt haben, kann die Abduktion unsere Erfindungskraft weniger oder mehr in Anspruch nehmen: wenn wir bemerken, dass jemand ständig SCHNEUZT (das Bezeichnende oder Repräsentierende), wissen wir gleich, dass er SCHNUPFEN hat (das Bezeichnete oder Repräsentierte), ohne etwas bewusst interpretiert zu haben — wir "sehen" es einfach. Wenn ein Arzt aufgrund anstrengender Deutung einiger schwer bemerkbaren Symptome eine Erkrankung feststellt, die dann durch spätere Untersuchungen bestätigt wird, handelt es sich um Abduktion "im stärkeren Sinne". 4. Künstliches und natürliches Zeichensystem Oben haben wir angeführt, dass in der Semiotik alle Regeln, nach denen einem Zeichen seine Bedeutung zugeordnet wird (z.B. einem Symptom entsprechende Erkrankung), Kodes genannt werden. Je nachdem, wie eindeutig diese Regeln sind, unterscheiden wir zwischen "harten" und "weichen" Koden (Eco 1984: 36-39, Giraud 1974: 31-33). Als "harter" Kode ist jede exakte, künstliche Sprache — also Computersprache oder die Sprache der Logik — zu betrachten, die in Folge des eindeutigen Definierens entstanden ist. "Harte" Kodes sind grundsätzlich kontextlos. Einmal festgesetzte Regeln sind in allen Kontexten und unter allen Umständen dieselben. In dem Sinne sind künstliche Sprachen von ihren Schöpfern völlig "kontrollierbar". Der "harte" Kode kann sich nur dann ändern, wenn man ihn erneut definiert, wenn man also die Regeln der Zuordnung von Zeichen und ihren Bedeutungen neu festsetzt. Keine völlig exakte Sprache (z.B. Computersprache), die aus endlichen Mengen von Zeichen und Regeln ihrer Anwendung besteht, ist vollständig in dem Sinne, dass sie durch sich selbst definiert werden kann. So eine Sprache ist von einer Sprache höherer Ordnung abhängig, mittels sie sie definiert wird. Anders gesagt: jede künstliche Sprache ist durch ihre Metasprache definiert, von der sie jedoch muss getrennt sein. Jede Kontamination zwischen der Sprache und ihrer Metasprache würde zu Kontradiktionen und dadurch zu Fehlern führen. Der Grund, weshalb keine exakte Sprache sich selbst definieren kann, ist folgender: "kein Satz kann etwas über sich selbst aussagen, weil das Satzzeichen nicht in sich selbst enthalten sein kann" (Wittgenstein 1993: 3.332). Dies könnte man demonstrieren am seit der Antike bekannten Fall von Kreter, der sagt, alle Kreter seien Lügner. Für die Logik gilt es, dass man keine Bedingungen finden kann, unter denen man entscheiden könnte, ob er die Wahrheit sagt oder ob er lügt. Ludwig Wittgenstein (1889-1951), einer der bedeutendsten Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts, der in seinem Frühwerk zwischen der exakten Sprache der Logik und der natürlichen Sprache keinen Unterschied sieht, behauptet, man kann über seine eigene Sprache mit derselben Sprache gar nicht sprechen, weil es unsinnig wäre (Wittgenstein 1993: 6.54). Wenn es zwischen der Sprache der Logik ("harter" Kode) und der natürlichen Sprache keinen Unterschied gäbe, hätte er sicherlich Recht gehabt. Im Gegensatz zu "harten" (also völlig definierten) Koden ist die natürliche Sprache — also jede Muttersprache — als "weicher" Kode zu verstehen. Sie ist dem Menschen apriorisch gegeben in dem Sinne, dass jedes Definieren innerhalb der natürlichen Sprache durch nicht 12 definierte Bedeutungen bedingt ist (Wittgenstein 1989: § 87) . Die natürliche Sprache ist von dem Menschen nur teilweise "kontrollierbar", weil sie von ihm als Ganzes gar nicht eingesehen werden kann (Wittgenstein 1989: § 29). Das Kind, das seine Muttersprache lernt, lernt die 12 vgl.: "Die Wissenschaft entsteht in einer Form der Betrachtung, die, bevor sie einsetzen und sich durchsetzen kann, überall gezwungen ist, an jene ersten Verbindungen und Trennungen des Denkens anzuknüpfen, die in der Sprache und in den sprachlichen Allgemeinbegriffen ihren ersten Ausdruck und Niederschlag gefunden haben" (E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, I. Die Sprache, II. Das mythische Denken, Berlin 1923-25, S. 13) ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 475 Jan Kajfosz 13 Regeln, nach denen Sprachzeichen ihre Bedeutungen zugeordnet werden, nie explizit . Sie sind ihm zugänglich bloß innerhalb des jeweiligen Sprachgebrauchs, sie werden ihm in der Regel nicht erklärt, sie werden von ihm eher erraten (Wittgenstein 1989: § 32) und eingeübt (Wittgenstein 1989: § 5). Da wir in natürlichen Sprachen mit grundlegender Mehrdeutigkeit zu tun haben, wäre es unmöglich, alle Regeln explizit zu machen, nach denen Sprachzeichen auf 14 bestimmte Bedeutungen verweisen . Der Mensch beherrscht oft die Regeln der Zuordnung von Sprachzeichen zu ihren Bedeutungen, ohne sie jemals thematisiert (also: explizit gemacht) zu haben. Dazu kommt noch die Tatsache, dass sich die Regeln im Sprachgebrauch "von sich selbst" verändern können. In diesem Sinne sind sie nie definitiv festgesetzt (Wittgenstein 1989: § 83). Dass die natürliche Sprache ein semiotisches System ist, das in seiner Ganzheit von seinem Träger, dem Menschen, nie völlig eingesehen — damit auch definiert — werden kann, ergibt sich daraus, dass sie grundsätzlich analogisch ist. Die natürliche Sprache ist — wie schon Aristoteles behauptet — analogisch, weil "die Worte und die Menge der Reden (der Zahl nach) begrenzt sind, die Dinge aber sind der Zahl nach unbegrenzt. Es ist also notwendig, dass eine Rede und 15 (das ein Wort) vieles bedeute" (Aristoteles, Soph. El. 1, 165a 2-13) . Wenn ein Wort auf vieles verweist (z.B. das Wort "Hund" auf vielerlei Hünde), heißt das u.a., dass unsere Aussagen nie eindeutig, sondern bloß analogisch sein können. Die analogische Mehrdeutigkeit des Wortes kommt auch daher, dass es unmöglich ist, dass ein Wort als Sprachzeichen zweimal in demselben syntaktischen, semantischen und pragmatischen Kontext erscheint. Dies findet einen radikalen Ausdruck in der Definition der Wortbedeutung im Spätwerk von Ludwig Wittgenstein, wo es heisst, dass Bedeutung des Wortes sein Gebrauch im Text ist (Wittgenstein 1989: § 43). Die Mehrdeutigkeit der Zeichen ist Voraussetzung für die Fähigkeit der natürlichen Sprache, 16 sich selbst zu thematisieren, sich zu sich selbst beziehen, über sich selbst auszusagen . Ohne diese Fähigkeit wäre u.a. Linguistik kaum denkbar. Innerhalb der natürlichen Sprache kann ein Zeichen auf sich selbst verweisen, weil es mit sich selbst nie völlig identisch ist. Selbst Zeichen, die man für identisch hält, sind in gewissen Aspekten unterschiedlich, schon deshalb, weil sie nie in demselbem Kontext zweimal erscheinen können. Der analogische Gebrauch des Zeichens macht möglich, dass man mit der natürlichen Sprache über sie selbst sprechen kann. Weil das Zeichen als Bestandteil der natürlichen Sprache immer mehrdeutig ist (was heißt, dass es para17 doxerweise mit sich selbst identisch und zugleich nicht identisch ist ), bildet die Metasprache ein Bestandteil der natürlichen Sprache (vgl. Geert 1991: S. 598-590). Man beachte noch einmal das Beispiel der logisch unsinnigen Selbstreferenz des Kreters: was sich im Bezug auf eine Maschine, die nichts von einer kontexthaften Lebenswelt weiß, als kontadiktorisch und fehlerhaft erweist, kann für einen Menschen verständlich sein (Weisgerber 1973). Die natürliche Sprache ist vom Menschen und seinen verschiedenen Lebenssituationen — 13 "Wir erlernen die meissten ‘Wortinhalte’ nicht bewusst, erst recht nicht kraft einer Definition; vielmehr ist gerade das die wunderbare Leistung der Sprache, dass unter ihrem Einfluss dieses Wissen unbewusst heranwächst (...)". (Weisgerber 1929: 29-30) 14 Wie oben gezeigt wurde, ist die Situation dadurch kompliziert, dass es diese Bedeutungen ohne Zeichen, die auf sie verweisen, gar nicht gibt. Sie sind mit Zeichen von vornherein synthetisch verbunden ("verschmolzen"), so dass man sagen kann, dass die Zeichen die Bedeutungen, auf die sie verweisen, überhaupt entstehen lassen. 15 Zitat nach Bocheński, J.M.: Formale Logik, Freiburg — München 1956, S. 64f. 16 Roman Jakobson nennt diese Fähigkeit metasprachliche Funktion der Sprache (Jakobson 1971). 17 Dies hat vor allem in der französischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jhs zu sehr aufschlussreichen Ansätzen geführt (J. Derrida, G. Deleuze u.a.), was kann im Text, der sich grundsätzlich auf sprachwissenschaftliche Semiotik konzentriert, nicht berücksichtigt werden. Eine zugängliche Einführung in diese Problematik mit entsprechender Bibliographie findet der Leser z.B. in V. Descombes: Le méme et l'autre, Paris 1979 oder J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985. 476 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus also Kontexten — nicht wegzudenken, sie ist auch, wie oben gesagt, immer mit spontan wahrgenommenen axiologischen Inhalten verbunden. Es ist deswegen nicht schwer, sich einen Kreter vorzustellen, den einige seiner Landsleute betrogen haben, worauf er verzweifelt ausruft, alle Kreter seien Lügner. — Aussage, die innerhalb der exakten, kontextfreien Sprache sinnlos ist, kann innerhalb der natürlichen Sprache einen Sinn haben, und zwar deshalb, dass dank der Mehrdeutigkeit der natürlichen Sprache (des "weichen" Kodes) der aussagende Kreter mit den Kretern, über die ausgesagt wird, nur teilweise identisch ist. Natürliche Sprache ist "hart" genug (also: eindeutig genug), um die Kommunikation überhaupt möglich zu machen, gleichsam ist sie "weich" genug (also: mehrdeutig genug), um die Reflexivität zu sichern, die in ihrer Analogie, also im metaphorischen Reichtum der sprachlichen Begriffe gründet. Innerhalb der natürlichen Sprache ist die Exaktheit graduierbar: in Fachsprachen haben wir mit stärkerer Eindeutigkeit, in der Sprache der Poesie haben wir wiederum mit stärkerer Mehrdeutigkeit zu tun. Die Regeln für die Herstellung der Verbindungen zwischen Sprachzeichen und ihren Bedeutungen — also die Regeln der Textinterpretation — sind in der Sprache der Poesie am meisten vage und kontextgebunden. Je stärkere Mehrdeutigkeit, desto mehr Aufwand bei der Entschlüsselung, und umgekehrt: da, wo der Kode eindeutig festgesetzt ist, bedarf es keiner Entschlüsselung — alles ist exakt vorgegeben (Giraud 1974: 31-33). Im Zusammenhang damit ist darauf hinzuweisen, was oben über die Indexikalität der Zeichen gesagt wurde: in der Sprache der Poesie fällt die Deutung der Zeichen am schwersten, weil die Regeln, nach denen den Zeichen entsprechende Bedeutungen zugeordnet werden, oftmals in Gestalt schlaffer Indizien auftreten. Deswegen muss bei der Interpretation eines poetischen Textes nach Bedeutungen gesucht werden. Wie oben betont, besteht der Unterschied zwischen dem Lesen und dem Interpretieren darin, wieviel Aufwand und Erfindungskraft die Suche nach Bedeutungen, die von den Zeichen repräsentiert werden, fordert. Dies gilt auch für die elementarste Ebene: wenn man sich an den Anfang seiner Schuljahre erinnert, erinnert man sich daran, dass man die Sätze in der Fibel am Anfang mehr "interpretierte" als las, und dass im Laufe der Zeit, wo sich die Lesefähigkeit stärker entwickelte (also: wo die Regeln der Zuordnung der Bedeutungen zu entsprechenden Sprachzeichen besser eingeübt wurden), "Interpretieren" in Lesen überging. 5. Dyadisches Zeichenmodell (Ferdinad de Saussure) Ferdinand de Saussure gilt als Begründer der strukturellen Linguistik und dadurch als Begründer der modernen Sprachwissenschaft. Seine Ansichten an das Wesen des Sprachzeichens und an die Sprache als Zeichensystem sind im Cours de linguistique générale (deutsch: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft) enthalten, das, nachdem es nach Saussures Tode von seinen Studenten verfasst worden war, im Jahre 1916 erschien. In diesem Werk wird der Bedarf geäußert, eine Wissenschaft, die Beschaffenheiten der Zeichen erforschen würde, ins 18 Leben zu rufen, die er Semiologie nannte und Linguistik als ihre Teildisziplin betrachtete, und zwar deshalb, weil es neben der Sprache auch andere Zeichensysteme gibt. Nach Ferdinand de Saussure ist das Zeichen (frz. "signe") eine Einheit von zwei unteilbar verbundenen Elementen, und zwar von dem signifiant (dem Bezeichnenden) und dem signifié (dem Bezeichneten). So z.B. beinhaltet das Sprachzeichen Baum zwei innerlich verbundene, zusammen "verschmolzene" Elemente: das Lautbild (signifiant) und den Begriff (signifié). Den Begriff, der in der gegenwärtigen Semiotik auch Kategorie oder Konzept genannt wird (vgl. 18 Sémiologie funktionierte lange im romanischen Sprachraum im gleichen Sinne wie semiotics im angloamerikanischen Sprachraum, wobei jede Bezeichnung auf ihre eigene Tradition verwies. In der letzten Zeit, wo sich diese ursprünglich unterschiedlichen Ansätze einander immer mehr nähern, verliert der Gebrauch von zweierlei Bezeichnungen seine Begründung, so dass im Französischen Sémiologie immer öfter durch Sémiotique ersetzt wird. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 477 Jan Kajfosz Barthes 1997: 119), ist vereinfacht gesagt, das Bild des Baumes, das in unserem Bewusstsein funktioniert, oder auch unsere Vorstellung von einem typischen Baum — auch Prototyp ge19 nannt . Das Lautbild ist ein erkennbares Schallphänomen, das mit einer rein physikalischen Erscheinung nicht gleichzusetzen ist. Oben haben wir ausgeführt, dass an jedem wahrgenommenen Konkreten das Allgemeine seinen Anteil hat — dies gilt auch für erkennbare "pure" 20 Laute und Geräusche . Selbst wenn wir nicht verstehen, was arbor ist, erkennen wir das Fremdwort als identisch, auch wenn es durch unterschiedliche Personen ausgesprochen wird. Was physikalisch gesehen nicht identisch ist — schon deswegen, dass jeder eine andere Stimme hat und es auch teilweise anders artikullieren kann — ist wahrnehmungsgemäß eine identische akustische Erscheinung, ein erkennbares Fremdwort (vgl. Giraud 1974: 37-38). Wenn wir dann verstehen lernen, was "arbor" ist (es ist lateinische Bezeichnung für Baum), gesellt sich zu dem Lautbild der entsprechende Begriff: es gesellt sich die Vorstellung eines typischen Baumes zu dem früher unbekannten Wort, so dass ein neues Sprachzeichen entsteht. Dieses Zeichen wird dann aus zwei untrennbar verbundenen Elementen bestehen: aus einer akustischen Ausdrucksform (signifiant, das Bezeichnende) und aus einem Begriff (signifié, das Bezeichnete). Diese Elemente können sich gegenseitig hervorrufen und sind miteinander untrennbar verbunden wie zwei Seiten eines Blattes Papier, so dass sie nur in der Abstraktion voneinander getrennt werden können. De Saussure gebraucht das Bezeichnete im anderen Sinne als wir es bisher gemacht haben: für uns war das Bezeichnete eine Erscheinung innerhalb unserer Lebenswelt. Das Bezeichnete war für uns etwas sinnlich Wahrnehmbares, etwas, dem wir in der Welt begegnen, selbst wenn — wie oben betont wurde — an dem Wahrnehmbaren von vornherein unsere Begriffe teil21 haben . Für F. de Saussure ist die Zeichenrelation lediglich eine Relation zwischen dem Begriff und seiner akustischen Ausdrucksform, das Problem der Relation zwischen dem Begriff und Sachverhalten in der Welt wird hier nicht in Betracht gezogen. Die Eigenart der Beziehung zwischen dem Begriff BAUM und einem konkreten Baum wird in der Saussures Zeichenkonzeption außer Acht gelassen (Culler 1993: 86-89, Kalaga 2001: 75). Da in der Struktur des Zeichens bloß der Begriff und seine Ausdrucksform berücksichtigt werden, sprechen wir in seiner Theorie von der dyadischen Zeichenkonzeption. F. de Saussure brachte in die Linguistik Differenzierung zwischen der Sprache (langue) und dem Sprechen (parole) hinein. Unter Sprache versteht er das Sprachsystem, also die Menge aller Einheiten der Sprache und der Regeln ihrer Anwendung. Unter Sprechen versteht er die hergestellten Texte als Realisation des Sprachsystems. Anders gesagt: langue ist unsere Kompetenz zum Sprechen, parole ist das Gesprochene. In der gegenwärtigen Semiotik wird dieser Unterschied oft als Unterschied zwischen dem abstrakten Kode (vgl. oben) und dem Text als einer konkreten Sequenz der Zeichen dargestellt. Beide dieser Aspekte der Sprache können bloß in der Abstraktion voneinander getrennt werden: in jedem Text, den wir als Text verstehen, ist von vornherein sein Kode anwesend, sowie in jedem Zeichen von vornherein das ganze Zeichensytem anwesend ist. Manchmal ist es auch schwer zu entscheiden, was zum Sprachsystem (langue), und was zum Text (parole) gehört: Texte, die im Laufe der Zeit zum Klischee werden (wie z.B. 19 Wir müssen unterscheiden zwischen den Vorstellungen von unseren eigenen Begriffen, die wir in Reflexion gewinnen, und den Begriffen selbst, die in unserem Bewusstsein funktionieren, zumindest deshalb, dass wir in der Reflexion nicht alle Aspekte unserer Begriffswelt uns vor Augen führen können. 20 Dies führte bei dem dänischen Sprachwissenschaftler Louis Hjelmslev (1899-1963) zur noch eingehender Einteilung der Elemente des Zeichens (siehe L. Hjelmslev: Prolegomena to a Theory of Language, Bloomington 1953). 21 Die Metapher von zwei Seiten eines Blattes Papier ist sehr aufschlussreich im Bezug darauf, dass wir, wie gesagt, nichts Konkretes ohne das Allgemeine (oder Kategoriale) wahrnehmen können, ebenso wie es keine Seite des Blattes Papier ohne die andere gibt. 478 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus Sprichwörter) und dadurch in das Sprachsystem eindringen, werden zu Bestandteilen des Kodes (vgl. Barthes 1997: 89-98, Culler 1993: 29-34). Nach F. de Saussure ist das Sprachzeichen als Einheit des Sprachsystems allein auf das Sprachsystem zurückzuführen, weil der Wert des Zeichens bloß durch Differenzen zu Werten anderer Einheiten gegründet ist (Saussure 1996: 137, 144-148). Primär ist hier das System der Differenzen, sekundär sind die Sprachzeichen, die durch diese Differenzen gesetzt werden. Anders gesagt: es gibt keine Identität des Sprachzeichens ohne Unterschiede zu anderen Sprachzeichen im Rahmen des Sprachsystems. Das Sprachzeichen wird dadurch allein durch das Sprachsystem, das es entstehen lässt, gebildet. Damit hängt die These zusammen, dass das Sprachzeichen arbiträren Charakter hat, so dass es keine notwendige Verbindung zwischen dem Bezeichnendem (signifiant) und dem Bezeichnetem (signifié) besteht (Saussure 1996: S. 98-99). Anders gesagt: das Sprachzeichen als Element des Sprachsystems ist keinesfalls dadurch bestimmt, zu dem es sich in der realen Welt bezieht, es ist allein durch das Sprachsystem bestimmt. Wenn aber den Unterschieden zwischen einzelnen Wörtern Unterschiede zwischen einzelnen Erscheinungen in der Welt, die durch die Wörter bezeichnet werden, entsprechen, heißt das, dass unser Sprachsystem die Lebenswelt an einzelne Erscheinungen aufteilt, so dass man annehmen müsse, die Welt wird durch unsere Muttersprache "gebildet" (Culler 1993: S.1929).Die Sprache und alle anderen natürlichen semiotischen Systeme (die Kultur) haben tatsächlich das Vermögen, die Gestalt der von dem Menschen wahrgenommenen Welt zu prägen. Nehmen wir ein Beispiel: im Farbenspektrum übergehen die Farben ineinander, so dass das Spektrum die Gestalt des farbigen continuum hat. Damit man über die einzelnen Farben sprechen kann, müssen sie eingeteilt, also voneinander getrennt werden — es müssen in das Spek22 trum Differenzen eingeführt werden . Wir nehmen dann solche Farben wahr, wie es unser arbiträres Sprachsystem will: ein Abschnitt des Farbenspektrums, der in der Sprache Tsonga eine einzige Farbe bildet, ist im Englischen in orange, red (rot), pink (rosa) und purple (lila) aufgeteilt. Wenn im Englischen eine neue Benennung für einen Teil dieses Spektrums — also eine neue Farbe — auftauchen würde oder, im Gegenteil, in Vergessenheit geraten wäre, würden sich die Werte der restlichen Farben verändern, und zwar deswegen, dass dadurch das ganze System der Differenzen, das die einzigen Werte der Farben entstehen lässt, in Bewegung gesetzt wäre. Das muss jedoch nicht unbedingt bedeuten, dass es in der Welt gar keine Farben mit intersubjektiver Geltung gibt oder dass verschiedene Sprachen völlig inkomparable "Farbenwelten" entstehen lassen: es gibt Beweise, dass sich Sprecher unterschiedlicher Sprachsysteme an bestimmten Farben dennoch gut einigen können, wie etwa an der Farbe des Blutes, der Milch oder der Holzkohle, also an Farben der Erscheinungen, die für alle Sprach- und Kulturgemeinschaften mehr oder weniger verbindlich sind (Taylor 2001: 25-38, vgl. Culler 1993: 23-29). Obwohl Saussures Thesen über Systemhaftigkeit und Arbitrarität der Zeichen die Linguistik, sowie auch andere Humanwissenschaften, von Grund auf veränderten, sind sie für manche Sprachwissenschaftler und Semiotiker zu radikal, und zwar deswegen, dass sie der Tatsache widersprechen, dass die Sprachzeichen von der Beschaffenheit der Welt, zu der sie sich beziehen, müssen mindestens teilweise abhängig sein. Die Zeichenlehre von F. de Saussure hat 23 jedoch zur Folge, dass die Welt wie ein völlig willkürliches Sprachbebilde eingesehen wird . Dieser extremen Konsequenz liegt die dyadische Konzeption des Zeichens zu Grunde, die die 22 Solche Einteilung wird in der Semiotik Taxonomie genannt. Die Problematik des Weltbezugs der sprachlichen Zeichen wird in der Zeichenkonzeption von F. de Saussure als These über die Motivierung der Zeichen aufgenommen, sie hat jedoch in seinem Zeichenmodell keinen Niederschlag gefunden und ist nur fragmentarisch aufgearbeitet, deshalb ist sie unter Sprachwissenschaftlern und Semiotikern bis heute umstritten. 23 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 479 Jan Kajfosz Frage nach der Relation der Sprachzeichen zu Erscheinungen innerhalb der Welt nicht einbezieht. Viele Nachfolger von de Saussure versuchten die radikalen Schlüsse, die aus seiner Zeichenlehre hervorgehen, zu mäßigen, wie z.B. die Darsteller der sog. "Wortfeldtheorie" oder der inhaltbezogenen Sprachwissenschaft in Deutschland (Jost Trier, Walter Porzig, Leo Weisgerber u.a.). Unter gegenwärtigen Semiotikern der strukturalistischen Tradition wird in der Regel angenommen, dass die Frage nach dem arbiträren — also willkürlichen — Charakter der Sprache oder der Kultur, und dadurch nach der Relativität der von einzelnen Sprachen geprägten Lebenswelten, keine Entscheidungsfrage ist, die mit "ja" oder "nein" zu beantworten wäre. Es ist vielmehr eine Frage nach dem Maß und Grad der Arbitrarität (Culler 1993: 86-89, Giraud 1974: 33-35, Giraud 1976: 24-29). 6. Triadisches Zeichenmodell (Charles S. Peirce) Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839-1914) wird als Schöpfer der gegenwärtigen Semiotik betrachtet. Bei ihm hat ihren Ursprung die Definition des Zeichens (mit der wir uns am Anfang beschäftigt haben), die These vom kontextuellen Charakter des Zeichens, sowie auch Begriffe, wie Semiose, Abduktion und viele andere, ohne die die gegenwärtige Semiotik kaum vorstellbar wäre. Ch.S. Peirce entwickelte ein Zeichenmodell, das nicht aus zwei — wie bei F. de Saussure — sondern aus drei Gliedern besteht. Im Gegensatz zu Saussures Modell beinhaltet das Modell von Peirce das Objekt in der realen Welt, auf das sich das Zeichen bezieht. Das hängt damit zusammen, dass Ch.S. Peirce nicht der Überzeugung ist, dass alle Zeichen ausschließlich arbiträr sind. Die Konzeption eines dreistelligen Zeichenmodells tauchte in vielen nachfolgenden Theorien immer wieder auf, wie z.B. in der Zeichentheorie von K. Bühler (187924 25 1963) oder von C.K. Ogden und I.A. Richards . Peirce unterscheidet in der Struktur des Zeichens drei Elemente, die untereinander so eng verbunden sind, dass die Anwesenheit von jedem von ihnen die notwendige Voraussetzung dafür ist, dass etwas als Zeichen funktionieren kann (Peirce Vol.3: SS. 77, 82): 1. Das Repräsentamen ist der Zeichenträger, also das, was etwas anderes repräsentiert (vergleichbar mit Saussures signifiant). Peirce beachtet dabei nicht nur Schallphänomene, wie es bei de Saussure der Fall ist. Zeichenträger sind bei ihm auch visuelle Phänomene, wie geschriebene Wörter oder etwa Verkehrsschilden. Für Zeichenträger hält er auch die durch andere Sinne wahrgenommenen Phänomene, die die Fähigkeit haben, etwas anderes zu repräsentieren, also hervorrufen (z.B. der verspürte Veilchenduft erinnert mich an meinen Garten). Als Zeichenträger gelten auch pure Gedanken, die andere Gedanken hervorrufen können (z.B. der Gedanke an meinen Garten ruft den Gedanken an Wasser hervor, weil ich mir dadurch bewusst mache, dass es schon lange nicht geregnet hat). Sofern gilt jeder Gedanke als Zeichen für einen anderen Gedanken, dank dem er verstanden und interpretiert wird (Peirce Vol. 2: SS. 163, 224; Vol. 3: S. 83). Peirce unterscheidet zwischen dem Token des Zeichens (dem Exemplar des Zeichens) und dem Typ des Zeichens. Jeder Token ist individuelles "Anwendungsereignis" eines Typs: z.B. arbor ausgesprochen durch verschiedene Leute, die verschiedene Stimmen haben, ist Exemplifizierung (oder: Anwendung) eines einzigen Typs — eines Zeichenträgers (vgl. mit Saussures Unterscheidung zwischen einer rein physikalischer Erscheinung und dem Lautbild). Dies betrifft auch graphische (sowie auch alle anderen Zeichen): jedesmal, wenn in diesem Text das graphische 26 Zeichen "arbor" vorkommt, haben wir mit einem Token eines Typs zu tun . 24 Bühler, K.: Sprachtheorie, Jena 1934 Ogden, C.K. — Richards, I.A.: The Meaning of Meaning, London 1923 26 Mit anderen Worten: Token ist eine konkrete Realisation des allgemeinen Typs. Vgl. mit der oben erwähnten These, dass an jedem Konkreten von vornherein das Allgemeine (oder: das Kategoriale) seinen Anteil hat. 25 480 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus 2. Das Objekt ist der Gegenstand, der durch ein Zeichen repräsentiert wird. Anders gesagt: das Objekt ist das, zu dem sich ein Zeichen bezieht. Ein Zeichen kann sich zu einem materiellen Gegenstand in der "realen" Welt beziehen, es kann sich aber auch zu einem rein intentionalen Gegenstand beziehen, den es nur in unseren Gedanken gibt (z.B. das Wort "Zwerg" bezieht sich zu einer Vorstellung von einem Zwerg, die ein Ergebnis unserer Imagination ist). Peirce unterscheidet zwischen zweierlei Objekten: dem unmittelbaren Objekt, das das Objekt ist, wie das Zeichen selbst es repräsentiert (sofern ist sein Sein von dem Zeichen abhängig), und dem dynamischen Objekt, das das Objekt selbst ist, unabhängig von dem Zeichen. Das dynamische Objekt ist außerhalb der Semiose, obwohl er der Semiose Ansporn gibt: z.B. das unmittelbare Objekt wäre die wahrgenommene rote Farbe, die von dem Sprachzeichen "rot" abhängt; das dynamische Objekt wäre wiederum die rote Farbe "an sich", also die rote Farbe bevor sie als solche überhaupt wahrgenommen und als rot erkannt wird. Dank der Wirkung des dynamischen Objektes können wir dann so etwas wie rote Farbe überhaupt wahrnehmen. Alles, was wahrgenommen wird, sind nur unmittelbare Objekte (vgl. mit der These, dass jeder menschliche Weltbezug einen Zeichencharakter hat). 3. Der Interpretant ist die Bedeutung oder der Sinn des Zeichens, also alles, was das Zeichen im Bewusstsein eines Zeichenbenutzers oder Interpreten hervorruft (vergleichbar mit Saussures signifié). Jeder Interpretant ist nicht nur Bedeutung eines Zeichens, es ist selbst ein Zeichen, der seinen Interpretanten hat, der, als Zeichen, wiederum seinen Interpretanten hat und so weiter: z.B. um sich die Bedeutung des Wortes "Baum" bewusst machen zu können, brauche ich zu wissen, was "wachsen" ist, was "Wurzeln", "Stamm", "Blätter", "Äpfel" oder etwa andere Begriffe sind. Die Bedeutungen dieser Begriffe werden durch andere Begriffe klargemacht und so weiter ad infinitum. Wenn keine Wahrnehmung und kein Denken ohne Zeichen möglich ist (siehe oben), so dass jede Wahrnehmung und jedes Denken kann als Semiose betrachtet werden, gilt das auch für Verstehen der Bedeutung eines Zeichens: jede Bedeutung wird durch andere Bedeutungen, und dadurch durch andere Zeichen, verstanden und erklärt. (Wir können nicht über unsere eigenen Gedanken nachdenken, ohne dabei Zeichen zu gebrauchen.) Sofern kann jedes Zeichen nur mittels anderer Zeichen interpretiert werden. Anders gesagt: die Bedeutung eines Zeichens sind andere Zeichen, in die das Zeichen übersetzt wird (Peirce Vol. 2: S. 225, Vol. 3: S. 76). Somit ist die Semiose eine unendliche Interpretation. Es ist ein Zeichenprozess ohne Anfang und Ende, bei dem die einen Zeichen die anderen zu interpretieren helfen. Dabei gilt es, dass jede Bedeutung die Möglichkeit der unendlichen Übersetzung eines Zeichen in ein anderes ist (BuczyńskaGarewicz 1965: S. 34). Damit hängt auch die Tatsache zusamen, dass es ein Zeichen nur innerhalb eines Zeichensystems geben kann, in Umgebung anderer Zeichen, mittels der er verstanden und erklärt wird. Die Zeichen haben in diesem Sinne kontextuellen Charakter. Die Konzeption des Zeichensystems als Kontextes, wo nicht die negativen (Differenzen), sondern die positiven Relationen zwischen Zeichen betont werden (Kalaga 2001: 75), ist einer der Momente, der zur Neubewertung der Unterscheidung zwischen dem Kode und dem Text führte, die auf Saussures Unterscheidung zwischen langue und parole zurückzuführen ist. Die gegenwärtige Sprachsemiotik widmet ihre Aufmerksamkeit gegenseitigen Verbindungen und Beeinflussungen zwischen langue und parole. Es wird hier oft von Diskurs (discourse) gesprochen, mit dem dynamische Struktur gemeint wird, die sowohl Kodes als auch Texte, sowie 27 die gegenseitigen Beeinflussungen unter ihnen, umfasst . 27 vgl. van Dijk, T.A. 1985, van Dijk, T.A. 1998 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 481 Jan Kajfosz 7. Einteilung der Zeichen nach der Beziehung zu ihrem Objekt Nach Peirce gibt es Zeichen, die keine offensichtlichen Zusammenhänge mit den von ihnen repräsentierten Objekten aufweisen, aber auch Zeichen, wo es solche Zusammenhänge gibt. Je nachdem ob es ein Zusammenhang zwischen dem Zeichen und dem von ihm repräsentierten Objekt besteht, und je nachdem, welche Form dieser Zusammenhang hat, teilt er alle Zeichen in drei Gruppen ein: 1. Indexe (verweisende Zeichen) sind Zeichen, die in einer direkten Beziehung zu den von ihnen repräsentierten Objekten stehen. Diese Beziehung kann physikalisch-kausal sein: z.B. Pfützen verweisen auf Regen, weil Pfützen in der Regel von dem Regen verursacht werden; Rauch verweist auf Feuer, weil Rauch in der Regel von dem Feuer verursacht wird; Schneuzen ist ein Anzeichen (ein Symptom) von Schnupfen (oder: Schneuzen verweist auf Schnupfen), weil jeder, der Schnupfen hat, schneuzt. Indexikalische Zeichen haben weniger arbiträren und mehr objektiven Charakter, weil es sich um naturbedingte Folgen bestimmter Ursachen handelt, auf die sie verweisen. 2. Ikonen (abbildende Zeichen) sind Zeichen, die zu den von ihnen repräsentierten Objekten in einer Ähnlichkeitsbeziehung stehen. Ähnlichkeit kann visuell sein, wie es bei Fotografien und grafischen Abbildungen der Fall ist, sie kann akustisch sein, wie onomatopöisches Wiedergeben von Schallphänomenen (z.B. wau-wau für Bellen, miau-miau für Miauen usw.), sie kann auch rein konzeptuell (oder: kategorial) sein, wie es bei Metaphern der Fall ist (vgl. Lakoff-Johnson 1980). Wenn jeder Semiose Urteilen zu Grunde liegt, heißt das, dass jedes Erkennen von einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Zeichen und seinem Objekt das Schließen aus dem einen auf das andere voraussetzt. Deswegen müssen auch Ikonen im gewissen Grade indexikalischen Charakter haben: auch die Beziehung eines Fotos zu der Person, die es repräsentiert, ist etwas Erfahrenes und nicht etwas "An-sich-gebendes". Ikonizität ist in dem Sinne kein absolutes, sondern ein relatives Phänomen — man kann verschiedene Grade von Ikonizität annehmen: ein gemaltes Portrait ist seinem Objekt in der Regel weniger ähnlich als ein Foto, und eine Karikatur noch weniger. Jede Ähnlichkeit hat Erfahrungscharakter, weil sie als Ähnlichkeit erkannt werden muss. An unserer Erfahrung beteiligen sich dabei unsere sprach- und kulturbedingte Erkennungsgewohnheiten (habits) (Sebeok 2000: 90-109). Wenn Ikonizität immer durch Zeichensysteme wie Sprache und Kultur bedingt ist, heißt das, dass sie im bestimmtem Grade selbst arbiträr oder konventionell — ebenso wie diese Zeichensysteme — sein kann. Dafür gibt es interessante antropologische Beweise: wie z.B. ein Fall der Afrikanerin, die am schwarzweißen Foto von ihrem Sohn gar nichts erkennen konnte. — Sie war nicht daran gewöhnt, sich Fotos anzusehen, deshalb verfügte sie nicht über den entsprechenden Kode (über entsprechende Regeln), nach dem man aus Merkmalen eines Foto auf das von ihm repräsentierte Objekt, also 28 auf ihren Sohn, schliessen könnte . Es gbt also keine Ähnlichkeit "an sich". Es gibt bloß wahrgenommene Ähnlichkeit, der die Semiose und zusammen mit ihr Urteilen zu Grunde liegt (Kalaga 1997: S. 111-114). 3. Symbole (konventionelle Zeichen) sind Zeichen, die keinerlei Ähnlichkeit oder objektiv gegebene Beziehung zu dem von ihm repräsentierten Objekt aufweisen. Symbole sind in dem Sinne völlig arbiträr und rein konventionell. In einer symbolischen Beziehung zu ihrem Objekt steht die Mehrheit der Sprachzeichen, aber auch z.B. Zahlen, Nationalflaggen, manche Firmenlogos usw. Symbole verlangen die höchste Abstraktionsleistung. Das bedeutet nicht, dass das Urteilen aus dem Zeichen auf seine Bedeutung anspruchsvoll sein muss. Wenn der Kode, der die gegenseitige 28 Melville J. Herskovits: Art and Value in: R. Redfield, M.J. Herskovits, G.F. Ekholm, (eds): Aspects of Primitive Art, New York 1959, S. 42-97 482 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus Zuordnung von Zeichen und ihren Objekten regelt, einmal gut erlernt, also eingeübt wird, erfolgt die Zuordnung mehr oder weniger "automatisch" — aus Gewohnheit. Man ordnet dem akustischen Lautzeichen ‘Baum’ seine Bedeutung zu, ohne das Gefühl zu haben, man schließt aus etwas auf etwas, weil man es gewöhnt ist. Ebenso ordnet man dem visuellen Zeichen, das aus drei Streifen an einer Sportjacke besteht, die Marke Adidas zu, ohne zu merken, dass man gerade ein Urteil vollzogen hat. 8. Primäres und sekundäres Zeichensystem Oben haben wir erwähnt, dass sowohl Sprache als auch Kultur als Zeichensysteme betrachtet werden können. Es handelt sich dabei um zwei ineinandergreifende Systeme, so dass sie nur in der Abstraktion voneinander getrennt werden können (Lotman — Uspienski 1975: 179). Da jeder Kultur eine Sprache zu Grunde liegt, wird die Sprache als primäres semiotisches System betrachtet, die Kultur wiederum als sekundäres semiotisches System. Diese Unterscheidung wurde durchgeführt von Jurij Lotman (1922-1993) und anderen Mitgliedern der semiotischen Schule von Moskau und Tartu, die sich um die in Tartu herausgegebene Zeitschrift Trudy po znakovym sistemam konzentrieren. Die Unterscheidung zwischen dem primären und dem sekundären semiotischen System wird gegenwärtig eher heuristisch begründet: Sprache und Kultur sind zwei innerlich verbundene Zeichensysteme, die man voneinander trennt, um sie besser erfassen zu können: es geht um keinen "objektiv" gegebenen Unterschied. Das primäre und das sekundäre semiotiche System — sowie alle ihren Subsysteme — bilden in der Wirklichkeit ein continuum, das von Lotman Semiosphäre genannt wurde (Lotman 1999: S.15) (vgl. mit dem Begriff Semiose von Ch. S. Peirce). Ähnlich sieht die Beziehung zwischen Sprache und Kultur der französische Semiotiker Roland Barthes (1915-1980), der sich u.a. mit der Art der Verbindung zwischen Sprache und Mythos, als einem Kulturgebilde, beschäftigt. Auch für ihn ist die Sprache das primäre semiotische System, das mit Mythos, den er für das sekundäre semiotische System hält, verbunden ist. Barthes zeigt, dass sich der Mythos des Sprachzeichens auf diese Weise bedient, dass er aus ihm ein Element größerer Bedeutungseinheit macht — ein Element von Mythos. Dies erfolgt so, dass ein Sprachzeichen, das ursprünglich eine Bedeutungseinheit von einem Bezeichnenden (signifiant1) und seinem Bezeichneten (signifié1) ist, als Ganzes zu einem Bezeichnenden höherer Ordnung (signifiant2) verwandelt wird, zu dem sich der Mythos als sein Bezeichnetes (signifié2) gesellt (Barthes 1970: 31-32). So ein Sprachzeichen, das von dem Mythos zu einem Bezeichnendem gemacht wird, verliert seine Eigenständigkeit dadurch, dass er uns eine zusätzliche Bedeutung vermittelt, auf die unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird. Sofern kann man mit Barthes sagen, dass der Mythos unsere Sprache "stiehlt" (Barthes 1970: S. 51-52). Nach Barthes wird das Sprachzeichen von dem Mythos zu einer bloßen Form (oder: zu einem blossen Zeichenträger) reduziert, die den Mythos repräsentiert. Dies betrifft nicht nur Sprachzeichen, sondern alle wahrnehmbaren Sachverhalte, Gegenstände und Vorgänge im Rahmen unsererer Lebenswelt, darunter Bilder und alle anderen graphischen Zeichen, Rituale usw. Dies erklärt er an Hand vielerlei Beispiele: ROSENSTRAUSS ist für ihn im Rahmen des primären semiotischen Systems eine selbstständige Bedeutungseinheit, im Rahmen des sekundären semiotischen Systems erfüllt sie jedoch die Repräsentationsfunktion gegenüber einer anderen Bedeutung, gegenüber dem GEFÜHL oder ZUNEIGUNG. ROSENSTRAUSS bedeutet also immer "mehr" als ein Bündel von Rosen (Barthes 1970: 29-30). Die Verbindung zwischen dem ROSENSTRAUSS als Bezeichnendem (signifiant2) und dem GEFÜHL als Bezeichnetem (signifié2) hat dabei kulturellen Charakter. Sie ist auch mehr oder weniger konventionell und dadurch arbiträr: nicht in allen Kulturen werden GELIEBTE FRAUEN mit ROSEN beschenkt. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 483 Jan Kajfosz Die Thesen von Barthes über die Verbindung der Sprache mit Mythos — und dadurch mit der Kultur — weisen bedeutende Affinität mit der Peirces Auffassung von Semiose als einem kontinuierlichen Zeichenprozess und mit seiner Auffassung von der Kontextualität der Zeichen: das Wort AMPEL ruft in unserem Bewußtsein nicht nur die Vorstellung eines Gegenstands hervor, der durch das Wort gestellt wird, sondern auch STRASSE, KREUZUNG, AUTOS, STADT usw. Die Einsichten von Barthes hängen auch damit zusammen, was oben über Stereotype gesagt wurde: auch Stereotyp ist ein Wort, das uns neben seiner primären, "ursprünglichen" Bedeutung noch sekundäre, zusätzliche Bedeutungen vermittelt. Stereotyp ist somit ein Sprachzeichen, das im Rahmen eines sekundären semiotischen Systems gefangen ist: PITBULL verweist auf einen HUND bestimmter Rasse, aber gleichsam verweist er auf KAMPF, AGRESIVITÄT, REISSWUNDEN, BLUT oder GEFAHR, weil es am meisten in der Umgebung dieser Begriffe erscheint (in den Medien). Die primäre, unmittelbare Bedeutung des Wortes wird Denotation genannt, die sekundäre, also zusätzliche oder begleitende Bedeutung wird Konnotation genannt. Denotation ist also die eigentliche Bedeutung, die durch die Definition des Wortes getroffen wird, Konnotation ist wiederum die Zusatzbedeutung, die von der Definition kaum oder nur zum Teil getroffen wird. Da die konnotativen Bedeutungen in der Regel nicht definiert — also bewusst gemacht — werden, 29 ist es ziemlich schwer, sie zu erfassen . Wenn es keine Sprachzeichen außer dem kulturellen Kontext gibt, gibt es im Rahmen der natürlichen Sprache keine konnotationslosen Sprachzeichen. Anders gesagt: jedes Sprachzeichen ist sowohl ein Bestandteil des primären semiotischen Systems, sowie auch des sekundären semiotischen Systems (Barthes 1997: 169-173, Kalaga 2001: 184-187). Die Feststellung, dass jede denotative Bedeutung von konnotativen Bedeutungen begleitet wird, dass kulturell bedingte Vorstellungen von der Sprache nicht wegzudenken sind und dass Stereotype sowohl eine sprachliche, als auch eine kulturelle Erscheinung darstellen, ist nichts anderes als Anerkennung der Tatsache, dass Sprache und Kultur eine Einheit bilden, die man mit Worten von J. Lotman Semiosphäre oder mit Worten von W. von Humboldt Weltbild einer Sprache (siehe oben) nennen kann. Sprachzeichen und die von ihnen gebildeten Kontexte (darunter Mythen und Stereotype) können als Sedimente früherer menschlicher Erfahrungen und Erfindungen betrachtet werden, die unter Mitwirkung anderer Zeichenkontexte entstanden sind. Sofern beinhalten Zeichen die Spuren ihrer Vergangenheit (Weisgerber 1964: 186-191). Die Struktur der Sprache erinnert an Struktur einer archäologischen Ausgrabung, wo auf die ältesten und ursprünglichsten Schichten im Laufe der Zeit immer neue Schichten aufgelegt wurden, bis zu den neuesten Schichten, die sich gegenwärtig bilden und auflegen (Anusiewicz 1995: 57-58). Die Rekonstruierung von Weltbildern, die in Zeichensystemen wie Sprache und Kultur seine Spuren hinterlassen haben, erfordert komplizierte Interpretationsvorgänge, wo versucht wird, die ursprünglichen Bedeutungskontexte zu rekonstruieren (vgl. Foucault 1966). Der semiotische Ansatz findet in der Sprachwissenschaft seit den achtziger Jahren des 20. Jhs eine seiner einflussreichsten Fortsetzungen in der sog. kognitiven Linguistik, die sich mit Zusammenhängen zwischen Sprache und Kognitionsprozessen beschäftigt. Anders gesagt: kognitive Linguistik beschäftigt sich mit der Rolle der Sprache innerhalb der menschlichen Wahrnehmung. Sie ist auf die Voraussetzung zurückzuführen, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem sprachlichen und aussersprachlichen Wissen gibt (Taylor 2001: 41). Das 29 Selbst wenn man die konnotativen Bedeutungen des Wortes in seine Definition einbeziehen wollte, könnte man nicht alle Kontexte auflisten, in denen das definierte Wort erscheint — man könnte nicht alle möglichen Zusatzbedeutungen erfassen, auf die das definierte Wort verweisen könnte. In Wörterbüchern werden in der Regel nur die in der Kultur der betreffenden Sprachgemeinschaft am stärksten verankerten Konnotationen berücksichtigt. 484 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus heißt nichts anderes als die oben gemachte Feststellung, dass der Mensch in der Welt der Zeichen (darunter Sprachzeichen) lebt, und dass sein Wahrnehmen und sein Handeln durch Zeichensysteme (darunter Sprache) vermittelt — und dadurch auch geprägt — wird. Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 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Sadzińskis „dynamische Valenz“ (1989), an A. Storrers (1992) pragmatische Auflösung der Valenz und an V. Ágels „kontextuell-situative Valenzrealisierung“ (2000). Wie ist das Verhältnis von Valenz und Typologie? Diese Frage wurde erst relativ spät und zunächst auch nur am Rande gestellt, was angesichts der typologischen Ausrichtung von L. Tesnière (1966) und des kontrastiven Programms der VT etwas überraschend ist. Zu nennen sind hier u.a. F. Pasierbsky (1981), der den Begriff der Mikrovalenz eingeführt hat, S. László (1988), die den Begriff kontrastiv angewandt hat, und V. Ágel (2000), der verschiedene Ansätze zusammengeführt hat und eine strukturelle Valenzrealisierung von der kontextuell-situativen unterscheidet. Als Einflüsse auf die VT sind u.a. Milewski (1967), Fourquet (1970) und Nichols (1986) zu nennen. Die drei Fragen hängen offensichtlich zusammen. Ich werde sie kurz kommentieren: ad a) Valenzdefinition. Jacobs hatte Valenz mangelnden begrifflichen Inhalt attestiert und durch eine Reihe von Einzelrelationen ersetzt. An dem unten stehenden Beispiel sind drei der Relationen angezeigt (Form, Notw, Syn): 1 1 (Thema: Die prekäre Situation der Gebäude Venedigs) Esub: PAT Esit: LOC / Asit: LOC Esub: PAT Aber noch stand alles fest auf seinen hölzernen Beinen, und Victor lehnte +Form -Form +Form +Notw -Notw +Notw +Syn -Syn +Syn Esit: LOC Edir: PATH DIR an seinem Fenster und blickte durch die staubige Scheibe nach draußen. -Form -Form Ich danke Ruxandra Cosma und Speran]a St`nescu für Diskussionen und Hinweise. Dank aussprechen möchte ich auch der London Metropolitan University und dem britischen Arts and Humanities Research Board, die meine Arbeit durch zwei Forschungstrimester unterstützt haben (Research Leave Scheme Award RL/AN6564/APN 16978). Klaus Fischer +Notw -Syn +Notw -Syn (Cornelia Funke: Der Herr der Diebe, Hamburg, Cecilie Dressler Verlag 2000) Form: Notw: Syn: Formale Determinierung durch das regierende Element (Rektion) Notwendigkeit der Realisierung (im unmarkierten Fall) Synsemantik (die semantische Rolle wird vom regierenden Element bestimmt) Weder sind E alle in ihrer Form oder semantischen Rolle vom Verb determiniert, noch sind sie alle notwendig. Jacobs zog daraus den Schluss, dass Valenz lediglich ein Sammelbegriff sei: eigentlich wichtig seien die einzelnen Valenzrelationen. ad b) Lexem und Textrealisierung. Stehen hat viele miteinander verbundene Verwendungsweisen. Wieviele Bedeutungen hat es? Es ist anzunehmen, dass das Verb nur eine hat, die im Kontext erweitert oder reduziert wird. Die Bedeutung von stehen kann mit ‘in aufrechter Ruhelage verharren’ angegeben werden. Bei geografischen Angaben ist die Bedeutung auf ‘sich befinden’ reduziert, die Situativergänzung obligatorisch: 2 Esit: LOC Das Rathaus steht/ist am Markt. -Form +Notw -Syn Der Hörer wendet ein auf Erfahrung basierendes Schlussverfahren an, um die Textbedeutung und die ihr entsprechenden Valenzforderungen, das heißt den passenden Satzbauplan, zu ermitteln. Die Erfahrung sagt ihm, dass Gebäude nicht einmal stehen, ein andermal liegen und auch nicht den Ort wechseln können. In 2 kann es sich also nicht um das Aufrechtsein des Rathauses, das zufällig am Markt stattfindet, handeln. Gebäude können aber zusammenfallen oder, im Falle Venedigs, versinken. Entsprechend wird die Bedeutung in 1 angepasst: stehen bedeutet hier ‘in Ruhelage, intakt sein’. Das Thema Venedig verhindert in 1, dass der Leser an bewegliche Güter (Noch stand alles in der Küche) oder an Pläne denkt (Noch stand alles fest, dann wurde es wieder geändert). Noch und fest deuten auf Veränderlichkeit, d.h. auf im Prinzip vertikales Stehen hin, eben das Stehen von Gebäuden, dessen Gegenteil nicht ein Liegen, sondern ein Zusammenfallen oder hier Versinken ist. Mit dieser Textbedeutung geht eine Degradierung des Ortsbezuges einher: Aber noch stand alles. ist ein kompletter Satz. Ob die Angabe des Untergrundes als fakulative E oder als A angesehen wird, möchte ich im Moment zur Seite stellen. Auf jeden Fall liegt ein anderes Verhältnis zur Ortsbestimmung vor als in Der Campanile steht am Markusplatz. Wichtig ist die Einsicht, dass der Satzbauplan aus dem Kontext heraus konstruiert 2 wird: Das Verb ist hinsichtlich seiner Textlesart unterdeterminiert. Das Verhältnis von Lexem zur Textverwendung ist Valenzpraktikern nur zu gut vertraut. Ich sehe hier vor allem eine Chance, als Valenzgrammatiker am Modellieren der Sprachverarbeitung 2 Man vergleiche Marten 2002. Zur Unterspezifizierung von Äußerungen generell siehe Sperber & Wilson (1995) und Kempson et al. (2001). 488 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells mitzuwirken. Außerdem kann von der Sprachverwendung her korrektiv gegen vorschnelle typologische Generalisierungen vorgegangen werden. Dies bringt mich zum dritten Punkt: ad c) Valenz und Typologie. Von der textuellen Realisierung zu unterscheiden ist die strukturelle Valenzrealisierung in einer Einzelsprache. Dazu finden sich in kontrastiven Valenzstudien immer wieder Bemerkungen, z.B. im Valenzlexikon deutsch-rumänisch und in der Kontrastiven Grammatik deutsch-rumänisch Hinweise auf pro-drop, das Auslassen von Personalpronomen (Engel & Savin et al. 1983: 32, Engel et al. 1993: 50f.: inbegriffenes / mitverstandenes / unbestimmtes Subjekt), und auf Verdopplungen von E (Engel & Savin et al. 1983: 33, Engel et al. 1993: 52-63). Implizit werden hier „Mikrorealisierungen“ (s.u.) angenommen: prodrop des Subjekts wird nicht als Fakultativität interpretiert und die Verdoppelungen führen zu keiner Änderung der (makrovalenziellen) Satzbaupläne. Person und Numerus des inbegriffenen Subjekts seien durch die Personalendungen des Verbs gesichert (Engel et al. 1993: 50). Auch eine Funktion bzw. ein Effekt der Verdoppelungen wird identifiziert: Disambiguierung (ebd.: 52). Die typologische Relevanz dieser Phänomene wird allerdings nicht herausgestellt. Dies ist einerseits durch den Entwicklungsstand und die Prioritäten der damaligen VT zu erklären, andererseits scheint auch das am Deutschen entwickelte Valenzmodell einen gewissen Anpassungszwang ausgeübt zu haben. Die Bevorzugung einer Sprache durch den Beschreibungsapparat ist bei kontrastiven Unternehmungen fast unvermeidlich. Eine am Rumänischen entwickelte VT hätte vielleicht den typologischen Ansatz von Tesnière stärker integriert bzw. weiter entwickelt. 2. Methodik Die strukturelle Valenzrealisierung einer Einzelsprache muss identifiziert werden, schon allein, um sie methodisch von der kontextuell-situativen trennen zu können. Außerdem eröffnet die strukturelle Valenzrealisierung die Chance einer Valenztypologie. Wie soll man also vorgehen? Man kann Valenz auch nach Jacobs einfach als die Gesamtheit der syntaktischen und semantischen Anforderungen bestimmen, die ein Lexem an seine Umgebung stellt. Ein solcher Begriff läuft auf das heute übliche multidimensionale Valenzmodell mit abgestufter E/A-Abgrenzung hinaus. Da er keine Auskunft darüber gibt, warum die Anforderungen bestehen, bleibt Valenz ein Sammelbegriff. Ich möchte einen anderen Weg einschlagen und zuerst fragen, was ein Valenzmodell eigentlich erklären soll: a) Es sollte eine universal anwendbare Definition von Valenz leisten. b) Typologisch unterschiedliche Realisierungsformen von Valenz müssen im Modell darstellbar sein. c) Es sollte die „klassischen“ Einsichten in die Valenz erklären: a) die Relationalität von Valenz, b) die Gleichordnung der Ergänzungen (flache Struktur). d) Das Verhältnis der verschiedenen Valenzrelationen (Partner-Bindungsbeziehungen) sollte bestimmt werden. e) Der in der Valenzpraxis weitgehend bestehende Konsens über die E/A-Abgrenzung sollte sowohl von der Definition erfasst als auch erklärt werden. f) Die Indeterminiertheit eines Teils der Satzglieder bezüglich der E/A-Abgrenzung und die Unterdeterminiertheit von Prädikaten sollte berücksichtigt werden. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 489 Klaus Fischer g) Der Umfang des Valenzträgers, die verschiedenen Realisierungsformen von Valenz (Mikro- vs. Makrovalenz; interne vs. externe Valenz), die semantische und syntaktische Ausgestaltung von Textprädikaten durch Interaktion mit der jeweiligen Verbform (z.B. Konverse) sowie dem Ko- und Kontext und daraus resultierende Valenzreduktion/erhöhung sollten beschrieben werden. 3. Valenzdefinition Beginnen wir mit der Definition: Formale Anforderungen an E sind nicht universal, da die Beziehung zwischen E und Verb rein semantisch sein kann, die Identifikation und Unterscheidung der E also vom Hörer erschlossen wird. Obwohl Deutsch eine Kasussprache ist, können E wegen mangelnder morphologischer Nominativ-Akkusativ-Differenzierung relativ häufig nur kontextuell differenziert werden: 3 Mehr als 50 Frauen sollen zwei Westafrikaner nach NRW eingeschleust und zur Prostitution in Bordellen in Oberhausen, Düsseldorf und Köln gezwungen haben. (Rheinische Post, nach Spiegel 13/2001, S. 246, Rubrik Hohlspiegel) Wer hat wen eingeschleust und zur Prostitution gezwungen? Unser Weltwissen gibt uns die Antwort. Zumindest ein Leser hat die fokussierte Akk-E aber zunächst als Subjekt interpretiert, sonst wäre der Satz nicht aufgefallen und an den Spiegel eingesandt worden. Unter einem universalen Blickwinkel kann es nur eine semantische Definition von Valenz geben: Valenz ist Sachverhaltskonstitution. Sachverhaltskonstitution ist nötig, um etwas zu sagen: das Prinzip, mit dem wir über Welt sprechen, ist, dass wir Entitäten zueinander in Beziehung setzen. (Ob unser kognitives Erfassen von Welt auch so funktioniert, wissen wir nicht.) In 3 wird der Kernsachverhalt des Jemanden-an-einen-Ort-Einschleusens etabliert. Drei Entitäten werden miteinander verbunden und mit semantischen Rollen versehen: die Einschleuser, die Eingeschleusten und das geographische Ziel des Einschleusens. Dies leistet das im Kontext interpretierte Verb. Einen Sachverhalt des Einschleusens gibt es nicht an sich, nur Menschen, die sich relativ zum Raum bewegen. Der Sachverhalt ist ein sprachlich gefasster. Die Relation Sachverhaltskonstitution ist also valenzbegründend, ist die synthetische Valenzrelation (vgl. Ágel 2003). Dies ist im Prinzip seit Tesnière bekannt und wird auch in der Grammatik der deutschen Sprache (GdS) so ausgeführt: Stichworte Sachverhaltsentwurf, Minimalproposition (Zifonun et al. 1997: 601, 1028) – um dann im zweiten, etwas unverbunden neben dem ersten stehenden GdS-Valenzmodell als eine gleichberechtigte Relation neben anderen wieder zu erscheinen (ebd.: 1030-43). Der Grund dafür ist m.E., dass das volle Erklärungspotenzial der Relation Sachverhaltskonstitution nicht erkannt wurde: a) Sie erklärt den hartnäckigen, theorieübergreifenden Valenzkonsens, der so unterschiedliche E anerkennt wie das Subjekt, adverbiale Bestimmungen, prädikative Phrasen. b) Sie erklärt auch die letztlich unfruchtbare Diskussion um die Abgrenzung von E und A: Kernsachverhalte können enger oder weiter gefasst werden. Es ist nicht entscheidbar, ob für Satz 1 ein Kernsachverhalt des Stehens, des Auf-etwas-Stehens, des Auf-eineArt-Stehens oder eines Auf-eine-Art-auf-etwas-Stehens angenommen werden soll. Sachverhaltskonstitution ist partiell indeterminiert (was nicht dasselbe ist wie vage: kein fließender Übergang wird angenommen). Ich schlage vor, eine lexikalische Grundvalenz durch Häufigkeitsuntersuchungen zu etablieren. Sie ist etwas weiter gefasst als bei Welke (1988): essen z.B. wäre zweiwertig, nicht einwertig. Diese kann dann in der Textrealisierung durch Valenzreduktion oder -erhöhung verändert werden. Valenzerhöhungen können weit in den Bereich der klassischen Angaben hineinragen, da es wie 490 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells gesagt nicht entscheidbar ist, ob adverbiale Bestimmungen als Argumente oder Prädikate zweiter Stufe angesehen werden sollen. Sachverhaltskonstitution erklärt auch die von Tesnière angenommene Gleichheit der strukturalen Beziehung von E zum Vt. Hat man sich entschieden, was der Kernsachverhalt ist, dann benötigt man alle E, um diesen zu konstituieren. In dieser Beziehung sind E gleichberechtigt und gleich wichtig. In anderer Hinsicht sind sie syntaktisch und semantisch unter3 schieden. Ich gehe das Problem der Valenzdefinition nochmal aus einem etwas anderen Blickwinkel an. Es wird oft gesagt, dass die syntaktische Valenz der Ausdruck der semantischen Valenz sei. Dabei schwingt die Frage mit: Worum wurde hier eigentlich diskutiert? Ich kann dem so nicht zustimmen, weil die Formulierung zu Missverständnissen führen kann. Formale Markierung an sich zeigt syntaktische Beziehungen, z.B. Dependenzrelationen an. Sie kann vereinfacht ausgedrückt in zweierlei Form auftreten, am Kopf der Dependenzrelation oder am Dependens (s. Nichols 1986): 4 Der Kanzler Dependensmarkierung schmollt. Kopfmarkierung der Dependenzbeziehung 5 Sie springt über den Bach. Dependensmarkierung der Dependenzbeziehung 6 Sie überspringt den Bach. Kopfmarkierung der Dependenzbeziehung Kasus sind z.B. Dependensmarkierungen, die auch bei Angaben auftreten können: 7 den ganzen Tag/des Tages (obs.) schlafen Häufiger als im Deutschen z.B. im Lateinischen, besonders mit dem Ablativ (Kasusendungen fett): 8 omnibus amicis/duobus modis/ruri/ vere celebrare ‘mit allen Freunden/auf zweifache Weise/auf dem Lande/im Frühling feiern’ Die ide. Verbflexionen markieren die Beziehung zum Subjekt am Kopf, was wie gesagt als sogenannte Mikrovalenz bezeichnet wird und eine Form von struktureller Valenzrealisierung darstellt. Aber wieder ist Markierung nicht auf E beschränkt: Auch A können kopfmarkiert sein: 9 Sie kauften gestern ein. (s. Pasierbsky 1981) In 9 wird der Zeitbezug am Verb markiert. Von den Formen an sich führt kein Weg zur Valenz, vielmehr muss erst entschieden werden, ob die Markierung vom Vt abhängt, d.h. wir müssen die Valenz zuerst bestimmen, um die Markierung einzuordnen. Da weder einzelsprach3 Genauer in Fischer 2000, 2001, 2003b. W. Bondzio z.B. vertritt seit den 70er Jahren einen semantischen Valenzbegriff (s. etwa Bondzio 2001: 157f.). Zur flachen Satzstruktur im Deutschen vgl. Kathol 2001, zu Graden von Konfiguriertheit Berg 2002. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 491 Klaus Fischer lich noch universal alle E eine formale Markierung tragen, drücken Markierungen nicht Valenz an sich aus: sie sind vielmehr auf Unterscheidung der E angelegt. Eine finite ide. Verbendung bedeutet also nicht: das entsprechende Dependens ist ein E, sondern eine bestimmte E, ein Subjekt. Gleichfalls bedeutet ein vom Verb geforderter Nominativ nicht E, sondern Subjekt. 4. Valenzrealisierung 4.1 Pro-drop Wir haben gesagt, dass etwas sagen bedeutet, zwischen Entitäten Beziehungen herzustellen. Das im Kontext interpretierte Verb entscheidet über die Art der Beziehung und damit darüber, welche Entitäten verbunden werden. Die Referenz auf die Entitäten wird durch die Makro-E geleistet, z.B. durch Nominalphrasen. Dies muss aber nicht sein: 10 11 la Laboro ‘ich arbeite’ ro Am o carte. ‘ich habe ein Buch’ Die deiktische Referenz wird hier jeweils durch das Verb selbst bewerkstelligt, und zwar durch die Personalendung -o bzw. -m. Lateinisch und Rumänisch, wie auch Spanisch, Portugiesisch, Italienisch, Katalanisch, Griechisch, Bulgarisch, Serbokroatisch, Chinesisch, Japanisch, Thai, Koreanisch und viele andere Sprachen, sind pro-drop, d.h. das Personal4 pronomen kann weggelassen werden. In pro-drop-Sprachen ist die Realisierung des Personalpronomens dann markiert: 12 13 la Ego laboro. ‘ICH arbeite’ (nicht die anderen) ro Eu am o carte. ‘ICH habe ein Buch’ Die Nichtrealisierung ist nicht als Fakultativität misszuverstehen, sie ist ein struktureller Zug von pro-drop-Sprachen. Ein Sprecher des Lateinischen hätte nicht die Wahl gehabt, 12 ohne Emphase zu realisieren. Dafür hätte er 10 sagen müssen. Auch das Deutsche hat pro-drop-Strukturen, z.B. beim Imperativ: 14 Komm jetzt. Die Makrorealisierung des Angesprochenen ist emphatisch: 15 Komm du jetzt. Die VT hat hier durchaus eine Aufgabe: zu bestimmen, welche unmarkierte strukturelle Valenzrealisierung in einer Sprache besteht und welche markierten Strukturen nach einem anderen Muster realisiert werden. Mikrovalenz gehört also in ein integriertes Valenzmodell. Allerdings sollte Mikrovalenz aus einer Reihe von Gründen nicht überinterpretiert werden: 4 Im Rumänischen ist pro-drop in der 2. Person Singular Präsens eingeschränkt, da z.B. Pleci la mare als Aufforderung interpretiert würde: Fahr ans Meer. 492 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells a) Eine explizite Kopfmarkierung in Form einer Personalendung ist universal nicht nötig. Ostasiatische Sprachen sind trotz fehlender Verbflexion pro-drop: 16 zh Zhangsan kanjian Lisi le ma? (Roberts 1997: 154) Zhangsan see Lisi ASP Q ASP: Aspektmarkierung ‘Did Zhansan see Lisi? Q: Fragemarkierung kanjian le (eine mögliche Antwort) see ASP ‘He saw him’ Pro-drop-Sprachen scheinen entweder eine reiche Verbmorphologie zu haben oder gar keine (Zushi 2003). Wenn man mit Tesnière ide. Personalendungen zum Subjekt rechnet, sind ostasiatische Sprachen die eigentlichen pro-drop-Sprachen. a) Auch eine Sprache wie das Deutsche, die im Konstativsatz obligatorische Makrorealisierung eines valenziell vorgesehenen Subjektelementes besitzt, ist umgangssprachlich pro-drop: 17 Bin gleich wieder da. Die beiden Punkte unterminieren m.E. die syntaktische Relevanz von pro-drop und lassen es als ein pragmatisches, wenn auch in pro-drop-Sprachen stark normiertes, Phänomen erscheinen. 4.2 Weitere Mikrorealisierungen Nicht nur das Subjekt kann mikrovalenziell realisiert werden. Betrachten wir kurz ein Beispiel der oben angesprochenen Verdopplungen von Dativ- und Akkusativergänzungen in Form von unbetonten Pronomen im Rumänischen (Engel & Savin et al. 1983: 33): 18 Petre l-a salutat pe profesor. ‘Peter hat den Lehrer gegrüßt.’ Im Valenzlexikon deutsch-rumänisch heisst es dazu „Die Verdopplung hat mit der Valenz des Verbs überhaupt nichts zu tun.“ (ebd.: 33) Tatsächlich ist es dieselbe E, die zweimal realisiert wird: Am makrovalenziellen Satzbauplan ändert sich deshalb nichts. Die klitische Realisierung der E am Kopf der Phrase, dem Verb, ist vielmehr ein Phänomen der strukturellen Valenzrealisierung, hier als markierte, an gewisse Bedingungen gebundene Struktur. Zu beachten ist, dass Mikrovalenz verschiedene Formen besitzen kann: Klitika sind natürlich weniger eng an das Verb gebunden als Flexive. Nichols und Ágel fassen auch adverbiale Präfixe als Kopfmarkierungen bzw. mikrovalenzielle Realisierungen auf: 19 Wir montieren die Reifen (an das Auto) an. An sei eine Mikrorealisierung der Direktivergänzung. Adverbiale Verbpartikel sind aber nicht mit Personalendungen gleichzusetzen: 20 Wir montieren die Reifen an es an. ist keine emphatische Realisierung wie 12 und 13, obwohl die Direktivergänzung zweimal phorisch verwirklicht wäre. Die Lösung könnte darin gesehen werden, dass die Partikel an nur ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 493 Klaus Fischer eine Teilmikrorealisierung der Direktivergänzung darstellt: an repräsentiert den Kontakt, nicht den Gegenstand, mit dem der Kontakt stattfindet. Nicht umsonst sind PP exozentrisch. 4.3 Appositive Interpretation Nichols und Ágel verbinden mit der Mikrovalenz in pro-drop-Sprachen eine auf F. Boas’ Ana5 lyse amerikanischer Sprachen fußende funktionale Interpretation, die sich gegen die Kongruenzinterpretation richtet. Die Personalendung sei phorisch-deiktisch, da sie allein die Referenz sichern kann. Werde ein Subjekt realisiert, sei dieses appositiv zur Personalendung: 21 Puer laborat. ‘der/ein Junge arbeitet’ ––––––→ „Apposition“ Personalendung sichert Referenz 6 Die appositive Interpretation ist m.E. aus einer Reihe von Gründen nicht haltbar : Laborat für sich kann nur eine definite, nicht eine indefinite Referenz besitzen. Für eine indefinite Lesart ist immer ein Makrosubjekt oder eine Passivkonstruktion nötig: 22 Aliquis laborat. / Laboratur. ‘jemand arbeitet’ / ‘es wird gearbeitet’ Eine funktionale Teilung zwischen indefiniter und definiter Subjektphrase ist aber absurd. b) NP referieren, sobald sie im Redefluss auftreten. Ein Hörer des Lateinischen würde mit der Referenz von puer nicht warten, bis das Verb auftritt. c) Es ist unwahrscheinlich, dass sich bei einem Registerwechsel wie z.B. dem ins „Telegrammdeutsch“ die funktionalen Bezüge im Satz verändern. Ich möchte der appositiven Sichtweise den Versuch einer einheitlichen funktionalen der ide. Verbflexion in Form eines Imperativs gegenüberstellen: „Suche nach einem valenzkonformen Subjekt“, ausführlicher: „Suche nach einer valenzkonformen Subjektphrase im Kotext oder, wenn nicht vorhanden, nach einem passenden Subjektreferenten im Kontext zwecks Formung einer Aussage (die zu verschiedenen Sprechakten benutzt werden kann)“. Diese Funktionsbestimmung der finiten Verbflexion hat den Vorteil, dass sie sowohl auf Sprachen mit obligatem Subjekt und auf pro-drop-Sprachen passt. Die finite Flexion verändert nicht ihre Funktion je nach Typ der Valenzrealisierung. 5. Die Aussagedimension Bisher haben wir das Wesen der Valenz als Sachverhaltskonstitution bestimmt. Dies ist die lexikalische Forderung nach Valenzpartnern, die ein Verb mit dem entsprechenden Nomen teilt: laufen → der Lauf (vgl. Eichinger 1995). Verben haben aber auch eine grammatische Bedeutung, die sie von anderen Wortarten unterscheidet. Diese grammatische Bedeutung wurde in der VT meist nicht explizit benannt. Sie besteht darin, Aussagen zu ermöglichen (vgl. Bossong 2001). Unter Aussage verstehe ich das Einbringen eines Sachverhaltsentwurfs in einen Satz. Der Terminus ist sprechaktneutral gemeint. In diesem Sinne beinhalten auch Fragen und Anweisungen „Aussagen“, d.h. jeweils wird ein von der Verbsemantik bestimmter Sachverhaltsent5 6 Boas 1911: 29, s.a. 74f. Genaueres in Fischer (2003b). Zur Referenzialität und (In-)Definitheit von Personalpronomen, personalen Affixen (Klitika) und Personalflexiven vergleiche Lyons 1999, insbesondere 26-32, 311; Corbett 2003: 173, 184f. und Mithun 2003: 239ff. 494 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells wurf realisiert. Leiss (2002) spricht von einer Zeit- oder Innenperspektive, die Verben von Nomen unterscheidet: Nomen schauen von Außen auf die Welt und erfassen „Weltabschnitte“ als abgeschlossenes Ganzes – sozusagen in einem Augenblick. Verben erfassen Welt dynamisch, als unabgeschlossenen Vorgang. Dies ist besonders deutlich in der ersten Person. Man vergleiche ich laufe mit der Lauf. Mit dieser sspezifischen grammatischen Leistung des Verbs sind weitere Merkmale verbunden: Verben sind komplexer als Nomen, sie sind einzelsprachspezifischer und deshalb schwieriger zu übersetzen (Bybee 2000: 795). Im Spracherwerb werden sie später gelernt als Nomen. Von der VT als einer verbzentrierten Theorie kann erwartet werden, dass sie auch die grammatische Bedeutung der Kategorie Verb untersucht. Das Fehlen einer solchen Untersuchung birgt die Gefahr in sich, dass Valenz unreflektiert auf andere Wortarten, z.B. Nomen, 7 übertragen wird (Eichinger 1995). Die prototypische Aufgabe von Nomen ist Referenz . Um diese durchzuführen, genügt meist eine minimal ausgestattete NP (Determinativ und Nomen). Deshalb sind unmarkierte N gerade nicht die relationalen N, und deshalb haben Leerstellen von N einen anderen Stellenwert als Leerstellen von V: ihre Füllung ist möglich, aber meist nicht nötig. N verlangen in der Regel keine Mitspieler, tolerieren sie nur. Sekundär wird N allerdings in den Dienst von als Referenzen verkleideten Prädikationen gedrückt. Ganz deutlich und häufig geschieht dies in der deutschen Schriftsprache mit ihren kompakten, semantisch unterdeterminierten Nominalisierungen. Der Aufwand bei ihrer Rezeption – sie sind meist semantisch weniger transparent als entsprechende verbale Phrasen und zuerst muss eine Prädikation durch8 geführt werden, um die Referenz zu erfassen – ist Zeuge ihrer „Zweckentfremdung“ . Auf der Plusseite sind Nominalisierungen oft kürzer und erlauben deshalb kompakte Sätze. 6. Valenzmodell Die bisherigen Ergebnisse sind in dem auf der nächsten Seite stehenden Modell zusammengefasst. 7. Schluss Ich habe einige der Anforderungen angesprochen, die ein integriertes Valenzmodell erfüllen sollte, und in Grundzügen einige Elemente eines solchen Modells vorgestellt. Valenz hat sich dabei keineswegs als Sammelbegriff erwiesen, sondern als klassisch definierbarer semantischer Begriff, der die oft kritisierte Valenzpraxis im Prinzip rechtfertigt und auch in Bezug auf zentrale Lehrsätze der VT Erklärungspotenzial besitzt. Es wurde vorgeschlagen, zwischen der semantischen Begründung von Valenz durch die Relation Sachverhaltskonstitution und der Beschreibung der Valenz durch alle anderen Relationen zu unterscheiden. Auf diese Weise können die seit Jacobs’ Kritik erzielten Fortschritte, insbesondere auch die Relationen des zweiten Modells in der GdS, integriert werden. Die semantische Begründung von Valenz hat auch den Vorteil, dass sich die von der Theorie der strukturellen Valenzrealisierung angemahnte Beschreibung der einzelsprachlichen Valenzrealisierungen problemlos integrieren lässt. Es wurde allerdings zu einer differenzierenden Sicht der unterschiedlichen „Mikrovalenzen“ aufgefordert und davor gewarnt, das ursprünglich pragmatisch motivierte Phänomen des pro-drop funktional überzubewerten: Die appositive Abwertung von Makrosubjekten in pro-drop-Sprachen wurde verworfen. Im Übrigen lässt sich die heute auch von Konstituentenstrukturgrammatiken akzeptierte Verbzentralität im uni7 8 Der Einfachheit halber wird hier nicht zwischen referenziellem und essenziellem (Gegenstände setzenden) Gebrauch von N unterschieden (s. Zifonun et al. 1997: 781-3). Dies soll keinesfalls als Stilkritik missverstanden werden, es geht lediglich um den prototypischen Gebrauch grammatischer Kategorien und um eine Kosten-Nutzenrechnung bei atypischem Gebrauch. Vgl. Fischer (2003a). ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 495 Klaus Fischer versalen Beitrag des Verbs zur Satzkonstitution, zur Formung einer Aussage, demonstrieren, die im Unterschied zum Nomen, im Aufbreiten eines generellen Ereignisraumes bzw. Zeithorizontes und im Konstituieren eines bestimmten, u.U. kulturell und einzelsprachlich geprägten Szenarios besteht. Aus dieser von der VT zu wenig thematisierten universalen Funktion des Verbs ergeben sich Unterschiede zur Valenz anderer Wortklassen, insbesondere der des Nomens. Nicht angesprochen wurden wichtige Elemente einer VT wie z.B. die Abgrenzung der Valenzträger (Kollokationen, Phraseologismen, innere und äußere Valenz, vgl. Ágel 2003) und die Ermittlung einheitlicher Lexembedeutungen (Willems & Coene 2003). Unidimensionales Modell der Verbvalenz Grammatische Leistung der Kategorie Verb Definition („Wesen de Verbvalenz“); universal formale Kennzeichnung Konsequenzen aus E-Status (einzelsprachliche Beschreibung der Verbvalenz) 9 Aussage: Einbringen eines Sachverhalts-entwurfs in einen Satz (sprechaktneutral) Sachverhaltskonstitution; Entscheidung E/A (partielle Indeterminierthe it) keine (Valenz ist impliziert) semantisch Das im Kontext interpretierte Verb determiniert semantische Rollen und Restriktionen aller E und perspektiviert einige E syntaktisch Zum Teil Kennzeichnung der Dependenzbeziehung zum Verb und der Art der Dependenzbeziehung, d.h. Unterscheidung der E durch: 1. Kopfmarkierung a) formale syntaktische Mittel: - Verbflexion - Position der Verbflexive zueinander - Verbform (genus verbi) - Betonung von Affixen b) lexikalische syntaktische Mittel: - Affixe 2. Dependensmarkierung a) formale syntaktische Mittel: - Position - Flexion (Kasus, Kasustransfer) - Intonation b) lexikalische syntaktische Mittel - Kopf der Phrase (NP vs. PP) - Wahl der konstanten Adposition Literatur: 9 Wegen der in wesentlichen Punkten ähnlichen bzw. identischen Erfahrungen menschlicher Individuen und Gesellschaften gibt es weitgehende semantische Überschneidungen zwischen den Verben bzw. Prädikatsausdrücken verschiedener Sprachen, auch, was die Anzahl und Rollen der Mitspieler und ihre Abbildung auf syntaktische Funktionen betrifft. 496 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells 1. Ágel, Vilmos, 1993. Ist die Dependenzgrammatik wirklich am Ende? Valenzrealisierungsebenen, Kongruenz, Subjekt und die Grenzen des syntaktischen Valenzmodells, in: ZGL 21.1, 20-70. 2. -- , 2000. Valenztheorie. Tübingen: Narr. 3. -- , 2003. Phraseologismus als (valenz)syntaktischer Normalfall. Typoskript. 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Die Frauen– und Männersprache könnte also als Soziolekt definiert werden, da unter Soziolekt eine gruppenspezifische Sprachvarietät verstanden wird, die Kommunikationsbarrieren darstellt und wertende Einstellungen zu anderen sozialen Gruppen verstärkt. Ein Soziolekt ist eine Sprachvarietät, die von einer sozialen Gruppe oder einer sozialen Schicht benutzt wird. Für den Begriff Soziolekt gibt es verschiedene Definitionen, z.B. „Spezifische 1 Sprachform einer sozialen Schicht.“ („Knaurs Fremdwörterlexikon“), „eine bestimmte soziale 2 Gruppe kennzeichnende Sondersprache“. (dtv-Lexikon, Band 17) oder „Sprachgebrauch einer 3 sozialen Gruppe oder Schicht.“ (Wahrig — Deutsches Wörterbuch). Ich betrachte die Frauensprache — Männersprache als einen Soziolekt, als eine geschlechtsspezifische Sprache mit geschlechtsspezifischem Sprachverhalten in kommunikativen Situationen. Die Beschäftigung mit dem Thema „Männersprache — Frauensprache“ begann Anfang der 70er Jahre in Amerika und wurde von der neuen Frauenbewegung der letzten 20 Jahre initiiert und in die Linguistik hineingetragen worden. Seit Trömel-Plötz 1978 ihren Aufsatz 4 „Linguistik und Frauensprache“ veröffentlichte, ist das Thema auch in der germanistischen Linguistik verstärkt angegriffen und bearbeitet worden. Das Thema steht aber in engen Beziehungen auch zur Soziologie, Psychologie oder Pädagogik, besonders wenn man auch den Zusammenhang zwischen Sprache und sozialer Herkunft in Betracht zieht. Bei der Behandlung der Frauensprache — Männersprache unter soziolinguistischer Perspektive müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden: das unterschiedliche Sprachverhalten von Männern und Frauen, die Position der feministischen Linguistik dazu und die sprachliche Gleichstellung der Frau in der Rechts- und Verwaltungssprache. Auch im Schul- und Schulbuchbereich sind über ministerielle Erlasse und Gutachterrichtlinien erhebliche Veränderungen im Sinne einer feministischen Lehr- und Lernmittelkritik feststellbar. Meine Arbeit beruht auf einer Fragebogenuntersuchung. Befragt wurden 50 Studenten sowohl der Germanistik als auch der nichtphilologischen Fakultäten, der deutschen Abteilung, Studienfächer in deutscher Sprache, 1. und 2. Jahrgang, darunter 20 Studenten und 30 Studentinnen. 1 Knaurs Fremdwörterlexikon 1992, Hg. vom Lexikograph. Institut, vollständ. Taschenbuchausg., München, S. 395. Dtv-Lexikon, Bd 17, 1992, F.A. Brockhaus GmbH, Mannheim und DTV Verlag GmbH &Co KG, München, S. 119. 3 G. Wahrig 1986: Deutsches Wörterbuch, völlig überarb. Neuausg., Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/ München, S. 1195. 4 S. Trömel-Plötz 1978: Linguistik und Frauensprache; in „Linguistische Berichte“ 57, S. 49-68. 2 Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung Ich war durch die Fachliteratur angeregt, diesen Fragebogen aufzustellen, dessen Fragen ich teils selbst formuliert habe, teils der Literatur entnommen habe. Für die Aufstellung des Frage5 bogens war ich besonders von Harro Gross inspiriert. In der Fragebogenuntersuchung habe ich den Standpunkt der Fachliteratur und der Linguistik vertreten, denn es wäre schwierig gewesen, dieses Thema nur vom Standpunkt der Germanisten, die aber keine Muttersprachler sind, aufschlußreich zu behandeln. Durch die Fragebogenuntersuchung wollte ich noch erreichen, daß die Studenten eine Parallele zu ihrer Muttersprache (Rumänisch oder Ungarisch) machen und sehen, ob diese sprachlichen Unterschiede auch in ihrer Muttersprache die Frauen betreffen, damit ich dann daraus schließen kann, ob die Frauen- und Männersprache als soziolinguistisches Thema auch in anderen Sprachen untersucht werden kann. Natürlich waren die Meinungen der Studenten subjektiv und unterschiedlich und deshalb stimmten sie auch nicht überall mit den Standpunkten der Fachliteratur oder meinen Meinungen überein. Darüber war ich froh. Im folgenden werde ich die Ergebnisse der Auswertung der Fragebögen darstellen. Auswertung der Fragebögen In der Fragebogenuntersuchung zum Thema “Frauensprache — Männersprache” wurden 50 Studenten befragt, davon 20 Studenten und 30 Studentinnen. 33 von ihnen sind im ersten Studienjahr, also im Alter von 19 Jahren und 17 von ihnen sind im zweiten Studienjahr, also im Alter von 20- 21 Jahren. Aus denen, die im ersten Studienjahr sind, studieren 23 Deutsch als Nebenfach, 8 sind Studenten der Fakultät für Mathematik/Informatik, deutsche Abteilung und 2 sind Studenten der Fakultät für Physik/Mathematik, deutsche Abteilung. Ebenfalls gehören von diesen 33 Studenten 22 der ungarischen Minderheit, 1 der deutschen Minderheit und die anderen 10 sind Rumänen. Von den 17 Studenten, die im zweiten Studienjahr sind, studieren 2 Deutsch als Hauptfach, 8 sind Studenten der Fakultät für Mathematik/Informatik, deutsche Abteilung und 7 sind Studenten der Fakultät für Physik/Mathematik, deutsche Abteilung. Von diesen 17 Studenten gehören 4 der ungarischen Minderheit, 1 der deutschen Minderheit und die restlichen 12 sind Rumänen. Das Ziel dieser Fragebögen war, die Kenntnisse der Studenten über dieses Thema zu überprüfen, was sie darunter verstehen, ob sie diese sprachlichen Unterschiede bisher bemerkt haben, in der deutschen Sprache aber auch in ihrer Muttersprache, und ihre persönlichen Meinungen überhaupt zum Ausdruck zu bringen, indem sie die Fragen eingehen. Die Meinungen und Eindrücke waren sehr unterschiedlich: manche reagierten eher negativ, und diese waren insbesondere die Jungen, manche jedoch empfanden dieses Thema als besonders interessant, da sie gestanden haben, daß sie sich bisher noch keine Gedanken darüber gemacht haben und daß es tatsächlich ein heikles, problemhaftes Thema ist auch nachteilig, was die Frauen sprachlich und beruflich betrifft. Diese waren natürlich die Stimmen der Studentinnen. Es gab natürlich auch Stimmen, die dieses Thema für absolut sinnlos hielten, da es eigentlich Frage der Mentalität sei und nicht der Sprache, denn die gesellschaftliche Interaktion der Frauen und Männer würde weiterhin dieselbe bleiben und es habe keinen Sinn jetzt die sprachlichen Unterschiede im einzelnen zu betrachten, da es seit Jahrhunderten eine Männer geprägte Sprache und Gesellschaft war und auch weiterhin bleiben würde. Die Behandlung dieses Themas von der feministischen Linguistik und von der Linguistik im allgemeinen würde keinesfalls erhebliche Änderungen in der Sprache und Gesellschaft mit sich 5 H. Gross 1990: Einführung in die germanistische Linguistik, 2. Auflage, iudicium Verlag GmbH, München. 500 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Emilia Muncaciu-Codarcea bringen nur vielleicht eine stärkere Bewußtmachung. Der Fragebogen enthielt 25 Fragen, betreffend die sprachlichen, semantischen und soziologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Auf die 1. Frage: „Männliche Dominanz wird besonders bei Berufs- und Titelbezeichnungen deutlich. Viele traditionell männliche Berufe sind inzwischen von Frauen 'erobert' worden, ohne daß die Bezeichnungen dafür auch immer motiviert oder neue geschaffen worden sind. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?“ empfanden die meisten Studenten, darunter 10 Studenten und 20 Studentinnen, daß es ein Ergebnis der Emanzipation und Selbständigkeit der Frauen sei, und daher eine positive Sache, daß auch typisch männliche Berufe von Frauen ausgeübt werden und umso besser wenn diese auch eine feminine Bezeichnung haben. 15 Stimmen, darunter 5 weiblichen und 10 männlichen, waren dagegen und meinten, daß es eine blöde Frage sei, weil es eigentlich sinnlos wäre, daß typisch männliche Berufe von Frauen „erobert“ werden sollten und eine feminine Bezeichnung haben, da die Männer jahrtausendelang diese Berufe ausgeübt hätten. 5 Studenten waren unentschieden. Die 2. Frage: „Gibt es Ihrer Meinung nach eine feminine Form von folgenden 10 Berufsbezeichnungen? Geschäftsmann, Tierarzt, Kaufmann, Pilot, Kapitän, Torwart, Minister, Professor, Magister, Doktor.“ Alle Studenten haben erkannt, daß nicht alle Berufsbezeichnungen eine feminine Form haben, z.B. Torwart hat keine feminine Form. Die anderen lauten: Geschäftsfrau, Tierärztin, Kauffrau, Pilotin, Kapitänin, Ministerin/Frau Minister, Professorin. Pusch meint, daß selbst die motivierten Formen zur Bezeichnung weiblicher Menschen eine sprachliche Diskriminierung darstellen. Denn das Suffix -in (Kunde — Kundin) „konserviert im Sprachsystem die jahrtausendealte Abhängigkeit vom Mann, die es endlich zu überwinden gilt. Auch sprach6 lich“. Als Therapievorschlag wird die Verwendung des geschlechtsneutralen Feminins empfohlen, zum Beispiel: Sie ist eine gute Student oder Männer sind Bürgerinnen erster Klasse. Als Gegenargument gilt folgendes Urteil: "Wenn Ute Schülerin ist und Uwe Schüler, dann sind 7 Ute und Uwe Schüler, nicht Schülerinnen — denn Uwe verträgt das Femininum nicht" . Was die 3. Frage betrifft: “Kennen sie traditionelle Frauenberufe, die jetzt auch von Männern ausgeübt werden, etwa: Putzmann, Hausmann, Kindergärtner, Erzieher?” haben die Studenten zahlreiche Beispiele genannt: Krankenschwester- Krankenpfleger, Striptease Tänzer, Babysitter, Prostituierte- Gigollo, Koch, Verkäufer, Näher, Weber, Bibliothekar, Schneider, Lehrer, Sekretär, Friseur, Kosmetiker, Geburtshelfer u.a. 10 der Befragten wußten keine andere Beispiele oder haben nur allgemein auf die Frage geantwortet. Die 4. Frage: “Kennen sie typisch männlich/weibliche Personen- und Berufsbezeichnungen?” wurde auch unterschiedlich beantwortet. 5 Studentinnen und 5 Studenten meinten, daß es in unserem Jahrhundert keine typisch männliche/ weibliche Personen- und Berufsbezeichnungen gibt und geben sollte oder, daß sie keine wüßten. Die anderen Studenten haben zahlreiche Beispiele dafür genannt: typisch weiblich: Nonne, Hexe, Sekretärin, Verkäuferin, Putzfrau, Krankenschwester, Hausfrau, Hebamme, Au-Pair-Mädchen, Stewardess, Dienstmädchen, Jungfrau, Hure, Prostituierte, Weberin, Näherin, u.a.; typisch männlich: Hirte, Priester, Jäger, Förster, Feuerwehrmann, Polizist, Wissenschaftler, Elektroniker, Schuster, Maurer, Mönch, Bischof, Papst, Pilot, Bergarbeiter, Minister, Schmied, Handwerker, Mechaniker, Taxifahrer, Schornsteinfeger, 6 7 Luise F. Pusch 1984: Das Deutsche als Männersprache, Frankfurt/ M., S. 59. L. Pusch 1984: 11 urteilt etwas provozierend: „Weibliche Bezeichnungen sind für Männer genauso untragbar wie weibliche Kleidungsstücke.“ ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 501 Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung Anwalt, Ingenieur, Boss, Kapitän, Präsident, Torwart, Soldat, Offizier, Politiker, Direktor, Tischler, Pfarrer, Fußballspieler u.a. 5. Frage: "Nennen Sie ein paar Paarbezeichnungen und achten Sie dabei auf die Reihenfolge 'männlich/weiblich' oder umgekehrt." Alle Studenten haben als Beispiele Mutter- Vater, Bruder und Schwester, Oma und Opa, Junge und Mädchen, Herr und Dame, Hänsel und Gretel, Tristan und Isolde, Großvater und Großmutter, Onkel und Tante, Sohn und Tochter genannt, wie auch solche, die auf – in endeten: Lehrer- Lehrerin, Schüler- Schülerin, Arzt- Ärztin, Student- Studentin, Kaufmann- Kauffrau, Putzmann- Putzfrau , Herr Kohl und seine Frau, Bill Clinton und Hillary, u.a. Man kann dabei die feste Reihenfolge männlich/weiblich beobachten. 6. Frage: "Kennen Sie Phraseologismen mit dem Grundwort 'Mann' und mit dem Grundwort 'Frau'“? Die Antworten auf diese Frage bewiesen, daß die Studenten eher Phraseologismen mit dem Grundwort „Mann“ kannten als mit dem Grundwort „Frau“, z.B. Ein Mann von Wort, mit Mann und Maus, ein Mann von Geist, ein Mann ein Wort, Strohmann, Mann für Mann, allemann, er stellt seinen Mann, aus dem echten Mann kommen, ein Mann von echtem Schrot und Korn, ein Mann von Wort, er ist Mann genug, ein ganzer Mann, von Mann zu Mann, seinen Mann finden, ein Mann der Feder, Mann-oh-Mann, er steht seinen Mann, der rechte Mann sein, ein Mann des Todes, ein Mann der Tat, der Mann im Haus, Blödmann, ein Mann für alle, u.a. Für Frauen galten: Sich eine Frau nehmen, die Frau des Hauses, das Kind bleibt in einem Mann immer drin, aber aus einer Frau geht es manchmal raus, zänkische Weiber, jn. zu Frau nehmen, sich eine Frau nehmen, die Frau ist das Herz einer Familie, ein Mann, ein Wort, eine Frau, ein Wörterbuch?.13 der Befragten waren unentschieden. 7. Frage: "Der Bereich patriarchalischer Sprachprägungen betrifft u.a. viele Personenbezeichungen und große Teile der Idiomatik. So werden z.B. viel mehr Schimpfwörter mit weiblicher Grundbedeutung auf Männer aufgewandt als umgekehrt. Welche der folgenden Schimpfwörter werden für Männer, welche für Frauen gebraucht? Blödmann, Idiot, Rindvieh, Esel, Kamel, alter Hornochse, eingebildeter Affe, arroganter Heini, Depp, mieser Typ, dämlicher Kerl, alte Sau, dumme Kuh, blöde Ziege, alte Hexe, falsche Schlange, doofe Zicke, komische Schreckschraube, blöde Tussi. Nennen sie auch andere Beispiele, die Sie kennen." Alle Studenten haben erkannt, daß die ersten 12 für Männer gebraucht sind, die anderen für Frauen. Sonstige Beispiele waren: Arschloch, Schwein, Trottel, Dummkopf (für Männer), Blondine, sauere Gurke (für Frauen). 8. Frage: "Das Grundgesetz der Bundesrepublik verkündet zwar in Art. 3 (2): 'Männer und Frauen sind gleichberechtigt', enthält jedoch viele Personenbezeichnungen, die den Eindruck erwecken, als wären nur Männer betroffen. Im Gesetzestext gibt es aber auch wirklich geschlechtsneutrale Ausdrücke. Welche der folgenden Bezeichungen wirken eher männlich, und wie könnten sie neutralisiert werden? So z.B.: Art. 2 (1) — Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Art. 3 (3) — Niemand darf wegen seines Geschlechtes benachteiligt oder bevorzugt werden. Art. 7 (3) — Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. Art. 16 (2) — Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Art. 40 (1) — Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Art. 116 (1) — Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist…." Die Bezeichnungen, die männlich wirkten und die neutralisiert werden könnten, ergaben sich folgende: jeder — jede Person, jeder Mensch, jeder/jede, jeder Mann und jede Frau, ein 502 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Emilia Muncaciu-Codarcea Mitglied der deutschen Nation; niemand- keine Person, kein Lehrer — kein Lehrer/keine Lehrerin, seinen/ihren, kein Deutscher — ein Bürger der deutschen Bundesrepublik, Deutscher — deutsche Leute. 6 Studenten meinten, daß diese Bezeichnungen eigentlich nicht neutralisiert werden könnten und sollten, man müßte dann den Wortschatz ändern. Andere meinten, daß die Neutralisierung erfolgen könnte, wenn auch die motivierten feminine Bezeichnungen im Text stehen würden. Das kann natürlich geschehen, durch die entsprechende Lexik: Mensch(en), Person(en), Kind(er), Jugend, Volk, Mitglied(er) usw. Aber auch durch die Grammatik: Plural von Adjektiven und Partizipien: Deutsche, Abgeordnete, Gewählte, Vertriebene, Staatsangehörige, Lehrende, Studierende, wenn Gruppen beiderlei Geschlechts gemeint sind. Tatsächlich kann das generische Maskulinum durch den Gebrauch nominalisierter Adjektive und Partizipien (der/die Vorsitzende) oder durch den generischen Plural (statt: ein Beamter soll — Beamte sollen) ersetzt werden. Die Indefinitpronomen man/jedermann können jedoch nicht durch frau/jedefrau ersetzt werden. Entsprechende Beispiele finden sich nur in feministischen Zeitschriften, zum Beispiel: Denn nicht jedefrau kann Abitur haben. Im Gegensatz zum Indefinitpronomen man ist frau betont. Das unbetonte man verhält sich wie das unpersönliche es, zum Beispiel: Es ist erstaunlich, daß es heute so weit kommt. 9. Frage: "Was bedeutet selbstbewußtes Auftreten für Sie? Formulieren Sie bitte ganz ehrlich, welche Eigenschaften Sie mit Selbstbewußtsein und Selbstbehauptung verbinden. Auch, welche Sprache Sie damit assoziieren." Die Studenten verstanden darunter eine klare, objektive Sprache, Offenheit, Klugheit, Ehrlichkeit, direkter Ausdrucksstil, eine höflichere Haltung und Sprache der Frauen gegenüber der der Männer, reicheren Wortschatz, wenigere vulgäre Ausdrücke, Selbstsicherheit, Zugabe von Schwächen, unnötiges Entschuldigen, ständiger Gebrauch des Konjunktivs, sogar Witze auf eigene Kosten. Die Männer hätten eine starre Haltung, seien sach- und informationsorientiert, verwendeten mehr Kraftausdrücke, seien objektiver und hätten eine größere Charakterstärke. 8 Studenten haben keine Antwort auf diese Frage gegeben. 10. Frage: "Sprechen Frauen anders als Männer? Wenn ja, dann was für Unterschiede gibt es?" Alle haben zugegeben, daß Frauen schöner, korrekter, mit einer reicheren Wortwahl sprechen, reden und weniger als die Männer schimpfen würden. Ihre Sprache sei gefühlsbetonter, optimistischer während die Männer mehr Schimpfwörter benutzten und eine sachlichere Sprache hätten. Sie modifizierten ihre Gesprächsbeiträgte häufig durch Höflichkeitsfloskeln und verschiedene Formen der Abschwächung,z.B.: unnötiger Gebrauch des Konjunktivs: Ich würde sagen, von Partikeln: bißchen, eigentlich, vielleicht; Entschuldigungen, Aussagen, die durch Anhängsel zu Fragen werden: Das ist doch wahr, oder ? Frauen hätten ein primäres Bedürfnis nach Bestätigung ihrer Persönlichkeit und einer Sicherheit der Beziehung zum Gesprächspartner, Männer hingegen nach Lösungen, Ergebnissen, Erfolg und würden sich erst danach der Beziehung zuwenden. 11. Frage: "Nennen Sie ein paar Beispiele von Selbstdarstellung von Frauen." Zartheit, Empfindsamkeit, Schönheit, Klugheit, Indirektheit, nonoffensive Haltung aber auch Selbstabwertung, Zugeben von Schwächen, die Verwendung der Ich- Formeln „Ich glaube, meine, denke“, Zuwendung zur Familie, Hausarbeit oder Karriere seien ein paar Stichwörter von der Selbstdarstellung der Frauen. Frauen versuchen die Distanz zum Gesprächspartner zu überwinden und lassen andere an der eigenen persönlichen Welt teilhaben und signalisieren damit: „Vertraue dich mir, öffne dich mir, mach dich auch transparent“. Frauen sagen oft Ich denke / Ich glaube / Ich meine, auch wenn sie sich sich ihrer Sache ganz sicher sind, weil sie den Ge- ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 503 Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung sprächspartner nicht "überfahren" wollen. Sie laden somit zum kommunikativen Austausch ein, nach dem Motto: "Wenn du eine andere Meinung, andere Informationen hast, sag mir das bitte". Solche Formulierungen wirken auf Männer oft unsicher und werden als Schwäche und Inkonsequenz empfunden, denn sie formulieren ihre Aussagen zum indirekten Ausdruck ihrer persönlichen Wünsche und Forderungen, durch subjektive Formulierungen mit Hilfe der IchFormeln. 12. Frage: "Schreiben Frauen anders als Männer? Was für Unterschiede haben Sie festgestellt?" Alle Befragten waren sich in ihren Meinungen einig, daß Frauen ordentlicher, schöner, reiner, grammatisch korrekter als Männer schreiben würden, mit weniger Fehlern und daß sie sich auf ihre persönlichen Erfahrungen in ihrem Schreiben beziehen. Die Männer hingegen schreiben schneller, technischer, betrachten die Themen aus einer globalen, abstrakteren Perspektive und würden eher geschichtliche oder sozialpolitische Themen angehen. 13. Frage: "Ist es Ihnen aufgefallen, wie die 3 Artikel in den Grammatiken erscheinen?" Die Antwort war: der, die, das und das kann auch nicht geändert werden. 14. Frage: "Frauen in hohen politischen Positionen. Was halten Sie davon?" 12 Stimmen, davon 3 weibliche und 9 männliche waren dagegen, da Frauen eher in der Küche oder ins Bett gehörten, oder im Haushalt, sie würden mehr lügen, sich schneller ärgern und seien ungeduldiger als Männer. Die Politik sei Männersache. Die anderen waren dafür, da auch Frauen begabt seien, leistungsfähig und für den politischen Dialog geeignet. Sie haben gute Ideen, wenden auch den anscheinend unwichtigen Sachen Aufmerksamkeit zu und haben eine bessere Organisationsfähigkeit. 15. Frage: "Wie grüßen Sie Ihre männlichen oder weiblichen Professoren?" Die meisten Studenten grüßen ihre Professoren gleich: „Guten Tag“, „Auf Wiedersehen“und je nach dem Verhältnis zu ihnen: „Hallo“ oder „Tschüß“egal ob es ein Mann oder eine Frau ist. 5 von ihnen verwenden die Form „Guten Tag, Herr/Frau Professor/ Schmidt“. 16. Frage: "Wie möchten Sie angesprochen werden, mit 'Frau' oder 'Fräulein'?" Außer einer Studentin, die mit „Frau“ angesprochen werden wollte, bevorzugen alle anderen unverheirateten die Form „Fräulein“. 17. Frage: "Was verstehen Sie unter 'Gewalt durch Sprache'? Wodurch unterscheidet sich in dieser Hinsicht die Sprache der Männer von der der Frauen?" Mit Ausnahme von zwei Studenten, die keinen Unterschied zwischen der Sprache der Männer und der Frauen erkannt haben, da sie gleich sprechen würden, verstanden alle anderen unter Gewalt durch Sprache Flüche, Schimpfwörter, Kraftausdrücke, eine Sprache, die den Frauen Gewalt antut, sie beleidigt, terrorisiert und aggressiv wirkt, eine typische Männersprache, die den Gesprächspartner in einen unangenehmen psychischen Zustand versetzt. Die Männer seien vulgärer als die Frauen, aber die Frauen erbarmungsloser; sie versuchten mit Schmeicheleien oder Schreien, Befehlen und Autorität die Männer zu manipulieren. Die Männer verwendeten die Sprache als ein Instrument der Dominanz über die Frauen durch aggressive, gewaltige Wörter, das sei eine betont brutale Sprache, wodurch sie die Frauen erschüchtern, verletzen oder unterdrücken wollen. Sie greifen auf einen agressiven Zustand zurück: „Vino-ncoa’ c te plesnesc“. Gewalt durch Sprache heißt aber auch die Verwendung und Bevorzugung von männlichen Berufs- und Titelbezeichnungen, die keine feminine Form haben und die Frauen beruflich 504 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Emilia Muncaciu-Codarcea benachteiligt. Aber auch Frauen könnten durch ihre Sprache ihren Gesprächspartner verletzen, auch wenn sie keine oder weniger Schimpfwörter und Kraftausdrücke verwenden würden. Unter soziolinguistischer und juristischer Perspektive unterscheidet man zwischen legaler und illegaler Gewalt, d.h. körperlich verletzende Gewaltsamkeit, nichtverletzender Zwang, physische und psychische Gewaltanwendung. "Gewalt durch Sprache" ist auch die personale Gewalt (Männer lassen Frauen nicht ausreden, schneiden ihnen das Wort ab, bestimmen die Gesprächsthemen, reden mehr), die psychische Gewalt (Männer verfügen über die Sprache, sie definieren und fixieren Frauen sprachlich. Trömel-Plötz meint dazu, daß die Frauen so reden müssen wie der Mann, um ernst genommen und gehört zu werden. Dann sind sie aber männlich und werden als Frauen entwertet.) oder die strukturale Gewalt bezogen auf gewisse Eigenschaften des deutschen Sprachsystems, z.B. das generische Maskulinum, motivierte Personenbezeichnungen oder grammatische Kongruenzregeln. 18. Frage: "Nennen Sie ein paar Beispiele von Komposita auf -frau. Was kennzeichnen sie?" Die Studenten haben dafür zahlreiche Beispiele genannt: Unifrau, Filmfrau, Kirchenfrau, Vorstandsfrau, Berufsfrau, Hausfrau, Putzfrau, Kauffrau, Geschäftsfrau, Jungfrau, Schutzfrau, Wäschefrau, Karrierefrau, Ehefrau, Klosterfrau, Dienstfrau, Amtfrau, Arztfrau als Berufsbezeichnungen, Bezeichnungen von typischer Frauenarbeit, von Beziehungen zu jemandem, von der sozialen Stellung der Frau in der Gesellschaft, die aber Frauen auch entstellen und erniedrigen. Die Komposita auf -frau könnten die -in Suffixe ersetzen. Ein interessantes Beispiel war, daß die Reihenfolge: Jungfrau, Traumfrau, Ehefrau und Hausfrau die chronologische Entwicklung eines weiblichen Daseins kennzeichnen würde. Die neuen Komposita auf -frau oder das -in Suffix als motivierte Personen- und Berufsbezeichnung waren häufig Anlässe für Sprachnormkonflikte. 5 Studenten haben eine unschlüssige Antwort darauf gegeben. 19. Frage: "Ist die Sprache ein Instrument der sozialen Kontrolle bzw. der sozialen Kontrolle der Frauen? Wenn ja, nennen Sie ein paar Beispiele." Die Meinungen dazu waren sehr unterschiedlich. 8 Studenten wußten nicht, ob das der Fall sei, 3 meinten, es könnte auch umgekehrt sein, denn jeder Mensch könne durch die Sprache manipuliert werden, 18 Studenten (6 männliche und 12 weibliche Stimmen) waren der Meinung, daß die Sprache kein Instrument der sozialen Kontrolle der Frauen sei, da Frauen und Männer gleichberechtigt seien oder nur schwache Frauen durch die Sprache kontrolliert werden könnten. Die Sprache sei nicht die Ursache für die Position der Frauen, sondern die Folge, denn sie ist zuerst das Instrument der Gedanken und Gefühle. Das ganze sei eine Übertreibung der Feministinnen. Ein Beispiel wäre der Beruf „Babysitter“, der eine männliche Form hat, aber von Frauen ausgeübt wird. Die restlichen 21 meinten, die Sprache sei ein Instrument der sozialen Kontrolle der Frauen, weil sie die Frauen beeinflussen könnte, etwas zu machen, sie nicht zu Wort kommen ließe, sie nicht in acht genommen würden oder nicht wirklich gemeint wären und als zweitrangig erschienen, z.B. auf Einladungen steht: „Herr X mit Frau“. Die feministische Linguistik untersucht den Sexismus im deutschen Sprachsystem und kritisiert das geschlechtstypische Kommunikationsverhalten in gemischtgeschlecht-lichen Gruppen. Sie meint, daß auch bei der Erforschung der schichtspezifischen Sprachvarianten von Herrschaft durch Sprache als Instrument sozialer Kontrolle die Rede sei. Diesen Zusammenhang 8 empfindet Trömel-Plötz als „soziale Kontrolle der Frauen“. Trömel-Plötz meint, es handle sich um eine soziale Interaktion und eine Änderung der Sprache und des Sprechens würde eine Än8 S. Trömel- Plötz 1984: Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen; Frankfurt, Fischer Taschenbuch Verlag, S. 39. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 505 Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung derung des Zusammenlebens, der Gesellschaft und sogar der Welt implizieren. Diesbezüglich wird der Mechanismus des Mitgemeint- und Eingeschlossenseins im generischen Maskulinum untersucht. Dabei wird argumentiert, daß die Sprache den Frauen Gewalt antut, insofern sie die männlichen Formen bevorzugt. 20. Frage: "Wie würden Sie eine Rede beginnen? z.B. Liebe Herren und Damen; Liebe Damen und Herren; Liebe Kollegen und Kolleginnen; Liebe KollegInnen!" Außer einer Stimme, die „Liebe Herren und Damen!“ bevorzugt, und 5 Stimmen, die „Liebe Kollegen und Kolleginnen“ oder „Liebe KollegInnen“ bevorzugen, würden alle Studenten ihre Rede mit „Liebe Damen und Herren“ beginnen. Homberger meint, man solle zu Beginn einer Rede, sowie an markanten Stellen die maskuline und die feminine Form nennen, während im Fortgang der Rede das generische Maskulinum stehen könnte, um den flüssigen Vortrag zu gewährleisten. Seit 1980 ist die verbindliche, nicht diskriminierende Sprache in Stellenangeboten offiziell angenommen worden wie auch die Verpflichtung, in behördlichen Schreiben, Frauen nur mit der weiblichen Form anzureden. 21. Frage: "Wie könnten Frauen in grammatischer Hinsicht sprachlich gleichberechtigt werden?" 11 Studenten waren unschlüssig, 13 Studenten meinten, das wäre unmöglich oder unwichtig, denn dann müßte man die Sprache verändern und eine „neutrale“ Sprache schaffen und das habe keinen Sinn. 26 Studenten (4 Männer, 22 Frauen) meinten, das könnte geschehen, indem die Berufsbezeichnungen sowohl feminine als auch maskuline Formen hätten, durch die Abschaffung des „In“- Suffixes, für motivierte Berufs- und Personenbezeichnungen, durch die Verwendung von neutralen Formen und Indefinitpronomina, durch die Anordnung der Artikel „die, der, das“, durch die partielle Feminisierung der Sprache, durch die Verwendung derselben Grammatikartikel für Männer und Frauen, genaue Nennung der Frauen, Hinzufügen der weiblichen Form neben der männlichen, Umformulierung, aber vor allem Gleichberechtigung auf mentaler Ebene. Andere Vorschläge wären die Großschreibung von I bei den motivierten Bezeichnungen, Bindestriche, Umwandlung der maskulinen Bezeichnungen in feminine (z.B. Arbeitnehmenrinnenschicksal, Sekretärinnenausbildung, heldinnenhaft, junggesellinnenhaft) oder die Herstellung von Referenzidentität durch die Feminisierung der Pronomina (z.B. Wer ihre Hausaufgaben nicht macht, die muß eben zusehen, wie sie die Arbeit schafft.). 22. Frage: "Was ist typisch für den weiblichen Kommunikationsstil?" Alle 20 Studenten meinten, daß Frauen nicht direkt sagten, was sie meinten, viel plaudern würden, ein schnelles Tempo hätten, leise, gefühlsbetonter und höflicher sprä-chen, Oberflächengespräche führten, nicht zum Objekt sprächen. Sie hätten eine andere Wortwahl, die persönliche Nähe und Akzeptanz sucht, weisen eine gewisse Unsicherheit auf, sind mehr orientiert auf gegenseitige Beziehungen, Gefühlsäußerungen und verwenden häufig „IchFormeln“, „ich denke, glaube….tut mir leid“, was als Nachteil für sie empfunden sei. Die anderen 30 Studentinnen hatten ungefähr dieselbe Meinung, daß der Kommunikationsstil der Frauen Unsicherheit aufweise, durch die Verwendung der „Ich-Formeln“, der Zugabe von Schwächen, der Indirektheit, Gebrauch des Konjunktivs. Sie hätten eine gefühlsbetonte, gepflegte, persönliche Sprache, die die Distanz zum Partner zu überwinden versuche, Zuwendung zum Gesprächspartner, Verständnis, Wärme und Höflichkeit aufweise aber auch Nachgiebigkeit, Extrovertiertheit und Bedürfnis von Bestätigung. Sie hätten eine stark gesprägt Körpersprache, Gestik und Mimik und benutzten mehr Formen der Verniedlichung. 5 Studenten waren in bezug 506 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Emilia Muncaciu-Codarcea auf diese Frage unschlüssig. Andere Merkmale sind, daß Frauen untereinander persönlicher reden, sie lassen sich mehr ein auf ihre Gesprächspartnerinnen und deren Themen, weil sie besser zuhören können. Die Frauen handeln nach dem Motto: "Eigenlob stinkt", sie verwenden selbstabwertende Äußerungen wie: "Ich bin nur Hausfrau …", sie werten sich selbst ab, durch unnötiges Zugeben von Schwächen und Fehlern ("Ich brauch' immer so lang"), durch Witze auf eigene Kosten, durch Betonen von rollenkonformem Verhalten ("Bin brav auf das Gymnasium gegangen !") und andere. 23. Frage: "Wie unterscheidet sich die Kommunikation von Mann und Frau?" Die Unterschiede der Kommunikation von Mann und Frau wären, daß die Männer zielinteressiert seien, eine direkte, distanzierte, objektive Sprache verwendeten, während die Frauen einfühlsamer und hilfs- und kompromißbereiter seien. Männer sind introvertierter, sparsamer, was ihr Innenleben anbelangt, Frauen hingegen wollen einen regen Informationsaustausch haben. Männer reden mehr als Frauen, sie signalisieren Anfang und Ende von Gesprächen, sie machen mehr urteilende, analytische Äußerungen. Frauen formulieren oft ihre Aussagen in Form von Fragen, sie verwenden keine Vulgärausdrücke, ihnen geht es primär um die Beziehung zum Gesprächspartner. Die Männer behalten die Distanz, verwenden kürzere Sätze aber mehr Behauptungen, ihnen geht es primär um Information und weniger um Interaktion. Frauen kommunizieren ganzheitlich, ihnen geht es um Information und Interaktion, Männer geht es primär um Information. Für die Frauen sei die menschliche Nähe der Schlüssel in einer Beziehungswelt, in der Übereinstimmung das Ziel ist. Für die Männer dagegen ist Unabhängigkeit der Schlüssel in einer Statuswelt, in der der Status durch Befehle begründet wird. 24. Frage: "Wie werden Mädchen und Jungen, Frauen und Männer in den Schulbüchern dargestellt?" Die meisten Antworten lauteten, daß die Männer/Jungen auf allen Ebenen höher gestuft werden als Frauen/Mädchen. Die Mädchen und Jungen erscheinen als Kinder, also irgendwie gleichberechtigt, aber die Frauen würden eher als Hausfrauen, Mütter dargestellt, während die Männer als Väter im Mittelpunkt standen und von ihren Frauen bedient würden. Die Frauen erschienen oft in ihrer Rolle als Hausfrauen, die kochen, backen, putzen, die Männer hingegen leisten die harte Arbeit und läsen in der Freizeit die Zeitung. Auch in Erzählungen und Märchen würde den Mädchen weniger Bedeutung gewidmet als den Jungen, die als Ritter und Helden dargestellt würden. Mädchen erzielen bessere Schulnoten als Jungen, da sie bessere Leistungen haben, während die Jungen mehr Ausmerksamkeit fordern und ihr Leben interessanter und vielseitiger dargestellt würde (z.B. in den Mathematikbüchern). Die Mädchen und Frauen seien auch in Schulbüchern diskriminiert und benachteiligt, da sie eher in stereotypen Rollen präsentiert würden, ihr Leben monoton und einseitig. 7 Studenten haben auf diese Frage nicht geanwortet, manche meinten, die Mädchen und Jungen seien in Schulbüchern gleichgestellt. In der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden werden Schülerinnen weniger beachtet und gelobt als Jungen. Die Erklärung ist, daß Jungen mehr stören als Mädchen, laut protestieren, wenn ihre Interessen nicht wahrgenommen werden und so mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit einfordern. Deshalb hat das deutsche Kultusministerium Maßnahmen und Regelungen zur Veränderung des Rollen- und Sprachbewußtseins im schulischen Bereich eingeleitet. Die Familie und die Rolle der Frau sollen im Schulbuch dargestellt werden, und diese Schulbücher sollten den Mädchen und Jungen Identifikationsangebote geben. Die Darstellungen in den Schulbüchern sollten jedoch der Realität entsprechen. 25. Frage: "Was verstehen Sie unter frauenfeindlichem Sprachgebrauch? Nennen Sie ein paar Beispiele." ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 507 Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung Die meisten Studenten verstanden darunter Schimpfwörter, Vorurteile gegenüber den Frauen (z.B. Alle Frauen sind…, Frauen gehören hinter dem Kochtopf, Sie sind nur hinter dem Geld her usw.), eine Sprechweise, die Frauen als dem Mann untergestellte, niedrig entwickelte Wesen darstellen würde, dumme Witze, grobe Bemerkungen über die Frauen, unterdrückende, demütigende Bemerkungen (z.B. ich habe dich nicht gefragt, du weißt das sowieso nicht, warum mischst du dich ein, das hier ist Männersache, nichts für dich, usw.). Das könnte auch die Sprache der Männer sein, wodurch sie ihre Erstrangigkeit betonen und die Frauen wegen ihrer Mutlosigkeit oder Dummheit verspotten würden (z.B. Witze: der Typ der blonden Frau). Eine Studentin betrachtet diesen Sprachgebrauch nicht frauenfeindlich sondern eher männerorientiert. 4 der Befragten haben auf diese Frage nichts geantwortet. 9 Peter Braun unterscheidet vier Arten frauenfeindlichen Sprachgebrauchs: 1. „Sprache, die Frauen ignoriert und ausschließt“ (sie werden nur mitgemeint), zum Beispiel: Sehr geehrte Herren, Liebe Kollegen 2. „Sprache, die Frauen immer in Abhängigkeit vom Mann darstellt, als zweitrangig und untergeordnet“, zum Beispiel Thomas Mann und Frau Katja, Herr Meier mit Frau (statt Frau M. und Herr M.) 3. „Sprache, die Frauen nur in traditionellen Rollen mit den sogenannten weiblichen Eigenschaften und Verhaltensweisen darstellt“ (Hausfrauen, Ehefrauen, Mütter), zum Beispiel: Fräulein Sell, Hausfrauenpflicht 4. „Abwertende Sprache, durch die, Frauen degradiert werden“, zum Beispiel: das schwache Geschlecht, Dienstmädchen. Schlussfolgerungen 1. Die Auswertung der Fragebögen hat ergeben, daß die Frauensprache- Männersprache eine starke Reaktion in den Studenten hervorgerufen hat, da die meisten gestanden haben, daß sie sich nur wenig oder überhaupt keine Gedanken bisher darüber gemacht haben, daß die Frauen anders als die Männer sprächen, was sie auch in vielen Bereichen benachteilige und diskriminiere. Sehr gut empfand ich auch die Tatsache, daß 20 Männer an dieser Fragebogenuntersuchung beteiligt waren und somit ihre Meinungen dazu schreiben konnten, so daß die Ergebnisse objektiv und ausschlaggebend ausgewertet werden konnten. Auch die Tatsache, daß unter den Befragten 26 Studenten der ungarischen Minderheit waren, half mir sie zu provozieren eine Parallele zu ihrer Muttersprache zu machen und ihre Meinungen zu sagen, wie das in der ungarischen Sprache aussieht, ob man auch dort von einer Frauensprache- Männersprache überhaupt reden kann. 2. Vom Standpunkt der Fachliteratur und ausgehend von den Meinungen der Studenten kann ich behaupten, daß sich die Benachteiligung von Frauen in den meisten sozialen Bereichen auch in der Sprache spiegelt. Sie ist aber schwer zu erfassen, weil das Sprachverhalten durch die Sozialisation tief verinnerlicht ist und erst bewußt gemacht werden muß. Diesbezüglich wird nicht selten von Gewalt, Macht, Kontrolle und Herrschaft gesprochen. Zwischen Frauen und (Unter-)Schichtensprache wird oft eine Analogie gesehen, die weder soziologisch noch linguistisch haltbar ist. Daß Frauen anders sprechen als Männer ist ein Indiz für die gesellschaftliche Privilegiertheit der Männer. Es geht also darum, die Privilegiertheit der Männer und damit auch den Sexismus in der Sprache aufzudecken, und eine Emanzipation in Richtung auf eine „weibliche“ Sprache zu erreichen. Das Geschlecht stellt also eine der wichtigsten soziolinguistischen Variablen in allen Sprachen dar. 9 P. Braun 1993: Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, Berlin, Köln, S. 58. 508 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Emilia Muncaciu-Codarcea Ich betrachte die Frauen- und Männersprache eher als eine geschlechtsspezifische Sprache, da sie stark subjektiv und emotional geprägt ist und weil sie nicht von einer sprachgeschichtlichen Entwicklung kennzeichnet ist, sondern erst von der feministischen Linguistik in Verbindung mit der feministischen Bewegung eingeführt worden ist. Also bleibt das Thema Frauensprache — Männersprache in der Linguistik weiterhin ein heikles, es sucht immer noch nach Lösungen, Vorschlägen und Denkanstößen. * * * Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. Braun, Peter: Personenbezeichnungen – mehr oder weniger tierisch ernst; In: „Deutsch als Muttersprache“, 1992, GfdS Verlag, Wiesbaden Braun, Peter: Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache, 1993, dritte erweiterte Auflage, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, Berlin, Köln Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, 2. völlig neu bearbeitete Auflage, 1990, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart Dtv-Lexikon, Bd 17, 1992, F.A. Brockhaus GmbH, Mannheim und DTV Verlag GmbH, München Gross, Harro: Einführung in die germanistische Linguistik, 2. Auflage, 1990, iudicium Verlag, München Guethenrodt, I./M. Hellinger/L. F. Pusch/S. Trömel-Plötz: Richtlinien zur Vermeidung des Sexistischen Sprachgebrauchs; In: „Linguistische Berichte“, 69/1980 Hartig, Matthias: Soziolinguistik für Anfänger, 1980, 1.Auflage, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Hartig, Matthias/ Kurz, Ursula: Sprache als soziale Kontrolle, 1971, Frankfurt/ M. Homberger, Dietrich: Männersprache — Frauensprache: Ein Problem der Sprachkultur?; In: „Deutsch als Muttersprache“, 1993, GfdS Verlag, Wiesbaden, S. 89-110 Knaurs Fremdwörterlexikon, Hg. v. Lexikograph. Institut, vollständ. Taschenbuchausg., 1992, München „Lexikon der Germanistischen Linguistik“, Studienausg. II, Hrsg. von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Herbert Ernst Wiegand, 1. Aufl. 1973; 2. vollständig neu bearb. u. erweit. Aufl. 1980, Max Niemeyer Verlag, Tübingen Lewandowski, Th: Linguistisches Wörterbuch, Bd. 1, 6. Auflage, 1994, unveränderter Nachdruck der 5. überarbeiteten Auflage, Quelle& Meyer Verlag, Heidelberg. Wiesbaden Oppermann, Katrin / Weber, Erika: Frauensprache — Männersprache. Die verschiedenen Kommunikationsstile von Männern und Frauen, 1994, Orell Füssli Management, S. 80-93 Pflug, Günther: Probleme der geschlechtsneutralen Rechts- und Verwaltungssprache, 1990; In: Diskussion Deutsch, 111, S. 98-102 Polenz, Peter von: Sprachkritik und Sprachnormkritik; In: Heringer, 1982a, S. 70- 93 Pusch, Luise F.: Das Deutsche als Männersprache, 1984, Frankfurt/M. Schlieben-Lange, B.: Soziolinguistik. Eine Einführung, 1973, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, S. 73 Trömel-Plötz, Senta: Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen, 1984, Frankfurt Fischer Taschenbuch Verlag Trömel-Plötz, Senta: Sexismus in der Sprache, aus „Maskulin — Feminin“, S. 72- 75 Trömel-Plötz: Linguistik und Frauensprache; in „Linguistische Berichte“, 57, 1978, S. 49-68 Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch, 1986, völlig überarb. Neuausg., Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/ München ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 509 NAMENGEOGRAFIE UND NAMENETYMOLOGIE Eine Fallstudie am Beispiel "Lippmann" Adina-Lucia Nistor Namengeografie ist ein wichtiger Teil und eine Spezialität der Namenkunde (Namenforschung oder Onomastik). Ihr Gegenstand ist die räumliche Verbreitung der Namen (der Ortsund Personennamen). Die Grundlage der modernen Namengeografie ist es, mit Hilfe von EDVProgrammen Namenkarten zu erstellen. Diese Art von Materialsammlung und -bearbeitung war der Traum und Wunsch früherer namengeografischer Analysen, die sich leider nur auf Urkunden, Kirchen-, Steuer-, Zinsregister, alten Einwohner- oder Adressbüchern stützen konnten und dies mittels mühelosem Durchzählen. „Bei der Erfassung der räumlichen Bindungen der Familiennamen sollte in Zukunft stärker als seither von einer statistisch vergleichenden Methode Gebrauch gemacht werden, die auch für die Namendeutung von Wichtigkeit werden 1 kann.“ Telefonverzeichnisse bieten eine neue, moderne, umfassende und zuverlässige namenkundliche Datenbasis. Für Deutschland wurden sie erstmals von Prof. Dr. Konrad Kunze von der Universität Freiburg und der Tivano Software GmbH in Neu Isenburg genutzt, die zusammen ein EDV-Programm entwickelt haben, mit dessen Hilfe man einzelne Namen, Namenvarianten und Namenkombinationen sowie ihre geografische Verbreitung komplett erfassen kann. Als Verbreitungsraster der Namenkarten können bis fünfstellige Postleitzahlbezirke zugrunde liegen. 2 Erste Auswertungen dieses EDV-Programms wurden im Dtv-Atlas Namenkunde , 1999 von Konrad Kunze veröffentlicht. Unsere Analyse ist Teil einer umfassenden Studie über die Familiennamen auf -mann in Deutschland, die wir dank eines Alexander von Humboldt-Forschungsaufenthaltes von 2000-2001 an der Universität Freiburg unternommen haben. Unsere Studie in Freiburg wurde im Rahmen des Projektes Deutscher Familiennamen-Atlas durchgeführt. Im folgenden wollen wir zeigen, welche Rolle die Namengeografie für die Klärung der Namenetymologien hat - u. zw. anhand des Beispiels Lippmann. Zur gesamtgeografischen Verbreitung des Namens Lippmann in Deutschland hat sich bis jetzt nur Brechenmacher (1960-63, 197) geäußert; er lokalisiert Lippmann im Mitteldeutschen. Unsere Karte zeigt das Vorkommen von Lippmann in ganz Deutschland und erstmals seine genaue Konzentration im Ostmitteldeutschen: hauptsächlich im Obersächsischen und teilweise im 3 angrenzenden Thüringischen (siehe Karte Namenverteilung für Typ: Lippmann 1627 ). Für die Namengeografie spielen die Namenhäufungen bzw. Namenkonzentrationen eine entscheidende Rolle. 1 Bach, 1953, Bd. I, S. 139. Kunze, 1999, S. 198-207. 3 In: Kunze, 1999. 2 Namengeografie und Namenetymologie. Eine Fallstudie am Beispiel Lippmann 4 5,6 % aller Deutschen tragen einen Familiennamen, der auf -mann endet .Von den 4,4 Mil5 lionen Familiennamen auf -mann in Deutschland ist Lippmann der 153.-häufige. Die Eingabe des regulären Ausdrucks Lippe?mann?s? in der Freiburger Datenbank 1995 ergab folgende Varianten: Lippman 2, Lippmann 1625. Historische Schreibweisen mit einem auslautenden -n sind zweimal belegt, patronymische Bildungen fehlen.Wenn wir davon ausgehen, 6 dass pro Telefonanschluss durchschnittlich 2,8 Träger des betreffenden Namens zu veranschlagen sind, so ergeben sich für den Typ Lippmann 1627 x 2,8 = 4555,6 Namenträger, das heißt eine für die Namengeografie beträchtliche Namenanzahl. Welches ist aber die Hauptbedeutung von Lippmann? Ist es „der Mann an / von der Lippe, Nebenfluss des Rheins“ oder „ein liebenswerter Mann“ oder sonst was? Die überregionalen Namenlexika geben für den Familiennamen Lippmann folgende Hauptbedeutungen an (fast jeder Familienname hat auch Bedeutungskonkurrenzen, das heißt Nebenbedeutungen, doch ist die Erstbedeutung die wichtigste): Bahlow (1985, 319), Gottschald (1982, 329), Kohlheim (2000, 427) und Naumann (o.J., 184) geben als Erstbedeutung für den Familiennamen Lippmann die Kurzform Lipp des Vornamens Philipp (griechisch Philippos, bed. „Pferdefreund“) und das Suffix -man(n) an; Cascorbi (1933, 330 u. 326) deutet den Namen als Vaternamen, doch leitet er ihn zuerst von Rufnamen auf ahd. liut „Volk“ z.B. Liutbald, Liebhard, Leupold u.ä. ab, Brechenmacher (1960-63, 197, 188 u. 187) erklärt Lippmann als Übernamen und zwar als mitteldeutsche Variante für Lieb(er)mann (Ableitung zu mhd. liep für einen lieben, angenehmen Menschen). Kunze (1999, 71, 87, 143) und Zoder (1968, 65) erklären den Namen als Herkunftsoder Wohnstättennamen, nach den vielfachen Ortsnamen Lippe in Schleswig-Holstein, Westfalen, Rheinland, Brandenburg, Pommern, Schlesien oder nach dem Gewässernamen Lippe, dem rechten Nebenfluss des Rheins. Welche ist nun die eigentliche Erstbedeutung: Patronymikum, Übername oder Herkunfts- bzw. Wohnstättenname? Andere Bedeutungskonkurrenzen des Familiennamens Lippmann sind slawischer Herkunft: Patronymikum von tschech. liby, wendisch luby bed. „lieb“ zu den Personennamen Ljubogost, 7 8 Lubomer u.ä. oder Wohnstättenname von tschech. lipa bed. „Linde“. 9 Für den Familiennamen Lippmann wird vereinzelt auch jüdische Herkunft angegeben, z.B. Samuel Lipman 1786, jüdischer Handelsmann in Bremen. In Frankfurt ist Lippmann zu Anfang 10 des 19. Jahrhunderts ebenfalls als Judenname zu mhd. lieb, liep „angenehm, erfreulich“ belegt. Jetzt werden wir die einzelnen Hauptbedeutungen des Familiennamens Lippmann: Herkunftsname bzw. Wohnstättenname, Übername, Personenname in seinem Konzentrationsgebiet genauer analysieren. Die Bedeutung Wohnstätten- bzw. Herkunftsname vom Flussnamen Lippe (sie sind schwer voneinander zu trennen, deshalb behandeln wir sie zusammen) entfällt im Ostmitteldeutschen, wegen der zu großen Entfernung zwischen diesem Gebiet und dem betreffenden Fluss. Herkunftsnamen aus Ortsnamen und Wohnstättennamen nach der Oberflächengestalt oder nach Gewässern sind nur in einer begrenzten Entfernung (maximal 60-80 km) vom Ausbreitungszentrum verbreitet, weil die Migration infolge der Eheschließung oder der 4 Ebd., S. 69. Ebd., S. 69. 6 vgl. ebd., S. 199. 7 Gottschald, 1982, S. 329. 8 Wenzel, 1999, S. 160. 9 So: Bahlow, 1985, S. 319; Zoder, Bd. 2, 1968, S. 65; Weiss, 1992, S. 199. 10 Vgl. Schiff, 1917, S. 25. 5 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 511 Adina-Lucia Nistor Arbeitssuche zur Entstehungszeit der Familiennamen, im Mittelalter diesen Radius nicht übertraf (vgl. hierzu die Familiennamen: Münstermann, Siekmann u.ä.). Heutige Migrationen beeinflussen das Konzentrationsgebiet eines Familiennamens nur wenig, zu ungefähr 15 %. In Ostund Westfalen kann Wohnstätten- bzw. Herkunftsname die Hauptbedeutung sein, vergleiche hierzu die Gleichung bei Zoder (1968, 65) „Hinrik van der Lippe 1447 = Hinrik Lipman junior, Hinrikes sone 1458 = Hinrik Lippeman 1470/80“, doch ist für die Erstbedeutung das Konzentrationsgebiet eines Namens ausschlaggebend. Die Bedeutung Übername für einen „lieben, 11 angenehmen Menschen“ oder „einem dem Herren bevorzugten, begünsteten Menschen“ von Lippmann als Variante von Liebmann mit Auslautverhärtung, kommt, so glauben wir, wegen der zu engen Nachbarschaft der Namen eher nicht in Frage. Brechenmacher (1960-63, 197, 188) behauptet, Lippmann sei die mitteldeutsche Variante von Lieb(er)mann. Weil sich jedoch beide Namen im Ostmitteldeutschen konzentrieren (siehe Karte Verhältnis Typ: Liebmann 942 / Typ: 12 Lippmann 1627 ), ist es unwahrscheinlich, dass hier die Namen dieselbe Bedeutung, nur verschiedene lautliche Formen haben. Lippmann (1627 Telefonanschlüsse) konzentriert sich im Obersächsischen (teilweise auch im Thüringischen); das hier ungedruckte Kartenbild des Typs Liebmann (Liebmann 942 Telanschl.und Liebermann 853 Telanschl.) zeigt hingegen eine Konzentration im Thüringischen (partiell auch im Obersächsischen) (vgl. Karte Liebmann – Lipp13 mann ). Die Familiennamen Lippmann und Lieb(er)mann kommen in den regionalen Namenbüchern von Hellfritzsch (1992) für das Sächsische Vogtland, sowie bei Neumann (1981) für die Gebiete Oschatz, Riesa, Grossenhain in Sachsen nicht vor. Lieb(er)mann fehlt auch bei Schwarz (1973) für das Sudetendeutsche. Bei Grünert (1958) bedeuten in Altenburg (im Ostmitteldeutschen), wohl nicht zufällig, Lie14 bermann „Übername, ein angenehmer, lieber Mann“ und Lippmann „Patronymikum, Kurzform 15 von Philippus mit -mann-Ableitung.“ Schwarz (1973, 193) erklärt Lippmann für das Sudetendeutsche auch als Patronymikum zur Kurzform Lipp von Philipp. Neumann (1981) führt in ihrem regionalen Familiennamenbuch Sachsens den Familiennamen Lip an: „Rufname, Kurz16 form zu Philippus, wohl kaum Übername mhd. lefs(e), mitteldt. Lipp = Lippe“ an. Daraus schließen wir, dass der Familienname Lippmann in seinem Konzentrationsgebiet Sachsen, die Erstbedeutung Patronymikon hat und eine Ableitung auf -mann mit der alten Kurzform für Philipp ist, wahrscheinlich wegen der Verehrung des Heiligen Apostels Philippus gewählt. In Einzelfällen kann Lippmann auch eine mit dem Suffix -mann erweiterte Bildung der Kurzform von germanischen Rufnamen mit lieb (ahd. liub, liob) z.B. Liebhard, Liebfried, Liebwald u.ä. sein, oder einen westslawischen Einfluss zu Personennamen auf slaw. liby, luby = lieb oder zu slaw. lipa = Linde und demzufolge als Vatername oder als Wohnstätten- bzw. Herkunftsname gedeutet werden. An dieser Stelle bleibt unsere Forschung noch offen. Über jeden Einzelfall können nur familiengeschichtliche Untersuchungen entscheiden. Bei der Etymologie von Familiennamen geht es zuerst um den Rang der Bedeutungen. Im Fall Lippmann haben wir gezeigt, wie man mit Hilfe der Namengeografie einzelne Bedeutungen eines Namens als Hauptbedeutungen ausschalten kann. In den überregionalen Namenlexika 11 vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, 1984, Sp. 941. In: Kunze, 1999. 13 Ebd. 14 so: Grünert, 1958, S. 393-394. 15 So: Grünert, 1958, S. 54. 16 Neumann, 1981, S. 108. 12 512 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Namengeografie und Namenetymologie. Eine Fallstudie am Beispiel Lippmann kam Lippmann mit den Hauptbedeutungen Patronymikum, Übername und Wohnstätten-Herkunftsname vor. Die Namengeografie hat uns dazu verholfen, auf die Erstbedeutung Patronymikon von der Kurzform zu Philipp zu kommen. Schlussfolgernd können wir behaupten: ➧ Namengeografie spielt eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über die Erstbedeutung eines Familiennamens. ➧ Die moderne Namengeografie eröffnet der Namenkunde neue Wege, sie reißt sie aus dem Bereich des Hypothetischen heraus und konkretisiert sie. ➧ Namengeografie ist ein Instrument zur Überprüfung der überregionalen Namenbücher. ➧ Infolge moderner namengeografischer Studien müssen Namenbücher neu geschrieben, etymologisch neu geschichtet werden. ➧ Namengeografie kann in manchen Fällen noch unbekannte Bedeutungen der Namen ans Licht bringen. ➧ Die Rolle der Namengeografie darf nicht absolutisiert werden. Sie kann nicht immer die endgültige Lösung bringen, weil auch aus namengeografischer Perspektive manches ungelöst bleiben kann. Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. Bach, Adolf (1953): Deutsche Namenkunde. Die deutschen Personennamen. Bd. I 1 u. 2. Heidelberg. Bahlow, Hans (1985): Deutsches Namenlexikon. Baden-Baden. Brechenmacher, Josef Karlmann (1960-63): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Familiennamen. Bd. 2. Limburg an der Lahn. Fleischer, Wolfgang (1968): Die deutschen Personenamen. Geschichte, Bildung und Bedeutung. Berlin. Gottschald, Max (1982): Deutsche Namenkunde. 5. Auflage. Berlin. Grimm, Jakob u. Wilhelm (1984): Deutsches Wörterbuch. Bd. 12. München. Grünert, Horst (1958): Die Altenburgischen Personennamen. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Namenforschung. Tübingen. Heintze, Albert u. Cascorbi, P. (1933): Die deutschen Familiennamen geschichtlich, geografisch, sprachlich. 7. Auflage. Halle-Berlin. Hellfritzsch, Volkmar (1992): Familiennamenbuch des sächsischen Vogtlandes. Auf der Grundlage des Materials der Kreise Plauen und Oelsnitz. Berlin. Kohlheim, Volker u. Rosa (1998): Duden-Lexikon der Vornamen.3. Auflage. Mannheim. Kohlheim, Volker u. Rosa (2000): Duden-Familiennamen. Herkunft und Bedeutung. Mann-heim. Kunze, Konrad (1999): dtv-Atlas Namenkunde. Vor- und Familiennamen im deutschen Sprachgebiet. 2. Auflage. München. Lexer, Matthias (1979): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Stuttgart. Naumann, Horst (o.J.): Das große Buch der Familiennamen. Alter-Herkunft-Bedeutung. o.O. Neumann, Isolde (1981): Die Familiennamen der Stadtbewohner in den Kreisen Oschatz, Riesa und Grossenhain bis 1600. Berlin. Schiff, Adelheid (1917): Die Namen der Frankfurter Juden zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Freiburg. Schwarz, Ernst (1973): Sudetendeutsche Familiennamen des 15. und 16. Jahrhunderts. München. Weiss, Nelly (1992): Die Herkunft jüdischer Familiennamen. Herkunft, Typen, Geschichte. Bern. Wenzel, Walter (1999): Lausitzer Familiennamen slawischen Ursprungs. Bautzen. Zoder, Rudolf (1968): Familiennamen in Ostfalen. Bd. 2, Hildesheim. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 513 EIN DEUTSCH-RUMÄNISCHES AUSTRIAZISMENLEXIKON Mit besonderer Hervorhebung der österreichischen und rumäniendeutschen sprachlichen Gemeinsamkeiten Hermann Scheuringer / Ioan L`z`rescu Nachdem Hugo Moser in der ersten Auflage des Handbuchs Sprachgeschichte im Jahre 1985 ein letztes Mal die, wie man jetzt sagt, monozentrische Sicht aufs Deutsche, d.h. die deutsche Standardsprache, mit einer Hauptvariante Bundesrepublik und Nebenvarianten wie damals noch DDR-Deutsch, dazu Österreichisch, Schweizerhochdeutsch u.a. vertreten hatte (Moser 1985), gewann in der Folgezeit die heute diesbezüglich dominierende, allseits auch problemlos akzeptierte poly- oder plurizentrische Sicht an Boden. Sie anerkennt die Tatsache, dass auch die deutsche Hochsprache kein monolithischer Block ist, sondern auch auf dieser hochsprachlichen Ebene regionale Varianz kennt, Zwei- und Mehrgleisigkeiten, wie sie ein so großes Sprachgebiet wie das deutsche einfach hervorbringen muss angesichts sprachhistorisch wie auch territorialpolitisch vielfältiger Entwicklungen. Bezeichnenderweise waren es außersprachliche Anlässe, die die Diskussion ums mono- oder polyzentrische Deutsch immer wieder angestoßen haben, schon in den siebziger Jahren die Emanzipationsbestrebungen der DDR, in den späten achtziger Jahren und bis zur Mitte der neunziger Jahre, zwischen so genannter Wiedervereinigung und österreichischem EU-Beitritt, die damals geradezu besessen zelebrierte Angst österreichischer Intellektueller vor der kulturellen Vereinnahmung durch Deutschland. Im speziellen Arbeitsbereich „Österreichisches Deutsch“ ist inzwischen Ruhe eingekehrt, die sprachpolitische Debatte zwischen, wie Wiesinger es genannt hat, österreichisch-nationalem und deutsch-integrativem Standpunkt scheint ausgereizt zu sein. Österreichisches Deutsch ist eine wohlbekannte und wohlbeschriebene, auch allgemein anerkannte Größe. Unterschiedliche Sichtweisen zur Regionalität der deutschen Standardsprache zwischen plurizentrisch oder etwa pluriareal ändern nichts am allgemein als regional anerkannten sprachlichen Ausgangsmaterial, und auch Vertreter einer pluriarealen Sicht aufs Deutsche, frei von Abgrenzungs- und Distanzierungsbemühungen Deutschland und „den Deutschen“ gegenüber, sehen ohne jede Selbstüberwindung neben süddeutschen oder bairisch-österreichischen Sprachformen eindeutig auch nur österreichische oder nur schweizerische, Austriazismen und Helvetismen, aber auch Liechtensteinismen und Südtirolismen und natürlich auch rein bundesdeutsche, vor dem Hintergrund des Staates Deutschland erklärbare Sprachformen, vielleicht als Teutonismen oder besser: Deutschlandismen etikettierbar, wie z.B. das Wort Abitur. Es ist einsichtig, dass insbesondere im politisch-administrativen Bereich und in allen weiteren Lebensbereichen mit größeren staatlichen Eingriffen und Befugnissen staatliche Wortschätze und weitere staatlich eingrenzbare sprachliche Formen auftreten. Bevor es noch Internet-Suchmaschinen und große über das Internet zugängliche Textkorpora und Datensammlungen gab, waren jedem Unterfangen, staatlich geprägte sprachliche Formen innerhalb des Deutschen herauszufiltern und zu beschreiben, relativ früh unüberwindbare Hürden gesetzt in dem Sinne, dass neben einem kleinen, nach bestem Wissen und Ge- Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon … wissen, nach allgemeinem Dafürhalten und wiederholt verifizierten, quasi „zweifelsfrei“ z.B. als Austriazismen klassifizierten Anteil sprachlicher Formen viele weitere, ja die meisten dieser Formen nur auf Grund von Intuition und Einschätzung, auf Grund immer einseitiger und beschränkter räumlicher Lebenswelten ihrer Bearbeiter Eingang in entsprechende Lexika fanden. Diese Hürden sind jetzt nicht beseitigt, doch weitaus kleiner bzw. später zu sehen. Das „Wörterbuch der nationalen und regionalen Standardvarianten des Deutschen“, ein trinationales Forschungsprojekt an den Universitäten Duisburg, Basel und Innsbruck, finanziert von Deutscher Forschungsgemeinschaft, Schweizerischem Nationalfonds und Österreichischem Forschungsförderungsfonds und Geisteskind von Ulrich Ammon in Duisburg, kann die neuen technischen Möglichkeiten ausschöpfen und wird voraussichtlich ab 2004 die neue Messlatte vorgeben – und insofern auch für das österreichische Deutsch bisher noch nie gesehene Zuverlässigkeit in puncto Belegmaterial aufweisen.1 Eine Seite der im Folgenden vorzustellenden österreichisch-rumänischen Forschungskooperation hat damit eine optimale Materialbasis zur Verfügung, die beim derzeitigen Stand der Dinge nicht weiter hinterfragt werden muss – wünschenswerte Voraussetzung auch, um das Augenmerk ganz auf die andere, rumänische Seite konzentrieren zu können. Das „Wörterbuch der nationalen Standardvarianten des Deutschen“ ist grundsätzlich ein bundesdeutsch-österreichisch-schweizerisches Werk, dazu die zwei Kleinstaaten Liechtenstein und Luxemburg und allenfalls am Rande noch Südtirol und Ostbelgien berücksichtigend, es geht aber über den geschlossenen deutschen Sprachraum Mitteleuropas nicht hinaus. Dies gilt leider – fast – genauso für Ulrich Ammons 1995 erschienenes Standardwerk „Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ (Ammon 1995), in dem sich das Deutsche in Rumänien, mit dem Deutschen im Elsass und in Lothringen zusammengefasst in einem kleinen Kapitel unter der Überschrift „Zentrumsansätze ohne Amtssprachlichkeit“, mit 4 von 575 Seiten begnügen muss. Die Forschung zum plurizentrischen Deutsch, insbesondere zu seinen staatlichen Standardvarianten, hat Varietäten außerhalb des geschlossenen Stamm-Sprachraums somit bis dato wenig bis gar keine Aufmerksamkeit geschenkt, ein Manko, das gerade angesichts des Rumäniendeutschen schmerzt, ist doch das Deutsche in Rumänien eine vollwertige regionale Varietät – mit Spezifika natürlich, aber nur wenigen Einschränkungen. Es hat alles dazu Erforderliche, muttersprachliche Vielfalt von der dialektalen bis zur hochsprachlichen Ebene, Schrifttum jedweder Spielart einschließlich einer Tageszeitung, Schulen, Theater und Germanistik-Lehrstühle u.v.a.m., natürlich als Sprachminderheit in einem dominant rumänischen Staat und insofern z.B. nicht auf gleicher Ebene etwa mit Südtirol, wo die Minderheit de facto die dominante sprachliche Gruppe ist. Der demografische Aderlass des letzten Jahrzehnts mag ein Übriges dazu beitragen, dass rumänisches Deutsch kaum (mehr) Beachtung findet. Seine dialektale Seite ist gut erforscht, es gibt eine lange Tradition vor allem siebenbürgischer und Banater Mundartkunde, seine hochsprachliche Seite wurde und wird nur allzu gern als Variante oder Abart des Österreichischen gesehen, was es – vielleicht – bis 1918 auch war, aber das gilt bis 1918 auch für Südtirol, und wir erkennen Südtirolismen heute zuhauf. Bei Ammon (1995), der sich bei seinen diesbezüglichen Ausführungen, wie andere auch, hauptsächlich auf die Arbeit Helmut Kelps (Kelp 1982–1984) stützt, heißt es: „Ein Großteil der von Kelp präsentierten lexikalischen Besonderheiten sind Austriazismen. In der Tat entsteht für die Rumäniendeutschen erst 1918 die politische Grundlage für die Ausbildung eines eigenen nationalen Zentrums der deutschen Sprache.“ Und weiter: „Die spezifisch rumäniendeutschen 1 Vgl. dazu Ammon (1998). ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 515 Hermann Scheuringer / Ioan L`z`rescu nationalen Varianten [Ammon nennt sie „Transsylvanismen“], ohne die Austriazismen, entstammen vor allem den folgenden drei Quellen: (1) den rumäniendeutschen Dialekten (Siebenbürger Sächsisch, Banater und Sathmarer Schwäbisch), (2) dem Rumänischen und (3) dem Ungarischen“. Die strenge Durchsicht der Kelpschen Listen durch rumänische Informantinnen führt bei Ammon (1995) letztlich zu ganz wenigen Lexemen, die zweifelsfrei als so genannte Transsylvanismen durchgehen, darunter Aufboden „Dachboden“, Hattert „Feld, Gemarkung“, Klettiten „Pfannkuchen“, Schopfen „Schuppen“ und versorgen „beiseite legen“. Bisheriges zusammenfassend, ist festzustellen: ➧ Der Status der deutschen Sprache in Rumänien geht weit über den einer durchschnittlichen Minderheitensprache hinaus. Deutsch in Rumänien kann als eine staatliche Varietät des Deutschen gesehen werden. ➧ Deutsch in Rumänien zeigt zweifellos Eigenheiten, primär natürlich auf lexikalischer Ebene, wobei die Herausbildung spezifischer Rumänismen, weitgehend unabhängig von den dialektalen deutschen Grundlagen, erst ab 1918 anzusetzen ist. ➧ Deutsch in Rumänien (und mittelbar damit auch das Rumänische) kennt in historischer Sicht als primären Kontaktpartner im deutschen Binnenraum die österreichische Standardvarietät, in merklichem Kontrast zu seiner vornehmlich moselfränkischen und schwäbischen dialektalen Grundlage, im letzten halben Jahrhundert verstärkt auch die westdeutsch-bundesdeutschen und DDR-Standardvarietäten. Die historische Verquickung von österreichischem Deutsch und rumänischem Deutsch stellt auch die Grundlage unseres „Doppelprojektes“ dar, das hier kurz vorzustellen auch Zweck unserer Ausführungen ist. Am Anfang steht dabei das für diesen Beitrag den Titel abgebende „Austriazismenlexikon mit besonderer Hervorhebung der österreichischen und rumäniendeutschen sprachlichen Gemeinsamkeiten“. Es soll ein deutsch-rumänisches Wörterbuch primär für rumänische Muttersprachler mit fortgeschrittener Kompetenz im Deutschen werden, in dem das besondere Augenmerk der Einbeziehung hochsprachlicher Austriazismen gilt, rumänische Deutschlerner also gezielt lexikografisch mit österreichischem Deutsch bekannt gemacht werden sollen, und dabei sollen auch die zahlreichen Rumäno-Austriazismen bewusst als eben österreichisch-rumänische Gemeinsamkeiten in der deutschen Standardsprache hervorgehoben werden. Im zweiten Teil dieses Aufsatzes wird auf Struktur und Inhalt des Wörterbuchs, auf Lemmata und Lemmatisierungsproblemen usw. eingegangen. Dieses „austro“-deutsch-rumänische Wörterbuch, Teil 1 des erwähnten Doppelprojektes, wurde und wird finanziell von der Universität Wien und von der Österreichischen Botschaft in Bukarest gefördert und soll im Jahr 2004 in Bukarest der Öffentlichkeit präsentiert werden. Teil 2 stellt ein noch 2003 beim Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) in Wien einzureichendes Drei-Jahres-Forschungsprojekt dar mit dem Arbeitstitel „Erforschung und Beschreibung der rumänischen Variante der deutschen Standardsprache“, in dem, falls als förderungswürdig erachtet, eine Projektmitarbeiterin aktuelle rumäniendeutsche, gesprochene wie geschriebene Texte auf Rumänismen hin auswerten soll, wie sie natürlich primär im lexikalischen Bereich zu erwarten sind, aber nicht nur: Auch die Aussprache der deutschen Hochsprache in Rumänien ist zu thematisieren und wohl auch grammatische Aspekte. Erster Projektpartner in Rumänien ist natürlich Ioan L`z`rescu, mit weiteren 516 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon … rumänischen Partnern laufen zur Zeit der Abfassung dieses Beitrags im Spätsommer 2003 Kontaktgespräche, als Berater in Österreich uns zur Seite stehen will Jakob Ebner in Linz, seinerseits der herausragende und erfahrenste Lexikograf des österreichischen Deutsch und auch Mitarbeiter des erwähnten neuen Varietätenwörterbuchs, dessen Korpus uns dankenswerterweise schon jetzt zugänglich gemacht worden und weiter zugänglich ist und zu dem sich das geplante FWF-Projekt gleichsam als Ergänzungsprojekt versteht. Natürlich soll nach dem Aufspüren spezifischer Rumänismen insbesondere gemeinsamen Rumänismen und Austriazismen nachgegangen werden, doch auch gemeinsamen Rumänismen und Deutschlandismen, wie sie aus den letzten Jahren vermehrt zu erwarten sind, abgerundet durch einen Blick auf die Geschichte der deutschen Standardsprache in Rumänien, für die gerade auch dieser Wechsel vom primären Kontaktpartner Österreich zum primären Kontaktpartner Deutschland bedeutsam erscheint. Wir bitten generell die Germanisten an den rumänischen Universitäten um ihre Mithilfe. Auch in diesen Zeiten demografischer Schwächung der deutschen Bevölkerung Rumäniens steht z.B. der tagtägliche Ausstoß an – von deutschen Muttersprachlern – Geschriebenem weit vor oder über vergleichbarem Schrifttum deutscher Minderheitsbevölkerungen in andern Ländern außerhalb des Stammsprachraumes. Allein die Produktion aktuellen Schrifttums, wie es z.B. in Hermannstadt erscheint, ist weiterhin beeindruckend, von der wöchentlichen Hermannstädter Zeitung bis zu den Büchern des Hora-Verlages, Fachliteratur wie Belletristik usw. Gesamtrumänisch kommt die tägliche Allgemeine deutsche Zeitung dazu, weitere deutsche Presseerzeugnisse und die weiterhin vielfältige Buchproduktion in Städten wie Temeswar oder Kronstadt u.v.a.m. Schon der Blick in nur eine dieser Quellen zeitigt Ergebnisse mehrerlei Schattierung mit reinen Rumänismen, Bezeichnungs- wie Bedeutungsrumänismen, und natürlich auch mit Rumäno-Austriazismen. Exemplarisch habe ich2 im Vorfeld des VI. Rumänischen Germanistenkongresses dafür fünf Ausgaben der Hermannstädter Zeitung (HZ) von Anfang April bis Anfang Mai 2003 durchgesehen, mir auffällig Erschienenes mit Hilfe deutscher Wörterbücher und mit Hilfe der Internet-Suchmaschine „Google“ überprüft. Manches erwies sich dabei als nur mir auffällig, sonst aber nicht einschlägig, ein paar der gefundenen Einträge seien hier vor- und zur Diskussion gestellt. In der HZ vom 4. April 2003 findet sich ein Artikel über das rumänische Gesundheitssystem, der vorrangig von kompensierten Medikamenten handelt. Der Terminus wird auch, wohl mit Blick auf nicht rumänische Leser, erklärt: Medikamente, bei denen die Krankenkasse den Apotheken die Preisdifferenz zum dort reduzierten Preis ausgleicht. Mit dem in der gleichen Ausgabe vorkommenden Spital verwendet die HZ ein älteres Lexem des Deutschen, wie es in Österreich und in der Schweiz weiterhin uneingeschränkt standardsprachlich ist, nicht mehr aber in Deutschland. Auf Seite 1 besagter Ausgabe findet sich auch ein Bericht über die neuen Korruptionsbekämpfungsgesetze, die nun vom Präsidenten promulgiert werden können, also bekannt gemacht, etwas, das im Deutschen heute sonst nur noch höchsten kirchlichen Würdenträgern vorbehalten ist. Ob der in der HZ vom 11. April in einer Anzeige des Kreisrates Sibiu gelesene Hausanschluss der sonstigen Nebenstelle oder Durchwahl, österreichisch auch Klappe, entspricht, weiß ich nicht, doch sei das Lexem hier zur Diskussion gestellt, ebenso in der HZ vom 18. April gesehenes Freizeit in einem Bericht über eine „Einladung zu Freizeiten der Senioren“, also Seniorenfreizeiten, in dem auf zwei solche Frei2 i.e.Hermann Scheuringer. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 517 Hermann Scheuringer / Ioan L`z`rescu zeiten hingewiesen wird und es dann auch heißt: „Für beide Freizeiten besteht Abholmöglichkeit von den nächstliegenden Bahnhöfen.“ In der gleichen Ausgabe begegnen in einem Artikel zur Internationalen Meisterschaft im Kunstturnen auch Gymnasten und Gymnastinnen, wie es sie im Rumänischen gibt und auch im Englischen, meines Wissens aber sonst im Deutschen nicht. Das in einer Wohnungsanzeige in der HZ vom 25. April gelesene Direktorenbadezimmer mag meiner mangelnden einschlägigen Lebenserfahrung entsprießen – ich weiß es nicht, Sparkassa wiederum in der HZ vom 9. Mai und auch Rauchfangkehrer sind unschwer als Rumäno-Austriazismen zu identifizieren. So weit ein erster Blick meinerseits unter Berücksichtigung des Hermannstädter genius loci. Näheres zum "austro"-deutsch-rumänischen Wörterbuch: 1. Anvisierter Benutzerkreis. Das Austriazismen-Lexikon wendet sich an rumänische Deutschlernende, die die Mittelstufe erreicht haben, und selbstverständlich an Fortgeschrittene, somit an rumänische Muttersprachler, die weit über den Grund- und Alltagswortschatz hinaus sind und in schriftlichen und/oder gesprochenen Texten auf lexikalische Spezifika des österreichischen Deutsch stoßen und sich darüber Klarheit verschaffen bzw. Kommunikationsstörungen vorbeugen oder vermeiden wollen. Gemeint sind hier die Lektüre der österreichischen Presse, von österreichischen Prospekten, Broschüren und Sachtexten verschiedensten Inhalts bis hin zu belletristischen Texten, ferner das Verstehen von Hörtexten in Form von unterschiedlichen An- und Durchsagen, im Rundfunk und Fernsehen, bzw. während Gespräche, die mit Österreicherinnen und Österreichern geführt werden. 2. Das Wortinventar. Aufgenommen werden lexikalische Besonderheiten des österreichischen Deutsch im weitesten Sinne des Wortes, also neben den typischen Austriazismen auch solches Wortgut, das in der Regel als bairisch-österreichisch bezeichnet wird, ist doch in vielen Fällen eine strenge Trennung zwischen Austriazismen und Bavarismen praktisch kaum durchzuführen, wobei unter letzteren die sprachlichen Besonderheiten der Region verstanden werden, die man gewöhnlich als Altbayern zusammenfasst – nämlich Oberbayern, Niederbayern und die Oberpfalz (vgl. auch die sog. "unspezifischen Bavarismen" bei Zehetner ²1998, 7). Sieben Kategorien von Wörtern machen den Wortbestand unseres Lexikons aus: (1) In erster Linie geht es um Wörter, die in den bisher erschienenen zweisprachigen Wörterbüchern überhaupt nicht vorkommen, verständlicherweise nicht in den kleinen und mittelgroßen älteren wie jüngeren Datums, erstaunlicherweise aber auch im großen deutschrumänischen Wörterbuch der Rumänischen Akademie (2., erweiterte und bisher letzte Auflage 1989) nicht. Es sind dies vornehmlich Elemente der Fachsprachen und der Behördensprache (z.B. anverwahrt für 'beiliegend', Aufgriff im Sinne von 'etw. von der Polizei Beschlagnahmtes', beeinspruchen 'gegen etw. Einspruch erheben', auffirnen 'körnig und weich werden (vom Schnee)' u.v.a.m. Zwar bildet gewissermaßen das 1996 von Ioan L`z`rescu herausgegebene Dic]ionar de argou [i limbaj colocvial german-român (Deutsch-rumänisches Wörterbuch der Gauner- und Umgangssprache)3 diesbezüglich eine Ausnahme, zumal eine verhältnismäßig große Anzahl der darin vorkommenden Lemmata der österreichischen Umgangs-, Gauner- und Jugendsprache angehören, lexikalische Elemente der österreichischen Standardsprache scheinen jedoch in der rumänischen Lexikographie noch ein Kellerkind zu sein. 3 Niculescu-Verlag, Bukarest. 518 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon … (2) Wörter, die in deutsch-rumänischen Lexika zwar vorkommen, jedoch lediglich mit deren bundesdeutschen Bedeutungspalette, wobei etwaiige zusätzliche österreichische Bedeutungsvarianten in der Beschreibung fehlen, z.B.: anschließen, das im deutsch-rumänischen Wörterbuch der Akademie nur mit den Bedeutungen 'festmachen; verbinden; folgen lassen' – auch mit dessen reflexiver Bedeutung – vorkommt, jedoch ohne die für die österreichische Behördensprache typische zusätzliche Bedeutung 'anfügen, beilegen (etwa Unterlagen)'. (3) Wörter, die hauptsächlich in Österreich verwendet werden, somit als "reine Austriazismen" zu bezeichnen sind, in den gängigen deutsch-rumänischen Wörterbüchern jedoch bestenfalls die Markierung reg. (= regional/Regionalismus) haben. Der Wörterbuchbenutzer bekommt somit dabei gar keine Information darüber, dass das betreffende Wort als typisch österreichisch zu verstehen ist zum Unterschied von anderen Lemmata, die gleichfalls die Markierung reg. haben, die aber norddeutsch, west- oder ostmitteldeutsch oder sonstwie sind (vgl. die Einträge Buchtel und Schmetten im Wörterbuch der Akademie: in beiden Fällen steht in Klammern der Vermerk reg., man erfährt aber nicht, dass der erstere österreichisch, der letztere ostmitteldeutsch ist). (4) Es fällt auf, dass bei vielen typischen Austriazismen in den meisten bisher in Rumänien erschienenen Wörterbüchern überhaupt keine diatopische Markierung steht, also kein Vermerk über den nur auf Österreich beschränkten Gebrauch – etwa beim Verb beheben i.S.v. 'Geld abheben', so dass der darauf nicht vorbereitete Benutzer den falschen Schluss ziehen kann, diese Bedeutung sei gesamtdeutsch. Aber ein im nordwestlichen Teil des deutschen Sprachraums lebender Sprecher verwendet beheben nur im Zusammenhang mit Fehlern. Solche Wörter werden in unserem Lexikon selbstverständlich zu Austriazismen gezählt und als solche behandelt. (5) Wörter, die im Österreichischen mit anderen Wortbildungsmitteln als im bundesdeutschen Sprachraum gebildet bzw. gebräuchlich sind, z.B. im Falle der Komposita andere Fugenelemente (Rindsbraten vs. Rinderbraten, aufnahmsfähig vs. aufnahmefähig), bei Derivaten andere Suffixe usw. (Ausbildner vs. Ausbilder, Wissenschafter vs. Wissenschaftler, Wörter auf -hältig/-haltig, -färbig/-farbig usw.), oder Wörter, die sich in ihrer grammatischen Beschaffenheit von ihren bundesdeutschen Entsprechungen unterscheiden (Verben mit festen Präpositionen, wobei die Präpositionen differieren – z.B. erinnern bzw. denken auf statt an –, Substantive mit unterschiedlichem Genus: österr. das – dt. die Vokabel, österr. der – dt. das Polster usw.) (6) Österreichische Spezifika, die "durchsichtig" zu sein scheinen, die aber sehr leicht zu Verwechslungen führen könnten, falls der Leser die Bildungen wörtlich nehmen oder sie mit deren bundesdeutschen Homographen gleichsetzen würde, etwa Bügelladen, das kein "Laden/Geschäft" ist, sondern ein 'Bügelbrett', bzw. Brötchen, das in Österreich 'ein kleines belegtes Brot' bezeichnet, in Deutschland aber ein kleines rundes oder längliches Brot, was in Österreich seinerseits eine Semmel ist, Gebäck, das in Österreich ein 'Oberbegriff für Semmel, We-ckerl usw.' ist, während in Deutschland das Gebäck klein und süß ist, betreten, das in Österreich auch im Sinne von 'ertappen, festnehmen' verwendet wird, nicht nur von 'in einen Raum treten'. (7) Das, woran uns am meisten gelegen war, ist die Markierung von Rumäno-Austriazismen, um eben die zahlreichen lexikalischen österreichisch-rumäniendeutschen Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Die meisten davon kommen zwar auch in den bisher erschienenen deutschrumänischen Wörterbüchern vor, jedoch ist dabei überhaupt nicht zu ersehen, dass diese Wörter auch dem Rumäniendeutschen und nicht nur dem Österreichischen eigen sind. Rumänien- ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 519 Hermann Scheuringer / Ioan L`z`rescu deutsche-österreichische Gemeinsamkeiten sind in unserem Lexikon mit dem hochgestellten Kürzel (RO) markiert, das rechts vom Lemma steht. 3. Benutzte Quellen. Zweierlei Quellen werden bei der Erstellung dieses Wörterbuchs benützt: die einen für die Lemmatisierung von "allgemeinen" Austriazismen, die anderen für die auch in der rumäniendeutschen Verkehrssprache verwendeten Austriazismen. Von vornherein muss präzisiert werden, dass wir nur verschriftlichte Formen berücksichtigen. Dialektförmige Lemmata wie abidrahn, abistessen, abizahn usw., die zwar im DUDEN-Wörterbuch Wie sagt man in Österreich? vorkommen, werden in unser Lexikon nicht aufgenommen, da diese sozusagen transkribierte Dialektformen sind. Wir berücksichtigen nur standardsprachliche, also schriftliche Formen, ist es doch praktisch kaum anzunehmen, dass sich ein rumänischer Deutschlerner mit einem Österreicher in der Mundart unterhalten wird. Unsere Lemmata sind den folgenden Quellen (in alphabetischer Reihenfolge) entnommen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Ammon, U. (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/New York: de Gruyter. Ebner, J. (³1998): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch des österreichischen Deutsch. Mannheim u.a.: Dudenverlag. Jontes, G. (1998): Österreichisches Schimpfwörterlexikon. Wien: Donauland Kremayr & Scheriau. Österreichisches Wörterbuch. 39., neu bearb. Aufl., hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kunst. Auf der Grundlage des amtlichen Regelwerks. Wien: ÖBV 2001. Seibicke, W. (1983): Wie sagt man anderswo? Landschaftliche Unterschiede im deutschen Sprachgebrauch. Mannheim u.a.: Dudenverlag. Wehle, P. (1997): Die Wiener Gaunersprache. Von Auszuzln bis Zimmerwanzen. Wien: Ueberreuter. Weihs, R. (2000): Wiener Wut. Das Schimpfwörterbuch. Wien: Uhudla. Und selbstverständlich dem 10bändigen DUDEN. Dazu gesellt sich das eingangs erwähnte, noch in Arbeit befindliche Wörterbuch der nationalen und regionalen Standardvarianten des Deutschen, kurz das neue "Varietätenwörterbuch", dessen Manuskript mit den bisher erstellten Lemmata uns vom Autorenteam freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. Die Belege für die Rumäno-Austriazismen entnahmen wir den folgenden einschlägigen Werken (hier alphabetisch geordnet): 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 520 Ammon, U. (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: W. de Gruyter G`deanu, S. (1998): Sprache auf der Suche. Zur Identitätsfrage des Deutschen in Rumänien am Beispiel der Temeswarer Stadtsprache. Regensburg: S. Roderer [Theorie und Forschung 574: Sprachwissenschaften 8] Gehl, H. (1997): Deutsche Stadtsprachen in Provinzstädten Südosteuropas. Stuttgart: Franz Steiner Gehl, H./Purdela Sitaru, M. (Hrsg.) (1994): Interferenzen in den Sprachen und Dialekten Südosteuropas. Tübingen: Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde [Materialien, Heft 4] Isb`[escu, M./Kisch, R./Mantsch, H. (1972): Zu den Merkmalen der gesprochenen deutschen Sprache in Rumänien. In: "Analele Universit`]ii Bucure[ti - Limbi germanice" (XXI), S. 45-58. (dass. in: "Gesprochene Sprache. Jahrbuch 1972", hrsg. von H. Moser, Düsseldorf 1973, S. 229-244 [Sprache der Gegenwart 24]) Isb`[escu, M./Kisch, R. (1972): Beiträge zu einer soziolinguistischen Betrachtung siebenbürgisch-deutscher Sprachformen. In: "Germanistische Linguistik in Rumänien 1958-1983. Eine Textauswahl", hrsg. von H. Kelp, mit einem Vorwort von G. Klaster-Ungureanu, Bukarest: Kriterion 1993, S. 173-183 (dass. in: "Festschrift für Hans Eggers zum 65. Geburtstag", hrsg. von H. Backes, Tübingen 1972, S. 307-317) Kelp, H. (1982/83): Die österreichischen Formen. In: Neuer Weg 20.02.1982-23.04.1983 [Lexikalische Besonderheiten unserer deutschen Schriftsprache, Folgen 4-26] Wolf, J. (1975): Kleine Banater Mundartenkunde. Bukarest: Kriterion Wolf, J. (1977-78): Zu den sprachlichen Voraussetzungen der deutschsprachigen Literatur im rumänischen Sprachraum. In: "Germanistische Linguistik in Rumänien 1958-1983. Eine Textauswahl", hrsg. von H. Kelp, mit ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon … einem Vorwort von G. Klaster-Ungureanu, Bukarest: Kriterion 1993, S. 270-289 (dass. in: "Neuer Weg", 17.12 und 23.12.1977; 7.1. und 14.1.1978) 4. Aufbau des Lexikons. Im deutsch-rumänischen Austriazismenlexikon werden die streng alphabetisch geordneten Lemmata mit ihrer grammatischen Beschaffenheit beschrieben, bedeutungsgemäß erklärt und schließlich ins Rumänische übersetzt. Die Verben – auch die regelmäßigen – erscheinen mit ihren vollständigen Stammformen und dem verbspezifischen Hilfsverb, die Substantive mit den gängigen Endungen für G.Sg. und N.Pl. Fallweise werden morphosyntaktische, sprachschichtliche und stilschichtliche Angaben gemacht, z.B. ob das betreffende Verb unpersönlich ist oder hauptsächlich im Infinitiv oder im Partizip vorkommt, ob ein Substantiv in der Regel im Plural gebraucht wird, ob das behandelte Stichwort einer Fach- oder Sondersprache gehört bzw. pejorativ, poetisch usw. verwendet wird. Zum Unterschied von einem für deutsche Muttersprachler konzipierten Lexikon, das auch eine diatopische Komponente zu berücksichtigen hat, wird in unserem Wörterbuch bloß zwischen standardsprachlich und dialektal im weiten Sinne des Wortes unterschieden, ohne ferner zwischen donau- und alpenösterreichisch, zwischen vorarlbergisch und wienerisch usw. zu differenzieren. Wörter mit in Österreich landschaftlich restringiertem Gebrauch sind einfach mit reg (=regional) markiert. In den meisten Fällen steht anschließend die rumänische Übersetzung. Bloß in den Fällen, wo das Lemma sozial-politisch-administrative oder landeskundliche Sachen bezeichnen – etwa Bräuche, Sitten, Institutionen, Speisen usw. –, für die es im Rumänischen keine Entsprechung gibt, werden Erklärungen statt Äquivalente angegeben, z.B. Apfelpatzen 'g`lu[tele din aluat cu mere rase', Ausgedinge 'parte p`strat` de p`rin]i dup` ce [i-au cedat averea copiilor', Belangsendung 'emisiune (radio/TV) difuzat` într-un spa]iu de emisie acordat gratuit unei forma]iuni politice, sindicale etc., de al c`rei con]inut r`spunde aceasta' usw. Von Fall zu Fall werden – nach einer Raute – auch idiomatische Wendungen angeführt, z.B. Bankerl b`ncu]` # ein ~ reißen a da ortul popii. Am Ende einer Lemmabeschreibung wird in runden Klammern nach der Abkürzung Germ für 'Germania' die bundesdeutsche Entsprechung angegeben, zumal der rumänische Deutschlerner heutzutage eher am Bundesdeutschen orientiert ist, aus Gründen, deren Aufzählung den Rahmen des heutigen Beitrags sprengen würde. Wo das nicht der Fall sein kann, weil es nämlich keine bundesdeutsche Entsprechung für das betreffende Stichwort gibt, steht in Klammern nach der Abkürzung Expl für 'explica]ie' eine Erklärung: Beispiel 1: Bankomat (Germ Geldautomat, Bankautomat) Beispiel 2: Burenwurst (Expl grobe Brühwurst) Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/New York. Ammon, Ulrich (1998): "Plurinationalität oder Pluriarealität? Begriffliche und terminologische Präzisierungsvorschläge zur Plurizentrizität des Deutschen - mit einem Ausblick auf ein Wörterbuchprojekt." In: Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Peter Ernst und Franz Patocka. Wien, S. 313-322. Kelp, Helmut (1982–1984): Lexikalische Besonderheiten unserer deutschen Schriftsprache. 50 Zeitungsartikel im Neuen Weg, Bukarest, zwischen 6.2.1982 und 8.12.1984. Moser, Hugo (1985): Die Entwicklung der deutschen Sprache seit 1945. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. v. Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. Band 2. Berlin/New York. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.2), S. 1678-1707. Zehetner, Ludwig (²1998): Bairisches Deutsch. Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern. München. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 521 DIE PERZEPTION DER DIGLOSSIE VON IMMIGRANTEN in deutschsprachigen Ländern am Beispiel der Arabophonen in Österreich Agata S. Nalborczyk Einleitung In den letzten Jahrzehnten verließen immer mehr Menschen ihre Heimatländer und siedelten sich in anderen Staaten an. Am meisten wanderten und wandern sie aus Asien und Afrika nach Europa und Amerika aus. Viele von diesen Immigranten wählen die deutschsprachigen Länder als neue Wohnorte. Im Jahre 2001 gab es beispielsweise in Deutschland 7,81 1 Millionen Ausländer, was 9,5% der ganzen Bevölkerung (82 Millionen) ausmacht . Der Imigrationsstrom fließt natürlich auch in Richtung Österreich, wo im Jahre 2001 die Ausländer 2 9,1% der ganzen Bevölkerung ausmachten . Arabische Diglossie Unter den Immigranten in Österreich befinden sich auch Araber: Sie bilden eine Gruppe von mehr als 20.000 Personen. Die Arabophonen-Immigranten stammen aus den arabischsprachigen Gemeinschaften, deren soziolinguistische Situation sich durch klassische, d.h. sogenannte scharfe Diglossie charakterisiert. Der Begriff 'Diglossie' wurde von Charles A. Fergu3 son (1959) definiert: DIGLOSSIA is a relatively stable language situation in which, in addition to the primary dialects of the language (which may include a standard or regional standards), there is a very divergent, highly codified (often grammatically more complex) superposed variety, the vehicle of a large and respected body of written literature, either of an earlier period or in another speech community, which is learned largely by formal education and is used for most written and formal spoken purposes but is not used by any sector of the community for ordinary conversation. Ch. A. Ferguson verwendete für diese zwei Sprachvarietäten die Bezeichnungen 'high variety' (H) und 'low variety' (L). Die L-Variante/n herrscht/en weitaus im mündlichen Sprachgebrauch, die H-Variante weitaus im schriftlichen. Kinder erlernen von ihren Eltern nur die LVariante - sie ist ihre Erstsprache, die H-Variante muss erst in der Schule gelernt werden. Die H-Variante verfügt zwar über eine Fülle an angesehener geschriebener Literaturzeugnisse wird aber mündlich nie in der Familie oder im Bekanntenkreis verwendet. Grammatik und Wortschatz der beiden Sprachformen weisen Unterschiede auf. Bei den Lund H-Varianten handelt es sich um Sprachformen, die von den Mitgliedern der betreffenden 1 Statistisches Jahrbuch 2002, http://www.destatis.de/allg/d/veroe/proser217_d.htm, file stjb2_pdf, 12.10.2002 10:40, Statistisches Bundesamt http://www.destatis.de. 2 Statistische Nachrichten – Februar 2002, http://www2.statistik.gv.at/fachbereich_15/heft1.shtml, 5.10.02, 11:35. 3 Ch. A. Ferguson, Diglossia, “Word” 15:2, 1959, 325-340, 336. Die Perzeption der Diglossie von Immigranten in deutschsprachigen Ländern Sprachgemeinschaft zu derselben “Sprache“ zugerechnet werden, d.h. um Sprachformen, die dem gleichen Diasystem zugeschrieben werden. Die Diglossie herrscht im arabischen Sprachraum, wie Ch. A. Ferguson schreibt, “as far back 4 as our knowledge of Arabic goes”. Die arabischen Dialekte (und das gesprochene Arabisch der 5 Gebildeten – ESA ) gehören zu den L-Varianten (oder zu dem L-Diasystem), die arabische Standardsprache bildet die H-Variante. Anzumerken ist, dass die arabischen Dialekte heute von vielen Wissenschaftlern aufgrund anderer Herkunft und ihrer Unterschiede zum Standardarabisch als eine andere Sprache betrachtet werden. Das Neuarabische (die Dialekte und ESA) hat einen analytischen Charakter, das Standardarabische dagegen einen synthetischen 6 Charakter. Aber wegen eines großen Anteils an Analphabeten beherrscht nur ein Teil der Bevölkerung 7 aktiv die arabische Standardsprache überhaupt. Doch die Mehrheit der Mitglieder der arabischen Sprachgemeinschaften besityen eine passive Kompetenz (die Möglichkeit zu ver8 stehen). Österreichisch-deutsche Diglossie 9 Seit einigen Jahren findet der Begriff 'Diglossie' durch die Arbeiten von J. A. Fishman in einem größeren Umfang Anwendung, dass heißt, er wird auch auf Sprachrelationen bezogen, 10 die Ch. A. Ferguson als 'Standard-und-Dialekte' beschrieben hat. Zu solchen Sprachrelationen zählt man, außer der Schweiz (die schon von Ferguson als klassische Diglossie klassifiziert wurde) die Standard-Dialekt-Relationen im deutschsprachigen Raum. In der einschlägigen Fachliteratur wird solche soziolinguistiche Situation als Diglossie bezeichnet. Die sprachsoziologische Situation in Österreich charakterisiert sich ebenso wie in den anderen deutschsprachigen Ländern dadurch, dass die Mitglieder der Sprachgemeinschaft, einschließlich der Immigranten, differenzierte Sprachformen in verschiedenen Sprachsituationen und sozialen Kontexten verwenden: Hochdeutsch (Standardsprache), Umgangssprache, Dialekt. Obwohl es aber viele Ähnlichkeiten zwischen der arabischen und der 4 Ferguson, 326-327. T. F. Mitchell, Soziolinguistische und stilistische Aspekte des gesprochenen Arabisch der Gebildeten in Ägypten und der Levante, Berlin 1984. 6 O. Jastrow, Die Struktur des Neuarabischen, in: W. Fischer (Hrsg.), Grundriß der arabischen Philologie, T. 1, Sprachwissenschaft, Wiesbaden 1982, 141ff. 7 H. Wehr, Entwicklung und traditionelle Pflege der arabischen Schriftsprache in der Gegenwart, ZDMG 97 (N.F. 22), 1946, 32; W. Diem, Hochsprache und Dialekt im Arabischen, Wiesbaden 1974, 87; A.S. Kaye, Remarks on diglossia in Arabic. Well-defined vs. ill-defined, “Linguistics. An International Revue” 81, 1972, 52. 8 Wehr, 32. 9 J. A. Fishman, Bilingualism with or without diglossia. Diglossia with or without bilingualism, “Journal of Social Issues” 23:2, 1967, S. 29-38; J. A. Fishman, The sociology of language…, 226-299 und Societal bilingualism: stable and transitional, in: J. A. Fishman, Language in sociocultural change, Stanford University Press, Stanford, California 1972, 135152. 10 W. Besch, Entstehung und Ausprägung der binnensprachlichen Diglossie im Deutschen, in: W. Besch (Hrsg.) Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, de Gruyter, Berlin / New York 1983 – Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 2., 1399-1411; U. Ammon, Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz: das Problem der nationalen Varietäten, Berlin / New York 1995. 5 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 523 Agata S. Nalborczyk 11 deutschen-österreichi-schen Diglossie gibt, erkennt man zugleich einen großen Unterschied zwischen der arabischen und der deutschen/österreichischen Sprachsituation. Der wichtigste Unterschied zwischen der klassischen, stabilen und der weiten, unstabilen Diglossie besteht darin, dass es Mitglieder der Sprachgemeinschaft in der weiten Diglossiesituation gibt, die die Standardsprache als ihre erste Sprache von den Eltern erlernen (höhere Sozialschichten) und dass es keine scharfe Grenzen zwischen den funktionalen Domänen der 12 einzelnen Sprachvarianten gibt. Die Aufwertung und der zunehmende Gebrauch der Umgangsprache vor allem in den mittleren Gesellschaftsschichten der städtischen Bereiche und ihre Stellung als Bindeglied zwischen dem Dialekt und der Standardsprache bilden die charakteristischen Merkmale der öster13 reichischen (und allgemein der süddeutschen) Sprachsituation. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass es nach Meinung einiger Forscher d in Österreich keine Diglossie gibt, sondern dass die Sprachformen ein Kontinuum bilden, weil sie nicht voneinander getrennte Systeme, sondern Inventare von Varianten sind, zwischen denen 14 permanente Interferenzen bestehen. Aber für einen Ausländer, der in Österreich lebt, ist es vor allem wichtig, dass manche Mitglieder der Sprachgemeinschaft andere Sprachvarianten verwenden als jene, die während des Sprachkurses gelernt wird. Darüber hinaus gilt es, dass sie nicht alle Varianten verstehen können. Umfrage Erkennt man die Unterschiede zwischen der arabischen und der österrichisch-deutschen Sprachsituation, erscheint es als äußerst interessant, der Frage nachzugehen, wie die Arabophonen-Immigranten, die aus der klassischen Diglossiesituation stammen, die österreichische, unstabile Diglossie beurteilen. Ist oder war das Vorhandensein der verschiedenen österreichischen, deutschen Sprachformen eine Schwierigkeit für sie? Bemerken sie Unterschiede zwischen der arabischen und der deutschen Diglossie? 15 Im Jahre 2000 wurde von mir eine mikrosoziolingusitische Umfrage bei einer Gruppe von Arabophonen, die seit längerer Zeit in Österreich leben, durchgeführt. Als Informanten wurden 11 A. S. Nalborczyk, the similarities and commonalities in the sociolinguistic situation of the Arabic and German language areas, “TRANS” 14, 2003, http://www.inst.at/trans/14Nr/. Andere Unterschiede: ebd.; M. H. Ibrahim, Linguistic distance and literacy in Arabic, “Journal of Pragmatics”, 7:5, 1983, 509; P. Wiesinger, Standardsprache und Mundarten in Österreich, in: G. Stickel (Hrsg.), Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven, Berlin / New York 1990, 228-229. 13 P. Wiesinger, Die deutsche Sprache in Österreich. Eine Einführung, in: P. Wiesinger (Hrsg.), Das österreichische Deutsch, Wien / Köln / Graz 1988, 9-30. 14 z. B. I. Reiffenstein, Sprachebenen und Sprachwandel in österreichischen Deutsch der Gegenwart, in: H. Kolb, H. Lauffer (Hrsg), Sprachliche Interferenz, Festschrift für Werner Betz zum 65. Geburtstag, Tübingen 1977, 175-183; und I. Reiffenstein, Deutsch in Österreich, in: I. Reiffenstein, H. Rupp (Hrsg.) Tendenzen, Formen und Strukturen der Deutschen Standardsprache nach 1945, Marburg 1983, 15-27. 15 Die mikrosoziolinguistiche Umfrage ermittelt keine statistischen, quantitativen Ergebnisse, sondern qualitative; P. Atteslander, Befragung, in: U. Ammon, N. Dittmar, K. J. Mattheier (Hrsg.), Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, Berlin / New York 1988 - Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 3:2, 945-946; N. Dittmar, Quantitative – qualitative Methoden, in: Sozioliguistik: Handbuch, 3:2, 879. Die Mikrosoziolinguistik untersucht die Verwendung von gegebenen/konkreten Sprachvarianten (in Abhängigkeit von den soziologischen Variablen wie z.B. Alter, Generation, Geschlecht), Erwerbung und Veränderung von der Sprachkompetenz, Spracheinstellungen usw.; J. A. Fishman, Domains and relations between microand macrosociolinguistics, in: J. J. Gumperz, D. Hymes (Hrsg.), Directions in sociolinguistics, the ethnography of communication, New York / Chicago 1972, 435-453. 12 524 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Die Perzeption der Diglossie von Immigranten in deutschsprachigen Ländern Araber gewählt, die Hochdeutsch recht gut beherrschten, so dass sie nicht nur Fragen der Umfrage verstehen konnten, sondern auch imstande wären, die sprachsoziologische Situation in Österreich zu beurteilen. Mit meiner Umfrage wollte ich aber vor allem prüfen, ob die arabische Diglossie der Grund dafür sein könnte, dass die arabischen Immigranten in der zweiten, dritten Generation ihre Muttersprache verlieren würden. 1. Zum Bild der österreichischen Diglossie bei den Arabophonen-Immigranten Die Arabophonen, die Informanten meiner Umfrage, waren sich in der Regel des Vorhandenseins der Diglossie in den arabischen Ländern bewusst, obwohl manche von ihnen, insbesondere die Ungebildeten, beim Erkennen und Bezeichnen der jeweils in einer Sprachsituation gesprochenen arabischen Sprachvariante Schwierigkeiten hatten. Die Diglossie in Österreich beurteilten sie im allgemeinen als normale Sprachsituation. Fast alle Informanten dachten, dass das Vorhandensein von mehr als einer Sprachvariante in der gegebenen Sprachgemeinschaft allgemein ist. Einige von ihnen waren sogar erstaunt darüber, dass in der Umfrage überhaupt danach gefragt wurde. Sie wunderten sich über meine Beschreibung der polnischen Sprachsituation, wo es keine Diglossie gibt: die Polen benutzen dieselbe Sprachvariante, wenn sie schreiben und reden, und in den offiziellen und unoffiziellen Sprachsituationen. Zwei Informanten beurteilten aber die Diglossiesituation in Österreich aus ästhetischen Gründen als nicht normal: ihrer Meinung nach ist es “unschön“, wenn die österreichische L16 Variante benutzt wird. Auf die Frage, ob sich die Informanten des Vorhandenseins der Diglossie in Österreich vor ihrer Ankunft in dieses Land bewusst waren, antworteten alle, dass sie sich dessen nicht bewusst gewesen seien. In ihrer Antwort begründeten sie diesen Umstand dadurch, dass sie darüber einfach nicht nachgedacht hatten. Es fällt auf, dass eine solche Antwort auch zwei andere Informanten gaben, die als einzige von der ganzen Gruppe noch vor ihrer Ankunft in Österreich ihr Deutsch (gut) gelernt hatten. Darüber hinaus wurde vermerkt, dass der Vater des einen von den beiden Informanten in der DDR studiert, dem Sohn jedoch über die deutsche diglossische Situation und ihre Folgen nichts erzählt habe. Dies ist meiner Meinung nach darauf zurückzuführen, dass das Vorhandensein der Diglossie für die Arabophonen eine normale Situation ist, und dass sie deswegen darin keinen Anlass zur weiteren Diskussion erblicken. Die nächste Frage betraf das Problem, ob das Vorhandensein von mehreren Sprachformen in Österreich den Arabophonen Schwierigkeiten bereiten oder nicht. Von 21 Informanten stellten 9 sofort fest, dass das Vorhandensein einer L-Variante neben dem Hochdeutschen (das sie in den Sprachkursen erlernt haben) am Anfang ihres Aufenthaltes in Österreich zu Verständigungsschwierigkeiten, insbesondere im Umgang mit den ungebildeten Österreichern, führte. Ein Student gab folgendes Beispiel: immer wenn er Bratwurst kaufte, fragte ihn der Verkäufer im Wienerischen Dialekt: “Einpacken oder gleich essen?“. Der Student (der schon in Libanon Deutsch gelernt hatte) wurde nervös, weil er die Frage nicht richtig verstehen konnte und antwortete immer: “Beides“ - er stellte sich vor, die Frage bezihe sich darauf, ob er Senf 16 Beide von ihnen waren Frauen und ihre Antworten waren immer sehr emotionell, also auf das Gefühl bezogen. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 525 Agata S. Nalborczyk oder Ketchup nehmen wollte. Einige von den Informanten erwähnten auch, dass sie sich aufgeregt hatten, wenn sie nicht weiter verstanden haben. In solchen Situationen (meistes bei dem Einkaufen, in einer Reparaturwerkstatt oder im Autoservice) haben sie immer mit “Ja!“ geantwortet. 12 Informanten, die die Antwort gebene haben, dass das Vorhandensein von mehreren Sprachformen ihnen keine Schwierigkeiten bietent, lebten schon seit langem (15-20 Jahren) in Österreich. 8 von ihnen fügten jedoch nach einer längeren Überlegung hinzu, dass diese Situation ihnen zwar in ihrer Gegenwart keinerlei Schwierigkeiten mehr bereite, dass sie jedoch am Anfang ihres Aufenthaltes im neuen Land, in Österreich die L-Varianten überhaupt nicht verstehen konnten. Aus der Umfrage läßt sich schließen, dass die Mehrheit von den Arabophonen-Informanten (15 von 21) in der Verständigung mit den Österreichern Schwierigkeiten haben, obwohl sie die Diglossiesituation in Österreich als normale Sprachsituation beurteilten. Für einen Teil von ihnen stellt die Diglossie immer noch ein Problem dar. 2. Spracheinstellungen der Arabophonen zu der L-Variante der deutschen Sprache in Österreich Die meisten von den Informanten haben ihr Deutsch in den Sprachkursen gelernt und beherrschten also die deutsche/en L-Variante/en nicht. Sie hatten, wie ausgeführt, Schwierigkeiten beim Verstehen dieser Sprachformen. Nur wenige, und zwar diejenigen, die seit mehr als 20 Jahren in Österreich leben und dazu noch eine/en ÖsterreicherIn als Ehepartner haben, sind imstande, diese Sprachvariante zu sprechen. Eine andere Frage betraf das Problem, ob es den Informanten gefällt, wenn Österreicher ihre L-Variante benutzen. 8 Informanten beantworteten, dass dies ihnen gefalle, andere 7 wiederum knüpften ihre Antwort an die Sprachsituation an. Einer von ihnen sagte: Es gefällt mir, wenn sich jemand in dieser Sprachform nicht an mich wendet, wenn er aber zu mir in dieser Sprachform spricht, gefällt es mir nicht. Meiner Meinung nach soll man diese Antwort folgendermaßen verstehen, dass es ihm nämlich immer noch Schwierigkeiten bereitet, die österreichischen L-Varianten zu verstehen. Andere Informanten brachten dasselbe noch deutlicher zum Ausdruck: Es gefällt mir, wenn ich verstehe; wenn ich aber nicht verstehe, gefällt es mir nicht, wenn jemand diese Sprachform benutzt. 6 Informanten hatten eine negative Haltung zu der/den L-Variante/en und ihrer Verwendung im Gespräch. Sie äußerten sich folgendermaßen: Das ist eine vulgäre Sprache, die nur in einem Heurigen gut klingt; Das ist eine ordinäre Sprache, die Sprache der Ungebildeten. Einer von meinen Informanten, der keinen Deutschkurs besucht hatte und die ganze Zeit die österreichische L-Variante (Umgangssprache) benutzte, äußerte sich auch in diesem Sinne. 8 Informanten gestanden ihre negative Einstellung zu den österreichischen L-Varianten in den Massenmedien, erstaunlicherweise waren sie nicht dieselben, die eine solche Haltung zu diesen Sprachformen im Gespräch hatten. Alle Informanten bekundeten aber ihre positive Einstellung zu der Verwendung der arabischen L-Variante/en im Gespräch und in den Massenmedien und knüpften die Benutzung dieser Sprachformen nicht an die Bildung des Sprechers an. Die Beurteilung der Verwendung 526 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Die Perzeption der Diglossie von Immigranten in deutschsprachigen Ländern der deutschen L-Varianten war demzufolge keinesfall einhellig. Aufgrund dieser Umfrage läßt sich also behaupten, dass die Arabophonen-Immigranten die deutsche Sprache schneller gelernt haben als die Nuancen der sprachsoziologischen Situation, obwohl intuitiv manche von ihnen diese Situation gut beschreiben konnten. 3. Bewusstsein von den Unterschieden zwischen der arabischen und österreichischen Diglossie Die meisten Informanten (14) bemerken keine Unterschiede zwischen der arabischen und österreichischen Diglossie, sie antworteten: „Man benutzt in Österreich die H- und L-Varianten in denselben Situationen und Kontexten wie im arabischsprachigen Gebiet“. Aber 8 von ihnen ergänzten nach längerer Überlegung und nach meinen zusätzlichen Fragen, dass jedoch in Österreich die Hochsprache mehr als in den arabischen Ländern gesprochen werde. Die anderen (7) bemerkten diesen Unterschied schneller. Obwohl die Informanten meistens keine Unterschiede zwischen der arabischen und österreichischen Diglossie wahrnahmen, beantworteten sie intuitiv die Frage nach der Sprache in der Schule wiederum richtig. Für die deutsche Schule wählten sie Hochdeutsch als Instrument der Kommunikation zwischen dem Lehrer und den Schülern. Sie waren sich dessen bewusst, dass sowohl der Lehrer als auch die Schüler meistens imstande sind, diese Sprache im Gespräch zu benutzten. Für die arabische Schule wählten sie häufig die L-Variante, weil es für sie klar war, dass weder der Lehrer noch die Schüler sehr oft imstande sind, arabische H-Variante problemlos zu verwenden. Zusammenfassung Die meisten Arabophonen sind sich der Unterschiede zwischen der arabischen und der österreichischen Diglossie nicht bewusst, sie denken, dass man in Österreich die L-Variante/en in denselben Situationen und Kontexten benutzt. Manchmal dient aber die arabische, manchmal jedoch die österreichische Sprachsituation als Muster. Intuitiv aber, wenn sie auf Einzelheiten eingehen, spüren sie die realen Sprachrelationen heraus. Aus der Umfrage läßt sich also schließen, dass die Arabophonen-Immigranten die deutsche Sprache schneller gelernt haben als die Nuancen der sprachsoziologischen Situation. Obwohl die Immigranten aus den arabischen Ländern die österreichisch-deutsche Diglossie als normale Sprachsituation beurteilen, weil sie in einer anderen, arabischen Diglossiesituation gewachsen sind, bereitet sie der Mehrheit von ihnen Schwierigkeiten bei der Verständigung mit den Österreichern. Allgemein bekunden sie ihre positive Einstellung zu der L-Variante, dennoch gibt es ein unabdingbares Erfordernis, eine reale Bedingung: Sie müssen nämlich alle Sprachformen aus dem Sprachrepertoire der neuen Gemeinschaft verstehen. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 527 f o r u m SONDERASPEKTE VERBALER KOMMUNIKATION Zum Geleit Kommunikation ist keinesfalls eine Erfindung der modernen Gesellschaft, doch wäre die Existenz der Gesellschaft ohne sie nicht zu denken, denn ⇒ Kommunikation führt zusammen, sie ermöglicht die Bildung von Gemeinschaften; ⇒ Kommunikation hält zusammen, sie ist die erste Bedingung für das Bestehen der Gemeinschaften; ⇒ Kommunikation lässt wachsen, sie ermöglicht wichtige Schritte in der Entwicklung der Gemeinschaften. Die Gesprächsanalyse untersucht die Bedingungen, unter denen sich Kommunikation entwickelt, welche Regeln man in der sprachlich-sozialen Interaktion befolgt, wie man sich zu verhalten hat, wenn man erfolgreich kooperieren will, welche Mittel Gesprächspartner einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. In ihrem Vorgehen fügen sich die Mitglieder der Sprachgemeinschaft - wenn sie sich in Gesprächen als Interaktionspartner gegenüberstehen - den allgemein geltenden Konventionen. Um diese Tatsachen wissenschaftlich angemessen zu beschreiben, müssen alle Faktoren, die auf den Kommunikationsakt Einfluss ausüben, wahrgenommen und ihrer Bedeutung nach hierarchisiert werden. Der Analytiker wird durch die Wiederholbarkeit aller Einflussfaktoren dank gleichen Parametern und ihrer Messbarkeit an präzisen Maßstäben unterstützt. Wie hat man aber zu verfahren, wenn die Komplexität des untersuchten Sachverhaltes auch eine ununterbrochene Veränderbarkeit und eine Vielfalt der Gestaltungsformen aufweist? Am Raster der Beschreibung von Gesprächen werden Regularitäten und Ähnlichkeiten erkannt, Bedingungen für die Einschätzung von Erwartungen sowohl beim Sprecher als auch beim Hörer, verschiedene Strategien, die zum erstrebten Ziel führen sollen. Trotzdem bewährt sich auch die Annahme, die kommunikativen Akte seien eher wahre Kunstwerke zwischenmenschlicher Beziehungen mit eigener Persönlichkeit. Dabei kann nie vorausgesehen werden, wie die Kommunikationspartner mit den ihnen zur Verfügung stehenden (sprachlichen, parasprachlichen und aussersprachlichen) Mitteln umgehen werden, um ihr Ziel zu erreichen. Ein Faktor ist dabei ausschlaggebend: die Emotionen, die jedes menschliche Handeln (folglich auch die Kommunikation) begleiten und entscheidend beeinflussen. In den Beiträgen auf dem im Rahmen des VI. Kongresses der Germanisten Rumäniens in Sibiu/ Hermannstadt eingerichteten Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation wurden einige Aspekte der vielfältigen Formen zwischenmenschlicher Kommunikation mit ihren Besonderheiten im Einsatz von Kommunikationsmitteln zur Diskussion gestellt. Einige Beiträge dieses Forums legen wir hiermit vor. Doina Sandu ASPEKTE DER KOMMUNIKATION in den internationalen Verhandlungen Florentina Alexandru International verhandeln Das Schlagwort der modernen Wirtschaft ist die Globalisierung. Das bedeutet in erster Linie die Erweiterung des Spielfeldes aller wirtschaftlichen Tätigkeiten. Die Unternehmen beschränken ihre Beziehungen nicht mehr nur auf das Inland, sondern sie überschreiten ihre nationalen Grenzen, um nach Partnern, Arbeitskräften, Finanzquellen zu suchen, um neue Märkte zu erschließen. Das Ziel aller Unternehmen bleibt aber weiterhin die Maximierung des 1 Gewinns durch die Minimierung der Kosten . In dem neuen internationalen Kontext können aber eben diese Kosten so hoch werden, dass sie die Globalisierung erschweren oder sogar zum Scheitern dieses Prozesses führen können. Vor allem stehen die Führungskräfte jetzt vor neuen Anforderungen, zu deren wichtigsten die Fähigkeit zählt, überall in dieser Welt erfolgreich verhandeln zu können, d.h. das zu erreichen, was man sich vorgenommen hat. Die internationalen Verhandlungen setzen solche Kommunikationsformen voraus, die eine so weit wie möglich reibungslose Abwicklung der Geschäfte ermöglichen. Der Wechsel vom heimischen auf das internationale Spielfeld bringt sehr viele Veränderungen mit sich, vor allem in dem Verhalten und in dem Kommunikationsprozess der Geschäftsleute. Das Problem liegt in der Betrachtungsweise dieses neuen komplexen Kommunikationsnetzes. Manche Unterhändler betrachten die internationalen Geschäftsbeziehungen als ein unbekanntes Handlungsfeld, wo fremde Kulturen, Sprachen, Mentalitäten und Traditionen die Verhandlungen riskant und sogar unmöglich machen. Andere Firmenvertreter setzen die internationalen mit den heimischen Transaktionen gleich, ohne daran zu denken, dass es manche Faktoren gibt, die diese beiden Verhandlungsformen radikal voneinander unterscheiden. Jeder Verhandlungsprozess ist anders und verläuft unter unterschiedlichen Bedingungen, die die Verhandlungsweisen prägen. Deswegen gibt es kein Rezept, keine festen Regeln, die die Unterhändler erfolgreich machen können. Der Erfolg jeder Verhandlung hängt von dem Geschick jedes Verhandlers ab, diejenigen Faktoren, die den Kommunikationsprozess entscheidend beeinflussen können, rechtzeitig zu identifizieren, zu bewerten und zu interpretiren. Die kulturelle Heterogenität der Interaktanten im internationalen Kommunikationsprozess Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen versuchen sich an der Definition des Begriffs 2 der interkulturellen Kommunikation , ohne dass aber die beiden Bestandteile, Kultur und Kommunikation, bis jetzt erschöpfend definiert werden zu können. Die Kultur ist ein komplexes System mit mehreren sich überschneidenden Strukturebenen, ein historisch überliefertes System von Symbolen und Bedeutungen, die eine bestimmte Mobilität, Funktion und 1 2 Dazu zählen auch die Ausbildungskosten, die für die interkulturellen Trainings erheblich hoch sein können. Deswegen verzichten viele Unternehmen darauf. So ist der Fall in den meisten ehemaligen kommunistischen Ländern aus Europa. Vgl. Harms 1973, Prosser 1978, Maletzke 1984, Rehbein 1985, Knapp / Knapp-Potthoff 1990, Hinnenkamp 1990, Gudykunst / Kim 1992. Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru Adaptationsfähigkeit aufweisen. Das führt zu einer Dynamik und Durchlässigkeit des ganzen kulturellen Systems, welches ständig unter dem Druck der externen Einflussfaktoren, aber auch der internen veränderlichen Größen steht. Die interkulturelle Perspektive setzt einen erweiterten Kulturbegriff voraus. Unter Kultur versteht man nicht nur den geteilten Wissensvorrat der Kulturteilnehmer, “aus dem sich Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in der Welt verständigen, mit Inter3 pretationen versorgen” , so dass sie innerhalb und außerhalb des eigenen kulturellen Systems angemessen handeln und kommunizieren können. Die Kultur umfasst auch das, was dem alltäglichen Wirklichkeitsbereich angehört: Werte, Normen, Einstellungen, Stereotype, Verhaltensweisen, Bräuche, Sitten, Gewohnheiten. Die Kultur ist also nicht nur das Schöne und das Erhabene, sondern auch die Lebenskultur, d.h. ein Verhaltens und Handlungsmuster, nach dem sich die Kulturteilnehmer in ihrem Alltagsleben richten. Die Kultur spielt die Rolle eines Orientierungssystems, das zum einen das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln der Kulturteilnehmer beeinflußt, und zum anderen ihre Zugehörigkeit zu einer Nation, Gesellschaft, Gruppe oder Organisation bestimmt. Die Struktur eines Orientierungssystems ist auf bestimmte Maßstäbe angewiesen. Diese Orientierungsmaßstäbe ermöglichen den Kulturteilnehmern ihre Umwelt zu bewältigen. In fremden kulturellen Kontexten greifen die Kulturmitglieder immer auf ihre vertrauten 4 Orientierungssysteme und vor allem auf ihre typischen zentralen Kulturstandards zurück, damit sie leichter die potentiell konflikthafte interkulturelle interpersonale Begegnung überwinden und sich der neuen Situation anpassen können. Die Interaktionsprobleme nehmen immer zu, wenn die Interaktanten, ausgehend von einer scheinbaren Identität von Kulturen, ein hohes Maß an Ähnlichkeit im Denken, Interpretieren und Handeln erwarten, aber große Unterschiede erfahren. Wie die Kulturen gegeneinander abgegrenzt werden können, ist eine Frage, 5 die in den meisten theoretischen Arbeiten zur interkulturellen Kommunikation zur Diskussion kommt, und die letzten Endes nicht beantwortet wird. Abgrenzungskriterien wie Staatsgrenzen, Nationalität, gemeinsamer relativ homogener Wissensvorrat, Sprachgemeinschaft können Kultursysteme nicht genügend voneinander unterscheiden. Jedes Individuum, das einem Kultursystem angehört, verfügt aufgrund seiner eigenen und der tradierten Erfahrungen und infolge der Interaktionen in Gruppen, Gesellschaften und Organisationen über eine eigene Art, die Umwelt wahrzunehmen, sie zu interpretieren und zu kategorisieren und entsprechend der Situation angemessen zu handeln. Das erklärt die Heterogenität innerhalb desselben Kultursystems. Der Grad der Heterogenität hängt von der kommunikativen Kompetenz des Individuums ab. Je besser man diese Fähigkeit ausdrücken kann, desto größer wird der Grad der Heterogenität. Die individuellen kommunikativen Fähigkeiten können je nach den Forderungen des Systems funktional oder disfunktional sein. Man unterscheidet drei Kompetenzstufen: ⇒ eine minimale Kompetenz (Die kommunikativen Fähigkeiten des Individuums sind geringer als diejenigen, die von einem bestimmten System verlangt werden. Solche Personen befinden sich außerhalb des sozialen Systems und sie können nicht einmal innerhalb des Systems angemessen handeln und kommunizieren.) 3 Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt am Main, S.209. Die Kulturteilnehmer betrachten die Kulturstandards als Richtlinien des Handelns. Für eine Kultur sind sie typisch und verbindlich (vgl. Thomas, A. 1991). 5 Vgl. Goodenough 1971, Gumperz 1977, Galtung 1985, Knapp / Knapp-Potthoff 1990, Knapp 1992, Müller 1991, Loenhoff 1992, Hofstede 1993. 4 530 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen ⇒ eine zufriedenstellende Kompetenz (Das Individuum ist im System gut verankert, es ist gut sozialisiert, es kann leicht innerhalb des Systems, aber nicht außerhalb dessen, handeln und kommunizieren.) ⇒ eine optimale Kompetenz (Die kommunikativen Fähigkeiten des Individuums sind sehr umfangreich. Das Individuum handelt und kommuniziert leicht innerhalb und außerhalb des Systems abhängig von seinen Absichten.) In den theoretischen und empirischen Studien über internationales Verhandeln wird immer auf kulturelle Unterschiede als das größte Hindernis in der Abwicklung der Auslandsgeschäfte hingewiesen. Kulturelle Unterschiede sind sicherlich ein wichtiges Element bei internationalen Verhandlungen, aber sie sind nicht der einzige Faktor. Jede Verhandlung wird von einer Unzahl verschiedener Faktoren auf viele verschiedene Weisen geprägt. Kultur und Wirtschaft gehören auf den ersten Blick nicht zusammen. In unserem Denken ist die Kultur gewöhnlich das Gegenteil der Wirtschaft. Die beiden Systeme stehen sozusagen diametral zueinander. Trotzdem sind alle, die in dem Wirtschaftsbereich tätig sind, zunächst Kulturträger eines kulturellen Systems, dem sie im Prinzip von Geburt angehören. Ihre arbeitsbezogenen Grundeinstellungen werden von bestimmten Werten beeinflußt, die für einen Kulturkreis kennzeichnend sind. Hofstede unterscheidet vier sozialpsychologische Dimensionen, 6 die allen Kulturen gemeinsam seien : Distanz zu bzw. Abhängigkeit von Autoritäten, Individualismus bzw. Kollektivismus, Maskulinität bzw. Feminität und Ambiguitätstoleranz bzw. Unsicherheitsvermeidung. Die Werte, die als Grundlage dieser Dimensionen zu betrachten sind, und ihre Ausdrucksweisen, wie z. B. Kommunikationsstrategien, Gesprächsverhalten, Verhandlungsstil, unterscheiden die Kulturen voneinander. In interkulturellen Begegnungen benötigen die Interaktanten ein umfangreicheres Wissen über die kulturelle Abhängigkeit von Verhaltens-, Handelns- und Kommunikationsstrategien, so dass sie die kulturell bedingten Abweichungen rechtzeitig erkennen und verarbeiten können. Die möglichen Abweichungen weisen offensichtlich auf die Heterogenität der Interaktanten hin. Der Grad der Heterogenität nimmt zu, wenn die Interaktanten aus ganz entgegengesetzten Kultursystemen kommen, d.h., dass die grundlegenden Werte der schon genannten sozialpsychologischen Dimensionen im Gegensatz zueinander stehen. Andere Faktoren, die den Kommunikationsprozess in interkulturellen Begegnungen bestimmen und zur Heterogenität der Interaktanten beitragen, sind: die Zugehörigkeit zu einer 7 Hoch- oder Niedrig-Kontext-Kultur und das Zeitverständnis. Diese Faktoren beziehen sich auf ganz wichtige Aspekte des Alltagslebens wie Klarheit und Präzision (Hoch-Kontext-Kulturen) bzw. Ambiguität im sprachlichen Ausdruck (Niedrig-Kontext-Kulturen), Lebensrhythmus und Handlungsorganisation. Die letzten zwei Aspekte hängen von dem linearen oder monochronen und von dem zirkulären oder polychronen Zeitkonzept der Interaktanten ab. Die Berufstätigen einer Nation sind durch die Ausübung ihrer Berufe Mitglieder unter8 schiedlicher Organisationen. Jede Organisation verfügt über bestimmte Praktiken , die ihre eigene Kultur definieren und die die Unternehmen voneinander unterscheiden. Die Kulturteilnehmer eines bestimmten Kultursystems besitzen einen gemeinsamen, relativ homogenen 6 Obwohl Hofstedes Studie sehr umfangreich ist und eine beeindruckende Datenbasis anbietet, sind die Ergebnisse, vor allem für die Länder, die nicht in die Forschung einbezogen wurden, nur teilweise relevant. Gemeint sind hier die europäischen Länder des ehemaligen Ostblocks, die mehrere politische und wirtschaftliche Umwandlungen nur in dem letzten Jahrhundert erlebt haben. Das hatte und hat noch offensichtlich Auswirkungen auf die Wertesysteme und implizit auf die soziopsychologischen Dimensionen dieser Kulturen. 7 Vgl. Hall 1976. 8 Vgl. Hofstede 1993. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 531 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru Wissensvorrat und ein typisches, für jeweilige Kultur allgemeingültiges Wertesystem. Das bringen die Berufstätigen in die Organisation mit. Mit dem Eintritt in einen Beruf müssen sie aber auch die Elemente der Unternehmenskultur, also die Praktiken, übernehmen. Die Berufstätigen sind also auf der Makroebene die Mitglieder einer Kultur und auf der Mikroebene die Mitglieder einer Organisationskultur. 9 Die verschiedenen Strukturmodelle der Organisationen erklären die Verhaltens-, Handelnsund Kommunikationsstrategien innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Bis vor kurzem konnte man noch von homogenen Organisationen sprechen, die durch bestimmte Verhaltenserwartungen ein Klima des Vertrauens erzeugten. Das erleichterte natürlich in der ersten Linie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern der Organisation. Unter den Globalisierungsbedingungen kann man aber von einer solchen Stabilität nicht mehr sprechen. Bei den multinationalen Organisationen, die in mehreren Kulturräumen aktiv sind und mit einer Vielfalt von Wertesystemen konfrontiert werden, ist die Homogenität keine Voraussetzung mehr. Der Grad der Heterogenität hängt von dem Gleichgewicht von Identität und Differenz innerhalb einer multinationalen Organisation ab. Die Interkultur als Verbindungsfläche in internationalen Begegnungen Die Globalisierung ist ohne internationale Kommunikation kaum denkbar. Die internationale Kommunikation ist heutzutage zur Voraussetzung wirtschaftlichen Erfolgs geworden. Jeder Kommunikationsprozess beruht auf dem schon klassisch gewordenen linearen Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver, das einen Sender und einen Empfänger, einen Enkodierungs- und einen Dekodierungsprozess, eine Nachricht und eine potentielle Störquelle umfasst. Der Prozess ist nur von dem Sender gesteuert, er ist also einseitig. Das bildet nur das Gerüst der Kommunikation, denn der Kommunikationsprozess ist viel komplexer. Die Verhandlung ist die direkte, face-to-face Begegnung zwischen zwei Parteien, die ein bestimmtes Ziel erreichen möchten.Wir sprechen hier von einer zweiseitigen interpersonalen arbeitsbezogenen Kommunikation. Die Interaktanten spielen die Rollen des Senders und des Empfängers, aber die Rollen sind nicht fest, sie haben eine Dynamik, weil die Kommunikationsbeteiligten diese Rollen ständig wechseln können. Die Themen der Geschäftsgespräche beziehen sich auf den Arbeitsprozess einer Organisation und deswegen betrachtet man auch die Kommunikation als arbeitsbezogen. Als interkulturelle Kommunikation bezeichnet man hier die interpersonale Interaktion zwischen Angehörigen verschiedener Kultur- und Sprachräume. Damit sie sich verständigen können, muss zumindest einer von denen eine Fremdsprache sprechen, oder beide müssen sich einer lingua franca bedienen. Als Vertreter einer Kultur werden die Interaktanten ihre sozialen Identitäten gegenüber den personalen hervorheben. Die interkulturelle Kommunikation im wirtschaftlichen Bereich erfordert ein genaueres Eingehen auf die Arbeitsmethoden, Denk- und Handlungsweisen und Lebensgewohnheiten der Partner. Das Profil der Unterhändler, die in verschiedenen Kulturräumen tätig sind, umfasst folgende Komponente: ⇒ fachliche Kompetenz im Bereich der Wirtschaft ⇒ interpersonale Kompetenz (Die Fähigkeit der Interaktanten den interpersonalen Kommunikationsprozess in einer bestimmten Kommunikationssituation erfolgreich zu führen.) 9 Ausgehend von den soziokulturellen Dimensionen Machtdistanz und Unsicherheitsvermeidung unterscheidet Hofstede vier Strukturmodelle: die Pyramide, die gut geölte Maschine, die Familie und den Wochenmarkt. 532 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen ⇒ kommunikative Kompetenz (Hier geht es zum einen um die persönlichen Eigenschaften, wie Flexibilität, Leistungsbereitschaft, Verhandlungsgeschick, Überzeugungskraft, Teamfähigkeit, und zum anderen um die Fähigkeit Verhandlungen erfolgreich auch in anderen Sprachen zu führen.) ⇒ interkulturelle Kompetenz (Die Fähigkeit die kulturellen Ähnlichkeiten und die Differenzen in internationalen Begegnungen zu erkennen und anhand der Interkultur die richtigen Kommunikationsstrategien auszuwählen, damit die Ziele der Verhandlung erreicht werden können.). Im Folgenden soll versucht werden, ein interkulturelles Kommunikationsmodell in internationalen Verhandlungen zu beschreiben und graphisch zu veranschaulichen (Abb. 1). Der Ausgangspunkt dieses Kommunikationsmodells ist die interpersonale arbeitsbezogene Kommunikation, die zwischen Angehörigen verschiedener Kulturräume stattfindet, die also als interkulturell definiert werden kann. Berücksichtigt werden nur die direkten Interaktionen zwischen den Vertretern verschiedener Organisationen der Weltwirtschaft. Die Kommunikationspartner haben unterschiedliche Muttersprachen, so dass sie als Verkehrssprache entweder eine Fremdsprache oder eine lingua franca benutzen müssen. In dem ersten Fall ist die Kommunikation asymmetrisch, weil einer der Interaktanten über die Vorteile der Muttersprache verfügt. In dem zweiten Fall kann man die Kommunikation als symmetrisch bezeichnen, weil die ausgewählte Verkehrssprache eine Fremdsprache für alle Interaktanten ist. Diese Symmetrie hängt mit dem Grad des Beherrschens der Fremdsprache zusammen. Eine wichtige Rolle spielt auch die Fähigkeit der Interaktanten ihre Fachsprachkenntnisse mittels einer Fremdsprache zu übertragen. Jeder Kommunikationsprozess verläuft unter bestimmten Bedingungen, die von verschiedenen Faktoren beeinflußt werden. Diese Faktoren prägen sowohl die Enkodierungs- als auch die Dekodierungsprozesse der Interaktanten und wirken sich auch auf ihren Verhandlungsstil aus. Diese Einflussfaktoren bilden ein System mit drei Ebenen, die in Beziehung zueinander stehen. Die untere Ebene oder die Tiefenstruktur des Systems umfasst diejenigen Faktoren, die für eine bestimmte Kultur kennzeichnend sind und die die Entfaltung eines Individuums prägen. Die Elemente einer Kultur werden von den Individuen erlernt und im Prozess der Sozialisation internalisiert. In Anlehnung an dem Kommunikationsmodell von 10 11 Gudykunst und Kim entsprechen diese grundlegenden Faktoren den vier Filtern : dem kulturellen (dazu gehören Werte, Normen, Regeln, kognitive Schemas, Handlungsmuster) dem soziokulturellen (es geht um die soziale Identität der Interaktanten und um die Dimensionen Machtdistanz, Individualismus / Kollektivismus, Feminität / Maskulinität, Unsicherheitsvermeidung), dem psycho-kulturellen (dazu gehören Einstellungen, Vorurteile, Stereotype) und dem situativen (der physischen Umwelt). Die Organisationskultur bildet die mittlere Ebene des 12 Systems. Die corporate culture, definiert als “die kollektive Programmierung des Geistes” innerhalb einer Organisation, unterscheidet die Belegschaften der Unternehmen voneinander. Die Mitglieder jeder Organisation besitzen ein gemeinsames Wissen über die Arbeits- und Leistungsmentalität, über Praktiken, wie Konventionen, Gewohnheiten, Bräuche, Traditionen, Rituale, Symbole, die zum einen die Identität eines Unternehmens ausmachen, und zum anderen die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern, mit den Führungskräften und mit anderen Organisationen ermöglichen. Die Kultur einer Organisation steht unter dem Einfluss interner und externer Faktoren. Machtdistanz und Unsicherheitsvermeidung sind z. B. externe Faktoren, die die Struktur einer Organisation und die Beziehungen zwischen den Mitgliedern zueinander bestimmen. Die internen und externen Kommunikationsprozesse einer Organisation werden aber vor allem von den wirtschaftlichen Faktoren geprägt. Es geht um die wirtschaftlichen Ziele, um das Interesse 10 Es geht um das Organisationsmodell “Communicating with strangers”. “Mechanismus that delimit the number of alternatives from which we chose when we decode and encode messages” Gudykunst / Kim 1992: Communicating with Strangers, S.32. 12 Hofstede, G. (1993): Interkulturelle Zusammenarbeit, S.204. 11 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 533 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru an Mitarbeitern und an Kunden, um den Grad der Durchlässigkeit des Systems, um Gewinn und Kosten. Die Durchsetzung und die Anerkennung der Kultur einer Organisation hängt von ihrer wirtschaftlichen Kraft ab. Je stabiler ihre Lage in der National- und Weltwirtschaft ist, desto dauerhafter ist auch ihre Kultur. Die Lebensdauer einer Organisation kann kürzer oder länger sein, abhängig von dem wirtschaftlichen Kontext. Für viele Organisationen, die eine längere Stabilität aufweisen, ist ihre eigene Kultur schon ein Kennzeichen geworden, an dem man sie auf allen Märkten erkennen kann. physische Umwelt Ort – Zeit – Klima – Landschaft Arbeitsbezogene Kommunikation Organisationskultur B Organisationskultur AA Arbeitsmentalität Symbole, Rituale Interaktion Arbeitsmentalität Symbole, Rituale Traditi S Traditio Nachricht E Übertragungsmedium Fremdsprache Fachsprache Verbindungsfläche situative, fluide, temporäre Interkultur Nachricht Interaktion interpersonale Kommunikation Abb. 1 / Fortsetzung nächste Seite./ 534 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen Tiefenstruktur kognitive Schemas Handlungsmuster Werte, Normen, Regeln soziokulturelle Dimensionen soziale Identität relative Homogenität H E T E R O G E N I T Ä T Tiefenstruktur kognitive Schemas Handlungsmuster Werte, Normen, Regeln soziokulturelle Dimensionen soziale Identität relative Homogenität Abb. 1 Wegen der politischen und wirtschaftlichen Umwandlungen sind die Organisationen und implizit ihre Kulturen nur relativ stabil. Die Organisationskultur bildet eine Art Oberflächenstruktur in diesem Kommunikationsmodell, weil die physische Umwelt die beiden Ebenen umfasst. Die gepunkteten Linien des Parallelogramms weisen auf die Durchlässigkeit der Organisationskultur hin. Das Profil der Organisationskultur ändert sich immer nach den Anforderungen der wirtschaftlichen Kontexte. Die Mitglieder einer Organisation übernehmen und internalisieren die Elemente der Organisationskultur, aber als ihre Kulturträger betrachtet man sie nur während der Zeit, in der sie Arbeitsplätze in der jeweiligen Organisation belegen. Der Wechsel des Arbeitsplatzes bedeutet auch das Eingliedern in eine neue Organisationskultur. Die physische Umwelt bildet die obere Ebene des Systems, die sich über die beiden anderen spannt. Verhandlungen finden in einer spezifischen Umwelt statt und die Elemente dieses Umfelds – Ort, Zeit, Klima, Landschaft – können den Verlauf der Gespräche nachhaltig beeinflussen. Fremde Umgebungen lösen immer Angst aus. Wenn die Unterschiede zwischen der heimischen und der fremden Umwelt, wo der Verhandlungsort sich befindet, sehr groß sind, kann der Kulturschock bis zum Scheitern der Verhandlungen führen. Die situativen Faktoren wirken in gleichem Maße sowohl auf die Landeskultur als auch auf die Organisationskultur. In dem Kommunikationsprozess zwischen Interaktanten aus mehr oder weniger unterschiedlichen Kulturräumen entsteht eine Verbindungsfläche, die Interkultur, ohne die die Verständigung nicht möglich wäre. Die entstehende Interkultur ist situativ, fluid und temporär. Die drei Merkmale kennzeichnen die internationalen Verhandlungsgespräche. Der wichtigste Bestimmungsfaktor der Interkultur ist der Verhandlungsort. Abhängig davon wählen die Interaktanten die zur Kommunikationssituation passenden kulturellen, soziokulturellen und psychokulturellen Elemente, die eine reibungslose Abwicklung der Gespräche ermöglichen. Mit dem Wechsel des Verhandlungsortes ändern sich auch die situativen Bedingungen. Die Interkultur als offenes System weist einen hohen Grad an Durchlässigkeit auf. Die Bestandteile des Systems variieren nach dem situativen Kontext, so dass manche Elemente, die für bestimmte Kommunikationssituationen notwendig sind, können sich in anderen Situationen ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 535 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru nicht nur als unbrauchbar, sondern auch als schädlich für die Ergebnisse des Kommunikationsprozesses erweisen. Diese hohe Mobilität des Systems erschwert natürlich die Kommunikation. Eine wichtige Rolle kommt hier der richtigen Interpretation und Bewertung der Kommunikationssituation zu. Internationale Transaktionen nehmen in der Regel viel Zeit in Anspruch. Diese Zeitspanne, die man benötigt, um zu einem Abschluss zu kommen, bedeutet hohe Kosten, Geduld seitens der beiden Parteien und Vorbereitungen. Im Verhältnis zu der gesamten Dauer einer Transaktion sind die Verhandlungsgespräche, also die direkten Interaktionen, sehr kurz. Sie können höchstens paar Stunden dauern. Die Interkultur ist temporär, weil sie ihre Funktion nur in dieser Zeit, wenn die direkte Interaktion stattfindet, erfüllt. Werden die Gespräche abgeschlossen, schaltet jeder Interaktant sofort auf die eigene Kultur. Die Beendigung der Verhandlungen oder das Abbrechen der Beziehungen zu den Partnern aus einem bestimmten Kulturraum bedeutet, dass auch die entstandene Interkultur als Pufferzone zwischen den verschiedenen Kulturen nicht mehr als Kommunikationsinstrument benötigt wird. Die Interkultur ist also ein temporäres Kommunikationsmittel. Zusammenfassung Das kommunikative Verhalten eines Kommunikators hängt – ob im intra- oder interkulturellen Kontext – prinzipiell von dem Rezipienten und von der Situation ab. Die für die Abwicklung des Kommunikationsprozesses nötigen Eigenschaften und Fähigkeiten variieren nicht nur von Kultursystem zu Kultursystem, sondern auch von Situation zu Situation und von Rezipient zu Rezipient. Alle diese Faktoren bestimmen den Grad der Heterogenität der Interaktanten sowohl in intra- als auch in interkulturellen Begegnungen. Die wichtigste Voraussetzung einer erfolgreichen Kommunikation ist eben die Homogenität der Beteiligten, d.h. in erster Linie das a-priori vorhandene Wissen, die Erwartungen, Einstellungen und Verhaltensweisen, die von den Interaktanten mitgebracht und geteilt werden. Als kleinster gemeinsamer Nenner könnte also festgehalten werden, dass eine gewisse Homogenität der Eigenschaften und Fähigkeiten der Interaktanten erfolgsversprechend sein kann. Die Frage ist, inwieweit die Interkultur, als Pufferzone zwischen unterschiedlichen Kulturen, den Interaktanten die Kommunikation erleichtern kann. Anhand der Angleichungs- und Adaptationsmechanismen, die Hauptbedingungen der Interkultur sind, könnten sich die Interaktanten als homogener wahrnehmen, was natürlich zu einer besseren Bewältigung der Kommunikatiossituation, sei es im alltäglichen oder beruflichen Leben, führen kann. Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 536 Galtung, Johann(1985): Struktur, Kultur und intellektueller Stil. In: Wierlacher, A. (Hg.): Das Fremde und das Eigene. München, 151-193. Goodenough, Ward H.(1971): Culture, language and society. Reading, Mass. Gudykunst, William B. / Kim, Y. Y.(1992): Communicating with Strangers, 2. Aufl., New York. Gumperz, John J.(1977): The Conversational Analysis of Interethnic Communication. In: Ross, E. L. (Hg.): Interethnic Communication. University of Georgia Press. Hall, E. T.(1976): Beyond Culture. New York: Doubleday. Harms, Leroy S.( 1973): Intercultural Communication. New York: Harper & Row. Hinnenkamp, Volker(1990): Wieviel und was ist “kulturell” in der interkulturellen Kommunikation? Fragen und Überblick. In: Spillner, Bernd (Hg.): Interkulturelle Kommunikation. Kongreßbeiträge zur 20. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik GAL e. V. Frankfurt am Main, 46-52. Hofstede, Geert(1993): Interkulturelle Zusammenarbeit, Wiesbaden: Gabler. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. Knapp, Karlfried / Knapp –Potthoff, Annelie(1990): Interkulturelle Kommunikation. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 1, 62-93. Knapp, Karlfried(1992): Interpersonale und interkulturelle Kommunikation. In: Bergemann / Sourrisseaux (Hg.): Interkulturelles Management, Heidelberg, 59-80. Loenhoff, J.(1992): Interkulturelle Verständigung, Opladen. Maletzke, Gerhard(1984): Interkulturelle und internationale Kommunikation – Vorschläge für Forschung und Lehre. 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Es gilt die Anwesenheit der Fragen, innerhalb des Fragen-Antwort-Musters, die beim Prüfer und beim Prüfling auftreten, zu überprüfen und die Formulierungstätigkeit der Kommunikationsteilnehmer. Diskursart: Prüfungsdiskurs Prüfungsdiskurse sind die mündlichen Prüfungen an der Hochschule in Deutschland, die es dem Hochschulabsolventen erlauben, seinen M.A. zu machen. Diskurs wird von Hoffmann 1997:161 wie folgt definiert: Unter einem Diskurs verstehen wir diejenige mündliche Form sprachlicher Kommunikation, die an das Hier und Jetzt der aktuellen Sprechsituation, an Ko-Präsenz und Handlungskoordination von Sprecher(n) und Hörer(n) gebunden ist. An dem Prüfungsdiskurs nimmt der Prüfer - ein Hochschulprofessor - der Agent der Institution, der über das nötige Institutionswissen verfügt, und der jeweilige Prüfling - als Klient der Institution teil. Sie erfüllen die Bedingung der zeitlichen und räumlichen Kopräsenz und der Handlungskoordination, das beide Kommunikationsteilhaber aktiv sind. Der Prüfer ist bereit, den Wissensstand des Kandidaten zu überprüfen, und der Prüfling seinerseits möchte, daß sein Wissen geprüft und bewertet wird, um seinen Hochschulabschluß machen zu können. Prüfungsdiskurse sind komplexe sprachliche Handlungsmuster, die sich schon lange in der Gesellschaft eingebürgert haben. Sprachliche Handlungsmuster sind: eine spezifische Zweck-Mittel-Konfiguration, an die sich Sprecher orientieren können, um eine bestehende Wissens- und Situationskonstellation über kooperative Handlungsschritte in gewünschter Weise zu transformieren. Zu den Mitteln gehört das Gesagte (Diktum) mit den Formeigenschaften der Äußerung und ihrem propositionalen Gehalt, nonverbale Mittel können hinzukommen. Die Zwecke sind interaktionsgeschichtlich standardisiert, ohne daß dieser Vorgang abgeschlossen oder abschließbar wäre; einige sind universal in Handlungsmuster umgesetzt. Komplexe sprachliche Handlungsmuster werden als Text-/-Diskursarten realisiert. (Hoffmann, 1997: 101) Der Zweck der Prüfungsdiskurse ist die Präsentation des fachlichen Wissens durch den Kandidaten, das im Laufe des Studiums erworben und durch eingehende Vorbereitung für die Prüfung vorbereitet wurde. In den pädagogischen Institutionen - den Hochschulen - finden Prüfungsdiskurse statt, durch die der Wissensstand der Kandidaten überprüft werden kann. Die Prüfung bietet den Kandidaten die Möglichkeit ihr Wissen, die erlernte Wissenschaftssprache, die Aneignung von Verfahren wissenschaftlicher Diskursproduktion, die Wissensverarbeitung und die Fähigkeit alle Kenntnisse zu verbinden, zu beweisen. Verbale Strategien in mündlichen Prüfungen Was die Mittel betrifft, wird das Gesagte transkribiert und auf die Formeigenschaften und den propositionalen Gehalt eingegangen. Im Falle des Prüfungsdiskurses tritt beispielsweise das Frage-Antwort-Muster. Die mündliche Prüfung dauert an einer geisteswissenschaftlichen Fakultät im Hauptfach 60 Minuten und im Nebenfach eine halbe Stunde. Als Vorbereitung gilt der Vorschlag des Kandidaten, was Themen und Bibliographie betrifft, die von einem Ausschuß zugelassen werden müssen. Für die Prüfungsdiskurse hat der Prüfling Texte, die Bibliographie vorbereitet aus deren Gesamtenge er das Wesentliche herausnimmt, um es mündlich zu präsentieren. Dadurch findet ein Filtern, eine Reduktion und eine Textverflechtung statt, die zu dem Entstehen einer Prüfungsdiskurses beiträgt. Das Handlungsmuster Frage-Antwort im Prüfungsdiskurs Die Wissensdarstellung des Kandidaten erfolgt durch das Handlungsmuster Frage-Antwort. Der Prüfer formuliert Fragen, damit der Kandidat ein bestimmtes Thema behandeln soll. Wenn die Darstellung nicht die erwünschte ist, treten detaillierte Fragen oder Stützfragen auf, durch die der Prüfer den Kandidaten anleitet oder ihm seine Hilfe bietet. Es können aber Fragen beim Kandidaten auftreten, ihre Anwesenheit und Form soll untersucht werden. Das Handlungsmuster Frage-Antwort wird von dem Prüfer eingesetzt um Regie-bzw. Examensfragen zu formulieren. Die Fragen gelten als Regiefragen, da der Prüfer selbst nicht über eine Wissenslücke, wie im Normalfall - dem Zweckbereich-Wissenstransfer - verfügt, die beseitigt werden soll. Wie aus dem Frage-Antwort-Handlungsmuster erfolgt, ist der Ausgangspunkt, das der Nichtwissende eine Wissenslücke bei sich entdeckt. Diese muß er formulieren und an einen geeigneten potenziellen Antwortenden richten. Der Hörer führt einen mentalen Suchprozeß aus, indem er sein Wissen auf geeignete Elemente hin befragt. Findet er solche, äußert er sic als Antwort auf die Frage, wenn nicht, kann er schweigen oder ein Nichtwissen mitteilen. Der Fragende überprüft, ob die Antwort sein Wissensdefizit zufriedenstellend behebt und kann dies im positiven Fall einer Rückbestätigung bekannt geben, im negativen Fall bleibt sein Wissensdefizit bestehen und er kann zu einer Wiederholung der Frage an einen Mitaktanten gehen oder reformulieren. Im Fall der Prüfungsdiskurse umreißt der Prüfer nicht seine Wissenslücke, sondern das vom Kandidaten zu behandelnde Thema. Seine Frage ist eine Examens und Regiefrage, bei der kein Wissenstransfer, sondern eine Wissensüberprüfung stattfindet, da er selbst über das Wissen, das er überprüfen und bewerten soll, bereits verfügt. Bei der Regiefrage besteht an der Oberfläche kein Unterschied zur W-Frage / Ergänzungsfrage oder zu den obFragesätzen. Auf diese wäre die „ja“- Antwort pragmatisch unangemessen, da die Frage auf Momente des Handlungsprozesses zielt und zur Realisierung der Regiefrage (Ehlich/Rehbein 1986: 66) beiträgt. Auf die Regiefrage oder die Aufforderung des Prüfers reagiert der Prüfling mit einer Antwort, die durch eine Assertion oder Assertionsverkettung realisiert wird, die zur Entstehung des Diskurses beiträgt. Handlungstheoretisch differenzieren Ehlich / Rehbein (1983: 12) in ihrem Grundmodell drei Typen von Wirklichkeit: die außersprachliche (P), die mentale (π) (d.h. die Widerspiegelung von P im Kopf vom Sprecher (πS) und im Kopf vom Hörer (πH) und die sprachliche Wirklichkeit. Ob die mentale Wirklichkeit bei Prüfer und Kandidat übereinstimmt, gilt innerhalb der mündlichen Prüfung festzustellen. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 539 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Ioana Hermine Fierbin]eanu Zum Korpus allgemein Meine Analyse der mündliche Kommunikation in Prüfungen stützt sich auf ein Korpus, das zu diesem Zweck erstellt wurde. Die Aufnahmen stammen aus dem Bereich Geisteswissenschaften. Ich nahm Kontakt mit dem Prüfen und erhielt die Zusage zur Aufnahme währen der mündlichen Prüfungen. Bei der Prüfung wahren: der Prüfer, der Kandidat, der Protokollant und ich anwesend. Die Kandidaten wurden über den Zweck der Aufnahmen informiert und um ihr Einverständnis gebeten, um keinen Anlaß zum Rechtsverstoß zu bieten. Prüfungsdiskurs: Wissensdefizit beim Kandidaten T – Turn K – Kandidat P – Prüfer T1P: Gibt es ein Suffix, das nur aus einem Vokal besteht im Deutschen? T2K: Ja, nämlich das “e” z.B. T3P: Nur aus einem Vokal? T4K: “e” ist ja ein Vokal T5P: “E” haben sie gesagt? Ich hab “g∂” verstanden. Ja, “∂ “ meinen Sie, nicht? Also in “Gebirg∂“ T6K: Nee, wie beim “Lehre” T7P: Lehr∂ T8K: “e” ist ein Suffix dann T9P: Früher haben sie “e” gesagt. Hier verbirgt sich hinter dem Buchstaben “e” verbergen sich ja verschiedene K: hm T10:Vokalphoneme im Deutschen, das , manchmal paßt das e: Bei den Suffixen geht es konkret um das “∂“ K: hm T11P: Ja, das “e” haben wir in “Frankfurter Sufflé” T12K: Ja, mhm T13: Aber ansonsten ist es das “∂“. Wie nennen wir diesen Vokal? Das “∂“? Ja, mit einem bestimmten Namen in der Linguistik?…äh...Weil es ganz besondere Stellung… T14K: Umlaut (zögernd) T15P: Nein, nein. Es ist kein Umlaut. T16K: Also, welches “∂“? Also O in Umlaut? T17P: Was haben Sie jetzt im äh … z.B…. T18K: oder U-Umlaut, meinen Sie? T19P: Ich meine nicht das “ü” ich meine nicht das “ö”, ich meine dieses “∂“, was eben dieses Suffix ausmacht in: “Straß∂“. Wie heißt dieser Laut am Schluß? T20K: Ja, mhm… Nullmorphem? T21P: Nein, es ist ja / wird ja gesprochen. Straß∂, Hos∂, Dos∂, hm los∂…. Es ist das Schwa. Sind sie mal darauf gestoßen? Schwa? Offensichtlich nicht. T22K: Also, in dieser meiner Literatur nicht. T23P: In Ihrer Literatur… Das ist jetzt so zu sagen, eigentlich Grundstudium. T24K: Auch nicht aus dem Wortbildungsseminar, das wir gemacht haben. T25P: Ja, ja. Nein, da sind wir darauf nicht eingegangen. 540 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Verbale Strategien in mündlichen Prüfungen Im ausgewählten und transkribierten Beispiel handelt es sich um eine Prüfung im Nebenfach germanistische Sprachwissenschaft mit dem Thema: deutsche Wortbildung. Durch eine Aufforderung seitens des Prüfers hat der Kandidat sein Wissen zum Thema: Wortbildung zu präsentieren begonnen. Der Prüfer steuert die Handlung des Kandidaten, sein Initiativrecht ist begrenzt. Die Assertionskette kann durch Fragen seitens des Prüfers, der den Kandidaten lenken, anleiten möchte, um ihn von Ausschweifungen zu bewahren oder um auf Detailes einzugehen, unterbrochen werden. Das Beispiel beginnt mit einer Regiefrage, die die Form einer Ergänzungsfrage hat. Der Prüfer hat der Kandidaten aufgefordert über die morphematische Struktur der Lexeme in Deutschen zu sprechen. In dem behandelten Beispiel formuliert er eine Detailfrage, auf die der Kandidat eingeht. Der Diskurs dauert ca. 2 Minuten und stellt einen Fall dar, in dem der Kandidat sein Wissen zum Thema Wortbildung darstellt. Er behandelt komplexe Wortbildungsstrukturen – Komposita, Derivate und was die Ableitungen betrifft, verlangt der Prüfer, daß er auf die Struktur der Affixe eingeht. Daher stellt er die Frage, nach einem Suffix, das nur aus einem Vokal besteht. Die formulierte Frage seitens des Prüfers isr eine Regiefrage, eine typische Examensfrage, auf die der Kandidat mit „ja“ antwortet, pragmatisch unpassend, um dann gleich eine Antwort zu bieten: das „e“. In den folgenden Turns kommt es zu einem Mißverständnis, da der Prüfer den Prüfling akustisch nicht richtig wahrnimmt. Er wiederholt daher in T3 seine Frage, ob die Antwort des Kandidaten das Wort „ein Vokal“ enthält. Der Kandidat assertiert, daß „e“ ein Vokal ist, wobei der Prüfer das Mißverständnis klärt u.zw., daß er statt „e“ – „ge“ verstanden hat, um gleich mit einer Frage – einer Entscheidungsfrage, durch die er die Antwort suggeriert, fortzusetzen. Er bietet sogar ein Beispiel – Gebirge, er spricht den Auslaut korrekt aus, als SchwaLaut, was die von ihm erwünschte Antwort darstellt. Durch die erfolgte Antwort verbessert der Kandidat den Prüfer, indem das Beispiel wiederholt wird, die Endsilbe aber phonetisch falsch ausgesprochen wird. Durch die in T1 formulierte Frage hat der Prüfer den Kandidaten bereits auf den Bereich Phonetik hingewiesen, das gebotene Beispiel sollte als Stütze gelten, jedoch bleibt der Kandidat beim Buchstaben „e“, ohne an die richtige Aussprache desselben in einer Endsilbe zu denken. Dadurch, daß der Kandidat auf die Aussprache „e“ statt „∂“ beharrt, erkennt der Prüfer den Wissensdefizit, versucht aber erneut den Kandidaten auf die von ihm erwünschte Antwort zu bringen. In T9 - T10 erklärt der Prüfer dem Kandidaten, daß hinter dem Buchstaben „e“ sich mehrere Vokalphoneme verbergen, er bietet dem Kandidaten dadurch eine weitere Hilfe an, die dieser nicht wahrnimmt. Durch die korrekte Aussprache „∂“ ergibt sich die Gelegenheit dem Kandidaten helfend entgegenzukommen, was in einer schriftlichen Prüfung ausgeschlossen wäre. Der Prüfer verlangt den Fachterminus in T13. Die darauffolgende Antwort in T14, als Assertion, wird als falsch zurückgewiesen. Während der Kandidat weiter überlegt, bringt der Prüfer Beispiele für die Vokalphoneme des Deutschen, um dann zu fragen, wie „∂“ mit einem Fachwort bezeichnet wird. In T14 versucht der Kandidat eine Antwort, die Stimme ist zögernd, die falsch ist, der Prüfer weist sie gleich als falsch zurück. Durch T16 formuliert der Kandidat zum ersten Mal eine Frage und zwar eine Ergänzungsfrage, die er selbst zu beantworten versucht, um sie dann doch in eine Frage , vom Tonhöhenverlauf her, zu verwandeln. Durch T17 versucht der Prüfer weitere Beispiele zu bringen, während er noch überlegt, folgt in T18 ein weiterer Versucht – eine fragende Antwort, da durch das „meinen Sie“ das an den Prüfer gerichtet ist, nach einer Präzisierung, der Proposition ver- ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 541 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Ioana Hermine Fierbin]eanu langt wird. Die ursprüngliche Assertion wird in eine Entscheidungsfrage transformiert. In T19 findet die Präzisierung statt, der Kandidat nimmt zur Kenntnis, daß er keine richtige Antwort gegeben hat, er macht einen weiteren Versuch in T20, die Antwort erfolgt als Quästiv. In T21 entscheidet sich der Prüfer den Wissensdefizit als solchen zu akzeptieren und die von ihm erwünschte Antwort zu bringen. In den darauffolgenden Turns (T22-T24) beantwortet der Kandidat die Frage (Entscheidungsfrage) des Prüfers, ob ihr der Fachterminus bekannt sein oder nicht u.zw. dadurch, daß derselbe in ihrer Literatur, die sie vorbereitet hat, nicht gewesen wäre, sehr höflich und hebt hervor, daß sie den Terminus auch nicht in dem Wortbildungsseminar, daß sie während des Studiums besucht hat, gehört hat. Durch den Turn 25 wird von dem Prüfer auf ein weitere Thema hingewiesen. Aus dem dargestellten Beispiel geht hervor, daß die Prüfungsdiskurse nicht immer „problemlos“ verlaufen. Es treten Situationen auf, in denen bei den Kandidaten ein Wissensdefizit aufkommt, den diese nicht gleich zugeben, sondern zu verbergen versuchen. Der Prüfer handelt unterschiedlich. In dem von mir behandelten Beispiel bemüht sich der Prüfer, sobald er das Nichtwissen des Prüflings erkannt hat die Wissenslücke desselben durch helfende Fragen zu beheben. Zu einem Wissensdefizit, kommt es, wenn die mentale Wirklichkeit π des Prüfers und des Kandidaten nicht übereinstimmt. Theoretisch hat der Prüfling für die Themen, die er vorgeschlagen hat, Aufsätze und Bücher gelesen und verarbeitet. Diese sind dem Prüfling bekannt, daher sollte die mentale Wirklichkeit der beiden Aktanten die gleiche sein. Die Texte werden zu Diskursen von dem Kandidaten verarbeitet. Der Kandidat hat die Texte im Kopf aus deren Gesamtmenge er wissenschaftlich herausnimmt, um die entsprechende Fragen / Aufgaben beantworten bzw. erfüllen zu können. Eine Textverflechtung findet statt, die Texte werden reduziert und gefiltert und ein Diskurs entsteht, der die Beantwortung der Fragen des Prüfers darstellt. Aus dem Beispiel geht hervor, daß der Kandidat nicht nur Texte im Kopf hat, sondern auch Unterrichtsdiskurse, das Wissen, das er während des Studiums, beim Besuchen der Seminare und Vorlesungen sich angeeignet hat. Der Kandidat beantwortet die Fragen des Prüfers aufgrund einer Verflechtung von Texten und Unterrichtsdiskursen, dank des erworbenen Grundwissens, der Fähigkeit und Fertigkeit zu abstrahieren, zu filtern und zu reduzieren, die dazu beitragen, daß ein wissenschaftlicher Diskurs entsteht. Der Prüfer ist darum bemüht den Wissensdefizit des Kandidaten zu beheben, er formuliert Stützfragen, helfende Fragen, die seine Strategien darstellen, dadurch diese der Prüfer ein eigenes Ziel und zwar dem Kandidaten zu helfen, verfolgt und nicht einen Zweck. Zum Unterschied von dem Frage-Antwort-Muster, bei dem der Sprecher, sobald er eine Antwort nicht erhalten hat einen anderen Hörer aussucht, von dem er annimmt, daß er seine Fragen beantworten kann, versucht der Prüfer durch seine Examensfragen die Antwort von ein- und demselben Hörer, nämlich dem Kandidaten zu bekommen. Der Kandidat formuliert auch Fragen, zwar sind es Antworten, sie beginnen als Assertionen, werden in Entscheidungsfragen ungewandelt, durch die Struktur „meinen Sie“, mittels derer eine Präzisierung – ob die Antwort richtig oder falsch ist – verlangt wird. Es wird sowohl vom Prüfer als auch vom Kandidaten das Frage-Antwort-Muster initiiert, der Prüfer setzt es als eine Strategie ein, durch die er dem Kandidaten helfen kann sein Wissensdefizit zu beheben, dem Kandidaten dient es auch als Strategie durch die er von dem Prüfer erfährt, ob seine Antwort die erwünschte ist oder nicht. 542 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Verbale Strategien in mündlichen Prüfungen Schlußfolgerungen Durch das untersuchte Korpusbeispiel wollte ich überprüfen, was für Strategien die Kandidaten einer mündlichen Abschlußprüfung an der Hochschule in Deutschland und die Prüfer, die in solchen Prüfungen agieren einsetzen, ob sie das Frage-Antwort-Muster initiieren und welche Formulierungstätigkeit die beiden Kommunikationspartner eingehen. Die Anwesenheit des Frage-Antwort-Musters beim Prüfer wurde bestätigt, da dieser durch Regiefragen den Wissensstand des Prüflings überprüfen und bewerten soll. Indem er Stützfragen äußert, setzt er eine Strategie ein durch die er den Wissensdefizit des Kandidaten, den er sofort erkannt hat, beheben möchte. Das gleiche Muster wurde auf von dem Kandidaten initiiert, um durch die Struktur „meinen Sie“ die Präzisierung zu erhalten, ob seine Kenntnisse richtig oder falsch sind. Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. Becker-Mrotzek, Michael (1989) Schüler erzählen aus ihrer Schulzeit. Eine diskursanalytische Untersuchung über das Institutionswissen. Frankfurt/Bern: Peter Lang Brünner, Gisela (1989) Intonation und Diskurs. In: Linguistische Studien 199. Reihe A (Berlin/DDR), S.233-244 Cherubim, D./Henne, H./Rehbock, H. (Hgg.)(1987) Gespräche zwischen Alltag und Literatur. Beiträge zur germanistischen Gesprächs-forschung. Tübingen: Niemeyer Ehlich, Konrad (1992) Language in the Professions: Text und Discourse. In: Grindsted, A./Wagner, J. 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Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen: Niemeyer Schröder, Peter (Hg.)(1985) Beratungsgespräche - ein kommentierter Textband. Tübingen: Narr Schütze, Fritz (1982) Narrative Repräsentation kollektiver Schicksalsbetroffenheit. In: Lämmert, E. (Hg.)(1982), S. 568-590 Schütze, Fritz (1984) Kognitive Figuren des Stegreiferzählens. In: Kohli, M./Robert, G. (Hgg.)(1984) Biographie. Stuttgart: Metzler, S. 78-117 Silbereisen, Rainer K./Heinrich, P./Schulz, W. (1975) Beratungsgespräche im Sozialamt: Zusammenhänge zwischen Merkmalen des Berater- und Klientenverhaltens. In: Psychologie und Praxis 19/1975, S. 126-135 Spillner, Bernd (Hg.)(1990b) Interkulturelle Kommunikation. Kongreßbeiträge zur 20. Jahrestagung der GAL. Frankfurt/Bern: Peter Lang Thimm, Caja (1987) Die "Zweierkiste" als Zweierfront - Solidarität über alles ? In: Schank, G./Schwitalla, J. (Hgg.)(1987), S. 292-325 Watts, Richard J./Sachiko, Ide/Ehlich, Konrad (Hgg.)(1992) Politeness in Language. Studies in its History, Theory and Practice. Berlin/New York: de Gruyter Zifonun; G./Hoffmann, L./Strecker, B. (1997) Grammatik der deutschen Sprache,. Bd.1 Berlin, New York: de Gruyer. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 “DER SPRECHER UND DAS WORT SIND ZWEI PERSONEN” (M . L ut he r, T is c hr ede n ) Zum Gebrauch des politischen Euphemismus in den Massenmedien Maria Muscan Vorbemerkungen Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine theoriegeleitete empirische Untersuchung zum Euphemismus-Problem in politischen Pressetexten allgemein. Das Ziel dieser Arbeit ist einerseits, auf der Grundlage eines Korpus die möglichen Kontexte, in denen Euphemismen verwendet werden, aufzudecken und zu analysieren und somit theoretisch zur Erklärung des politischen Euphemismus beizutragen. Andereseits sollen Herkunftsbereiche und Funktionen untersucht und Vorschläge zu einer Klassifikation von Euphemismen in politischen Pressetexten gemacht werden.. Mein Untersuchungsmaterial umfasst zwei Textkorpora: zum ersten gehören die Tageszeitungen Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung und das Wochenmagazin Der Spiegel aus dem Zeitraum vom 1. Juli 2001 bis zum 30. September 2001. Zum zweiten Textkorpus zählen Schlagzeilen verschiedener Fernsehsender (Antena 1, Realitatea TV, România 1, CNBC, CNN, Euro News) in der Zeitspanne 21. – 28. März 2003. Selbst wenn man das untersuchte Material auf die politische Berichterstattung eingrenzen würde, wäre sein Umfang zu groß, als dass es im Rahmen der vorliegenden Arbeit gründlich analysiert werden könnte. Es ist infolgedessen nötig, das Material weiter zu reduzieren. Ich beschränke mich daher auf zwei Themen: der Irak-Krieg im März 2003 und sozial-politische Entscheidungen in Deutschland im Zeitraum Juli-September 2001. Um euphemistischen Sprachgebrauch als solchen zu erkennen, muss zunächst der Bezug zum Tabu hergestellt werden. Erst vor diesem Hintergrund werden die verschleiernde und verhüllende Funktion von Euphemismen insbesondere in den politischen Pressetexten bzw. Pressemitteilungen deutlich. Begriffsklärung Die Politik Für den Begriff Politik gibt es in der Forschung keine allgemeingültige Definition. In meiner Untersuchung gehe ich von E. Leinfellners Definition aus (zit. nach Xiaon: 1993), die über Politik sagt, es sei: die Wissenschaft oder Kunst der Regierung, Verwaltung oder Leitung von öffentlichen oder staatlichen Angelegenheiten; die Angelegenheiten oder Tätigkeiten derjenigen, die eine Regierung oder Organe einer Regierung kontrollieren oder zu kontrollieren versuchen; die Prinzipien oder Ziele einer Regierung, einer Partei oder einer Gruppe innerhalb einer Regierung, ausgedrückt z.B. in Manifesten, Parteiprogrammen, Reden nach Art der State of the Union Message usw.; allgemein die Praktiken derjenigen, die Macht, Autorität oder ihren Vorteil im Rahmen des Staates suchen (…); (…) politische Gedanken oder Meinungen. Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan Die Politik eines Staates oder einer Partei kann auf verschiedene Ebenen angesiedelt sein. Dazu gehören z.B. die Außen-, Innen- oder Sozialpolitik. In dem von mir untersuchten Material geht es hauptsächlich um die Innen- und Sozialpolitik Deutschlands bzw. um die Außenpolitik der USA, wie sie von europäischen / rumänischen Fernsehsendern präsentiert wird. Obwohl es die oben erwähnten Kriterien für Politik erleichtern, die Bereiche zu identifizieren, ist es bei der konkreten Auswahl sehr schwierig, eine klare Abgrenzung zwischen Politik und anderen Sachbereichen vorzunehmen. In manchen Fällen überschneiden sich zwei Bereiche, wie z.B. Politik und Wirtschaft, so stark, dass die Grenzen zwischen ihnen kaum gezogen werden können. In Bezug auf das von mir recherchierte Material werden die Texte in den meisten Fällen aus der Sparte Politik einzelner Zeitungen bzw. der Zeitschrift Der Spiegel entnommen. Aber manchmal bleiben die von Redakteuren gemachten Verteilungen der Sachbereiche nicht problemlos. Manche Artikel, die z.B. von Redakteuren in die Sparte Wirtschaft aufgenommen werden, könnten m.E. auch der Sparte Politik zugeordnet werden, weil sie eher mit der Wirtschaftspolitik zu tun haben und sie grösstenteils ja doch politische Entscheidungen mit wirtschaftlicher Auswirkungen sind. Dasselbe gilt für die Politikersprache in Bezug auf den Irak-Krieg im März – April 2003, da diese eigentlich politische Entscheidungen wiedergibt, die einen bedeutenden Einfluss auf die rumänische Zivilbevölkerung aus Constan a bzw. Mihail Kog lniceanu (wo US-Truppen stationierten) hatte. Die Euphemisierung dieser Sprache konnte festgestellt werden anhand der verschleiernden Aussagen, die im Gegensatz zu der konkreten Realität stand, nämlich einem zerstörerischen Krieg. Die politische Rolle des Journalisten Wie die Massenmedien im Allgemein, so spielen die Journalisten im Besonderen eine wichtige Rolle innerhalb der politischen Meinungs- und Willensbildung. Massenkommunikation ohne hauptberufliche Journalisten – das ist heute kaum noch vorstellbar. Beispiele für die Verbindung zwischen Politik und Journalismus fanden und finden sich immer in grosser Anzahl – so etwa in Deutschland Willy Brandt oder der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky. Vor allem die aus der Arbeiterbewegung stammenden Politiker haben häufig über den Journalismus ihre politische Laufbahn begonnen (Victor Ciorbea, Miron Mitrea). Dennoch lassen sich anhand solcher Beispiele nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch die Unterschiede zwischen den Berufsrollen des Politikers und des Journalisten erkennen: Politik – wie immer sie begrifflich erfasst wird – ist direkt am Entscheidungsprozess der Gesellschaft gebunden; der Journalismus begleitet hingegen diesen Prozess – kommentierend, berichtend oder selbst Einfluss nehmend. Journalisten bringen nicht nur ihre eigene Meinung oder die der Medieneigentümer zum Ausdruck, sondern geben häufiger lediglich wieder, was andere, beispielsweise Politiker, gesagt haben, die damit zum sog. Ausgangskommunikator werden. Beim Verfolgen einer Nachrichtensendung im Fernsehen kann jeder selbst feststellen, dass das, was der Nachrichtensprecher vorliest, gar nicht seine eigenen Worte sind, sondern die Worte eines Ministers, die eines Parteivorsitzenden, eines Sprechers einer Meinungsgruppe usw. Kommunikatoren sind alle diejenigen, die eine Meinung ausdrücken, während der Journalist diese im Allgemeinen nur vermittelt.. Inwieweit Journalisten ihre Rolle als Mediatoren verstehen und ausüben sprengt den Rahmen der vorliegenden Arbeit und wird daher nicht eingehender dargestellt. Tabus und politische Euphemismen Man gewinnt einen ersten Überblick über Euphemismen aus Lehrbüchern der Rhetorik, die durch Lexika und erklärende Wörterbücher ergänzt werden können. Außer dem Begriff Euphemismus muß der von Tabu gedeutet werden, wenn geklärt werden soll, ob Euphemismen 546 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 “Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus sprachliche Reaktionen auf gesellschaftlich geltende Tabus und Abweichungen von politisch nicht korrekten Spracheinheiten sind. Auch hierfür bieten sich für die Erfassung der Terminologie Wörterbücher, Lehrbücher sowie unzählige Internet-Seiten an. Im Rahmen des vorliegenden Vortrages/Arbeit würde es zu weit führen detaillierter ausleuchten zu wollen. Daher beziehe ich mich auf folgende Definitionen für Tabus, um dann eingehender über den Euphemismus zu sprechen. Tabus sind immer eng verknüpft mit den Verboten und Einschränkungen und werden innerhalb einer bestimmten Gesellschaft als Instrument der sozialen Kontrolle gesehen. Luchtenberg (1975) betrachtet die Tabus als alle mit Denk-, Anfass- oder Nennverbot belegten Gegenstände, Vorgänge oder Gedanken – in einer bestimmten Gesellschaft entstanden und durch ihre Besonderheiten bedingt. Christel Balle (1990:20) erweitert Luchtenbergs Definition und meint: Heutige Tabus unterscheiden sich von früheren durch ihre Motivation: während der Naturmensch glaubte, Dämonen zu erzürnen und durch Verletzung des Verbots leibhaftigen Schaden davonzutragen, bedingen heute vorwiegend die Angst, Aufsehen, Peinlichkeit, Scham und Verletzung zu erregen, also Rücksichtsnahme und Respekt, die Achtung der Gebote. Tabuvorstellungen finden ihren Niederschlag in der Sprache. Aus den bereits erwähnten Gründen versucht der Sprecher ein Tabu zu umschreiben, er drückt somit einen Sachverhalt indirekt aus. Es gibt viele Gründe, uneigentlich zu sprechen, von feinzüngiger Rhetorik bis hin zum akuten Mangel an passenden Ausdrücken, der den Sprecher zwingt das Gemeinte zu umschreiben. Um von einem Euphemismus sprechen zu können fordert Michael Crombach (2001:86) grundsätzlich die Existenz eines Tabus, der allerdings nicht religiöser oder abergläubischer Natur sein müsse. Crombach vertritt weiterhin die Meinung, dass jedwelche außersprachlichen Tabus Grund für ein Sprachtabu sein können; zudem könnten Tabus aus weit unterschiedlicheren Gründen entstehen als nur Religion und Aberglauben. Anderer Ansicht ist Elisabeth Leinfellner (1971:71), die der Meinung ist, dass in der politischen Sprache der Euphemismus als Deckausdruck für Tabus keinen Platz finden kann, oder nur selten. Crombach meint hingegen, dass die von Leinfellner angegebenen Gründe nicht mit dem Prinzip Euphemismus zu tun hätten (Crombach 2001:87). So sei es kein hinreichender Grund für die Nutzung eines Euphemismus, an der Macht bleiben beziehungsweise an die Macht kommen zu wollen (so Leinfellner). Es gehe dabei darum, dass man, um dieses Ziel zu erreichen, bestimmte Dinge nicht beim Namen nennen sollte, weil sie tabu sind. Man kann diese Tabus unter tabous de sentiment zusammenfassen, auch wenn die Gewichtungen im Umfeld der Politik etwas anders liegen als bei der alltäglichen zwischenmenschlichen Erscheinung dieses Phänomens. Zur Stützung ihrer eigenen These gibt Leinfellner folgendes Beispiel: Typisch sind hier auch die Euphemismen, die die Krankheiten von Politikern verhüllen. (…) Wir sehen hier nochmals den grossen Unterschied zwischen alltäglichen und politischen Euphemismen. Während die alltäglichen Euphemismen für Krankheiten tatsächlich als Deckausdrücke für ein Tabu aufgefasst werden können, ist dieser Aspekt hier vollständig verschwunden. Als Beispiel führen wir John F. Kennedy an, der an der Addisonschen Krankheit [Unzureichende Funktion der Nebennierenrinde] litt; diese wurde – schon vor seiner Wahl zum Präsidenten – der Öffentlichkeit stets nur euphemistisch präsentiert, nämlich als `partial adrenal insufficiency`. Crombach macht diesbezüglich folgende Bemerkung, die durchaus den Schluss zulässt, dass hinter diesem Euphemismus ein Tabu verborgen werden soll. Crombach (2001:87) lässt die Behauptung stehen, die besagt, dass dieses Tabu ein anderes sein kann als im alltäglichen Bereich. Was an Krankheiten im zwischenmenschlichen Gespräch tabu sein kann, erörtert Crombach nicht näher, er fokusiert seine Aufmerksamkeit auf Tabus, die hinter einer solchen euphemisti- ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 547 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan schen Phrase in der politischen Sprache stehen. Das wichtigste ist laut Crombach, dass eine `Krankheit` - noch dazu eine mehr oder weniger chronische, unheilbare Krankheit – die Regierungsfähigkeit eines US-Präsidenten mehr als nur fragwürdig erscheinen lassen würde. Und ein solcher Gedanke soll dem Wähler nicht kommen, diese Vorstellung alleine ist tabu. Aber auch an das Publikum eines politischen Euphemismus muss gedacht werden. Crombach erläutert weiter, dass Tabus situationsgebunden und nicht immer und überall gültig seien, dass sich somit auch die Euphemismen änderten. Während im umgangssprachlichen Gebrauch Addinson`sche Krankheit schon ein recht brauchbarer Euphemismus ist, ist der terminus technicus für ein grosses Publikum, in dem sich auch Ärzte, KrankenpflegerInnen etc. befinden, zu schwach. Somit muss man (Crombach 2001:88) Zuflucht zu einem anderen Euphemismus suchen, der auch für diese Zielgruppe durch `Vagheit` euphemistische Wirkung erzielt. Für diesen konkreten Fall hat Crombach nur ein mögliches situationsgebundenes Tabu erwähnt: die Regierungsuntauglichkeit, die eben nicht einmal angedacht werden soll. Ein anderes mögliches Tabu wäre, seiner Meinung nach, trotz allem, der Umstand des Krankseins als solcher. Crombach (2001:88) stellt natürlich die absolut rhetorische Frage, warum bei Politikern nicht die gleichen Spielregeln wie bei allen anderen Menschen gelten sollten. Er beantwortet mit der Annnahme, dass, obwohl es um Machterhalt ginge, doch letztlich das nichts mit dem Tabu zu tun habe, mit dem Krankheiten grundsätzlich tendenziell belegt seien. Also auch bei einem Menschen, der im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht, gibt es ein tabou de sentiment. Dass politische Gegner eben diese nicht einhalten werden, liegt in der Natur der politischen Auseinandersetzung, und doch gibt es auch in dieser Grenzen des guten Geschmacks, deren Übertretung oftmals das Gegenteil dessen bewirkt, was mit der Kampagne beabsichtigt war. Es gibt immer einen Grund, ein Tabu, wenn man etwas nicht beim Namen nennt. Oftmals sehr alte Gründe, die z.B. verhindert haben, dass sich ein (neutrales) Vokabular ausbilden konnte, etwa im Bereich der Sexualität, aber auch sehr aktuelle Gründe: wie beispielsweise das Image der Hochpräzisionswaffen der US Armee, die keine zivilen Opfer fordern, wie dies noch im Vietnamkrieg der Fall war, sondern “nur” Kollateralschäden verursachen. Mit anderen Worten, es steht hinter jedem Euphemismus in der einen oder anderen Form ein Tabu. In Politikerreden und politischen Texten der Tagespresse stößt man auf veschleiernde Aussagen, die sich als Euphemismen fassen lassen. Allerdings erfordert das Erkennen politischer Euphemismen sowohl Sachkenntnis als auch Einblick in die Bildungsweise von Euphemismen. Gerade aber diese Tatsache, dass Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um Euphemismen einordnen zu können, schien mir Anlass zur näheren Untersuchung zu sein, da gerade in der Politik die Möglichkeit auffällt, durch Euphemismen Einfluss zu nehmen. Die beiden Theorien von Crombach und Leinfellner habe ich gegenübergestellt, um den Ausgangspunkt eines Euphemismus und dessen Wirkung für meine Untersuchung zu klären. Ich schließe mich somit der Meinung Leinfellners an, weil für den Zweck meiner Arbeit nicht nur die Aufdeckung möglicher Tabus wichtig ist, sondern um die Feststellung, dass die Verwendung politischer Euphemismen der Manipulation dienen. Euphemismen in der Politik Politische Sprache setze ich für die Interessen dieser Arbeit nicht gleich mit der politischen Fachsprache, für die der Gebrauch eines bestimmten politischen Wortschatzes in stärkerem Maße signifikant ist. M.E. fällt die politische Sprache meistens mit der Sprache der Öffentlichkeit zusammen. Zunächst einige Überlegungen zum euphemistischen Gebrauch politischer Schlagwörter: Es gilt vor allem zu prüfen, inwieweit bestimmte politische Schlagwörter wie Freiheit oder Demokratie euphemistischen Charakter bereits usuell angenommen haben oder okkasionell erhalten können. Hierfür sei das Beispiel einer vom CNBC-Sender verwendete 548 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 “Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus Schlagzeile zum Irak-Krieg, nämlich Operation Freedom (22.03.2003, NBC-News, 17.30 Uhr). Durch die Verwendung des Wortes freedom im Zusammenhang mit einem Krieg ruft der Sprecher im Hörer positive Assoziationen hervor. Er verschleiert somit die negativen Aspekte eines Krieges.(In diesem Fall ist Sprecher, bzw. Kommunikator, die Regierung der USA). Euphemistisch gebrauchte Schlagwörter lassen sich allerdings nicht an einem eigentlichen Ausdruck messen, wie dies bei vielen Euphemismen anderer Bildungsart auch innerhalb der politischen Sprache möglich ist (vgl. Operation = Krieg). Es ist beim Schlagwort nur möglich, die konkrete Verwendung nach der Hörerwirkung und der Stellung im Kontext zu beurteilen, wobei euphemistischer Gebrauch oft durch einen hohen Grad an Allgemeinheit gekennzeichnet ist, der dem Hörer die Möglichkeit gibt, seine persönliche Vorstellung mit dem Schlagwort zu verbinden, ohne nachprüfen zu können, ob diese mit der vom Sprecher intendierten übereinstimmt. Als Beispiel dazu erwähne ich (ohne jedwelchen Kommentar) die von mir wahrgenommene positive Einstellung der rumänischen Bevölkerung zu dem zerstörerischen Militäreingriff der USA und Großbritanniens in den Irak im März-April 2003, der von den rumänischen Massenmedien, z.T. in Übernahme amerikanischer Termini, folgendermaßen beschrieben worden“{oc ist: [i Groaz`” – Realitatea TV, 21.03.2003, 22.30 Uhr - Opera]iunea - Furtun` în Irak - Antena 1, 21.03.2003, 22.30 Uhr - Strike on Iraq - CNN, 21.03.2003, 22.30 Uhr - Opera]iunea „Decapitarea“ - Realitatea TV, 22.03.2003, 9.00 Uhr - Operation „Iraq Freedom“ - NBC, 22.03.2003, 17.30 Uhr - Opera]iunea „Pas cu Pas“ – Realitatea TV, 26.03.2003, 20.00 Uhr - Operation „Iraq Freedom“ - NBC, 26.03.2003, 20.15 Uhr - Furtun` în Irak- Antena 1, 28.03.2003, 20.00 Uhr Wie sich diese Schlagzeilen ins Deutsche übersetzen lassen, ist ein anderes interessantes Thema, das aber an anderer Stelle ausführlicher behandelt sein wird. Hier nur ein Übersetzungsversuch, wobei ich die euphemistische Wirkung anhand der Substitution des Gemeinten (Operation = Krieg) durch ein Fremdwort wiederzugeben versuche: - Operation „Schock und Schrecken“ - Sturm über dem Irak - Schlag gegen den Irak - Operation „Enthauptung“ - Operation „Irakische Freiheit“ - Operation „Schritt für Schritt“ - Operation „Irakische Freiheit“ - Sturm über dem Irak Das politische Schlagwort dient der Beeinflussung der öffentlichen Meinung im System der Meinungsbildung und Meinungsänderung (Propaganda) und ist der Meinungssprache (im Gegensatz zur Funktionssprache) zuzurechnen, der sie den emotiven Charakter verleiht, wie Schlagwörter überhaupt als Mittel emotiven Sprachgebrauchs gelten. Den Schlagwörtern kommt allerdings mehr zu als nur emotionale Reizwirkung, da die Wortmanipulationen des Meinungsbildners und Propagandisten zu einem grossen Teil die begrifflichen Inhalte betreffen. Emotionale und intellektuelle Beeinflussung hängen jedoch in den meisten Fällen eng zusammen. In vielen Euphemismus-Darstellungen werden politische Euphemismen als Regierungskunst bzw. Rücksicht auf die Gefühle der Hörer bezeichnet, wobei jedoch euphemsitische Verschleierung nicht nur der Führung, sondern auch der Verführung dienen kann, solange sie ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 549 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan als sprachliche Mittel der Herrschaftsausübung dient. Um diesen Ideen noch zusätzliche Deutungen zu verleihen, zitiere ich im Folgenden ein Martin-Walser-Zitat zum Thema Krieg: Über Ausschwitz kann es doch gar nicht zwei Meinungen geben (über den Krieg m.E. auch nicht). Aber man kann eine Art, auf die Frage nach Ausschwitz zu antworten, so ritualisieren, dass jede andere Art zu antworten zur Blasphemie erklärt werden kann. Das ist das, was bei uns jetzt erreicht 1 ist. Die Formalisierung, die Standardisierung der Sprache für das, was aus dem Gewissen stammt. Hiermit stellt Walser eine neue Kategorie auf für die sprachliche Realisation des Euphemismus, die die Einteilung von N. Zöllner vervollständigt, nämlich der Euphemismus durch Stadardisierung der Sprache. Ich schließe mich ganz der Meinung Sigrid Luchtenbergs (1975:71) an, derzufolge die Existenz von Euphemismen in der politischen Sprache und ihre bewusste Verwendung eine Gefahr sei, da die Möglichkeit ihrer Nachprüfung nicht immer gegeben ist, und außerdem an Sprachbewusstsein und politischem Wissensstand mehr vorausgesetzt wird, als der Realität entspricht. Euphemismen, meint Luchtenberg, sollen meist unbemerkt wirken, weil sie nicht als solche erkannt werden oder nicht ernst genommen werden. Es sei durchaus möglich, dass die Verharmlosung eines Ausdrucks erkannt wird, aber auch in diesem Falle könne die abgeschwächte Sprechweise langfristig zur Verharmlosung des Sachverhaltes führen. Weil die Intention des Kommunikators durch die Verwendung von Euphemismen oft nicht transparent ist, ist es notwendig, Wesen und Funktion des Euphemismus noch etwas differenzierter zu betrachten. Ich folge dazu den Ausführungen Sigrid Luchtenbergs (1975) die den verschiedenartigen Intentionen beschönigenden Sprechens mit der Unterscheidung zwischen verhüllenden und verschleiernden Euphemismen gerecht zu werden versucht. Mögen die als Kontrast gedachten Begriffe Verhüllung und Verschleierung auch auf den ersten Blick für eine klare Differenzierung nicht besonders geeignet erscheinen, weil sie weitgehend synonym sind, so gelingt es Luchtenberg doch, einige wesentliche unterschiedliche Charakteristika der beiden Euphemismentypen herauszuarbeiten, so dass sich eine für meine Untersuchung durchaus brauchbare Klassifizierung vornehmen lässt. Die Funktion des Verhüllens Ausgangspunkt für Luchtenbergs Klassifikationsvorschlag ist die Tatsache, dass sich Funktion oder Zweck jeder sprachlichen Handlung grundsätzlich nur mit Blick auf die Relation zwischen den Kommunikationspartnern beurteilen lässt. Diese doppelte Betrachtungsweise, die gleichzeitig auf die Intention des Sprechers und auf die beim Hörer hervorgerufene Wirkung gerichtet ist, hat sich bereits bei den oben angeführten Schlagzeilen zum Irak-Krieg, als äußerst praktikabel erwiesen. Verhüllend nennt Luchtenberg (1975: 361-368) eine i.a. gesellschaftlich bedingte Ausdrucksweise, die den als anstößig empfundenen Aspekt eines Wortes bzw. Begriffs entweder mildernd formuliert oder durch einen unbeanstandeten Aspekt benennt. Unter dem Gesichtspunkt der Hörer-Sprecher-Relation lässt sich diese Funktion aber noch präziser beschreiben: Nachdem es in den hier zu betrachtenden Kommunikationssituationen um Inhalte geht, die gesellschaftlichen „Zensurverboten“ unterliegen, – ergibt sich für den Sprecher/Kommunikator ein Interessenkonflikt: Er will einerseits die Kommunikation aufrecht erhalten und eine bestimmte Information an sein Gegenüber vermitteln, möchte andererseits aber nicht gegen die allgemeine Konvention verstoßen, die die Thematisierung unangenehmer Inhalte oder auch nur den Gebrauch bestimmter negativ konnotierter Ausdrücke verbietet. 1 Martin Walser. Über freie und unfreie Rede, in: Der Spiegel, Nr. 45/1994. 550 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 “Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus Luchtenberg spricht (1975: 361-368) von mehr oder weniger verbindlichen Konventionen, welche sich auf Dinge, Vorgänge, Sachverhalte [beziehen], die zu meiden sind bzw. deren Erwähnung zu meiden gesellschaftlich verlangt wird. Die Lösung des Konflikts liegt im Ausweichen auf Ersatzformulierungen, die den Blick auf einen gesellschaftlich weniger gemiedenen Aspekt legen, wobei zugleich die Interessen beider Sprachteilnehmer berücksichtigt werden. Dem Sprecher gelingt es, seine Aussageabsicht zu verwirklichen, ohne dabei sozial bedingte Tabus zu brechen; gleichzeitig bleibt aber dem Hörer die Härte der direkten Aussage erspart, die verhüllende Formulierung nimmt Rücksicht auf seine Gefühle, was je nach Situation oft sogar als der Hauptzweck euphemistischer Rede anzusehen ist. Zusammenfassend können nun folgende Merkmale des verhüllenden Euphemismus im Sinne Luchtenbergs festgehalten werden: Verhüllende Euphemismen sind immer durch Normen und Konventionen sozialer, religiöser Art usw. bedingt. Ihre Aufgabe besteht deshalb darin, gesellschaftliche Tabus sprachlich zu umgehen, die Thematisierung unangenehmer Dinge also trotz der Tabus möglich zu machen. Mit der Beachtung und Einhaltung allgemein verbindlicher Konventionen verbindet sich immer auch die Rücksichtnahme auf die Gefühle beider Gesprächspartner: Vermeidung von Peinlichkeit als Interesse des Sprechers; Vermeidung starker negativer Gefühlsreaktionen im Interesse des Hörers. Die Funktion des Verschleierns Um den Unterschied zwischen verhüllender und verschleiernder Funktion im Sinne Luchtenbergs zu verdeutlichen, gilt es wieder, die Relation zwischen Sprecher und Hörer in den jeweiligen Kommunikationssituationen zu berücksichtigen. Als verschleiernd sieht Luchtenberg (1975 : 368-380) nämlich solche Euphemismen an, die zum Ziel haben, beim Hörer eine vom Sprecher intendierte Wirkung hervorzurufen. Die Schonung des Hörers als mögliche Intention wird hier jedoch bewusst ausgeklammert. Dass die scharfe Abgrenzung beider Funktionen in der Praxis nur schwer möglich ist, gibt die Autorin zu (Luchtenberg 1975: 369): Die Trennung in verhüllende und verschleiernde Euphemismen kennt viele Übergänge, und in nicht wenigen Fällen erfüllt ein Euphemismus beide Funktionen. Trotz vieler Mischformen wird jedoch der grundsätzliche Unterschied zwischen verhüllender und verschleiernder Funktion anhand der Motive deutlich, die einen Sprecher/Kommunikator zum Gebrauch verschleiernder Formulierungen veranlassen. Es geht hier nämlich keineswegs um eine Beachtung sozialer Normen und Verbote, die sich (auch) im Bereich der Sprache manifestieren, sondern um ganz persönliche Interessen des Sprechers, zu deren Durchsetzung die Sprache als Mittel der Manipulation nutzbar gemacht wird: Machtausspruch, Gewinnstreben etc. Die sprachliche Realisation der verschleiernden Euphemsimen im Beispiel der Irak-Schlagzeilen geschieht durch Substitution des Gemeinten durch Untertreibung, Fremdwörtern, Standardisierung der Sprache (s.o.), ja sogar durch kontextunabhängige, auf den ersten Blick völlig unzusammenhängende Phraseme („{oc [i groaz`“, „Decapitarea“ – „Schock und Schrecken“, „Enthauptung“). Die äußeren Faktoren verschleiernder Kommunikation beschreibt Luchtenberg folgendermaßen (1975: 370): Ein Sprecher S verändert die von einem Hörer H erwartete Information I dahingehend, daß S nur für ihn und seine Absichten günstige Teile von I übermittelt, also eine Information äußert, die bewußt nicht dem zugrundeliegenden Realgeschehen R entspricht. Das Ziel der Verschleierung kann im Gegensatz zur Verhüllung jedoch nur dann als erreicht angesehen werden, wenn H etwa infolge mangelnder Kenntnisse über R oder aufgrund unzureichenden Sprachbewusstseins die Unangemessenheit von I nicht erkennt und die von S ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 551 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan verfälschte Information als Wahrheit akzeptiert. Anderenfalls muss die Absicht von S, H zu täuschen, als gescheitert gelten. Die bisher skizzierte Unterteilung euphemistischer Äußerungen ermöglicht es nun, die Frage, ob Euphemismen vom Hörer „missverstanden“ oder als solche erkannt und entschlüsselt werden sollen, zunächst für eine Teilgruppe solcher Sprechakte klar zu beantworten: Euphemismen, die ein Sprecher nicht dazu verwendet, um bestehende Tabus zu umgehen und/oder die Gefühle des Angesprochenen zu schonen, sondern um diesen über bestimmte Fakten und Ereignisse oder Entscheidungen im Unklaren zu lassen und aus diesem Unwissen persönliche Vorteile zu ziehen, können diese verschleiernde Funktion nur dann erfüllen, wenn sie vom Hörer unerkannt bleibt. Das Missverständnis liegt somit in der Absicht des Sprechers. Interessant ist nun, welchen Themenbereichen oder auch Gesprächskonstellationen sich dieser Typus des Euphemismus zuordnen lässt. Denn wenn es hier auch ausschließlich um die Interessen und Belange des Sprechers geht, so scheinen doch, wie Luchtenberg betont (1975: 371), persönliche, d.h. individuell – persönliche Interessen eine geringere Rolle zu spielen als die Interessen von Politik und Wirtschaft u.ä. Es lassen sich also Bereiche ausmachen, in denen die mit beschönigendem Reden intendierte Wirkung besonders häufig in der bewussten Fehlinformation oder gar Irreführung des Adressaten besteht, während die Achtung von Normen oder die Rücksicht auf Gefühle überhaupt keine Rolle spielt. Euphemismen erfüllen, wie sich an dieser Stelle resümieren lässt, zwei sehr unterschiedliche Funktionen in der sprachlichen Kommunikation: Tabubewältigung:: Euphemismen vom Typ entschlafen gewähren die Möglichkeit der Verständigung über Dinge und Sachverhalte, die einem Tabu unterliegen. Wesentliches Ziel solcher Verhüllungen ist die Schonung des Angesprochenen. Manipulation:: Verschleiernde Euphemismen vom Typ Operation Freedom (für Krieg im Irak) können zur Wirklichkeitsentstellung und -verfälschung benutzt werden und dienen damit allein dem Interesse des Sprechers. Sie bauen auf mangelnde Sachkenntnis und geringes Sprachbewusstsein des Hörers auf, können ihr Ziel – die Meinung des Adressaten in die gewünschte Richtung zu lenken – nur dann erreichen, wenn sie diesem nicht als Euphemismus bewusst werden. Der Euphemismus als partielle Lüge Da ich der Überzeugung bin, dass der Euphemismus in der politischen Sprache als verschleiernd und täuschend angesehen werden sollte, stellt sich für mich die Frage, inwieweit er somit den Tatbestand der Lüge erfüllt bzw. welche Kriterien erfüllt sein müssen, um eine Aussage als Lüge zu definieren. Mit Hilfe des Euphemismus wird ein präziserer Ausdruck umgangen. Dass diese Art der sprachlichen Manipulation gelingen kann, ist darauf zurückzuführen, dass Politiker eine Wahrscheinlichkeitslogik bzw. eine mehrwertige Logik benützen, wenn sie einen euphemistischen Satz formulieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob den Sprechern/Kommunikatoren bewusst ist, dass sie eine Wahrscheinlichkeitslogik anwenden, genauso wie ihnen nicht immer bewusst sein muss, dass sie einen Euphemismus verwenden. Die Hörer wiederum tendieren dazu, Sätze innerhalb einer zweiwertigen Logik zu interpretieren. Das heißt, ein Satz ist entweder wahr oder falsch. Diese Logik wird dadurch begünstigt, dass wahrscheinlich Sätze in der Umgangssprache meist durch Operatoren wie Ich glaube, dass usw. gekennzeichnet werden. Wird nun der Hörer mit einem Euphemismus in der politischen Sprache konfrontiert, geht er auch hier von einer zweiwertigen Logik aus. Er wird den Euphemismus in aller Regel mit dem faktisch 552 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 “Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus wahren Satz verwechseln. Wenn er die Manipulation aber bemerkt, wird er dem Politiker generell misstrauen und dessen Euphemismus für faktisch falsche Sätze, also für Lügen halten. Hierzu folgendes Beispiel aus der deutschen politischen Szene. In einem Interview mit dem grünen Außenminister Joschka Fischer (Bündnis ´90/Die Grünen), zu den Themen Identitätskrise der grünen Partei und Reformmüdigkeit der Regierung, stellte der Reporter Fragen bzw. machte Behauptungen, die vom Politiker mit gegensätzlichen Aussagen beantwortet wurden (Der Spiegel 34, 20.08.2001, S. 24-27): Spiegel: Genau das bleibt Ihr zentrales Problem in der Regierung – dass die Grünen als Partei Forderungen vertreten, die sie als Regierung nicht erfüllen können. Der Reporter vertritt die Meinung, dass die Grünen kein genaues Profil haben und sie folglich nicht regierungsfähig sind, dass sie immer wieder Kompromisse schließen müssen, um in der Regierungskoalition zu bleiben. Diese Meinung kann als faktische Wahrheit für mein Beispiel gelten. Darauf aber antwortet der Außenminister Joschka Fischer Folgendes: Fischer: Aber nein, das Gegenteil ist der Fall. Vielleicht haben wir einen Fehler nicht in der Sache, sondern im Vorgehen gemacht. Wir stehen für strukturelle Reformen, und das braucht Zeit und Durchhaltevermögen, wir haben aber zu oft auf das `Sofort`gesetzt. Auf die Frage Welche Aussage ist richtig und welche ist falsch gibt es nur eine Antwort: BEIDE sind korrekt, und trotzdem gegensätzlich, weil jeder der beiden Sprecher etwas anderes anspricht, und Fischers Antwort eigentlich keine Re-Aktion auf die Reporter-Frage ist. Euphemismen in der Sozialpolitik Damit die Verständigung im Bereich der Sozialpolitik zwischen Kommunikator und dem Bürger via Massenmedien funktioniert, müssen die Gesprächspartner sich natürlich im Klaren darüber sein, was mit der euphemistischen Rede gemeint ist. Das ist normalerweise auch der Fall. Doch passiert es sehr oft, insbesondere im politischen Sprachgebrauch, dass die Sprecher versuchen, Sachverhalte zu verschleiern, insbesondere gegenüber Außenstehenden, die nicht über einschlägiges Wissen verfügen. Als Beispiel dazu möchte ich das am 1. August 2001 in Deutschland in Kraft getretene Lebenspartnerschaftsgesetz bzw. die dazu erschienenen Zeitungsartikel in der Süddeutschen Zeitung, der FAZ und dem Wochenmagazin Der Spiegel zitieren. Dass die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft oder Homo-Ehe auch nach dem neuen Gesetz mit der heterosexuellen Ehe nicht gleichgesetzt werden konnte, blieb vielen Bundesbürgern in den ersten Monaten nach Verabschieden des Gesetzes verborgen. Ob die Regierung aus politischer Überlegung die Wahrheit zu verschleiern versuchte oder lediglich selbst nocht nicht genau wusste, welches Ausmaß dieses Gesetz haben würde und könnte, sei dahingestellt. Dass es aber eine verschleiernde Ausdrucksweise gegeben hat bezüglich dieses Gesetzes, kann zumindest für die Monate August bis Oktober 2001 behauptet werden. Diese ist offensichtlich aus der Konfusion angesichts der inhaltlichen und sprachlichen Verwirrung, die nach den ersten verschleiernden Aussagen entstanden ist. Im Weiteren einen Auszug aus der Süddeutschen Zeitung Nr. 164, Do., 19. Juli 2001, Seite 7: Wie bei einer Eheschließung erscheinen die Partner (beispielsweise) vor dem Standesbeamten und erklären, miteinander eine Partnerschaft auf Lebenszeit eingehen zu wollen.( …) Im Normalfall werden die beiden Partner in der Ausgleichsgemeinschaft leben, die der ehelichen Zugewinngemeinschaft weitgehend entspricht. Auf den ersten Blick suggeriert dieser Passus, die standesamtliche Eintragung der Partnerschaft auf Lebenszeit sei der herkömmlichen Eheschließung mit all ihren Rechten und Pflichten gleichgestellt. Das ist aber nicht der Fall. Informiert sich der Leser anhand weiterer Zeitungs- ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 553 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan artikel oder liest er gar den eigentlichen Gesetzestext, findet er heraus, dass die Eheschließung in einigen Bundesländern (z.B. Bayern) eigentlich nicht standesamtlich, sondern notariell eingetragen wird. Um des Weiteren die Verschleierungen des hier sozialpolitischen Sprachgebrauchs zu erkennen und verstehen, braucht der Leser einerseits einschlägiges Wissen über Regelungen einer heterosexuellen Eheschließung und andererseits Wissen über die neuen Regelungen des Lebenspartnerschaftsgesetzes. Eingetragene gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sollen den Partnern (laut Zeitungsartikel) mehr Sicherheit bieten und die rechtliche Gleichstellung mit den heterosexuellen Ehen (z.B. Steuerregelung, endgültiges Erbrecht). Die Gleichstellung ist jedoch am Anfang nicht erreicht und wird auch nicht explizit in den Medien zum Ausdruck gebracht. Durch das Weglassen äußerst wichtiger Informationen wird hier m.E. eine verschleiernd euphemistische Wirkung erzielt, um, ganz einfach, ein jahrhundertealtes Tabu, die Homosexualität, zu umschreiben, aber gleichzeitig den sozialen Notwendigkeiten des 21. Jahrhunderts zu entsprechen. Ob den Politikern auch andere Gründe zum euphemistischen Verschleiern wichtig waren, muss Thema einer gesonderten Untersuchung bleiben. Schlussbemerkungen Anstelle einer wissenschaftlichen Schlussfolgerung, die mir an dieser Stelle verfrüht erscheint, möchte ich mit den Worten Luthers enden: das Wort und der Sprecher sind zwei verschiedene Personen. Um diese Aussage vor dem Hintergrund meiner hier präsentierten Recherche zu deuten, verweise ich auf die Tatsache, dass das Wort des Sprechers bzw. des Kommunikators als Euphemismus eigentlich ein Begriffsaustausch ist. In einer objektiv zutreffenden Aussage (gleichzusetzen mit dem Sprecher selbst) werden diejenigen Wörter, die negativ konnotiert sind und daher weder veschleiernd noch verhüllend wirken, durch neutrale, oft sogar positive Begriffe ersetzt, so dass die objektiven Tatsachen nicht mehr erkennbar sind. Hier drängt sich natürlich die Frage auf, ob es bei euphemistischer Rede (insbesondere bei der politischen Rede) nicht vielleicht beabsichtigt wird, die eigene Meinung zu verbergen und so bewusst ein falsches Verständnis aufzubauen? Nach beendeter Untersuchung scheint die Annahme begründet, dass es im politischen Sprachgebrauch beabsichtigte Verschleierungen gibt. Der Euphemismus erlangt eigenen Status, wird somit zur anderen Wahrheit, zur Wahrheit des Hörers, der sich der objektiven Wahrheit, die Wahrheit des Sprechers, gegenüberstellen lässt. Und, sobald die Mehrheit der Bürger, die Mehrheit der Wähler, diese andere (zweite) Wahrheit eines Politikers erkennt, erkennt sie auch die Dichotomie Sprecher – Wort. Wie Luther es so treffend sagte: zwei verschiedene Personen. Literatur: Primärliteratur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Frankfurter Allgemeine Zeitung (1. Juli – 30 September 2001) Süddeutsche Zeitung (1. Juli – 30 September 2001) Der Spiegel (1. 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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 555 DAS GESPRÄCHSBILD eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen Doina Sandu / Doris Sava Folgende Ausführungen bieten eine Einsicht in Möglichkeiten und Regelhaftigkeiten des Umgangs mit Sprache und möchten wichtige Aspekte der Verwendung von vorgeprägten Ausdrucksmitteln, die auf die Erfordernisse der jeweiligen Kommunikationssituation abgestimmt sind, beleuchten. In der linguistischen Terminologielandschaft stoßen wir nicht selten auf ein Dickicht von Termini (Überlappungen, gleiche Bezeichnung verschiedener Begriffe, u.a.), was oft zu Missverständnissen führen kann. Deshalb halten wir eine kurze Terminologieklärung für notwendig, so wie sie in den aktuellen Nachschlagewerken vorzufinden ist: -Stereotyp Stereotypie [techn.] Verfahren zur Vervielfältigung von Hochdruckformen; Schriftsätze aus unbeweglich verbundenen Druckzeilen; -[ugs.] feststehend, unveränderlich, sinnentleert; -[soz.-psych.] „Bilder in unseren Köpfen“ – vorgeprägte Konzepte zur Wahrnehmung der Welt -Klischee (sprachliches) synonym zu Stereotyp überindividueller Gebrauch von vorgeprägten Wörtern/Wortgruppen, Formeln, Modewendungen Ausgangspunkt der Betrachtungen war die Tatsache, dass in der sprachlich-sozialen Interaktion kommunikative Intentionen auch anhand von “Fertigteilen” aktualisiert werden können. Der Sprecher kann, um sein kommunikatives Ziel zu erreichen, seine individuelle Formulierungsarbeit einschränken und sich auf das Reproduzieren vorgegebener Äußerungseinheiten beschränken. Welche Ziele in der Kommunikation mit der Verwendung dieser ’gebrauchsfertigen’ Ausdrucksformen jeweils verfolgt werden, ist aus dem konkreten Zusammenhang zu erschließen. Der Begriff “verbale Stereotypie”, der auf vorgeprägte Wortverbindungen zu beziehen ist, kennzeichnet den Gebrauch von Ausdrucksmitteln, die als Formulierungsmuster etabliert sind und auf die die Kommunikationspartner entsprechend zurückgreifen können. (Gülich 1978 zit. nach Lüger 1989, 3). Diese verfestigten Kommunikationseinheiten zu erfassen und zu beschreiben, gehört zum Forschungsbereich der Phraseologie. Das Anliegen der hier vorgeführten Ausführungen besteht darin, anhand eines Ausschnitts aus der Gesamtheit des phraseologischen Bestandes, Aspekte ihres Gebrauchs vorzuführen, wobei ihre komplexe Beschaffenheit und die damit verknüpften Besonderheiten den allgemeinen Diskussionsrahmen darstellen. Die Eigenarten dieser sprachlichen Benennungsmittel lassen ihre speziellen Möglichkeiten im Text/in der Äußerung hervortreten und Fragestellungen hinsichtlich ihrer Leistung im Interaktionsablauf aufkommen. In der Behandlung dieses Sonderaspekts verbaler Kommunikation sollen nur manche Auffälligkeiten beleuchtet werden, um Sprache und ihrem Gebrauchswert Aufmerksamkeit zu schenken. Die Darstellung konzentriert sich auf die Leistungsbeschreibung fester, standardisierter Äußerungsmittel in Alltagsgesprächen. Formelhaftigkeit kann auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden. Aus dem umfangreichen Spektrum der relevanten Stereotype seien hier als Beispiele vor allem (a) idiomatische Wendungen und (b) satzwertige Phraseologismen genannt. Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen Die Vielfalt gebundener Formen zeigt, dass der Gegenstandsbereich der Phraseologie uneinheitlich ist. Eine weit gefasste Phraseologie-Forschung geht über die Grenzen der traditionellen Phraseologie hinaus. Mit Gülich (1997, 170) ist Phraseologie in einem weiten Verständnis das Gebiet der Linguistik, in dem Formelhaftigkeit oder Vorgeformtheit in einem umfassenden Sinn untersucht wird. Gegenwärtig werden vor allem Aspekte der Verwendung phraseologischer Einheiten diskutiert. Auf die ständige Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Phraseologie haben viele Linguisten hingewiesen. Gemäß einer weiten Auffassung von Phraseologie gehören in den Bereich der Phraseologie auch die sogenannten „Routineformeln“. Die Einbeziehung solcher Ausdrücke in die Idiomatik wurde von Burger (1973) vorgeschlagen. Coulmas führt Routineformeln neben Redewendungen, Sprichwörtern und Gemeinplätzen als „Arten verbaler Stereotype“ an und benutzt sie als Argument für eine „pragmatische Fundierung der Idiomatik“ (Coulmas 1981, zit. nach Gülich 1997, 144): „Routineformeln sind wie Sprichwörter oder auch Gemeinplätze Muster für die Konstituierung von Handlungen, und zwar von solchen Handlungen, die sich in der alltäglichen kommunikativen Praxis jeder Sprachgemeinschaft wiederholen. Sie sind an rekurrente Situationen des sozialen Verkehrs gebunden und sind als Resultat dieser Situationsstandardisierungen zu betrachten.“ „Phraseologismus“ wäre demnach Oberbegriff für verschiedene Typen formelhafter Ausdrücke aufzufassen. Die Darlegungen zur Erfassung des Begriffs 'Phraseologismus' verzeichnen eine vielfältige, uneinheitliche terminologische Festlegung. Unabhängig zahlreicher Definierungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten werden die unter dem Oberbegriff 'Phraseologismus' subsumierten Erscheinungen in ihrer formalen und semantischen Eigenart von den übrigen Lexemen abgehoben. Auch Lüger (1989, 1998) greift das Problem der Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Phraseologie auf, indem er in einem umfassenden Konzept von Stereotypie auch eine textuelle Ebene einbezogen haben will; folglich sei der Bereich der Phraseologie so auszudehnen, dass nicht allein satzgliedwertige Einheiten, sondern auch größere Einheiten einbezogen werden: Routineformeln, satzwertige Ausdrücke, Äußerungssequenzen oder ganze Texte, die als vorgeprägt oder musterhaft gelten. Der Forschungsbereich der Phraseologie müsse die Textdimension umfassen: “[…] man [wird] sich in Zukunft weiter den Peripherie- und Übergangsphänomenen zuwenden und die Phraseologie auch als Schnittstelle etwa zur Text(sorten)linguistik, zur Ritualforschung und zur Gesprochenen-Sprache-Forschung begreifen müssen”. (Stein 1994 zit. nach Lüger 1998, 44). Auch Gülich (1997) stellt die Frage zur Diskussion, ob man Textteile oder sogar ganze Texte als Phraseologismen beschreiben kann und damit auch die Frage nach dem Gegenstandsbereich der Phraseologie, nach möglichen Erweiterungen oder Eingrenzungen. Ich berücksichtige die Formenvielfalt der ‘Fertigteile’, die uns die Sprache zur Verfügung stellt, und gehe bei den Betrachtungen von einem weiten Phraseologiebegriff aus, d.h. ich beschränke mich nicht nur auf den phraseologischen Kernbereich. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen demnach einerseits diejenigen Erscheinungen, die als zentrale Gruppe innerhalb phraseologischer Einheiten mit Begriffen wie Idiom, Phraseolexem, Phrasem, Redensart, Redewendung, Wendung (mit Spezifizierungen wie 'idiomatisch', 'sprichwörtlich', 'bildlich', 'fest' oder 'gebunden'), Wortgruppenlexem, fester Ausdruck, feste Formel, Stereotyp, phraseologische Einheit, feste Wortgruppe, phraseologische Wortfügung, feste Wortverbindung umschrieben wurden und die die Minimalstruktur einer Wortgruppe aufweisen. Unter dem Begriff 'phraseologische Einheiten' sind allgemein nicht satzwertige Wortgruppen mit unterschiedlicher syntaktischer Struktur und mehr oder weniger ausgeprägter Umdeutung der Komponenten zu verstehen. Im folgenden soll die Vielgestaltigkeit formelhafter ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 557 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava Kommunikationseinheiten verdeutlicht werden, indem das Augenmerk auch auf die Beschreibung von Satzphraseologismen gerichtet wird. Verbale Stereotype oder satzwertige Phraseologismen/Satzphraseologismen auch Satzidiome (in der Fachliteratur auch unter folgenden Termini angeführt: kommunikative Formeln, Routineformeln, kommunikative Phraseologismen, pragmatische Idiome, situationelle Redewendungen, situationsgebundene Stereotype)(Lüger 1998, Wotjak 1996; Wotjak./Richter 1993; Fleischer 1982; Sandu 1993; Heller 1980; Burger 1973; Hessky/Ettinger 1997, Lüger 1989) sind weitverbreitete standardisierte fest stehende Formeln, Bemerkungen, Ausrufe, mit oder ohne Satzstruktur, die uns die Sprache für bestimmte Situationen gebrauchsfertig zur Verfügung stellt und die als Signale in bestimmten pragmatischen Situationen fungieren. Sie sind nach Kühn (1992, 415) “funktionsbezogen” zu beschreiben und werden als ‘festgeprägte Sätze’ in verschiedenen Kommunikationssituationen geäußert. Das Definitionskriterium für diese Erscheinungen, das alle Autoren benutzen, ist ihre Bindung an einen bestimmten Typ von Situation. Es handelt sich folglich um komplexe Ausdrücke, die eine starke kontextuelle Bindung aufweisen und deren Gebrauch weitgehend aus den gegebenen Kommunikationsbedingungen erklärbar ist. Ebenfalls als vorgeprägte Einheiten der Kommunikation sind hier Konstruktionen anzuführen, die sich als Phraseoschablonen, Aphorismen, Sentenzen, Maximen, Sinn- und Sittensprüche, Zitate, geflügelte Worte, Sprichwörter, Sprüche, Gemeinplätze, Wellerismen bezeichnen lassen. Als intentional verwendbare Einheiten sind sie funktional vollständig. Das Kriterium der funktionalen Vollständigkeit ist nach Lüger (1989) bei der Klassifizierung der Erscheinung „Stereotypie“ relevant. Gesprächsanalytisch untersucht werden zunächst feste nichtsatzwertige Wortverbindungen, die das sprachliche Miteinander-Umgehen, das Sprachverhalten der Kommunikationsteilhaber thematisieren, auf Strategien der Gesprächsführung und der Rollenübernahme hinweisen, die darauf hindeuten, wie Gesprächspartner ihre verbalen Reaktionen gegenseitig interpretieren. Hier müssen z.B. die zahlreichen Phraseologismen mit den Komponenten sprechen/Sprechen, Sprache, reden/Rede/Gerede, sagen/Sagen, sowie Wort, Mund, Mundwerk, Maul, Maulwerk, Mühle/Mühlwerk, Schnabewel, Zunge, Lippe angeführt werden. Andererseits werden satzwertige Phraseologismen präsentiert, mit deren Verwendung unterschiedliche Handlungen vollziehbar sind. Allgemein betrachtet, handelt es sich um Beschreibungen der Vorgehensweisen der Gesprächsbeteiligten bei der Gesprächssteuerung und -gestaltung. Dabei kann der Aussagewert von Phraseologismen festgelegt werden, ihre Wirkung im Sprachgebrauch. Der Sprachgebrauch stellt den Sprachteilhabern eine Anzahl von variablen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Gemäß der Absicht des Sprechers werden durch die Sprache Inhalte vermittelt mit dem Ziel, etwas zu bewirken, zu verändern, zu erreichen, zu veranlassen. Dieselbe sprachliche Mitteilung lässt sich auf verschiedene Weise in Worte kleiden. Sprechen als soziales Handeln erfolgt in einem sozialen Kontext und impliziert eine Reihe von Faktoren. Im Verlauf des Gesprächs wechseln die Beteiligten ihre Rolle untereinander, d.h. die Initiative in der Entwicklung und im Verlauf eines Gesprächs geht von einem Kommunikationspartner zum anderen über. Die wechselnde Rollenübernahme ist Teil der Gesprächsdynamik. Auf einen Initiativenwechsel/-austausch und damit auf die Rederechtübernahme weisen u. a. folgende Phraseologismen hin: jmdm. das Wort geben/erteilen, sich zu Wort melden, jmdm. das Wort aus dem Mund(e) nehmen, jmdm. ins Wort/in die Rede fallen, jmdm. das Wort entziehen/verbieten, jmdm. das Wort abschneiden, um das Wort bitten, das Sagen haben, den Takt angeben. Der Rollenwechsel im Gespräch wird von unterschiedlichen Faktoren mitbestimmt. Er geht auch davon aus, je nachdem ob die Kommunikationsteilnehmer gleichberechtigt, sozial gleichgestellt 558 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen sind oder nicht. Der Sprecher muss auch seinem Kommunikationspartner den Status als Gesprächspartner anerkennen, Bereitschaft zur Kommunikation haben. Partnerunterstützende phraseologische Einheiten sind z.B.: für jmdn. Partei ergreifen/nehmen, an einem/am gleichen/am selben Strang ziehen, sich etw. nicht zweimal sagen lassen, jmdm. das Rückgrat stärken, jmdm. den Rücken stärken/steifen, ein gutes Wort für jmdn. einlegen. Zur Verwirklichung seiner kommunikativen Absichten wird ein Gesprächsteilnehmer versuchen, je nach Kommunikationssituation geeignete Strategien bezüglich der Hörerreaktion anzuwenden. Das Einreden auf den Dialogpartner, die Veranlassung einer Handlung oder zur Auslösung einer Reaktion beim Gesprächspartner können phraseologische Einheiten eingesetzt werden, die sich z. B. unter die Begriffe ‘auf jmdn. ununterbrochen einreden’/’jmdn. fragen/ausfragen’ gruppieren lassen: jmdm. ins Gewissen reden, sich den Mund fransig/fusselig reden, jmdm. in den Ohren liegen, bitten und betteln, jmdm. ein Loch/Löcher in den Bauch/Arsch reden/fragen, reden wie ein Wasserfall/Buch, jmds. Mund geht wie ein Mühlwerk, ohne Punkt und Komma reden, jmdn. mit Fragen überschütten/bombardieren. Zur Auslösung einer Reaktion beim Gesprächspartner können aber auch Einheiten eingesetzt werden, die eine Einschätzung des Informationswertes einer Aussage durch den Adressaten ausdrücken: etw./das ist (alles) kalter Kaffee, etw. ist Schnee vom vergangenen Jahr/ von gestern, etw. ist ein alter Hut, etw. ist eine alte Weste, etw. ist aufgewärmter Kohl, etw. ist schon in tausend Zungen gepredigt worden, etw. ist das alte Lied/die alte Leier, (das ist) dasselbe in Grün, (es ist) immer dieselbe/die gleiche/die alte Platte, Blech reden, dummes Zeug reden, Unsinn/Makulatur reden, Mist reden, hellen Unsinn reden, albernes Gerede. Beim Vollziehen kommunikativer Handlungen muss sich der Handelnde an den Reaktionen des anderen orientieren. Die Reaktionen des Empfängers – die sowohl sprachlich als auch nichtsprachlich ausfallen können – sind das Ergebnis des Dekodierungsprozesses und können – vorausgesetzt, dass sie den Sender erreichen – zu neuen Gesprächsbeiträgen führen. Viele Phraseologismen bringen die Reaktionen des Angesprochenen auf den Punkt. Als explizite Zeichen der Zuwendung auffassbar, werden die Meldungen des Hörerverhaltens – die intendiert sind - als Rückmeldungen/Rückmeldungsverhalten bezeichnet. Das Rückmeldungsverhalten deutet darauf hin, dass der Hörer den Formulierungsprozess mitverfolgt. Andererseits signalisieren die Meldungen des Dialogpartners, dass dieser die Übernahme der Sprecherrolle plant. Das Verhalten des Hörers, das fast gleichzeitig zum Verlauf des Specherbeitrags läuft, beeinflusst den weiteren Ablauf und den Weitergang der Kommunikation. In der Beschreibung verbaler Kommunikation wird dem Hörer eine besonders wichtige Rolle zugeschrieben. Er hat den entscheidenden Anteil an der Verwirklichung der Kooperation, die als Grundvoraussetzung einer Interaktion gilt. Die Hörerbeteiligung kann aktiv oder passiv erfolgen, auf jeden Fall wird der Angesprochene ein bestimmtes Verhalten zeigen. Hinsichtlich des Rückmeldungsverhaltens lassen sich Phraseologismen sowohl dem sprachlich formulierten Hörerverhalten als auch den nichtsprachlichen Reaktionsmöglichkeiten zuschreiben. Auf ein bestimmtes Verhalten des Adressaten weisen Phraseologismen hin, deren Bedeutung sich mit ‘aufmerksam zuhören’ vs. ‘nicht zuhören/ignorieren’ umschreiben lässt: an jmds. Lippen hängen, ganz (Auge und) Ohr sein, Augen und Ohren offenhalten/aufhalten, die Augen aufmachen/aufsper-ren/auftun, die Ohren aufmachen/aufsperren, die Ohren/die Löffel spitzen, ganz Ohr sein, lange/spitze Ohren machen, jmd. hört wie elektrisiert mit, jmd. ist gespannt wie ein alter Regenschirm, jmd. macht lange Ohren, jmd. spitzt die Löffel/die Lauscher wie ein Feldhase in der Jagdsaison, jmd. hat seine Augen vorn und hinten, jmd. passt auf wie ein Schiesshund, bei jmdm. ein offenes/williges Ohr finden, ein offenes Ohr für jmdn. haben, jmdm. Gehör schenken, mit halbem Ohr zuhören/hinhören, tauben Ohren predigen, etw. geht zu einem ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 559 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava Ohr hinein/rein und zum anderen wieder hinaus/raus, auf den/seinen Ohren sitzen, bei jmdm. kein Gehör finden, etw. in den Wind schlagen, in den Wind reden, gegen die/eine Wand reden, zum Fenster hinaus reden, jmdn. mit dem Rücken ansehen, jmdm./etw. den Rücken kehren/wenden/zudrehen, für etw. blind sein, über etw. hinwegsehen, sich einen Dreck um nichts kümmern, jmdn. wie Luft behandeln, Luft für jmdn. sein, jmdn. keines Blickes würdigen, jmdn./etw. links liegen lassen. Weitere das Verhalten des Dialogpartners beschreibende Phraseologismen sind: jmdm. aufs Maul schauen, reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist, reden, wie jeder es versteht, fluchen wie ein Bierkutscher, jmd. gibt (überall) seinen Senf dazu, [vor jmdm.](seine) schmutzige Wäsche waschen. Manche Phraseologismen weisen auf Strategien hin, die dem Sprecher den Kommunikationserfolg sichern sollen: jmdm. geht/fliesst etw. leicht/glatt von den Lippen/von der Zunge, alles/jedes Wort auf die Goldwaage legen, Stein und Bein (auf etw.) schwören, aus einer Mücke einen Elefanten machen, etw. grau in grau sehen/… , etw. schwarz in schwarz malen/darstellen/schildern, etw. in den schwärzesten Farben malen/darstellen/schildern, das Pro und Contra abwägen, Gründe und Gegengründe geben, jmd. hängt einer Sache ein Mäntelchen um, jmd. macht aus teigigen Birnen böhmische Feigen, reden wie ein Buch, reden wie aufgezogen, reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist, reden, wie jeder es versteht, seine Zunge im Zaum halten/zügeln, sich auf die Zunge beissen (müssen). Die Hörerbeteiligung kann sowohl sprachlich als auch nichtsprachlich erfolgen. Der Angesprochene reagiert auf das Gesagte/Gehörte und das, was er gerade wahrgenommen hat, kann er akzeptieren oder ablehnen. Die nichtsprachlichen Reaktionen der Dialogpartner halten folgende Phraseologismen fest: etw. steht jmdm. im Gesicht geschrieben, ein Gesicht machen wie drei/sieben Tage Regenwetter, ein langes Gesicht machen/ziehen, jmdn. keines Blickes würdigen, keine Miene verziehen, ohne mit der Wimper zu zucken, jmdm. die kalte Schulter zeigen, jmdn. über die Schulter ansehen, jmdn. über die Achsel ansehen, die (mit den) Achseln zucken, den Mund/Mund und Augen/Mund und Nase aufsperren/aufreißen, Stielaugen machen/bekommen /kriegen, die Augen aufreißen, jmdn. mit den Augen verschlingen/verzehren, die Hände überm Kopf zusammenschlagen, die Stirn in Falten legen, mit der Faust auf den Tisch schlagen, jmdm./etw. den Rücken kehren/wenden/zudrehen, von einem Ohr zum anderen strahlen/ grinsen/lachen, zu Tode betrübt sein, auf-/hochfahren wie von der Tarantel gestochen, aussehen wie eine gebadete Maus, dastehen wie die Kuh vorm neuen Tor, dastehen/aussehen wie versteinert, zittern wie Espenlaub. Darüber hinaus weisen zahlreiche Phraseologismen darauf hin, dass sich mit ihrem Einsatz Konsequenzen für den Weiterlauf des Gesprächs ergeben. Es geht hier um Fügungen, die sich unter den Leitbegriffen ‚sich irren/falsch liegen/sich täuschen/fehl einschätzen‘, und ‚unverständlich sein‘ vs. ‚nichtssagend/oberflächlich‘ gruppieren lassen: etw. in den falschen/verkehrten Hals bekommen/kriegen, im falschen Laden/im falschen Film/auf der falschen Fährte sein, im falschen Zug/im falschen Boot sitzen, auf dem falschen Dampfer sein/sitzen, an der falschen/verkehrten Adresse sein, falsche Schlüsse ziehen, auf dem Holzweg sein/sich befinden. Auf die Unverständlichkeit einer Aussage/Handlung beziehen sich: in Rätseln sprechen/reden, sich keinen/einen Vers auf etw. machen können, etw. kommt jmdm. spanisch vor, Bahnhof verstehen, etw. ist chinesisch für jmdn. Die Teilnehmer an einem Gespräch müssen ihre Äußerungen spezifisch auf den jeweiligen Äußerungsadressaten und dessen Vorwissen zuschneiden. Die Formulierungstätigkeit fällt je nach Zeit-/Raumfaktor, Beziehung der Kommunikationspartner zueinander, Befindlichkeit der Kommunikationspartner usw. unterschiedlich aus. Zahlreiche Phraseologismen weisen auf die Formulierungstätigkeit (‚jmdm. direkt‘ vs. ‚indirekt etwas mitteilen‘) hin: (sich) kein Blatt vor den Mund nehmen, mit der Tür ins Haus fallen, mit etw. nicht hinterm Zaun halten, jmdm. etw. unter 560 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen die Nase reiben, jmdm. etw. auf den Kopf zusagen, mit jmdm. Klartext sprechen/reden, das Herz auf der Zunge tragen/halten, frisch/frei von der Leber weg erzählen/reden/sprechen, jmd. lässt sich keine Spinne übers Maul wachsen, mit der Sprache herausrücken, das Kind bei Namen und Vornamen, etw./das Kind beim (rechten/richtigen) Namen nennen, eine deutliche Sprache mit jmdm. sprechen, den Nagel auf den Kopf treffen, etw. auf den Punkt bringen, ins Schwarze treffen, kurz und bündig, offen und ehrlich, kurz und schmerzlos; vs. um den (heissen) Brei herumreden, wie die Katze um den heißen Brei um etw. herumgehen/herumschleichen, durch die Blume sprechen, [jmdm.] etw. durch die Blume sagen. Zu den Faktoren, die eine Gesprächssituation mitprägen, gehört auch die Vorstellung der Gesprächspartner voneinander, das Image eines jeden Teilhaber am Gespräch in den Augen der/des anderen, oder in seiner eigenen Einschätzung. Wie sich die Kommunikation entwickelt, hängt auch von dem Bild ab, das die Gesprächsteilnehmer in der Interaktion von sich selbst schaffen. Die am Gespräch Beteiligten sind darum bemüht ihr Image zu pflegen. Die von den Teilnehmern verwendeten Strategien dienen nicht nur der Vermittlung von Informationen, sondern weisen darauf hin, dass die Agierenden sich bemühen, sich ihren Gesprächspartnern gegenüber in einem günstigen Licht zu präsentieren. Bei der Diskussion um die Gestaltung des Images spielt die Tatsache eine Rolle, dass Phraseologismen gegenüber den nichtphraseologischen Entsprechungen ein “Bündel evaluativer Handlungen, Einstellungen, Imagebezeugungen” ausdrücken können. (Kühn 1994, 420) Aus der Vielfalt der Darstellungsmöglichkeiten, sein Image zu pflegen bzw. zu gestalten sollen hier nur einige Möglichkeiten vorgestellt werden. Es geht einerseits um die Begriffe ‘schmeicheln/loben/heucheln’: jmdm. Honig/Pappe/ Brei um den Bart/ums Maul/ um den Mund schmieren/streichen, sich bei jmdm. lieb Kind machen, jmdn./etw. über den grünen Klee loben, jmdm. Zucker in den Hintern/Arsch blasen, jmdn. in den Himmel heben, Süßholz raspeln, jmdm. in den Hintern kriechen und den Eingang verteidigen, sich bei jmdm. eine braune Zunge abverdienen, jmdm. ums Maul streichen, jmdm. Pappe ums Maul schmieren, jmdm. die Ohren melken, es jmdm. honigsüß einträufeln, jmdm. um den Bart gehen, sich wie Katzen verhalten – vorne lecken und hinten kratzen, in den süßesten Tönen flöten, jmd. hat eine glatte Zunge, jmd. möchte dem lieben Gott die Füße küssen, mit dem Schwanz wedeln und mit den Zähnen beißen, Zucker klopfen, jmd. hat Zucker im Mund. Andererseits um ‚angeben/prahlen/aufbauschen/schwülstig sprechen‘: Hefe in den Schuhen haben, angeben wie ein Wald voll Affen, angeben wie ein nackter Affe/ zehn nackte Affen, mit Jägerlatein um sich werfen, ein Maul so groß wie ein Scheunentor haben, daherkommen wie ein aufgeblasener Frosch, jmd. hat eine Schnauze wie ein Kanaldeckel, angeben wie ein Sack voll Mücken/wie ein Tüte voll Wanzen/wie zehn nackte Neger/ein Sack Flöhe, den Mund/das Maul (zu) voll nehmen/aufreißen, einen großen Mund haben/führen, die Klappe aufreißen, die große Klappe schwingen, das Maul sperrangelweit aufreißen, die große Posaune blasen, viel Wind machen, auf die Pauke hauen, jmdm. einen blauen Dunst vormachen, hohe Noten pusten, den Rachen weit aufreißen, sich spreizen wie ein Pfau, große Bogen spucken, sich aufplustern wie eine Henne auf ihrem Nest, sich aufplustern wie die älteste Glucke auf der Stange, daherkommen wie der gestiefelte Kater, große (dicke) Töne reden (schwingen)(spucken), hohe Töne schwingen, vom großen Christoph reden, dick auftragen, angeben wie eine Tüte Bienen. Manche Gesprächssituationen entwickeln sich in eine nicht immer voraussehbare Richtung, das Gleichgewicht kann durch eine Äußerung und/oder Handlung gestört sein. Auf ‘Ablehnung/Abweisung’ ausgerichtet sind: jmdm. die Tür vor der Nase zuschlagen, jmdm. einen Korb geben, jmdn. mit rauchenden Ohren abblitzen lassen, jmdm. den Rücken zuwenden, jmdn. mit eisiger Miene empfangen, jmdm. die kalte Schulter zeigen, jmdm. einen Korb geben, sich einen Korb holen, einen Korb bekommen/erhalten/kriegen, auf Distanz zu jmdm. gehen, jmdn. nicht riechen können, einen Pik auf jmdn. haben, jmdn. abblitzen lassen, jmdm. eine Abfuhr erteilen, ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 561 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava jmdm. den Buckel herunterrutschen, jmdm. den Rücken wenden/kehren, jmdn. in die Pfanne hauen. Auf das Konfliktsituationen und damit auf Image-Verletzung/-Zerstörung beziehen sich: sich in den Haaren liegen, sich um des Kaisers Bart streiten, einen Streit vom Zaun(e) brechen, das Kriegsbeil ausgraben/begraben, Öl ins Feuer gießen. Hierher gehören auch Phraseologismen, deren Bedeutung mit ‚beschimpfen/beleidigen/zurechtweisen‘, ‚ausschimpfen/schimpfen/tadeln/Meinung sagen, Vorwürfe machen/züchtigen/bösartige Bemerkungen machen’ beschrieben werden kann: jmd. hat eine scharfe/spitze/freche/spöttische/lose/böse/ boshafte Zunge, über jmdn./etw. das Maul zerreißen, Haare auf den Zähnen haben, jmdm. auf den Schwanz/auf die Zehen treten, jmdm. mit dem nackten Hintern ins Gesicht springen, jmdn. vor den Kopf stossen, jmdn. bis ins Mark treffen, jmdm. einen verbalen Leberhaken verpassen, jmdn. zur Sau/zur Schnecke machen, jmdm. übers Maul fahren, jmdn. aus den Lumpen schütteln, jmdn. ins Gebet nehmen, jmdm. das Oberstübchen fegen, etw. stallfrisch sagen, etw. unter die Nase reiben, sich jmdn. vorknöpfen, den Knüppel aus dem Sack lassen, den richtigen Ton anschlagen, das Kind beim (rechten) Namen nennen, jmdm. auf den Sack niesen/husten, jmdm. auf die Beine/auf die Zehen/auf die Hühneraugen treten, jmdn. in seine Schranken weisen/zeigen, was eine Harke ist, jmdm. aufs Dach steigen/auf die Finger/Pfoten klopfen/die Flötentöne beibringen/auf den Deckel spucken, jmdm. eine Lektion/die Leviten//die Epistel/die Kapitel/den Text lesen, jmdn. mit scharfer Lauge taufen, mit jmdn. hart/scharf/streng ins Gericht gehen, kein gutes Haar (Härchen) an jmdm./etw. lassen, auf jmdm. herumreiten/herumhacken, jmdn. fix und fertig machen, jmdm. eine Standpauke halten, mit jmdm. Fraktur reden, jmdm. das Halleluja singen, jmdm. die Grillen austreiben, jmdm. die gelbe Karte zeigen, jmdm. die Haare schneiden, jmdm. etw. flüstern, jmdn. das Vaterunser lehren, jmdm. die Zähne ziehen, mit jmdm. Klartext sprechen, jmdm. die Hühneraugen operieren, jmdm. etw. auf die Mütze geben, jmdm. etw. um die Ohren hauen, jmdn. bei den Ohren nehmen, jmdm. die Löffel lang ziehen, jmdn. kalt rasieren, mit jmdm. Karussell fahren, jmdm. den Marsch blasen, jmdm. etw. aufs Butterbrot schmieren/streichen, jmdm. eins auf den Deckel geben, jmdm. auf die Finger klopfen, eins/etw. auf die Finger bekommen/kriegen, eins auf den Kopf bekommen, jmdn. ins Gebet nehmen, jmdm. den Kopf waschen, jmdm. eine Lektion erteilen, jmdm. die Leviten lesen, jmdm. (gehörig) den Marsch blasen, jmdm. die Ohren lang ziehen, jmdn. zur Schnecke machen, ein Haar in der Suppe finden, etw./jmdn. in der Luft zerreißen, jmdn. in die Pfanne hauen, jmdn. in Grund und Boden kritisieren jmdn. fix und fertig machen jmdm. eine Gardinenpredigt halten, jmdm. etw. unter die Weste jubeln. Jeder Gesprächsschritt wird als Reaktion auf den vorhergehenden Gesprächsbeitrag des Partners verstanden. Jeder Sprecher beachtet bei der Gestaltung seines Eingriffs auch das von beiden Seiten vorher Gesagte. Je nach Bearbeitung bereits produzierter kommunikativer Handlungen, kann der Umfang der Fortsetzungsmöglichkeiten im Gespräch unterschiedlich ausfallen; im Gegenzug des Partners ein Ergänzen, Modifizieren, Abwandeln, ein Akzeptieren oder sogar eine Zurückweisung des bereits Geäußerten erfolgen. In authentischen Gesprächen sind zahlreiche Zusätze vorzufinden, redeorganisierende Sprechakte, metakommunikative Einschübe, Schweigephasen, Äußerungsüberlappungen, Einschubsequenzen. Schweigen ist als Ausdrucksmöglichkeit in das Gespräch miteinzubeziehen. Das Ausbleiben einer sprachlichen Reaktion kann als Überzeugtsein, Rückzug in diplomatischer Zurückhaltung, Zustimmung, Überraschtheit, als Ausdruck der Ablehnung, als Hinweis auf die psychische Verfassung des Dialogpartners usw. gedeutet werden. Während des Schweigens kann der Kommunikationsteilhaber aber auch überlegen, über das eben Gesagte nachdenken, es kritisch abwägen oder einen Kommunikationsfortgang planen, vielleicht auch an die Eröffnung anderer Gespräche denken. Der Angesprochene kann zwischen Reagieren und Nichtreagieren wählen und sich beispielsweise für die Unterlassung des reaktiven Gesprächsschrittes entscheiden. Das kann zu Störungen in der 562 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen Kommunikation führen, die sich negativ auf den weiteren Kommunikationsablauf, auf die weitere Gestaltung der Sprecher-Hörer-Beziehung auswirken, zu einer Änderung der Gesprächsrichtung. Die Akzeptierung oder Nichtakzeptierung der kommunikativen Intention bringt der Hörer durch einen Sprechakt oder durch eine nichtsprachliche Handlung zum Ausdruck. An der Stelle des Sprechakts kann auch Schweigen treten. Eine ausbleibende verbale Reaktion, die als sprecherinitiiert oder hörerdeterminiert eingestuft werden kann, ist für die Weiterentwicklung der Kommunikation ausschlaggebend. Die Suche nach dem richtigen Wort/das (plötzliche) Schweigen/die psychische Verfassung des Kommunikationsteilhabers verdeutlichen folgende Phraseologismen: nach/um Worte ringen, das Wort schwebt/liegt jmdm. auf der Zunge/auf den Lippen, den Mund nicht aufbekommen/aufkriegen, jmdm. fehlen die Worte, jmdm. die Sprache rauben/verschlagen/nehmen, jmdm. bleibt die Sprache weg, jmdm. den Mund/das Maul stopfen, das Maul/die Klappe halten, kein Wort (mehr) über etw. verlieren, seine Zunge hüten/zügeln/im Zaum halten/beherrschen können, in sieben Sprachen schweigen, tot schweigen, sich in Schweigen hüllen, verschwiegen wie ein Grab sein, die Kiemen nicht auseinanderkriegen, keinen Ton von sich geben, keinen Mucks machen, die Angst bindet jmdm. die Zunge, keinen Laut von sich geben, kein Wort fallen lassen. Der Sender produziert unter Berücksichtigung der Kommunikationssituation und seiner Auffassung von dem Empfänger einen Kommunikationsakt mit Hilfe seiner pragmatischen Kompetenz und realisiert ihn mit mit Hilfe seiner sprachlichen Kompetenz. Der Empfänger dekodiert den entstandenen Text mit Hilfe der entsprechenden Kompetenzen unter Berücksichtigung der situationellen Faktoren und seiner Kenntnisse von dem Sender. Die Kommunikation als eine soziale Handlung ist dann gelungen, wenn die Intention des Sprechers richtig dekodiert wird, d.h. der Inhalt der Äußerung intentionsmässig angekommen ist. Für das Gelingen einer sprachlichen Handlung sind situationsspezifische, gesellschaftsspezifische, sprecher- und hörerspezifische Regeln verantwortlich. Die Sprach- und Kommunikationsteilhaber kommunizieren miteinander indem sie als Träger von Sprache und Kultur, von Kontextwissen Äußerungen produzieren und rezipieren. Dabei ist offensichtlich, dass die Ausdrucksmöglichkeiten mit der Bedeutung „schweigen“ weniger zahlreich im phraseologischen Bestand der deutschen Sprache vertreten sind im Unterschied zu denen, deren Bedeutung „sprechen“ ist. Der Umgang mit formelhaften Kommunikationseinheiten gehört zum Sprach- und Alltagswissen der Mitglieder einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft. Die Agierenden konzentrieren sich auf die Verfolgung ihrer kommunikativen Ziele in der Entfaltung des Gesprächsthemas, sind aber in der Wahl ihrer Vorgehensweise und der Ausdrucksform frei. In der Sprachpraxis ist der Rückgriff auf Vorgeprägtes und das Vorkommen fester Wortverbindungen keine Sondererscheinung, die Verwendung von Phraseologismen kann in der Kommunikation verschiedenen Zielen dienen. Mit dem Einsatz satzwertiger Phraseologismen können bestimmte Kommunikationsabsichten- und –ziele abgesichert werden. Phraseologismen sind zu denjenigen Ausdrucksmitteln zu zählen, mit denen man Handlungen zum Aussagegehalt sprachlicher Äußerungen (Referenz- und Prädikationshandlungen) durchführen kann. Anhand von phraseologischen Einheiten können die Sprachteilhaber und Dialogpartner werten, vereinfachen, verallgemeinern, veranschaulichen, verschleiern, verstärken. Phraseologismen als semantisch und pragmatisch komplexe Mehrwortlexeme sind satzsemantisch wichtig, weil “manche Handlungen […] ohne Phraseologismen nicht oder nur sehr umständlich durchführbar” wären. (Kühn 1992, 418) Es geht folglich um komplexe Ausdrucksmittel, die für ver- ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 563 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava schiedene kommunikative Aufgaben herangezogen werden können. Ihre Leistung kann u.a. auf der Ebene der Imagegestaltung, der Darstellung interpersonaler Beziehungen, der Aufmerksamkeitssteuerung dargestellt werden. Darüber hinaus verdeutlicht der Gebrauch von Satzidiomen in einer bestimmten Gesprächssituation die Handlungsabsicht der Sprechers gegenüber den Gesprächspartnern. Gebrauchsfertige Formulierungshilfen können u.a. zum Ausdruck bringen: Empörung/Entrüstung/Protest: Da hört doch alles auf! Da könnte ich mich schwarz ärgern. Das kann doch nicht wahr sein. Das ist doch nicht zu fassen! Das ist nun wirklich zu viel. Was zu viel ist, ist zu viel; Um Gottes willen! Das ist eine Frechheit! Das ist unverantwortlich! Enttäuschung/Resignation: Na dann gute Nacht! Aus der Traum! Traurig, aber wahr! Das bringt nichts; das wird und wird nicht; das klappt und klappt nicht. Zurückweisung: Das fehlte gerade noch! Das liegt mir nicht! Nicht, dass ich wüsste! Verwunderung/Bestürzung/Überraschung: Mir fehlen die Worte! Ach, du meine/liebe Güte! Das kann ja heiter/lustig werden. Ablehnung/Abwehr: Was erlaubst du dir! Was fällt dir ein! Ich will nichts mehr davon wissen/hören! Das ist bei uns kein Thema. Das kannst du dir abschminken. Lass das! Um Gottes willen! Abstand/ironischer Zweifel: Der und dein Freund? Die und zuverlässig? Ich fresse einen Besen, wenn … Dass ich nicht lache! Wer’s glaubt, wird selig! Das wäre ja noch schöner! Das ist ja schön! Das würde/könnte dir so passen! Drohung/Ermahnung: Dir werde ich gleich helfen! Das lasse ich mir nicht gefallen! Nun schlägt’s aber dreizehn! Wie du mir, so ich dir. Bis hierher und nicht weiter! Na warte! Hab dich nicht so! Tu (doch) nicht so! Mach keine Umstände! Stell dich nicht so an! Zier dich nicht so! Dem/der hab‘ ich es aber gesagt! Verärgerung/Verwunderung: Das fehlte gerade noch! Das kann ja heiter werden! Das ist (doch) der Gipfel! Unwillen/Ungeduld: Halt’ die Klappe! Das fehlte gerade noch! Nun mach aber einen Punkt! Heraus mit der Sprache! X hin, X her… Beruhigung: Das hat nichts zu sagen! (Das) macht nichts! Abwarten, Tee trinken! Das wird sich regeln/klären. Bekräftigung/Zustimmung: Ganz meinerseits! Versicherung: Hand drauf! Hand aufs Herz!Das macht mir nichts aus! Dafür lege ich meine Hand ins Feuer! Darauf kannst du Gift nehmen. Feststellung/Warnung: Das ist leichter gesagt als getan. Die Zeiten sind vorbei! Lass dir das gesagt sein! Schluss jetzt! Vorwurf: Es gibt ein Donnerwetter! versprochen ist versprochen. Unerwartetes/Unangenehmes: Da haben wir die Bescherung! Da haben wir den Salat! Anerkennung/Ermunterung: Hut ab! Alle Achtung! Toi, Toi, Toi! Kopf hoch! Hals- und Beinbruch! Weigerung/Widerspruch: Das lasse ich mir nicht gefallen! Mir reicht‘s! Das fällt mir doch nicht im Traume ein! Viele phraseologische Einheiten sind sprechaktgebunden. Mit dem Einsatz formelhafter Kommunikationseinheiten können mehrere und unterschiedliche Handlungen gleichzeitig ausgeführt werden. Für Satzphraseologismen kann man folgende Funktionsbereiche annehmen (vgl. Lüger 1989, 1998): Satzphraseologismen sind als Mittel zur Erleichterung der Formulierungsarbeit auffaßbar. Kommunikationsaufgaben, die feste Bestandteile der sozialen Interaktion sind, werden routiniert mit Hilfe vorgefertigter sprachlicher Ausdrücke bewältigt. In der Kommunikationspraxis helfen Vorformulierungen bei der Formulierungsarbeit. Satzwertige Phraseologismen werden in der Kommunikation häufig für Zwecke der Textorganisation eingesetzt (textgliedernde und -steuernde Funktion).. Gülich (1997, 170) möchte den Rückgriff auf Formelhaftigkeit als Formulierungsverfahren verstehen und demzufolge das Formulieren mithilfe von Formelhaftem in Beziehung zu anderen Formulierungsverfahren setzen. Wenn der Gesprächsteilnehmer in bestimmten Kommunikationssituationen für häufig auftretende Formulierungsaufgaben auf Formelhaftes zurückgreift, kann er damit auch eine mit der voraufgehenden Äußerung vollzogene Handlung unterstützen (Satzphraseologismen als Mittel der Handlungsunterstützung und -verstärkung). Gleichzeitig mit der Unterstützung einer Sprach- 564 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen handlung können aber auch Bewertungshandlungen vollzogen werden, Sprechereinstellungen zu einer Sprachhandlung, zum Sachverhalt, zum angesprochenen Thema insgesamt ausgedrückt werden um damit wiederum als Verstärkung/Unterstützung für Sprachhandlungen zu gelten. Satzphraseologismen kommt eine wichtige Funktion als Bewertungs- und Einstellungsindikatoren zu. Darüber hinaus wird mit der betreffenden Äußerung noch eine Imageaufwertung oder -bestätigung bezweckt. Diese Fertigteile sind eine bequeme und einfache Möglichkeit, sein Image wunschgemäß zu gestalten und zu wahren, das Image des anderen nicht zu verletzen um damit auch Imagearbeit zu leisten, sich durch den Rekurs auf Formelhaftes positiv darzustellen. Vorgeprägtem kann folglich eine imageorientierte Wirkung zugeschrieben werden. Damit kann die kommunikativen Distanz zwischen den Beteiligten abgebaut werden, kann die Schaffung eines bestimmten Gesprächsklimas erreicht werden. Mit der Funktion der Imagepflege eng verbunden ist eine weitere in Beziehung zu setzen, nämlich die Möglichkeit das Gesprächsklima zu beeinflussen, zu steuern. Die Art und Weise des Miteinander-Redens wirkt sich auf die Gestaltung der Beziehung zwischen den Dialogpartnern aus. Satzphraseologismen müssen als Mittel der Beziehungsgestaltung in der Interaktion berücksichtigt werden. In der Funktionsbeschreibung verfestigter Formulierungsmuster ist auf ihre Relevanz für die soziale Interaktion hingewiesen worden u.a. als Mittel zur Symbolisierung der eigenen sozialen Identität und der der Adressaten. Die pragmatische Funktion von Phraseologismen sieht Fleischer (1982, 221) darin, dass sie als Indikatoren sozialer Verhältnisse fungieren. Ein Sprecher/Schreiber erweist sich durch den Gebrauch bestimmter Formeln als Mitglied einer Kommunikationsgemeinschaft. Phraseologische Ausdrücke können die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gesprächsschritt lenken und der Äußerung besonderes Gewicht verleihen. Die Wirkungsverstärkung einer bestimmten Sprachhandlung und die Aufmerksamkeitssteuerung sollen der Kommunikationsverbesserung dienen. Als kompakte Einheiten sind Phraseologismen für die Raffung des Mitteilungsgehaltes geeignet. Andererseits erlaubt die Vagheit ihres Mitteilungsgehaltes dem Gesprächspartner Rückzugsmöglichkeiten. Man kann dadurch sein Image auch schützen, ein bestimmten Gesprächsklima schaffen, kommunikative Distanz abbauen. Damit wird ein Beitrag zur Konfliktentschärfung und Verstehenssicherung geleistet. Vorgeprägtem wird allgemein eine Entlastungsfunktion zugeschrieben. Fleischer (1982) geht noch einen Schritt weiter und spricht den Phraseologismen insgesamt die Funktion der Kommunikationserleichterung zu. Die Verhaltensunsicherheit nimmt aber zu wenn man die richtigen Formeln nicht beherrscht, sie situationell, sozio-kulturell nicht adäquat in den Kontext einbaut. Den sozio-kulturell verankerten Komponenten des komplexen sprachlichen Kommunikationsverhaltens muss gebührende Beachtung geschenkt werden, vor allem weil Fragen des Miteinanderredens in den Vordergrund geraten, besonders wenn es um interkulturelle Kommunikation geht (kulturspezifische Züge des Sprachgebrauchs und des Verhaltens im Gespräch, kulturspezifische Gesprächsregeln, kulturbedingte Kommunikationsgepflogenheiten). Ein weiteres Kennzeichen der angesprochenen Einheiten ist die Vermittlung kulturspezifischer Inhalte. Phraseologismen als “Kulturzeichen” (Lüger 1998, 43) sind Träger landeskundlicher, gesellschaftsspezifischer Erfahrungen; sie geben in komprimierter Form kulturspezifischen Einstellungen, Erfahrungen, Normen, Urteile und Vorurteile, Werte einer Sprachgemeinschaft wieder. In der Kommunikation kommt solchen Ausdrücken eine erhöhte Bedeutung zu. Interagierende müssen auch mit Missverständnissen, Unklarheiten, Vermutungen u.v.m. rechnen, mit dem Nicht-Verstehen einer Äußerung als Formulierungsmuster. Als Verstehenshilfen können metakommunikative Mittel eingesetzt werden. Vorformuliertes erscheint häufig von metasprachlichen Signalen begleitet. Metakommunikative Mittel sind Dekodierungshilfen für Sprachzeichen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit als besonderes und komplexes Sprachmaterial aufzufassen sind. Metakommunikatives dient nicht nur der Ver- ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 565 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava stehens- und Wirkungssicherung, es signalisiert gleichzeitig aber auch die Kooperationsbereitschaft des Senders und eine deutliche Zuwendung zum Partner: im wahrsten Sinn(e) des Wortes, im wahrsten Sinne, buchstäblich, wahrhaft, förmlich, im wörtlichen Sinn(e), wörtlich genommen, wie man so schön sagt, wie es so schön hei t, (wie schon) der Volksmund sagt, es gibt ein deutsches Sprichwort, wie man sich auszudrücken pflegt, bildlich ausgedrückt, im redensartlichen Sinne, sprichwörtlich, im sprichwörtlichen Sinne, wie es im Sprichwort heißt, salopp gesagt. Ausgangspunkt der Betrachtungen war der spezielle Bereich sprachlicher Erscheinungen, die das Sprachsystem als „Fertigteile“ den Sprachteilhabern zur Verfügung stellt und die im Äußerungsprozess als Gesamtkomplex übernommen und reproduziert werden. Das vorgeformte Sprachgut als spezieller Bereich des Sprachbestandes ist heterogen und umfasst unterschiedlich gestaltete Einheiten. Aus der Fülle des phraseologischen Bestandes wurden Einheiten herausgegriffen und beschrieben, die über den sie kennzeichnenden semantischen und pragmatischen Mehrwert hinaus, diese als besonderes Sprachmaterial ausweisen. Die Ausführungen sollten einen Überblick über die Möglichkeiten, Sprache in der Kommunikation zu verwenden, bieten; das Sprachverhalten der Kommunikationsteilhaber, ihr Handeln mit der Sprache darstellen. Folglich sollte ein wichtiger Aspekt der tatsächlichen Verwendung von Phraseologismen beleuchtet werden. Die angesprochenen Erscheinungen müssen aufgrund ihrer Beschaffenheit in ihrer 'Andersartigkeit' erkannt und als komplex interpretiert werden, mit denen die Sprach- und Gesprächsteilhaber Personen, Vorgänge, Handlungen, Verhaltensweisen bewerten oder ihre Einstellungen, Gefühle und Bewertungen ausdrücken. Da sie durch Expressivität und Bildhaftigkeit gekennzeichnet sind, ist ihr angemessener Gebrauch kontextabhängig. Sie werden in privaten, halböffentlichen und öffentlichen Sprech- und Schreibsituationen verwendet, müssen aber als besondere Sprachzeichen interpretiert werden. Vorgefertigte Ausdrucksmöglichkeiten können eine Kommunikationserleichterung darstellen, wobei ihre Gebrauchsrestriktionen, ihre Bindung an den Kontext berücksichtigt werden müssen. Mit der Darstellung dieses Sonderaspekts verbaler Kommunikation – die Realisierung kommunikativer Absichten durch den Rückgriff auf ‘Fertigteile’ - sollte folgendes geleistet werden: (a) im kooperativen Geschehen “miteinander umgehen” lernen im Sinne einer verbesserten Adressatenorientiertheit. Hierfür ist die Kenntnis und der Anwendungszusammenhang verfestigter Äußerungsmuster unerlässlich; (b) über den alltäglichen Sprachgebrauch, über Interaktionsabläufe nachzudenken, um souverän über vorgeprägte Einheiten verfügen zu können; (c) die Leistung formelhafter Kommunikationseinheiten im Interaktionsablauf darzustellen; (d) den Reichtum des phraseologischen Wortschatzes zu erschließen; (e) nicht zuletzt daran zu erinnern, dass “man mit Redensarten so manches ausdrücken [kann], was man mit eigenen Worten nicht sagen möchte oder auch einfach nicht sagen kann.” (Röhrich 1994, 33). Literatur: 1. AGRICOLA, E. (Hrsg.)(13 1988): Wörter und Wendungen. Wörterbuch zum deutschen Sprachgebrauch. (Unter Mitwirkung von H.Görner u. R. Küfner), Leipzig. 2. BRINKER, K./SAGER, K. (1989): Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung. Berlin. 566 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen 3. BRUGGER, H. P. (1993): Der treffende Vergleich: eine Sammlung treffsicherer Vergleiche und bildhafter Formulierungen. Ott. 4. BURGER, H. (1973): Idiomatik des Deutschen (= Germanistische Arbeitshefte, 16)(Unter Mitarbeit von H. Jaksche), Tübingen. 5. DUDEN (1992): Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, Bd. 11. 6. DOBROVOL'SKIJ, D./LJUBIMOVA, N. (1993): "Wie man so schön sagt, kommt das gar nicht in die Tüte" – Zur metakommunikativen Umrahmung von Idiomen. In: Info DaF 30, S. 151-156. 7. FLEISCHER, W. (1982): Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig. 8. FRANKE, W. (1990): Elementare Dialogstrukturen. Darstellung, Analyse, Diskussion.Tübingen 9. FRIEDERICH, W. (2 1976): Moderne deutsche Idiomatik. Alphabetisches Wörterbuch mit Definitionen und Beispielen. München. 10. FRITZ, G. (1982): Kohärenz. Grundfragen der linguistischen Kommunikationsanalyse. Tübingen. 11. FRITZ, G./HUNDSNURSCHER, F. (Hrsg.)(1994): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen. 12. GREWENDORF, G. (21980): Sprechakttheorie. In: P. Althaus, H. Henne, H.-E. Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germanistischen Linguistik. (= Studienausgabe), Tübingen, S. 287-293. 13. GRIESBACH, H./UHLIG, G.(1993): Mit anderen Worten. Deutsche Idiomatik. Redensarten und Redeweisen. München. 14. GÜLICH, E. (1997): Routineformeln und Formulierungsroutinen. Ein Beitrag zur Beschreibung ‚formelhafter Texte‘. In: R. Wimmer, F.–J. Berens (Hrsg): Wortbildung und Phraseologie, Tübingen, S. 131 - 175. 15. HELLER, D. (2 1980): Idiomatik. In: P. Althaus, H. Henne, H.-E. Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germanistischen Linguistik. (= Studienausgabe), Tübingen, S. 180-186. 16. HESSKY, R./ETTINGER, St. (1997): Deutsche Redewendungen. Ein Wörter- und bungsbuch für Fortgeschrittene. Tübingen. 17. KOLLER, W. (1977): Redensarten. Linguistische Aspekte, Vorkommensanalysen, Sprachspiel. Tübingen (= Reihe Germanistische Linguistik, 5). 18. KÜHN, P. (1994): Pragmatische Phraseologie: Konsequenzen für die Phraseographie und Phraseodidaktik. In: B. Sandig (Hrsg.): EUROPHRAS 92. Tendenzen der Phraseologieforschung, Bochum (= Studien zur Phraseologie und Parömiologie, 1), S. 413-428. 19. KÜHN, P. (1996): Redewendungen – nur im Kontext! Kritische Anmerkungen zu Redewendungen in Lehrwerken. In: FD 15, S. 10-16. 20. LÜGER, H.H. (1989): Stereotypie und Konversationsstil. Zu einigen Funktionen satzwertiger Phraseologismen im literarischen Dialog. In: DS, 1/1989, S. 3 – 25. 21. LÜGER, H. H. (1998): Satzwertige Phraseologismen im Text. Elemente eines Mehrebenenmodels, In: G. Gu]u, S. St`nescu (Hrsg.)(Unter Mitarbeit von D. Sandu): “Die Sprache ist das Haus des Seins. Sprachwissenschaftliche Aufsätze”, Bukarest, Bd.3 , (= GGR-Beiträge zur Germanistik), S. 43-66. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 567 Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava 22. PALM, Ch. (2 1997): Phraseologie. Eine Einführung. Tübingen. 23. RÖHRICH, L. (1994): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Freiburg,Basel, Wien. 24. SANDU, D. (1993): Einführung in die Lexikologie der deutschen Sprache. Bukarest, Bd. I. 25. SANDU, D.: Gespräche. Forschungsbild und Sprachwirklichkeit.(unveröffentlichtes Manuskript). 26. SCHANK, G./SCHWITALLA, J. (21980): Gesprochene Sprache und Gesprächsanalyse. In: P. Althaus, H. Henne, H.-E. Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germanistischen Linguistik. (= Studienausgabe), Tübingen, S. 313-322. 27. SCHEMANN, H. (1992): Synonymwörterbuch der deutschen Redensarten. Stuttgart, Dresden. 28. SCHEMANN, H. (1993): Deutsche Idiomatik. Die deutschen Redewendungen im Kontext. Stuttgart, Dresden. 29. SCHULZ, D./GRIESBACH, H. (8 1990): 1000 deutsche Redensarten. Mit Erklärungen und Anwendungsbeispielen. Berlin. 30. WOTJAK, B. (1992): Verbale Phraseolexeme in System und Text. Tübingen. 31. WOTJAK, B. (1994): Fuchs, die hast du ganz gestohlen: Zur auffälligen Vernetzung von Phraseologismen in der Textsorte Anekdote. In: B. Sandig (Hrsg.): EUROPHRAS 92. Tendenzen der Phraseologieforschung, Bochum (= Studien zur Phraseologie und Parömiologie, 1), S. 619-648. 32. WOTJAK, B. (1996): Redewendungen und Sprichwörter. Ein Buch mit sieben Siegeln? Einführung in den Themenschwerpunkt. In: FD 15, S. 4-9. 33. WOTJAK, B./RICHTER, M. (2 1993): sage und schreibe. Deutsche Phraseologismen in Theorie und Praxis. Leipzig, München.ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Info Daf = Informationen Deutsch als Fremdsprache FD = Fremdsprache Deutsch DS = Deutsche Sprache 568 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 TRADUTTORE… DER FUNKTIONALE ANSATZ Zur theoretischen Diskussion über kulturell-soziale Zielsetzung und literaturhistorische Textvorlage Mihai Draganovici 1. Einleitung Funktionale translationstheoretische Ansätze erheben die Forderung, der Translationsprozess solle sich an die zielkulturelle Situation anpassen, damit das aus diesem Prozess resultierende Translat – das heißt die jeweilige Übersetzung oder Verdolmetschung – in dieser Situation, für die es ja produziert wird, die gewünschte Funktion erfüllen kann. Diese Forderung beruht auf zwei nicht immer explizit formulierten Prämissen: die erste wäre die kulturell-soziale Gegebenheit und die zielkulturelle Gemeinschaft und die zweite die Praxis des professionellen Dolmetschens und Übersetzens und die in diesem Sinne verstandene Translation. Die letzte Forderung steht im Gegensatz zu der anderen traditionsreichen Form des Übersetzens, die allgemein als „philologisches Übersetzen“ bezeichnet wird. Dieses findet im Fremdsprachenunterricht in den philologischen Fakultäten der Universitäten statt und dient dort verschiedenen, nicht Praxis orientierten Zwecken: der Kontrolle des Textverständnisses oder der Beherrschung fremdsprachlichen Strukturen und Ausdrucksformen. Diese könnte man als metakommunikativ bezeichnen, weil sie die Voraussetzungen und Vollzugsformen der Kommunikation und nicht ihren Inhalt proritär in den Blick nehmen. Der Anfangspunkt einer Übersetzung wird sich immer im Ausgangstext befinden. Dieser (der AT) stellt eine dynamische Verbindung her zwischen Intention, sprachlichen Äußerungen, soziokulturellem Kontext, Bedeutung und Wirkung und so wie dieser. So schafft auch die Übersetzung eine neue dynamische Verbindung, die die kulturspezifische Konstellation von Wirkungsabsicht, Sprach- und Textformen, Inhalt und Sinn verarbeitet. 2. Die ausgangskulturelle literar-historische Vorlage Der Mensch lebt in der Welt des Alltags, der Gedanken, Traditionen, Konventionen, in realen und fiktiven Welten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und mit einer gewissen Absicht verfasst jemand (mündlich oder schriftlich) einen Text. Den Verfasser könnte 1 man als Produzenten des Textes bezeichnen . Der Text bildet die wichtigste Einheit, die man im Fall einer Translation in Betracht ziehen muss, denn es sind nicht die Wörter oder die Sätze, die man übersetzt, sondern den Text als Ganzes. Ein Text muss also als eine ganze Gestalteinheit verstanden, bei der das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist und die Bezugnahme auf den Gesamthorizont von Situation und Kontext wichtig ist. 1 vgl. Reiß/Vermeer 1991:18 Mihai Draganovici Die intendierte Absicht des produzierten Textes kann aber nicht in Erfüllung gehen ohne den fast genauso wichtigen anderen Teil, nämlich denjenigen für den der Text bestimmt ist. 2 Dieser Rezipient nimmt den Text wahr und je nach seinen Reaktionen kann man nachher sagen, ob der Text und das, was man kommunizieren wollte, gelungen sind. In diesem Fall findet eine Interaktion zwischen dem Empfänger und dem Verfasser statt und diese Interaktion kann als geglückt gelten, wenn es ein positives feed-back, das heißt im Sinne der Intention des Autors, gibt. Die Funktion eines Textes wird also nicht nur vom Produzenten bestimmt, sie kommt durch 3 den tatsächlichen Empfänger zustande . Nord nennt auch mehrere Faktoren, die die möglichen Textfunktionen beeinflussen können, wie z.B.: die situativen Bedingungen, aber auch die individuellen kommunikativen Bedingungen des Empfängers, die ihn zum Beispiel veranlassen, bei einem Text, der nicht als informativ gedacht war, vor allem die informativen Teile zu berücksichtigen. Wenn bislang von einzelnen Personen die Rede war, muss auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, dass ein Text nicht nur eine Funktion bekommt, sondern, je nach der persönlichen Einstellung, mehrere Funktionen übernehmen kann. Der funktionale translationstheoretische Ansatz fordert prinzipiell eine Funktionsgleichheit zwischen den ausgangs- und zielkulturellen Gegebenheiten, wobei gesagt werden sollte, dass eine Übersetzung auch eine geänderte Funktion übernehmen könnte, falls deren Ziel solcherart angegeben ist, dass eine solche Änderung erfolgen muss. 3. Die Übersetzung als zielkulturelles Ergebnis In vielen Arbeiten, die sich mit der theoretischen Auseinandersetzung im Bereich der Übersetzungstheorie befassen, treffen wir verschiedene Definitionen einer Übersetzung. Wenn man 4 jenige von Wills in Betracht zieht , ergeben sich folgende Bestimmungsmerkmale: ➧ Beteiligt sind zwei Sprachen ➧ Ausgangspunkt und Resultat des translatorischen Handelns sind Texte ➧ zwischen Zieltext und Ausgangstext besteht eine Äquivalenzbeziehung. In diesem Fall werden aber nicht die kulturellen Hintergründe berücksichtigt. Die funktionale Translationstheorie ist der Ansicht, dass Sprache und Kultur eng miteinander verbunden sind. Der produzierte Text ist von inneren und äußeren Umständen abhängig, folglich kann man 5 nicht überall x-beliebiges sagen . Der Produzent, der Rezipient sind in dem Kontext einer Kultur eingebettet. Übersetzungen zeichnen sich also durch eine doppelte Bindung aus. Einerseits gibt es die Bindung an den Ausgangstext. Wenn man sie zu stark berücksichtigt, dann entsteht die Gefahr, dass der Zieltext für den Rezipienten unleserlich und unverständlich wird, also dass eine Wortfür-Wort Übersetzung entsteht. Andererseits gibt es eine Bindung an den Zieltext. Wenn man diese Bindung verabsolutiert, dann kann die Autonomie des Originaltextes verletzt werden und die Zieltexte stehen zum Ausgangstext nur noch in entfernter Beziehung. 2 Der Rezipient ist in erster Linie der Übersetzer, der mit dem Ausgangstext unvermittelt in kontakt kommt. Nur in zweiter Linie wird die Rolle des Rezipientes von dem Leser (der Übersetzung) übernommen. 3 vgl. Nord 1998:145. 4 zit. aus Koller 1992:191. 5 vgl. Stolze 1994:157. 570 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Der funktionale Ansatz. Zielsetzung und literarhistorische Textvorlage Diese doppelte Bindung einer Übersetzung wird aber von der in 1978 von Vermeer gegründeten Skopostheorie erweitert. Er gründetete eine allgemeine Theorie der Translation, die durch einen funktionsorientierten Ansatz die Grundlage für ein neues Paradigma in der Trans6 lationswissenschaft bildet. Der Schwerpunkt wird auf das Ziel des translatorischen Handelns (Begriff, der von Holz-Mänttäri in 1984 festgelegt wurde) und auf den Translator als Experten, der für ein optimales Erreichen dieses Ziels verantwortlich ist, verlagert Wie jedes Handeln folgt auch das translatorische Handeln einem Ziel. Dieses Ziel, das man im Fall einer Übersetzung als Untersorte des translatorischen Handelns als Skopos bezeichnen 7 kann , wird als oberstes Primat der Translation betrachtet. (Man muss hier noch erwähnen, dass Skopos synonim mit den Ausdrücken Zweck, Ziel oder Funktion verwendet wird.) In diesem Fall stellt man sich nicht die Frage ob man handeln (übersetzen/dolmetschen), sondern wie und mit welchem Ziel man das tun soll. Wenn wir die Übersetzung als eine Aktion betrachten, können wir im Sinne der Sko8 postheorie auch über das „Glücken“ der Handlung und über den „Protest“ gegen sie sprechen . Reiß und Vermeer (1991:108) sprechen von geglückter Aktion wenn kein Protest erfolgt gegen: ➧ die Übermittlung (als Ereignis) und gegen die Art der Übermittlung ➧ den gemeinten Sachverhalt als Informationsangebot ➧ die Interpretation (d.h. Protest seitens des Produzenten gegen die Reaktion des Rezipienten) Interessant ist dabei, dass sich der Protest nicht nur gegen das Translat richten kann, sondern auch gegen das ausgangssprachliche Informationsangebot. Wenn man die obengenannten Fälle aus der Hinsicht der Skopostheorie analysiert, dann kann man im ersten Fall bemerken, dass der Protest nicht nur gegen den Übersetzer gerichtet werden kann, sondern auch gegen den Auftraggeber. Der letzte trifft z.B. die Entscheidung, ob die Übersetzung der AK oder ZK angepasst sein wird. Nur nachher wird der Übersetzer unter die Lupe genommen, wenn man die Übermittlungsart des Auftrags überprüft. Jetzt sprechen wir über den exklusiven Bereich des Fachmanns, in dem er gemäß Auftrag die, seiner Meinung nach, richtigen Mittel und Verfahren für das Glücken der Übersetzung ausgewählt hat. Der Protest gegen das Informationsangebot (der AT an sich) kann aber sowohl gegen den Übersetzer als auch gegen den Auftraggeber gerichtet sein. Man kann Kritik am ausgangssprachlichen Informationsangebot üben oder an der Art und Weise wie es erfolgt. Die letzte Art von Protest könnten wir als „inversen Protest“ bezeichnen. Das heißt, dass im Gegensatz zu den anderen Protesttypen, die vom Rezipient zum Auftraggeber oder Produzent erfolgten, ist diese Art eine, die sich gegen den Rezipienten richtet seitens des Produzenten. In diesem Falle ist es möglich, dass die Reaktion des Lesers nicht den ursprünglichen Absichten des Übersetzers entspricht. Falls kein Protest erfolgt, dann kann man eine Übersetzung als geglückt betrachten. Im Rahmen der Skopostheorie kann man schlussfolgern, dass das Ziel, der Skopos der Translation erreicht wurde. 6 Über die Handlung sprechen Reiß/Vermeer in ihrer “Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie”, 1991:95: “Eine Handlung bezweckt die Erreichung eines Zieles und damit die Änderung eines bestehenden Zustandes. Die Motivation für eine Handlung besteht darin, dass das angesterbte Ziel höher eingeschetzt wird als der bestehende Zustand.” 7 vgl. Vermeer 1992:82. 8 vgl. Reiß/Vermeer 1991:106. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 571 Mihai Draganovici Am Ende dieses Kapitels möchte ich noch ein für die Skopostheorie grundsätzliches Problem erwähnen und zwar den Skopos an sich. Viele bringen die funktionalen Translationstheorien und damit auch die Skopostheorie mit der Zielsprache oder Zielkultur in Verbindung, was grundsätzlich falsch ist. So wie Vermeer bemerkt, eine skoposadäquate Translation bedeutet nicht, dass an die Gepflogenheit einer Zielkultur adaptierend übersetzt werden muss (sie bedeutet wohl, dass unter gegebenen Umständen skoposgemäs adap9 tierend übersetzt werden kann). Dieses Ziel ist immer in einer Übersetzung anwesend und man muss nach ihm konsequent übersetzen. Es spielt keine Rolle ob man eine Ausgangstext getreue Übersetzung macht oder ob man adaptierend, sich an die Zielkultur anpassend, übersetzt (was meistens auch der Fall ist aber es ist nicht eine Regel). Die einzige wichtige Sache ist, dass man die richtige Übersetzung für den Ausgangstext findet, dem Ziel entsprechend Der erste, der dem Protest ausgesetzt werden kann, - seitens derjenigen, die die Übersetzung für misslungen halten - und derjenige der meistens für das Gelingen einer Übersetzung verantwortlich ist, ist der Übersetzer. Er ist nicht nur der Sender der Botschaft des AT, sondern produziert einen Text in der ZK, also schafft ein zilekulturelles Kommunikationsinstrument einer 10 ausgangskulturellen Kommunikation. 4. Der Translator als Kulturübermittler Voraussetzung für eine Translation ist in der Regel der Bedarf an interkultureller Kommunikation. Die Person, die das veranlasst ist der Auftraggeber, der dem Übersetzer die Aufgabe erteilt, die gewünschte Kommunikation zu ermöglichen. Im Sinne des funktionalen Ansatzes hat der Auftraggeber bestimmte Vorstellungen über die Funktion, die das Translat erfüllen soll, das heißt er legt den Skopos fest. Der Translator bekommt einen ausgangssprachlichen Text als 11 Vorlage und wird Rezipient dieses Textes der Ausgangskultur . Um ein genaues Verständnis zu erreichen, muss er ein sehr guter Kenner der Ausgangskultur sein. In der zweiten Etappe seines translatorischen Handelns muss er im Rahmen der Zielkultur einen funktionsadäquaten Text herstellen, mit Brücksichtigung des Zieles, das ihm vorgeschlagen wurde. Deshalb muss ein Translator ein guter Kenner beider Kulturen sein, er muss sogar, wenn möglich, bi-kulturell sein. Ursprünglich sprach man über einen puren linguistischen Transfer und Catford suchte noch 12 „nach einem austauschbaren Sprachmaterial in einer Vergleichbaren Situation“ . Später war man der Ansicht, dass eine Übersetzung vielmehr ein kultureller Transfer wäre. Damit ändert sich auch die Übersetzungsfunktion, denn ein Text wird jeweils in einer anderen Situation rezipiert und interpretiert. Es ist nicht möglich, Translation als Transkodierung toute simple der/einer Bedeutung eines Textes zu verstehen. Translation setzt Verstehen eines Textes, damit Interpretation des Gegenstandes „Text“ in einer Situation voraus. Damit ist Translation nicht nur an Bedeutung, sondern an Sinn/Ge13 meintes, also an Textsinn-in-Situation, gebunden. 9 vgl. Vermeer 1992:102 vgl. Nord 1991:13 11 vgl. Vermeer 1992:55 12 siehe Stolze 1994:160 13 siehe Reiß/Vermeer 1991:58 10 572 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Der funktionale Ansatz. Zielsetzung und literarhistorische Textvorlage Der als „Situation“ obengenannte Begriff bezeichnet den kulturellen Hintergrund, der von 14 der Ausgangs-und Zielkultur dargestellt wird. Koller macht eine konkrete Einteilung der Übersetzungsmöglichkeit bzw. -unmöglichkeit nach dem Kriterium der Übersetzbarkeit. Seiner Meinung nach hängt diese nicht von den Sprachen ab, sondern nur von den kulturellen Hintergründen. Zur Veranschaulichung seiner Theorie stellt er mehrere Schemata auf. Im ersten Extremfall, dort wo sich die AK mit der ZK deckt, ist eine Übersetzung zwischen zwei verschiedenen Sprachen durchaus möglich. Im anderen Extremfall, also wenn die AK von der ZK ganz verschieden ist, kann keine Übersetzung zustande kommen. Wie in jedem Extremfall, kann eine Verabsolutierung nicht der Wahrheit entsprechen und die Praxis hat bewiesen, dass z.B. eine Übersetzung auch im Fall der kulturellen Verschiedenheit möglich ist. Die Schemata sind aber bezeichnend für die Wichtigkeit, die dem jeweiligen kulturellen Hintergrund eingeräumt wird.Somit muss man die Kompetenz des professionellen Übersetzers innerhalb seines komplexen Handlungsrahmens, in dem er sich bewegt, festhalten: er soll anhand eines Ausgangstextes mit anderen sprachlichen Mitteln einen neuen Text verfassen, der für andere Rezipienten bestimmt ist und unter anderen kulturellen Gegebenheiten funktionieren soll als der Ausgangstext. Auf Grundlage dieser Kompetenz trägt der Translator die Veranrwortung für ein funktionsadäquates Handeln. Er ist in der Lage, auf Kultur-, Adressaten- und Situationsspezifik einzugehen, sich den Erwartungen der Zielkultur gemäß zu verhalten oder auch gegen sie zu verstoßen. 5. Schlussfolgerung Der funktionale Ansatz und die praxisorientierte Betrachtung der Translation führen zur Einsicht, dass ein und derselbe Ausgangstext je nach Anforderungen der Zielsituation und der darin eingeschlossenen Rezipienten durchaus unterschiedlich zu übersetzen ist. Damit wird der Status des Ausgangstextes als des einzigen Maßstabs für die Qualität oder Adäquatheit der Übersetzung gebrochen. Der Ausgangstext bleibt zwar der erste Ring im Übersetzungsprozess, aber er wird entthront und die zielkulturelle Situation, für die eine Übersetzung zu produzieren ist, und die intendierte Funktion des Translats wird an seiner Stelle zur wichtigsten Leitlinie für den Translator. Der professionelle Übersetzer muss somit seine Fähigkeiten beweisen, wodurch er sich als ein guter Kenner sowohl der Ausgangskultur als auch der Zielkultur behaupten kann, und die Absicht des AT-Authors durchschaut, um sie – auch wenn vielleicht nicht immer gelungen - korrekt im ZT wiedergeben zu können. Diese Voraussetzungen erfüllt, so ist es möglich das Gelingen dieser komplexen Arbeit zu sichern. Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 14 KOLLER, Werner (41992): Einführung in die Übersetzungswissenschaft, Quelle&Meyer Verlag, Heidelberg-Wiesbaden NORD, Christiane (19912): Textanalyse und Übersetzen: theoretische Grundlagen, Julius Groos Verlag, Heidelberg REISS, Katharina/VERMEER, Hans (21991): Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Niemeyer Verlag, Tübingen SNELL-HORNBY, Mary u.a. (Hrsg.) (1998): Handbuch Translation, Stauffenburg Verlag, Tübingen STOLZE, Radegundis, (1994): Übersetzungstheorien – eine Einführung, Gunter Narr Verlag, Tübingen VERMEER, Hans J. (31992): Skopos und Translationsauftrag – Aufsätze, Verlag für interkulturelle Kommunikation, Frankfurt/Main vgl. Koller 1992:165 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 573 WÖRTLICHE ODER FREIE ÜBERSETZUNG? Zum Streit über das “richtige” Übersetzen Gundula-Ulrike Fleischer Bei der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Äußerungen zum Übersetzen von hauptsächlich - literarischen Texten, stößt man immer auf ein Problem, daß sich durch die ganze Geschichte der Übersetzungswissenschaft verfolgen läßt: Es handelt sich um das Spannungsfeld zwischen wörtlicher und freier Übersetzung. Benedetto Croce behauptete, zwischen den beiden Polen "Belle Infedeli" und "Brutte Fedeli" finde die Geschichte der Übersetzung statt. [STACKELBERG 1988, 16] In seiner Rede auf Wieland (Zu brüderlichem Andenken Wielands) am 18. Februar 1813 stellte Goethe fest: Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen. [nach SDUN 1967, 54] Und bloß Monate später sieht auch Schleiermacher in seiner am 24. Juni 1813 gehaltenen Rede Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens zwei mögliche Vorgangsweisen für den Übersetzer: Entweder der Übersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen. [SCHLEIERMACHER 1838, 218] Schleiermacher war Anhänger der erstgenannten Methode. Die Ursachen seiner Überzeugung sind in der Übersetzungsauffassung der deutschen Romantiker zu suchen, die ausgehend von dem Anspruch des Dichters, ein Schöpfer von Welten in seinem Werk sein zu dürfen, gegenüber dem Original als “Schöpfungs”-akt eine ganz andere Haltung einnehmen als die klassizistischen Vertreter der “Belles Infidèles”. Sie sind Anhänger der betont treuen Übersetzung, die sich in Deutschland so sehr einbürgerte, daß es wohl nicht falsch ist, mit Jürgen von Stackelberg zu behaupten, daß die Originaltreue “immer schon eine typischdeutsche Übersetzungsforderung war” [STACKELBERG 1988, 24]. Schleiermacher spricht von zwei Übersetzungsarten, die er als Paraphrase und Nachbildung bezeichnet. Nachdem er diese beiden Grundpositionen definiert, "der Paraphrast verfährt mit den Elementen beider Sprachen, als ob sie mathematische Zeichen wären" und: "Die Nachbildung dagegen beugt sich unter der Irrationalität der Sprachen; sie gesteht, man könne von einem Kunstwerk der Rede kein Abbild in einer anderen Sprache hervorbringen, das in seinen einzelnen Teilen den einzelnen Teilen des Urbildes genau entspräche" [SCHLEIERMACHER 1838, 217], weist er als erster auf ihre hermeneutische Natur hin, die sich negativ auf die Übersetzungsleistung auswirkt, und empfiehlt als Alternative eine Übertragung, die - soweit es die Zielsprache nur erlaubt - dem Original treu bleibt: Ein unerläßliches Erfordernis dieser Methode des Übersetzens ist eine Haltung der Sprache, die nicht nur alltäglich ist, sondern auch ahnden läßt, daß sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen ist. [SCHLEIERMACHER 1838, 227] Wörtliche oder freie Übersetzung? - Zum Streit über das “richtige” Übersetzen Aber auch Walter Benjamin und Ortega y Gasset [ORTEGA Y GASSET 1957] teilen diesen Standpunkt. Ihrer Meinung nach darf die Übersetzung keineswegs für ein Original gehalten werden, der Ausgangstext als Zeugnis einer fremden Sprache und Kultur muß beständig durchscheinen, auch wenn der Übersetzer dies nur erreicht, indem er seiner Muttersprache (Zielsprache) Gewalt antut, wie Walter Benjamin in seinem Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers fordert: Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax, und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade. [nach STÖRIG 1969, 166] Ortega geht noch weiter, indem er der Übersetzung jeden Anspruch auf Schönheit abspricht, denn sie soll kein Kunstwerk, sondern bloß ein Hilfsmittel zu Erkenntniszwecken sein. Zu einer ähnlichen Überzeugung gelangt auch Antoine Berman in seinem Essay La traduction et la lettre: Dans son domaine, le traducteur est possédé de l'esprit de fidélité et d'exactitude. C'est là sa passion, et c'est une passion étique, non pas littéraire ou esthétique. [BERMAN 1985, 87] Die entgegengesetzte Ansicht vertrat der Bibelübersetzer Martin Luther, der es sich leistete, mit dem "heiligen Wort" frei umzuspringen, dem Leitspruch "rem tene, verba sequuntur" folgend. Das wohl bekannteste Beispiel, mit dessen Hilfe er seine Entscheidung für die freie Übersetzung im Sendbrief vom Dolmetschen aus dem Jahre 1530 rechtfertigt, ist die Übertragung von "Ex abundántia cordis os lóquitur" [Matth. 12, 34] nicht mit dem wörtlichen "Aus dem Überfluß des Herzens redet der Mund", sondern mit dem deutsch klingenden "Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über", denn "so redet die Mutter im Haus und der gemeine Mann" [nach STÖRIG 1969, 21-22], für die seine Übersetzung gedacht ist. Es ist dies wohl das bekannteste Beispiel einer zielsprachlich orientierten Übertragung in die deutsche Sprache und ist besonders auffällig, weil die Bibelübersetzer bis dahin sich noch am strengsten an den Wortlaut hielten, nach dem Ausspruch Hieronymus’, des Autors der als Vulgata bekannten Bibelübertragung: “verborum ordo mysterium est”. Solch kategorische Standpunkte sind heutzutage die Ausnahme, der literarische Übersetzer ist meist darum bemüht, einen goldenen Mittelweg zu finden, der trotz zahlreicher Theoretisierungen auf diesem Gebiet, wegen der Mannigfaltigkeit der an ihn herantretenden Probleme doch oft ein persönlicher Entscheidungsprozeß bleibt, wie Ellen Elias-Bursac so treffend formuliert: Translation is a continual balancing act, an ongoing compromise between the voice of the original author and the voice of the translator, between the cultural framework of the original work and the translator's audience. [ELIAS-BURSAC 1988, 97] Im weiteren weist die Autorin auf die Gefahren sowohl der wörtlichen Übersetzung ("lack of spontaneity"), als auch auf jene einer zu freien Übersetzung hin ("it strays so far from the original that it can no longer be attributed to its author"). Allgemein kann für die literarische Übersetzung die von Newmark stammende Maxime gelten: "Translate as Literally as Possible and as Freely as Necessary" [NEWMARK 1982], die leider durch ihre vage Formulierung die Entscheidung darüber, was nun möglich, bzw. notwendig ist, dem Gutdünken des Einzelnen überläßt. Konkretere Hinweise darüber, wie wörtlich oder wie frei übersetzt werden sollte, bietet Katharina Reiß. In ihrem Bestreben, erstmals objektive Kriterien zu einer Übersetzungskritik zu ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 575 Gundula-Ulrike Fleischer erstellen, unterscheidet sie auf der Skala ausgangstextorientierte - zieltextorientierte literarische Übersetzung unterschiedlichen Zwecken dienende Kategorien, wie Rohübersetzungen, Schul- und Studienausgaben, die "gelehrte" Übersetzung usw., wovon jede ihren Zielsetzungen entsprechenden Anforderungen zu genügen hat, die dann auch von der Übersetzungskritik in betracht gezogen werden müssen. [REISS 1986] Die Berücksichtigung des Zwecks, dem die Übersetzung dienen soll, bei der Wahl der Übersetzerposition, bzw. bei der Bewertung einer Übersetzung, wie sie heutzutage die Skopostheorie fordert, ist so neu nicht. Bereits Goethe verwendete die Zweckentsprechung als Kriterium seines Systematisierungsversuchs der Übertragungen: Es gibt dreierlei Arten Übersetzung. Die erste macht uns in unserem eigenen Sinne mit dem Auslande bekannt; eine schlicht-prosaische ist hiezu die beste.[...] Eine zweite Epoche folgt hierauf, wo man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. Solche Zeit möchte ich mit reinstem Wortverstand die parodistische nennen.[...] Weil man aber weder im Vollkommenen noch Unvollkommenen lange verharren kann, sondern eine Umwandlung nach der andern immerhin erfolgen muß, so erlebten wir den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige nämlich, wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten soll. Diese Art erlitt anfangs den größten Widerstand; denn der Übersetzer, der sich fest an sein Original anschließt, gibt mehr oder weniger die Originalität seiner Nation auf, und so entsteht ein Drittes, wozu der Geschmack der Menge sich erst heranbilden muß. [GOETHE II, 255-256] Für die erste Art der Übertragung steht Luthers Bibelübersetzung, für die zweite die von Wieland oder den Franzosen gepflegte, freie Übersetzung, für die dritte hingegen Voß und die treuen Übersetzer Ariosts, Tassos, Shakespeares und Calderons, die Goethe durch seine Hierarchisierung zu weiteren treuen Übertragungen aus der Weltliteratur ermutigt. Es stellt sich die Frage, inwieweit der Begriff der treuen Übersetzung sich wirklich mit jenem der wörtlichen deckt und das insbesondere auf dem Gebiet der literarischen Übersetzung, wo das Wort nicht bloßer Informationsträger ist, sondern die dem Kunstwerk eigene Realität schafft, die der Übersetzer in die Zielsprache und -kultur herüberholen muß. In einem Aufsatz über die westeuropäische Übersetzungstradition stellt José Lambert fest: Recent theories demonstrate that the opposition literal/free is rather naïve, and that every translation has to combine norms and models from the source and from the target system, perhaps even from still other surrounding systems. [LAMBERT 1988, 129] Auch Otto Kade erkennt, daß die Alternative wörtlich-frei zu einem künstlichen Gegensatz zwischen Inhalt und Form führt, weshalb er statt dessen eine organische Vision dieser beiden empfiehlt. [KADE 1968] Indem er sich zur Veranschaulichung unter anderem einer Ballade von François Villon, einer Interlinearversion und fünf deutscher Übersetzungen bedient, plädiert Rainer Kirsch, selbst Lyriker und Nachdichter, in seinem der Lyrik-Übersetzung gewidmeten Buch Das Wort und sein Schatten für die "funktionale Nachdichtung" als die angemessene Form der Übertragung von Poesie. Das bedeutet im Klartext: Ein Verfahren kann das andere ersetzen, wenn es für die poetische Mitteilung annähernd das gleiche leistet wie das originale, die Funktion eines Verfahrens kann in der Übertragung von anderen Bauteilen des Gedichts übernommen werden. [KIRSCH 1976, 84] Die hier zitierten Einstellungen der Übersetzer und Übersetzungstheoretiker aus ganz verschiedenen Jahrhunderten zeigen, daß es bisnoch zu keiner Einigung gekommen ist, was die Übersetzerposition betrifft. Die heutige Übersetzungsforschung ist darum bemüht, den Über- 576 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Wörtliche oder freie Übersetzung? - Zum Streit über das “richtige” Übersetzen setzungsvorgang wissenschaftlich zu fundieren und aus unterschiedlichen Perspektiven etwas zur Lösung des schon immerwährenden Streites beizutragen. Allgemeingültige Regeln konnten nicht aufgestellt werden, aber jede der zahlreichen Orientierungen in der zeitgenössischen Übersetzungswissenschaft hat ihren Beitrag zur Klärung dieses so umstrittenen Phänomens geleistet. Der Leipziger Schule [KADE 1968] liegt der materialistische Glaube an die unbestrittene Existenz von Entsprechungen für alle Begriffe einer Sprache in einer anderen zugrunde und die der maschinellen Übersetzung entliehene Behandlung der Übertragung als mechanischen Transfer. Eine solche Haltung erweist ihre schwachen Seiten im Falle der Übertragung von Literatur und der stark kulturell geprägten Texte. Konkrete Hinweise für die Übersetzung aus einer Sprache in die andere versuchen die Vertreter der Stylistique comparée [VINAY\DARBELNET 1958], der Autor der "translation rules" [NEWMARK 1988] und jener der "translation shifts" [CATFORD 1965] auf sprachvergleichender Basis zu erarbeiten. Doch auch hier sind dem Verfahren Grenzen gesetzt: nicht alle Situationen, die sich während einer konkreten Übersetzung ergeben, lassen sich voraussehen und insbesondere bei literarischen Übertragungen müssen oft extralinguale Faktoren berücksichtigt werden, wobei es vom Feingefühl des Übersetzers abhängt, ob er vertretbare Entsprechungen in der Zielsprache findet, da ihm starre Regeln nicht weiterhelfen können. Immer wieder rückt das Problem der Äquivalenz ins Blickfeld. Um bloß einige Nuancierungen zu nennen: "equivalent textual material" [CATFORD 1965], "closest natural equivalent" mit der Unterscheidung von "formal" und "dynamic equivalence" [NIDA 1964], "kommunikative Äquivalenz" [JÄGER 1975], "möglichst äquivalenter zielsprachlicher Text" [WILSS 1988] oder aber die Abschattierungen "denotative, konnotative, textnormative, pragmatische und formale Äquivalenz" [KOLLER 1979]. Diese Orientierung innerhalb der Übersetzungswissenschaft ist der Übersetzungsrealität bedeutend näher, weil sie auf einzelne Nuancen Wert legt und den Übersetzungsvorgang in seiner Dynamik und Kontextgebundenheit zu erfassen sucht. Um die Bestimmung spezifischer Kriterien zur Anfertigung und Bewertung von Übersetzungen geht es den Vertretern der textsortenorientierten Theorien [REISS 1986; KOLLER 1992]. Sie sind auf einen textlinguistischen Ansatz zurückzuführen und eröffnen der Forschung Wege, die praxisorientierte Tendenz haben, da sie auf die Unterschiede einzelner zu übertragenden Texte eingehen. Diese Theorien können bei der Ausbildung von Berufsübersetzern große Dienste leisten. Andere Theorien verlagern den Forschungsschwerpunkt auf den kulturellen Austausch, der durch die Übersetzung stattfindet [REISS\VERMEER 1984], eine Orientierung die hauptsächlich bei der Übertragung literarischer Texte hilfreich ist. Funktional-pragmatischen Charakter hat die sogenannte "Skopostheorie", die alle Anforderungen dem durch die Übersetzung zu erfüllenden Zweck unterordnet [REISS\VERMEER 1984] und auf dieser Grundlage einerseits dem Übersetzer die Wahl seines Standorts gegenüber dem Originaltext erleichtert, andrerseits aber auch objektive Wertungskriterien für die Übersetzung schafft. Nicht zuletzt wächst zunehmend das Interesse für die Erforschung des Anteils kognitiver Prozesse einerseits und intuitiver andrerseits im Rahmen des Übertragungsprozeßes, was zu einem psycholinguistischen Blickwinkel führt [WILSS 1988], der bei einer tieferen Erforschung ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 577 Gundula-Ulrike Fleischer der Phänomene dem Übersetzer Aspekte bewußt macht, die er vorhin bloß intuitiv erfassen konnte. Dies ist ein vielversprechender Weg zur Verbesserung der Übersetzerleistung. Die hier geäußerten Gedanken zu einer Debatte, deren Ende bisher nicht vorauszusehen ist, und die angeführten Tendenzen der zeitgenössischen Übersetzungswissenschaft mit ihren Perspektiven unterstreichen noch einmal den äußerst komplexen Charakter der Übersetzung, der bei der gängigen Einstufung in wörtliche, beziehungsweise freie Übersetzung leider nur zu oft übersehen wird. Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 578 BERMAN, Antoine, La traduction et la lettre, in: les tours de babel, Mauvezin: Trans-Europ-Repress, 1985 CATFORD, J. C., A Linguistic Theory of Translation, London, 1965 ELIAS-BURSAC, Ellen, Translation and Creativity: The Importance of Writing for the Translator, in: Hg. Paul Nekeman, Translation, our future, Maastricht: Euroterm, 1988 GOETHE, Johann Wolfgang, Werke, Hamburger Ausgabe, Hg. E. Trunz, Hamburg, 1959f., II JÄGER, G., Translation und Translationslinguistik, Halle (Saale), 1975 KADE, Otto, Zufall und Gesetzmäßigkeit in der Übersetzung, Leipzig, 1968 KIRSCH, Rainer, Das Wort und seine Strahlung, Berlin und Weimar: Aufbau, 1976 KOLLER, Werner, Einführung in die Übersetzungswissenschaft, Heidelberg, 1979 KOLLER, Werner, Einführung in die Übersetzungswissenschaft, Heidelberg/Wiesbaden, 1992 LAMBERT, José, West-European Traditions in Translational Policy: A Report on Research in Progress in: Hg. Paul Nekeman, Translation, our future, Maastricht: Euroterm, 1988 NEWMARK, Peter, Approaches to Translation, Oxford: Pergamon, 1982 NEWMARK, Peter, A Textbook of Translation, London, 1988 NIDA, Eugene A., Toward a Science of Translating. With Special Reference to Principles and Procedures Involved in Bible Translating, Leiden, 1964 ORTEGA Y GASSET, José, Miseria y Esplendor de la Traducción. Elend und Glanz der Übersetzung, München: Langewiesche-Brandt, 1957 REISS, Katharina, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik, München: Max Hueber, 1986 REISS, Katharina/VERMEER, Hans J., Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Tübingen: Niemeyer, 1984 SCHLEIERMACHER, Friedrich Ernst, Sämtliche Werke, Berlin, 1838, II SDUN, Winfried, Probleme und Theorien des Übersetzens, München: Max Hueber, 1967 STACKELBERG, Jürgen von, Blüte und Niedergang der "Belles Infidèles", in: Hg. Harald Kittel, Die literarische Übersetzung. Stand und Perspektiven ihrer Erforschung, Berlin: Erich Schmidt, 1988 STÖRIG, Hans Joachim, Das Problem des Übersetzens, Darmstadt, 1969 VINAY, J. P./DARBELNET, J., Stylistique comparée du français et de l'anglais. Méthode de traduction, Paris, 1958 WILSS, Wolfram, Kognition und Übersetzen. Zu Theorie und Praxis der menschlichen und maschinellen Übersetzung, Tübingen: Niemeyer, 1988 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 MALTRÄTIEREN DER ZIELSPRACHE: Kreativität in der Übersetzung relativer Aausgangssprachkenntnisse (L. N. Tolstoi, Die Kindheit) Petru Forna / Misiriantu Sanda „Kreativität” in der Übersetzung ist, obwohl von einigen Autoren verwendet, ein fremdes Wort in der Übersetzungswissenschaft. Derart fremd, daß das Stichwort „Kreativität” in der Arbeitsbibliographie Übersetzen (D. LEHMANN 1982) fehlt. Aber auch heute noch gilt dieser Begriff als „terra incognita”, so wie die Stichwörter „Problemlösung”, „Entscheidungsprozeß” und „Intuition” (W. WILSS 1988). GUILFORD, der als Begründer der Kreativitätsforschung gilt (1950), hat darauf aufmerksam gemacht (1968), daß die Kreativitätsforschung noch immer ein problematisches Gebiet der Psychologie mit einer Vielzahl verschiedener Forschungsmethoden, Forschungsperspektiven und Forschungsziele sei. Inzwischen hat sich an dieser Situation nichts Entscheidendes geändert. Kreativität ist noch immer ein smoke-screen-Begriff; dies hängt u.a. auch damit zusammen, daß klare begriffliche und definitorische Unterscheidungen zwischen Kreativität, Produktivität, Originalität und Imagination fehlen (SCHOTTLAENDER 1972; McFARLAND 1985). W. WILSS (1988), führt in diesem Zusammenhang aus: 1. Wenn wir unser gegenwätiges Wissen über Kreativität zusammenfassen, können wir, vereinfacht formuliert, folgende Feststellungen treffen: Kreativität hat etwas mit Intelligenz zu tun, aber daraus die Gleichung „höherer Intelligenzquotient = höherer Kreativitäts-Quotient“ abzuleiten ist nach den Erkenntnissen der Kreativitätsforschung falsch. 2. Eine „creatio ex nihilo“ gibt es nicht; Kreativität ist, wie Intuition, immer wissens- und erfahrungsbasiert; sie setzt ein bestimmtes Maß an Problemverständnis voraus und artikuliert sich im Entwurf und in der Durchführung von Verhaltensplänen. Augenfällig ist die Wissensund Erfahrungsbasiertheit kreativer Handlungsweisen in sog. „brain storming“-Diskussionen. 3. Kreativität ist immer zielgerichtet und wertorientiert; Kreativität ist also nicht identisch mit einer ziellosen, wertindiffernten Originalität. Kreativität ist so etwas wie eine irrationelle, nicht mechanisierbare Form der Rationalität. Aber sie ist nicht identisch mit einem „ungesteuerten Luxurieren“ der Phantasie. 4. Es gibt ganz unterschiedliche Manifestationen der Kreativität, z.B. künstlerische, wissenschaftliche, technische, organisatorische, didaktische, theoretische und praktische Kreativität. Ein „kreativitätsübergreifendes“ Merkmal ist die Fähigkeit zur „innovatorischen“, „nichtbehavioristischen“ Kombination von bislang unverbundenen Ideen und Sachverhalten. Nicht einmal Chomsky ist es geglückt, einen kohärenten, überzeugenden Begriff sprachlicher Kreativität zu entwickeln. Es ist deshalb kein Zufall, daß er Kreativität einmal „a mysterious ability“ genannt hat. Petru Forna / Sanda Misiriantu Übersetzungskreativität ist noch weiterhin eine „terra incognita“. Das läßt sich u.a. an der Tatsache ablesen, daß in der schon erwähnten „Arbeitsbibliographie Übersetzen“ das Stichwort „Kreativität“ fehlt. Man muß aber noch die folgende weitverbreitete Vorstellung von den Voraussetzungen und Bedingungen des Übersetzens vor Augen halten, um die Abstinenz der ÜW auf diesem Gebiet verstehen zu können: Die Übersetzungsfähigkeit gehört, wie die Fähigkeit zum Erlernen einer oder mehreren Fremdsprachen, zur mentalen “Grundausstattung“ des Menschen. Sie kann von ihm im Rahmen eines mehr oder minder systematischen Trainings zu einer interlingualen Sprachtechnik ausgebaut werden. Hier und da gibt es zwar in der Fachliteratur Hinweise darauf, daß Übersetzen ein kreativitätsbestimmter Vorgang ist, aber diese Bemerkungen sind nicht ausschlaggebend, wenn man wissen möchte, was denn das Charakteristikum der Übersetzungskreativität ist. Sie lassen nicht erkennen, ob mit Übersetzungskreativität eine Art interlingualer Disponibilität oder eine vage Umschreibung der im konkreten Übersetzungsvorgang wirksamen übersetzerischen „black box“ ist. Wenn Versuche zur Definition des Begriffs der Übersetzungskreativität gemacht werden, wird dessen Komplexität durch die Inanspruchsnahme informationstheoretischer Begriffe überspielt. Die Unsicherheit bei der Bestimmung des Begriffs der Übersetzungskreativität hat mehrere Ursachen (WILSS 1988): Erstens: Übersetzen ist eine spezifische Form der Verbindung von Verstehen und Erfinden. Im Übersetzungsprozeß manifestiert sich eine spezifische Form sprachlicher Kreativität - hier im individualpsychologischen, nicht im generativen Sinn verstanden. Übersetzungskreativität ist ein schillender Begriff. Man kann sie weder begrifflich packen noch exakt messen, gewichten oder beschreiben. Welcher unserer geistigen Kräfte wollen wir sie zuordnen? Kreativität ist offenbar ein mentales Superdatum, in welchem Vernunft, Verstand, Intuition und Phantasie integrativ zusammenwirken. Kreativität im allgemeinen und Übersetzungskreativität im besonderen lassen sich nicht vorherbestimmen. Man kann so gut wie nicht vorhersagen, was wir als Übersetzer morgen an kreativen Einfällen haben werden und ob wir mit unserem Kreativitätespotential dem zu übersetzenden Text gerecht werden oder nicht. Zweitens: Man kann die Meinung vertreten, daß Kreativität im Widerspruch zum Wesen des Übersetzungsprozesses steht. Sein Ziel ist die Nachbildung eines Ausgangstextes in einer ZS. Aber ein Übersetzer muß seine eigenen mentalen Kreativitätsressourcen aktivieren, um in einer spezifischen Übersetzungssituation in semantischer, funktionaler und pragmatischer Hinsicht ein Ebenbild des Ausgangstextes zu erreichen. Übersetzen ist eine „transformative“ Tätigkeit. Sie steht also prinzipiell im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Re-Kreativität. Drittens: Übersetzungskreativität ist weder auf induktivem noch auf deduktivem Weg voll objektivierbar; es läßt sich kein theoretisch fundierter und empirisch eindeutig überprüfbarer übersetzungskreativer Beschreibungs- und Erklärungszusammenhang entwickeln. Für die Volatilität des Begriffs der Übersetzungskreativität spricht auch, daß bis heute nicht entschieden ist, ob Übersetzen eine Kunst, eine Fertigkeit oder ein wissenschaftliches Unterfangen im Sinne einer sachverhalt- und text(typ)bezogenen Methodologie ist (NIDA 1976). Viertens: Es gibt offenbar keinen homogenen Begriff von Übersetzungskreativität. Man muß in der Übersetzungspraxis verschiedene Kreativitätsebenen, Kreativitätsbereiche und Kreativitätsmanifestationen ansetzen (SASTRI 1973). Die Relativität des Begriffs der Übersetzungs- 580 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse kreativität ist ungefähr so vage wie die Relativität der Zuordnung eines zu übersetzenden Textes zu einem bestimmten Schwierigkeitsgrad (WILSS 1988). Die Relativität des Kreativirätsbegriffs wird deutlicher, wenn man den diesen texttypspezifisch differenziert. Denn der Übersetzer sieht nicht alle übersetzungsrelevanten Texte durch dasselbe Fadenkreuz der Kreativität. In literarischen Texten ist das Sender/Empfänger-Verhältnis asymmetrisch, d.h., der Übersetzer als Empfänger eines literarischen Textes reagiert auf einen solchen Text nicht, jedenfalls nicht immer, auf vorhersagbare Weise. Das gilt vor allem für lyrische Texte, die MAYER als „Momentaufnahmen des sozialen Geschehens“ (1980) bezeichnet. Das unterschiedliche Reaktionsverhalten läßt sich anhand verschiedener Übersetzungen ein und desselben literarischen Werkes gut dokumentieren. Ein literarischer Text steht nicht einem beiden Kommunikationspartnern, dem Ausgangs-Autor und dem Übersetzer, gleichermaßen bewußten und bekannten Erwartungshorizont zur Verfügung; das Einverständnis über eine literarische Übersetzungssituation wird erst über „Irritation“ und auf dem Weg hermeneutischer Textbewältigung hergestellt (WILSS 1988). Literarische Texte sind u.U. extrem „rücksichtslos“. Sie verkünden keine verordneten Meinungen. Sie können durchaus so beschaffen sein, daß der Übersetzer ins Leere läuft, daß er leere Stellen ausfüllen, Ungesagtes, nur Angedeutetes ergänzen, einen Text gleichsam „gegen den Strich“ lesen muß (WILSS 1988). Voraussetzung dafür ist, daß der Übersetzer eines literarischen Textes bereit ist, sein alltagssprachliches Textverständnis, seine eigene Erfahrungswelt in Frage zu stellen und sich in die vom Autor des Ausgangstextes intendierten Sinnzusammenhänge hineinzudenken. Literarische Texte stehen außerhalb der Wahr/Falsch-Dichotomie. Johann Wolfgang von Goethes Ausspruch „das Gedichtete behauptet sein Recht wie das Geschehene“ erweist literarische Texte als komplizierte Ereignisse, denen mit einer übersetzerischen Standardmethode nicht beizukommen ist (REICHERT 1967). Es ist also einleuchtend, daß die wörtliche Übersetzung unter übersetzungskreativem Aspekt weniger aufwendig ist als die nichtwörtliche Übersetzung. Es muß auch dem Umstand Rechnung getragen werden, daß der Übersetzer, vor allem der Anfänger, auch dort wörtlich übersetzt, wo er nur mit einer nichtwörtlichen Übersetzung interferenzfrei sein Ziel erreichen könnte. Denn wörtliche Übersetzungsprozeduren können nur dort praktiziert werden, wo zwischen AS und ZS ein struktureller (syntaktischer) Gleichgewichtszustand herrscht. Bei wörtlichen Übersetzungen reduziert sich der Transferaufwand auf die Aktualisierung von Verhaltensschemata. Wo wörtlich übersetzt wird, tritt die Unidirektionalität des Übersetzungsprozesses außer Kraft. Der Übersetzer braucht im Grunde nicht mehr zu leisten, als das betreffende Textsegment substitutiv auf die ZS zu projizieren. Dies läßt den Schluß zu, daß das zahlenmäßige Verhältnis von wörtlichen Übersetzungsprozeduren und ZS zwingend vorgeschriebenen nichtwörtlichen Übersetzungsprozeduren ein wichtiges Kriterium für den Schwierigkeitsgrad eines Textes sein kann. Die nichtwörtlichen Übersetzungsprozeduren resultieren aus interlingualen Konfliktsituationen. Die AS und ZS Segmente sind syntaktisch, lexikalisch, idiomatisch oder soziokulturell divergent. Wie wörtliche Übersetzungsprozeduren, so sind auch nichtwörtliche Übersetzuungsprozeduren erklärbar. D.h., der Übersetzer kann in der Regel Auskunft darüber geben (oder sollte zumindest Auskunft darüber geben können), warum er zur Erreichung eines akzeptablen Übersetzungsergebnisses auf eine nichtwörtliche Übersetzungsprozedur zurückgegriffen hat. Dies ist immer dann der Fall, wenn aus sprachsystematischen oder gebrauchsnormativen Gründen eine ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 581 Petru Forna / Sanda Misiriantu Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen AS und ZS fehlt und eine wörtliche Übersetzung einen eindeutigen Verstoß gegen die syntaktischen, lexikalischen, idiomatischen und soziokulturellen Regelapparate der ZS zur Folge hätte. Während wörtliche Übersetzungsprozeduren dem Übersetzer leichter von der Hand gehen, weil er AS Textsegmente auf die ZS direkt abbilden kann und im Rahmen der ZS Textkonzeptionalisierung nur einen minimalen Transferaufwand investieren muß, erfordern nichtwörtliche Übersetzungsprozeduren oft ein verlhältnismäßig hohes Maß an kreativer Energie und intertextueller Sprachhandlungskompetenz. Ein kreativitätsrelevantes Problem ist eben der Umstand, daß man bei der Übersetzung ein und desselben Textes durch verschiedene Übersetzer mit einem u.U. breiten Spektrum formal verschiedener, qualitativ aber (ungefähr) gleichrangiger ZS-Versionen rechnen muß. Aber der Bezugspunkt für interlinguale Kommunikation ist nicht eine wie immer motivierte authentische Mitteilungsabsicht, sondern ein as vorformulierter Text, der für den Übersetzer Handlungsanweisungscharakter besitzt. Der Ausgangstext steuert das Verhalten des Überstzers. Gäbe es keinen Originaltext, gäbe es keine Übersetzung. Die Aufgabe des Übersetzers beasteht darin, unter übersetzungssituationsbezogener Aktivierung seiner kreativer Möglichkeiten auf dem Weg über einen u.U. höchst komplizierten intertextuellen Balanceakt ein funktionelles Gleichgewicht zwischen Ausgangsund Zieltext herzustellen. Der Übersetzer gewährleistet dadurch die Voraussetzungen für ein Informations-kontinuum zwischen zwei ihm oft unbekannten Kommunikationspartnern. Dabei verläßt sich der Überstzer in seinem Handeln vorwiegend oder ausschließlich auf seinem übersetzerischen Erfahrungsbereich; er lernt im Laufe der Zeit abzuschätzen, wieviel Kreativität er in die sachgerechte Lösung eines Übersetzungsauftrags investieren muß und in welchem Umfang er interlinguale Zuordungsstereotypen aktivieren kann (WILSS 1988). Doch sind im Gegensatz zu Übersetzungsmethoden die Übersetzungstechniken durch Routinertheit und Wiederholbarkeit geprägte übersetzerische Verhaltensweisen, in denen abstrakte Gedächnisinhalte in konkreten Handlungszusammenhängen automatisch aktiviert werden. Übersetzerisches Routinenverhalten ist das Gegenteil einen übersetzerischen Konfliktlösungsproblems; es beruht auf dem Prinzip, daß unter gleichen oder zumindest vergleichbaren übersetzerischen Bedingungen bei ökonomischem übersetzerischen Mittelansatz situationsunabhängig ein gleiches oder zumindest vergeichbares Ergebnis erzielt werden kann. Übersetzungstechniken setzen eine „allmähliche Sedimentierung eingeübter Praxisvollzüge“ ((BUBNER 1984) voraus, die auf Selbstregulierungsmechanismen beruhen, in denen „ursprünglich bewußtseinspflichtige Bestandteile der psychischen Struktur aus dem Bewußtsein zurücktreten (HACKER 1978). Übersetzungstechniken repräsentieren eine spezifische Form standarsdisierter Informationsverarbeitung, Sie ermöglichen eine invariante, auf jeden fall nur begrenzt variable Zuordnung von Input und Output und verlangen eine Relativierung der Festsellung, daß „in einem Wissenschafsbereich (wie dem der Übersetzungswissenschaft) wissenschaftliche Kriterien wie Objektivität und Wiederholbarkeit nicht sinnvoll angewandt werden können (MUDERSBACH 1987). Übersetzungstechniken sind das Ergebnis von Lernprozessen (WILSS 1988). Sie beruhen auf Erinnerungsfaktoren. Der Übersetzer vergegenwärtigt sich in seinem Langzeitgedächtnis verfestigte Handlungsschemata und setzt diese bei der Erreichung seines Handlungszieles ein. Dadurch daß Übersetzungstechniken weithin regelhafter Natur sind, werden sie in bestimmtem Umfang vorhersagbar. Diese Vorhersagbarkeit übt eine Entlastungsfunktion aus. Der Übersetzer kann von vorgegebenen Handlungsmustern Gebrauch machen, oder er kann von ihm für geeignet und 582 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse unverwechselbar gehaltene Textbausteine zu neuen überstzerischen Handlungsmustern zusammnesetzen (DANIEL 1981). Zu beachten ist allerdings, daß eine solche Verhaltensweise nicht dispositionell gesteuert, sondern sprach- und text(typ)determiniert ist. Übersetzungstechniken sind zu Gewohnheitstätigkeiten (habits) verfertigte Transfermechanismen (WILSS 1988), die allerdings nur dann praktiziert werden können, wenn der Übersetzer über eine ausgeprägte interlinguale „Framekomptenz“ (WEGNER 1984) verfügt. Diese – bewußt oder unbewußt aktivierte - „Framekompetenz“ baut sich allmählich durch induktive Sammlung vereinzelter Beobachtungen zu einem verläßlichen Spurensystem auf und wird so nach dem Prinzip der „increasing-strength hypothesis“ (WICKELGREN 1979) Teil eines übersetzerischen Handlungskalküls, das prototypisches Denken und Formulieren ermöglicht. Es setzt voraus, daß es zwischen as und zs Ausdrucksinventaren strukturhafte oder strukturierbare Äquivalenzbeziehungen gibt, die der Übersetzer text(typ)spezifisch mehr oder minder unreflektiert aus seinem Gedächtnis abzurufen imsande ist (TOMMOLA 1085). Diese Überlegungen verweisen auf COSERIUs (1970) (an ARISTOTELES anknüpfende) Unterscheidung zwischen nichtkreativen Handlungen, die eine schon gegebene Dynamis bloß anwenden, und der schöpferischen Tätigkeit, die der Dynamis vorausgeht. WILSS(1988) glaubt, daß COSERIU unter der Anwendung einer schon vorgegebenen Dynamik die Entwicklung und die Konsolidierung von standardisierbaren lexikalischen, idiomatischen und syntaktischen Übersetzungsprozessen zu Übersetzungstechniken versteht, und unter kreativen Handlungen, die der Dynamik vorausgehen, eine originalitätsbestimmte Übersetzungstätigkeit, wie sie sich, vereinfacht formuliert, in allen „nichtformatierten“ Texten manifestiert. Es ist aber zu bezweifeln, daß die Anwendung einer schon vorgegebenen Dynamik als nichtkreativ zu bezeichnen wäre. Man könnte umgekehrt argumentieren und das Wissen um die vorgegebene Dynamik geradezu als Vorbedingung für eine bestimmte (sekundäre) Art übersetzerischer Kreativität betrachten, für die ALLEN (1982) den Begriff „ostinatio“ (das Erwartbare) im Gegensatz zu „capriccio“ (das Nichterwartbare) geprägt hat. Also: In übersetzerischen Handlungszusammenhängen ist die Übersetzungskreativität auf zweierlei Weise virulent: sie bringt einerseits Ordnung und Stabilität in übersetzerisches Verhalten. Das entscheidende Merlkmal dieser Art von Übersetzungskreativität ist ihre Kraft, „Regelmäßigkeit im Handeln zu stiften. Diese Kraft ist in der Gemeinschaft verankert. . . Wo diese gemeinschaftliche Verankerung fehlt, ist auch nicht mit einer sicheren Geregeltheit des Handelns durch Normen zu rechnen“ (MÜNCH 1984). Übersetzungskreativität setzt andererseits Kräfte frei, durch die sie die Dynamik des Übersetzers außerhalb einer soziotechnischen Verhaltenspragmatik mit einer kollektivistischen übersetzerischen Grundhaltung verwirklichen kann. Stabilität und Inovation widersprechen sich nicht. Sie sind komplementäre Manifestationen eines sich an den Gegebenheiten des jeweiligen Übersetzungsauftrags orientierenden Übersetzerverhaltens. Übersetzerische Routine wird ergänzt durch einen übersetzerischen „Möglichkeitssinn“, der die beklemmende Vision einer total durchrationalisierten übersetzerischen Praxis mit durchgängig praktizierten festen Denk- und Ausdrucksschemata als gegenstandslos erweist (WILSS 1988). Man kann den übersetzerischen Produktionsprozeß nicht vollumfänglich dem Prinzip der Maschinenlogik unterwerfen. Neben vorhersagbaren, typisierbaren Übersetzungsprozessen gibt es auch nicht vorhersagbare, nicht „generierbare“, gleichsam „unbefestigte“ Übersetzungsprozesse außerhalb eines „instituierten“ Sprachgebrauchs mit geregeltem Erwartungshorizont (WILSS 1988). Für Übersetzen gibt es keinen operativen Blankoschek. Der Übersetzer hält sich viele Wegrichtungen offen. Sein Erfindungsreichtum ist, jedenfalls in literarischen Texten, fast unauslotbar. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 583 Petru Forna / Sanda Misiriantu Auch deswegen ist es sinnwidrig, immer und überall zu allgemeinen Regeln übersetzerischen Geschehens vorstoßen zu wollen. Praktisch kommt es darauf an, die jeweilige übersetzerische Gesamtsituation in all ihren Eigentümlichkeiten möglichst präzise zu erfassen und in der ZS durch Aktivierung aller kreativen Resourcen möglichst konturscharf und unverfälscht wiederzugeben. Die sprachlichen Rollen sind uns verordnet. Übersetzen ist eine Art sprachliches Rollenspiel. Aber gerade im Bewußtsein dieses Rollenspiels eröffnen sich dem Übersetzer Möglichkeiten und Perspektiven eines kreativen Verhaltens. * * * Graf Leo Tolstoi (1828-1910) ist das größte epische Naturgenie des 19. Jahrhunderts, Inbegriff russischen Wesens bis in den ungelösten Zwiespalt von Welt und Gott. Aus russischem Hochadel - auch von der Mutter her, einer Prinzessin Wolkonski - stammend, verlebte er glückliche Kinderjahre, die er so wunderbar in seiner Kindheit beschreibt. Er beherrschte die deutsche Sprache wie ein Muttersprachler, da er von klein auf diese Sprache gebrauchte. Und weil das in den adligen Familien Rußlands normal war. Auch seine Eltern waren der deutschen Sprache derart mächtig, daß sie den Geschwistern Tolstoi manchmal „verdächtig“ wurden, insbesondere wenn sie im Anlaut statt „G“ „J“gebrauchten. Das hing aber vom Erzieher ab. Graf Tolstoi und seine Geschwister sprachen aber ein „Standard-Deutsch“, weil ihr Erzieher aus einer Gegend Deutschlands kam, die die Normen der Schriftsprache durchsetzte. Alles was von Graf Tolstoi in deutscher Sprache geschrieben wurde, ist einwandfrei. Hier ein paar Beispiele aus seiner Kindheit, die das beweisen sollen: Auf, Kinder, auf. . . s'ist Zeit! Sind Sie bald fertig? Von allen Leidenschaften die grausamste ist die Undankbarkeit. Das Unglück verfolgte mich schon im Schosse meiner Mutter. In meinen Adern fliesst das edle Blut der Grafen von Sommerblat. Ich war ein Fremder in meiner eigenen Familie. Trachte nur ein ehrlicher Deutscher zu werden, sagte sie, und der liebe Gott wird dich nicht verlassen. Ich hatte einen einzigen Sohn und von diesem muß ich mich trennen. Du bist ein braver Bursche, sagte mein Vater und küsste mich. Und wir verteidigten unser Vaterland bis auf den letzten Tropfen Blut. Ich sprang ins Wasser, kletterte auf die andere Seite und machte mich aus dem Staube. Ich dankte dem Allmächtigen Gott für Seine Barmherzigkeit und mit beruhigtem Gefühl schlief ich ein. Ich nahm meinen Mantelsack und Beutel und sprang zum Fenster hinaus. Die deutsche Sprache verdankt er seinem Erzieher Karl Ivanitsch Mauer, den er liebte, wie wenige Personen in seinem weltlichen Dasein. Er nennt ihn bald „Erzieher“, bald „Djatka“, bald „Lehrer“. Und auch wenn manchmal eine quasi-herablassende Haltung Karl Ivanitsch gegenüber zu spüren ist – normal für den Sprößling einer solchen Familie - ist die Liebe für ihn echt und die Dankbarkeit fraglos. Sätze, wie die oben erwähnten, machten den Übersetzern überhaupt keine Schwierigkeiten, höchstens diejenigen, die bei einer Translation üblich sind. Also in Fußnhoten eine ziemlich getreue Wiedergabe zu geben. Aber Karl Ivanitsch Mauer spricht auch Russisch. Natürlich nicht besonders gut, was verständlich ist. Er macht Fehler, die „normal“ für einen Nichtmuttersprachler sind. Eben diese Fehler beschäftigen uns. Denn sie sind charakteristisch für einen, der nicht sehr gut Russisch spricht und können nur „kreativ“ in eine andere Sprache übersetzt werden. Der 584 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse Leser des betereffenden Textes soll verstehen, daß dort jemand spricht, der die Sprache, in die die Übersetzung gemacht worden ist, nicht vollständig beherrscht. Was Karl Ivanitsch im Russischen sagt, ist eine „Malträtierung“ der russischen Sprache. Er macht Fehler, die bald anerkennen lassen, daß der Betreffende der russischen Sprache nur relativ mächtig ist. Diese Fehler haben eine spezifische Natur, die nur für diejenigen, die das Russische einwandfrei beherrschen, zu verstehen sind. Es ist sinnlos hier zu erklären, worin sie bestehen. Aber wie übersetzt man solche Aussagen? Soll man die Charakterika der betreffenden Fehler aus der Ausgangssprache bewahren? Oder sollte man sie derart übersetzen, daß der Leser den Einduck hat, daß dort jemand spricht, der die Sprache nicht gut beherrscht? Sind die Fehler, die ein Deutscher im Russischen und im Rumänischen macht derselben Natur? Natürlich nicht, auch wenn sie manchmal übereinstimmen können, da beide indo-germanische Sprachen sind. Die beiden Übersetzer mußten das Russische von Karl Mauer so übersetzen, daß jeder rumänische Leser verstände, daß dort jemand eine Sprache verwendet, die er nicht sehr gut beherrscht, die er aber „verständlich“ gebrauchen will. Es sind in diesem Zusammenhang noch zwei Aspekte zu erwähnen: Der eine wäre, daß in verschiedenen Provinzen Rumäniens deutsche Minderheiten lebten, die aber derart einwandfrei Rumänisch sprachen, daß man bloß nach dem Hören des Namens sich Rechenschaft gegeben hat, mit einem Deutschen gesprochen zu haben. Also hatten die Übersetzer kein Muster für eine rumänische Sprache der Deutschen aus Rumänien. Der andere bestünde darin, daß die Menschen verschiedener Nationalitäten insbesondere in Siebenbürgen gewohnt sind, auch andere Sprachen zu sprechen. Und obwohl sie sich dessen bewußt sind, daß das nicht immer sehr gut „funktioniert“, liegt die Hauptsache darin, sich verständlich zu machen. Also malträtiert man brüderlich eine andere Sprache, aber die Malträtierung führt zu einem guten Ende. Nun haben wir den Eindruck, daß die Übersetzer des Werks von Graf Leo Tolostoi keine Ahnung von solchen philologischen Spekulationen gehabt haben. Sie haben aber etwas Außerordentliches geleistet. Und eben das ist die Frage nach Kreativität. Ist man sich ihrer bewußt? Ist sie erlernbar? Hätten die Übersetzer es besser übersetzt, wenn sie gründliche theoretische Kenntnisse in diesem Bereich gehabt hätten? Es folgen ein paar Beispiele, aus denen jeder rumänische Leser verstehen kann, daß dort ein Deutscher spricht, der das Rumänische nur relativ beherrscht: «Doua undi]a pentru copil, [aptezeci copeica.» «Hârtie colorat, margine aurit, clei [i stinghie de la cutiu]a, pentru cadouri, [ase ruble [i cincizeci[icinci copeica.» «Carte [i arc, cadou la copii, opt ruble [aisprezece copeica.» «Pantaloni la Nicolai, patru ruble.» «Ceas de aur, f`g`duit de Piotr Alexandrovici la Mocov, în 18. . . cost o sut` patruzeci ruble.» «Eu fost nefericit inca in pântec la mama al meu.» «Eu fugit.» «Când v`zut, ea spus la mine.» «Tumnezeu fede tot [i [tie tot [i în tot este sfânta lui foie, numai de voi copii pare la mine r`u.» «Comedia de p`pu[i.» ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 585 Petru Forna / Sanda Misiriantu «B`iat neastâmp`rat`.» «Musculi]` plicticos.» «Eu s`rit în apa, c`]`rat pe cel`lalt parte [i rupt fuga.» «Când v`zut, ea spus la mine. . .» «Aminte[te de mine aproape când sunt, Aminte[te departe când merg pe p`mânt, Aminte[te întruna, Amninte[te de mine tu, totdeauna, {i la mormânt S` fii credincios cum eu sunt.» Das letzte angeführte Beispiel, eben das von Karl Mauer für Gräfin Tolstoja geschriebene „Liebesgedicht“, beweist aus philologischem Sichtpunkt mehrere Sachen: ➧ ➧ ➧ ➧ ➧ es ist nicht unbedingt notwedig, über eine dichterische Sprache zu verfügen, um echten Gefühlen Ausdruck zu geben; die Sprache ist in erster Linie Kommunikationsmittel. Das Dichterische und das Korrekte sind (und waren) Luxusartikel; das Übersetzen ist nicht erlernbar, obwohl Studium im Bereich behilflich sein könnte; Kreativität ist eine angeborene Sache; Übersetzen ist etwas, was bleibt. Auch wenn man den Namen des Übersetzers vergißt oder nicht kennt, werden noch lange Zeit die Menschen ihn brauchen. Denn er leistet das, was keine wissenschaftliche philologische Arbeit leisten kann. Verständnis, Kennenlernen, Toleranz und Liebe unter Menschen. Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 586 S. Allen (1982), Text Processing as a Theme. The Capriccio and Ostinato of Texts. In: S. Allen (ed.) (1982), Textprocessing, Text Analysis and Generation, Text Typology and Attribution, Proceedings of NOBEL SYMPOSIUM 51, Stockholm, 15-22 R. Bubner (1960/1969), Rationalität, Lebensform und Geschichte. In: H. Schnädelbach (Hg.) (1984), Rationalität. Philosophische Beiträge. Frankfurt a.M. 198-217 E. Coseriu (1970) in U. Petersen, Sprache, Strukturen und Funktionen. XII Aufsätze zur Allgemeinen und Romanischen Sprachwissenschaft. Tübingen C. Daniel (1981); Theorien der Subjektivität. Einführung in die Soziologie des Individuums. Frankfurt a.M./New York J. P. Guilford (1968), Intelligence, Creativity and Their Educational Implications. San Diego, Cal. W. Hacker (1978), Allgemeine Arbeits- und Ingenieurpsychologie. Psychische Struktur und Regulation von Arbeitstätigkeiten. Bern/ Stuttgart/ Wien D. Lehmann (1982), Arbeitsbibliographie Übersetzen: Interdisziplinäre Aspekte der Sprach- und Übersetzungswissenschaft sowie der Übersetzungspraxis. L.A.U.T. Series B. Paper No. 83. Trier G. Mayer (1980), Zum kulturwissenschaftlichen Erkenntniswert literarischer Texte. In: A. Wierlacher / D. Eggers / U. Engel / H.-J. Krumm / R. Picht / K.-F. Bohrer (Hrsg.), Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Band 6. Heidelberg, 816 T. McFarland (1985), Originality and Imagination. Baltimore/ London K. Mudersbach (1987), Eine Methode des wissenschaftlichen Übersetzens mit Computer-Unterstützung. Einleitung zum Vortrag bei der GAL-Konferenz, 1.10.87 R. Münch (1984), Die Sprache der Moderne. Grundmuster und differntielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. E. A. Nida (1976), A Framework for the Analysis and Evaluation of Theories of Translation. In: R.W. Brislin (Hg.) (1976), Translation, Applications and Research, New-York K. Reichert (1967), Zur Technik des Übersetzens amerikanischer Gedichte. In: Sprache im technischen Zeitalter 21 M. I. Sastri (1973), Degrees of Creativity. In: Language Sciences 27 R. Schottlaender (1972), Paradoxien der “Kreativität”. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 26 L. N. Tolstoi (1953), Opere în paisprezece volume, Volumul 1. Copil`ria,Adolescen]a, Tinere]ea. Traducere de Ticu Arhip [i Maria Vlad. Editura A.R.L.U.S. “Cartea Rus`” 1953 J. Tommola (1985), Approaches to Research on Translation. In: J.Tommola/T. Virtanen (Hg.) (1985), Working Papers in English Studies, Turku I. Wegner(1984), Die Frame-Theorie, eine neue Theorie konzeptueller Makrostrukturen für die Lexikographie. In: Der Deutschunterricht 5 W. Wilss (1988), Kognition und Übersetzen, Tübingen ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 587 DIE ÜBERSETZUNG ALS PROZESS DES KULTURTRANSFERS Einige Überlegungen zu Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen Lau Laura Gabriela Laza Kultur läßt sich durch vieles vermitteln, durch Bräuche, Sitten, Gesänge, Trachten, Essensgerichte, wohl aber am besten durch Sprache. Und das nicht nur im Sinne des Lernens einer Fremdsprache, um die Kultur derjenigen Sprachgemeinschaft besser zu verstehen. Die Sprache kann auch für sich selbst sprechen. Viele Wörter sind spezifisch für eine Kulturgemeinschaft , weil sie Phänomene beschreiben, die es nur in der Kultur gibt. 1947 veröffentlicht Victor Klem1 perer in Berlin sein LTI. Notizbuch eines Philologen , ein Buch, das Anlass gibt, nicht nur über die Sprache des Dritten Reiches nachzudenken, sondern auch über ein sozial-historisches Phänomen, den Nationalsozialismus. „Le style c’est l’homme“- nach diesem Motto möchte Klemperer Sprache und Ideologie zusammenbringen, und implizite auch Kultur. Für einen Übersetzer ist es sicherlich eine Herausforderung sich mit der LTI (Sprache des Dritten Reiches) auseinanderzusetzen. Indem wir versucht haben, einige Begriffe daraus zu übersetzen, stießen wir auf das vieldiskutierte Problem der Übersetzbarkeit oder Unübersetzbarkeit. Hierzu schien uns ein Artikel von Eugen Coseriu 2 „Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie“ von besonderer Wichtigkeit. Mit Hilfe der Termini, die er hier aufführt, als auch des hier aufgestellten Modells, das im Zusammenhang mit seinem linguistischen System zu verstehen ist, sind wir an den Text von Klemperer näher herangegangen, und haben versucht, Begriffe, die uns repräsentativ schienen, zu analysieren. Besser gesagt, es wird der Versuch gemacht, ähnliche Bedeutungen für dieselben Bezeichnungen in der eigenen Sprache - hier Zielsprache, zu finden. Übersetzen hat sicherlich nicht nur mit Sprache zu tun, sondern auch mit Kultur, und da sind sich die meisten Sprach- und Literaturwisseschaftler einig. Beim Übersetzen aus der Ausgangssprache - hier Deutsch in die Zielsprache - hier Rumänisch mußten wir mehr als nur sprachwissenschaftliche Phänomene beachten. Zwei Kulturen trafen aufeinander. In der Zielsprache sind wir auf zwei der LTI ähnliche Phänomene gestoßen. Am 24. Juni 1927 wird auch in Rumänien eine nationalistische Organisation gegründet, zum einen nach dem deutschen Muster, da ihre Führer in Jena und Berlin studiert hatten und vom deutschen Nationalsozialismus stark begeistert waren, zum anderen basierte der rumänische Nationalismus auf einer hohen Form der Religiosität. Der 3 Antisemitismus und die „Rettung des rumänischen Volkes“ waren auch hier leitende Gedanken, aber der Glaube an Gott, und an die orthodoxe Religion standen über alles. Später, 1930 ließ sich die Organisation umbenennen und so entstand die Eiserne Garde, eine politische Partei, die unter dem Marschall Antonescu eine Zeit lang auch regiert hat. Einige Wörter der LTI können 1 Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen, Aufbau-Verlag, Berlin 1947. Coseriu, Eugen: Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie, in: Wills, Wolfram (Hrsg.): Übersetzungswissenschaft, Darmstadt 1981. 3 Siehe Zelea Codreanu, Corneliu: Pentru legionari, Bucure[ti 1940. 2 Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI auch in den Reden der rumänischen Rechtsextremisten um 1935 wiederentdeckt werden. Viele Wörter wurden aber nicht einfach übersetzt, sondern es wurden neue mit eigenen sprachlichen Mitteln geschaffen, denn diese Sprache, obwohl sie auch einer nationalistischen Ideologie diente, war eine eigene spezifische Kulturerscheinung. LTI wurde zu einer Tabu-Sprache zu DDR-Zeiten, man hat nicht nur im Bezug auf Literatur, sondern auch im Bezug auf die Sprache von einem Nullpunkt geredet. Dieses Phänomen ist auch in Rumänien nach 50 Jahren kommunistischer Herrschaft zu beobachten. Wörter, die im damaligen sprachlichen Alltag unvermeid4 lich waren, werden heute kaum noch ausgesprochen, wie z. B. tovar`[ oder gospodar. Es entsteht also beim Versuch der Übersetzung der Sprache des Dritten Reiches ein interkultureller Dialog. Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers und als Form der interkulturellen Kommunikation. Über die Übersetzbarkeit oder Unübersetzbarkeit eines Textes waren sich die Übersetzungswissenschaftler nie einig. Nach Coserius Ansicht, müßte erstens einen Unterschied zwischen Übersetzung als rein technischer Tätigkeit, auch Übertragung genannt und dem Über5 setzen als Prozess, gemacht werden . Die Übersetzung ist die Technik der Feststellung von „Entsprechungen“, d. h. von Äquivalenzen in der Bezeichnung; das „Übersetzen“ hingegen ist eine komplexe Tätigkeit, die bei weitem nicht nur aus Übertragung besteht. Coseriu führt also diese Termini ein: Übersetzung und Übersetzen, wobei Übersetzen eine gelungene Übersetzung darstellt, die den kulturellen Aspekt dieses Vorgangs beachtet. Das, was grundsätzlich nicht „übersetzt“ werden kann, wird beim Übersetzen auch nicht übertragen, im Sinne des Begriffes. Der Autor behauptet, die Übersetzung stöße leicht an ihre Grenzen und darum müßte man vom Übersetzen reden, eine Tätigkeit, die keine rationalen, sondern nur empirischen Grenzen erfährt. Die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Übersetzung und Übersetzen wurde schon von den ältesten Übersetzungswissenschaftlern angesehen, behauptet E. Coseriu. Im lutherischen „Sendbrief vom Dolmetschen“ zum Beispiel, wird das Problem vom Gesichtspunkt eines Übersetzungsideals dargestellt; implizite hat Luther aber doch die Differenzierung im Sinne, und zwar je nach den Adressanten, denen man „auf das Maul sehen“ müsse. Als Textlinguist sieht Coseriu die Übersetzungstheorie als Teil der Textlinguistik, so behauptet er, das Übersetzen habe nichts mit einzelnen sprachlichen Einheiten zu tun. Übersetzen macht nur im textuellen Kontext einen Sinn. Der Autor erkennt vier falsche Fragestellungen in der Übersetzungstheorie: 1. Die Problematik der Übersetzung und des Übersetzens wird wie eine Problematik, welche die Einzelsprachen betrifft, eingegangen. 2. Es wird von den Übersetzungen wenigstens implizite erwartet, dass sie alles in den Originaltexten Gemeinte und durch diese Texte als gemeint Verstandene mit den Mitteln der Zielsprache wiedergeben; sie können dies aber nicht, und deshalb seien sie schon ihrem Wesen nach „unvollkommen“, wenn auch praktisch notwendig. 4 Hier verwechselt die Verfasserin die kommunikativ-situative, epochenbedingte Konnotation eines Wortes mit einem Wort des rumänischen Grundwortschatzes, welches sonst auch heute noch in anderen semantischen Feldern voll im Gebrauch ist: tovar`[ de drum, tovar`[ de suferin]` etc. Von gospodar kann die Behauptung der Verfasserin aus ähnlichem Grunde nicht so gelten. (Anm. der Redaktion der ZGR.) 5 Coseriu, Eugen: Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie, in Wills, Wolfram (Hrsg). : Übersetzungswissenschaft, Darmstadt 1981, S. 27 ff. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 589 Laura Gabriela Laza 3. Die Übersetzung als rein einzelsprachlich bezogene Technik wird dem Übersetzen gleichgesetzt. Dies führt u. a. zu dem Paradoxon, dass die Übersetzung zwar theoretisch unmöglich, empirisch jedoch eine Realität ist. 4. Es wird eine abstrakte optimale Invariante für die Übersetzung überhaupt an6 genommen. Die Problematik der Übersetzung taucht in Bezug auf das Verhältnis Ausgangssprache Zielsprache auf. Es wird falscher Weise angenommen, dass die Inhalte zweier verschiedenen Sprachen - abgesehen vom terminologischen Wortschatz - im Verhältnis 1:1 stehen müssten, so Coseriu. Aber das Verhältnis sei eigentlich „irrationaler“ Natur, so dass gewisse Inhalte der Sprache A nur gewissen Inhalten der Sprache B entsprechen, die wiederum anderen Inhalten der Sprache A entsprechen und so weiter. Sehr viele Inhalte zweier Sprachen seien „inkommensurabel“ behauptet E. Coseriu. Man müsse beachten, dass eine der falschen Problemstellungen der Übersetzungstheorie daraus entsteht, dass man einzelne „Wörter“ nicht übersetzen kann, man spricht von „unübersetzbaren Wörtern“. Nur Texte können aber übersetzt werden, sprachliche Einheiten, die nicht nur mit sprachlichen Mitteln allein, sondern im verschiedenen Maß auch mit Hilfe außersprachlichen Mitteln erzeugt werden. Dies ist, nach Coserius Ansicht, das Grundprinzip der Übersetzungstheorie. Man müsse also nicht Wörter , sondern Inhalte übersetzen, und dazu führt er drei wichtige Begriffe ein : 1. Die Bedeutung, die jeweils einzelsprachlich ist- bezieht sich auf den gegebenen Inhalt. 2. Die Bezeichnung, der Bezug auf den „außersprachlichen Sachverhalt“ oder „Tatbestand“. 7 3. Der Sinn, der besondere Inhalt eines Textes oder einer Texteinheit (z. B. Aufruf, Frage). Die Aufgabe des Übersetzens sei nun, in sprachlicher Hinsicht nicht die gleiche Bedeutung, sondern die gleiche Bezeichnung und den gleichen Sinn, durch sprachliche und außersprachliche Mittel einer Zielsprache wiederzugeben. Eugen Coseriu macht eine sehr interessante Bemerkung, was die falsche Fragestellung der Übersetzungsproblematik angeht: man frage sich falscher Weise “ Wie übersetzt man diese oder jene Bedeutung dieser Sprache?“, die richtige Frage müsste aber heißen: „ Wie nennt man den gleichen Sachverhalt bzw. Tatbestand in einer 8 anderen Sprache in der gleichen Situation?“ Bedeutungen können und müssen nicht übersetzt werden, da sie einzelsprachlich sind. Es geht darum die gleiche Bedeutung in der Zielsprache zu finden, die das gleiche bezeichnen will: Bedeutung 1 Bedeutung 2 Bezeichnung 9 Man spricht mittels der Bedeutung, man teilt nicht Bedeutung mit. Der mitgeteilte Textinhalt bestehe ausschließlich aus Bezeichnung und Sinn, behauptet Coseriu. Es ginge folglich um Äquivalenz in der Bezeichnung. Man müsse auch zwischen Bedeutung und Verwendung der 6 siehe dazu Ebd., S. 28-29 Ebd., S. 32-33. 8 Ebd., S. 33. 9 Ebd., S. 34. 7 590 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI Bedeutung unterscheiden. Z. B. auf Deutsch sagt man „keine Ursache!“ aber im Französischen sagt man nicht „aucune cause!“ , sondern die Entsprechung dem Sinn und der Bezeichnung nach heißt: „Pas de quoi!“; oder „Schade!“ heißt auf Portugiesisch „che pena!“ also ungefähr 10 „was für ein Schmerz!“ . Diese Verschiedenheit der einzelsprachlichen Bedeutungen, d. h. die verschiedene Gestaltung der Wirklichkeit durch die Einzelsprachen, ist nicht, wie man oft meint, das Problem par excellence der Übersetzung, sondern viel mehr ihre Voraussetzung, die Bedingung ihrer Existenz: gerade deshalb gibt es Übersetzen und nicht nur bloße Ersetzung auf der Ausdrucksebene. Also heißt Übersetzen soviel wie: gleiche Bezeichnung mittels grundsätzlich verschiedener Bedeutung. Es gibt aber auch spezielle Situationen, wo bestimmte Sprachen eine bestimmte Bezeichnung einer Bedeutung nicht kennen, da spricht man von „Lehnübersetzungen“: schaffen von neuen Ausdrücken und Bedeutungen mit einheimischen Mitteln. Hier führt Coseriu das berühmte Beispiel des Wortes „Schnee“ ein. Bestimmte Sprachgemeinschaften kennen nämlich dieses Phänomen nicht. Die Sprache kann aber nicht nur als Zeichensystem, sondern auch als „Realität“ verwendet werden. In der Übersetzung können auch Konflikte zwischen Bezeichnung und Sinn entstehen. Z. B. die Farben weiß und schwarz rufen verschiedene Gefühle hervor, bei den jeweiligen Gemeinschaften, einmal Frieden und einmal Tod, und umgekehrt. Oder der Mond und die Sonne werden als eine männliche bzw. als eine weibliche Gestalt, im deutschsprachigen Raum gesehen. In den romanischen Sprachen dagegen, ist der Mond vom Genus her weiblich, und die Sonne männlich, also genau umgekehrt. In solchen Fällen kann sich der Übersetzer entweder für den Sinn, oder für die Bezeichnung entscheiden. Sicherlich teilt das Gesagte einer Sprache auch bestimmte Gefühle mit, oder ruft sie hervor, Gefühle die nur in der jeweiligen Sprachgemeinschaft nachzuvollziehen sind. Diese kann man auch nicht übersetzen, höchstens angeben, als Bemerkung. Da stößt das Übersetzen an seine Grenzen. Die Übersetzung als rein sprachliche Technik betrifft nur das Sprachliche, also das Gesagte und nicht das Gemeinte. „Die eigentliche rationale Grenze der Übersetzung ist also nicht durch die Verschiedenheit der Sprachen, durch die Sprachen als Bezeichnungssysteme gegeben, sondern durch die in den 11 Texten verwendete Realität (einschließlich der Sprache als Realität).“ Die ideologische Sprache des Nationalsozialismus. Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen – ein Übersetzungsversuch 1947 veröffentlicht der Dresdener Romanist Victor Klemperer im Aufbau-Verlag, Berlin sein „schwierigstes“ Buch, wie er es selbst bezeichnete: LTI. Notizbuch eines Philologen. Mehrere Auflagen des Buches sind danach erschienen in Leipzig 1947, 1957 und 1993. Es ist auch unter dem Titel: Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. LTI - 1966 bekannt. Das Buch soll eine kritische Analyse der Sprache des Dritten Reiches darstellen. Nach der Machtübernamme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 und bis Ende des II. Weltkrieges macht sich Klemperer Notizen, denn er möchte „Zeugnis ablegen bis zum letzten“, eine Aussage, die später sogar als Titel für seine Tagebücher vom Verleger übernommen wurde. Wie schon der Untertitel des Buches verrät, erhebt V. Klemperer keine hohen sprachwissenschaftlichen Ansprüche für sich, es soll nicht eine sprachwissenschaftliche Analyse sein, sondern nur 10 11 Ebd. Ebd., S. 42. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 591 Laura Gabriela Laza Gedanken, Notizen. Was LTI eigentlich darstellen soll, erklärt er selbst im ersten Kapitel seines Werkes: „LTI: Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reiches... man könnte das metaphorisch nehmen. Denn ebenso wie es üblich ist, vom Gesicht einer Zeit, eines Landes zu reden, genauso wird der Ausdruck der Epoche als ihre Sprache bezeichnet. Das Dritte Reich spricht mit einer schrecklichen Einheitlichkeit aus all seinen Lebensäußerungen und Hinterlassenschaften: aus der maßlosen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus ihren Trümmern, aus dem Typ der Soldaten, der SA- und SS- Männer, die es als Idealgestalten auf immer gleichen Plakate fixierte, aus seinen Autobahnen und Massengräbern. Das alles ist Sprache des Dritten Reiches, und von alle12 dem ist natürlich auch in diesen Blättern die Rede“ . Die LTI ist kein Jargon der natürlichen Sprache, wie man glauben könnte, sondern die natürliche Sprache wurde einfach in ihrer Funktion umgewandelt. Denselben Worten werden andere Bezeichnungen zuerteilt. LTI ist eine Sprache, die ständig der Zensur unterliegt, dadurch ist sie keine ehrliche oder freie Sprache. Sie ist auch arm, denn sie basiert auf einigen Begriffen, die sie ständig wiederholt, um sie einzuprägen. Sie ist zugleich eine öffentliche Sprache, sie hat kein persönliches Register, nach dem Motto : „du bist nichts, dein Volk ist alles“. Damit sie die Massen erreicht, ist sie zugleich eine sehr einfache Sprache. Deshalb aber nicht weniger überzeugungsfähig, und deswegen bedient sie sich mehrerer Klischees. Zum einen verneint sie das Christentum, dabei verwendet sie genau dieselben Schemata (neutestamentarischer Diskurs), zum anderen verneint sie jegliche fremdsprachlichen Einflüsse, dabei will sie modern sein, und bedient sich der Fremdwörter. Sie möchte aber ein neues Kapitel in der Sprachgeschichte für sich aufschlagen, und das gelingt ihr, nicht etwa indem sie eine sehr innovative Sprache ge13 wesen ist, sondern gerade indem sie eine „reine Sprache“ vergiftet hat . Das Wort der LTI par excellence war und bleibt: Führer. Hitler nannte sich zuerst auch Reichskanzler und Führer, um dann auf die erste Bezeichnung ganz zu verzichten, und nur noch Führer genannt zu werden. Das Wort wurde in vielen anderen Bereichen benutzt, jedoch nur in Komposita. Man sagte Betriebsführer aber auf keinen Fall Führer des Betriebes. Führer war nur einer, und daher bekam diese Bezeichnung in ihrer Verwendung schon Funktionen, die der biblischen Sprache ähnelten. Die Deutschen sollen nicht mehr geführt werden, sondern selbst führen, und dabei einen Führer haben, der seinen Führerwillen, wie ein Gottesgesetz durchsetzt - dies war der Sinn. Diesem Kultus des Führers begegneten die Kommunisten in der DDR durch 14 Tabuisierung des Wortes. So sagte man Fahrererlaubnis statt Führerschein . Man behauptet, das Wort sei die deutsche Entsprechung des faschistischen italienischen il Duce, was einigen Wörterbüchern zufolge auch stimmt. Man muss aber aus kultureller und ideologischer Sicht einen Unterschied zwischen dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus machen, und daher auch zwischen Führer und il Duce. Beim Versuch des Übersetzens dieses Begriffes ins Rumänische haben manche Übersetzer das Wort einfach so übernommen, ohne es wenigstens an den phonetischen, graphemischen oder morphologischen Normen der rumänischen Sprache anzupassen: Führer. Das Wort wird im rumänischen Fremdwörterbuch folgendermaßen definiert: der Name, der Hitler nach der Machtergreifung zugelegt 15 wurde, oder führende Person einer germanischen Menschengruppe . Zwei andere Übersetzungen kämen in Frage, und zwar das Wort conduc`tor, also der Führer einer Gruppe von 12 Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2001, S. 20. siehe dazu Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2001, S. 26-27. 14 Schlosser, Dieter: Lexikon der Unwörter. Berlin 2000, S. 101. 15 Marcu, Florin und Mânec`, Constant (Hrsg.): Dic]ionar de neologisme, 3. Auflage, Bucure[ti 1978 , S. 475. 13 592 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI Personen, oder das Wort capitan – der Führer einer Militärgruppe. So wurde der nationalistische Führer der Eisernen Garde genannt. Wie das Wort Führer wurde dem rumänischen Wort c`pitan eine fast magische Bedeutung mit religiösen Anleihen zugeschrieben. Anhand dieses Beispiels kann man veranschaulichen, dass dieselbe politische Ideologie, nämlich die nationalistische, drei verschiedene Formen in derselben Zeitspanne angenommen hat, drei verschiedenen Kulturen entsprechend - der Italienischen, der Rumänischen und der Deutschen. Welche Form des Wortes würde man jedoch bei einer Übersetzung aus dem Deutschen ins Rumänische bevorzugen? Wir plädieren für das Übernehmen des ausgangssprachlichen Wortes, da wir so auch in der Zielsprache der Bezeichnung und dem Sinn treu bleiben. Die kulturspezifische Erscheinung der Ausgangssprache wird in der Zielsprache beibehalten. Fanatismus - fanatisch sind Wörter die an ein utopisches Weltbild anknüpfen - die totale Hingabe zu Gott, das Stadium einer religiösen Verzückung. Seitdem Rousseau zum ersten Mal Fanatismus im Zusammenhang mit der französischen Aufklärung benutzt hatte, wurde dem Wort eine pejorative Konnotation zugeschrieben. Die LTI dagegen erteilte dem Wort einen positiven Sinn. Fanatismus wurde zu einer Tugend, die irrationale Begeisterung wurde zu einer 16 positiven Kerntugend gemacht . In dieser Form findet man die Bezeichnung nicht in der rumänischen Sprache. Das aus dem Lateinischen stammende Wort fanatism, adj. fanatic (aus lat. fanum) hatte und hat eine pejorative Konnotation. Die Definition des Wortes fanatism lautet: eine außerordentliche Verbundenheit zu einer Idee oder Person, die sich durch Intoleranz ge17 genüber Personen anderer Gesinnungen charakterisiert . In der LTI wurde nur die außerordentliche Verbundenheit zu einer Person gesehen, und die Intoleranz gegenüber anderen nicht negativ bewertet. 18 Anstelle Wörter deutscher Herkunft wie Begeisterung, abgeleitet vom mhd., ahd. geist 19 oder Heldentum aus dem altgerm. Substantiv „haliÞ-“ bedeutend „freier Mann“, tauchen in der LTI Neologismen wie: Enthusiasmus und Heroismus auf, aus dem gr. enthousiasmos und aus 20 dem gr. hērōs auf . Dafür gibt es im Rumänischen Wörter gleicher griechischer Abstammung über die französische Sprache in die rumänische gekommen: entuziasm , aus dem fr. 21 22 enthousiasme , und eroism aus dem fr. héroïsm abstammend aus dem lat. heroicus. Die Bedeutung aus der Ausgangssprache wird in der Zielsprache genau wiedergegeben, denn es handelt sich hierbei um dieselbe Bezeichnung. Sie beschreiben ein Stadium der Begeisterung bzw. ein heldenhaftes Benehmen. Der exzessive Gebrauch solcher Wörter veranschaulicht am besten, dass die LTI eine Sprache der Superlative war. Ein gelungenes Beispiel einer Lehnübersetzung ins Rumänische stellt, unserer Meinung nach, der Begriff cel de-al treilea Reich dar. Der Begriff geht auf eine alte geschichtstheologische Theorie zurück, wonach die Geschichte nach den „Reichen“ Gottvaters und Gottsohnes in das dritte Reich des Heiligen Geistes als Vollendung münden sollte. Diese ist eine der zahlreichen Religionsanleihen einer in sich atheistischen Weltanschauung. Das Dritte Reich war ein 16 siehe Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2001, S. 77-83. Dictionarul explicativ al limbii romane, 2. Auflage, Bukarest 1996, S. 366. 18 Drosdowski, Günther (Hrsg.): Duden. Ethymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, 2. Auflage, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1989, S. 226. 19 Ebd., S. 278. 20 Ebd., S. 281. 21 Dictionarul explicativ al limbii romane, 2. Auflage, Bukarest 1996, S. 343. 22 Ebd., S. 342. 17 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 593 Laura Gabriela Laza Ziel bis 1933, so sprach Hitler danach vom Großdeutschen Reich oder Tausendjährigen Reich. Vor allem nach dem Anschluss von Österreich, 1938 hat man den Namen Großdeutsches Reich als offiziellen Saatsnamen verwendet. In einer Rede, 1943 sprach er auch vom Germanischen 23 Staat deutscher Nation in Anlehnung an das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Im Rumänischen hat man eine Teilübersetzung vorgenommen. Den ersten Teil hat man übersetzt und den zweiten übernommen. Wieso aber, da es im Rumänischen durchaus eine „Entsprechung“ des deutschen Wortes Reich gibt, nämlich imp`r`]ie oder imperiu. Das bis 1806 existierende Heilige Römische Reich deutscher Nation heißt in rumänischer Überseztung Imperiul Roman de Na]iune German`, wobei das Wort Reich hier nicht mehr so belassen, sondern übersezt wurde. Das Dritte Reich ist aber nicht mehr Al treilea Imperiu sondern Al treilea Reich. Das Wort wird also nicht separat vom Kontext übersetzt, sondern hier berücksichtigt man ein geschichtliches und implizite in der Ausgangssprache auch kulturbezogenes Phänomen. Die sogenannte ethnische Säuberung als Prozess hat sich mehrerer, immer wieder auftauchender Begriffe bedient, z. B. Arier - arisch - Arisierung, Rasse - Rassenschande - niederrassig oder rein. Arier: Angehöriger einer östlichen, indogerm. Völkergruppe; aus dem sanskritischen ârje bedeutend ein Mann eines iranischen oder indischen Stammes; falscher Weise nicht semi24 tisch . Im Rumänischen arian, ein Wort, das zwei verschiedene Bedeutungen und Ab25 stammungen hat, das Wortlaut aber das gleiche ist. Zum einen aus dem fr. arien wird es als der Name eines Anhängers der Arianismus erklärt, eine früh christliche Ideologie , deren zufolge die göttliche Natur von Jesus Christus negiert wird, und dessen Gründer der Erzbischof Arie aus 26 Alexandria war. Das zweite Wort, mit dem gleichen Wortlaut aber aus dem fr. aryen abstammend, steht für den alten Namen der Völker, die eine indo-europäische Sprache sprechen. Später bezeichnete der Begriff die Angehörigkeit zu einem germanischen Volk. Im 19. Jh. verengten sich die Bedetungen des Begriffes, und er bezeichnete die Zugehörigkeit zur „weißen 27 Rasse“ oder die Ahnen des deutschen Volkes . Die LTI übernahm das Wort, und machte aus ihm mehr als die Bezeichnung einer Zugehörigkeit, es wurde zu einer Lebensprämisse. Im Rumänischen wird das zweite Wort mit dem Bezug auf die NS-Ideologie verwendet und gibt die Bezeichnung der ausgangssprachlichen Kultur treu wieder. Das Wort Rasse aus dem fr. race, seinerseits aus dem it. razza, ein naturwissenschaftliches Ordnungsbegriff zur Bezeichnung einer Gruppe von Individuen innerhalb einer Art, die in typi28 schen Merkmalen übereinstimmen , erfuhr innerhalb der LTI eine andere Bezeichnung. Dem Wort wird einen Spezialsinn erteilt. Es bezeichnet nicht mehr eine harmlose Realität aus der naturwissenschaftlichen Welt, sondern die Angehörigkeit zu einer oder anderen Rasse wird zu einer Lebensbedingung gemacht. Die nachkriegszeit Sprache tratt diesem Wort durch Tabuisierung entgegen. Die rumänischen Legionäre bezeichneten den Nationalsozialismus als die 29 Rassenlehre , während sie ihre Lehre auf den Glauben an Gott stützten, daher bezeichnet das 30 rum. Wort ras` mit gleicher Abstammung aus dem fr. race, it. razza die simple Angehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen oder Tieren. Die Übersetzung durch ein anderes Wort würde aber auch nicht zutreffen. Es gibt aber im Rumänischen das vom Wort ras` ab23 Schlosser, Dieter: Lexikon der Unwörter, Berlin 2000, S. 70 und S. 100. Neues Deutsches Wörterbuch, Köln o. J., S. 65 25 Dic]ionarul explicativ al limbii române, 2. Auflage, Bucure[ti 1996, S. 59. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 59. 28 Drosdowski, Günther (Hrsg.): Duden. Ethymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache“, 2. Völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1989, S. 572. 29 Siehe dazu: Sima, Horia: Doctrina legionar`. Bucure[ti 1998. 30 Marcu, Florin und Maneca, Constant (Hrsg.): Dic]ionar de neologisme. 3. Auflage. Bucure[ti 1978, S. 903 24 594 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI geleitete Wort rasism, das einen sozial-politischen Glauben beschreibt, nachdem es zwischen 31 Angehöriger verschiedenen Menschenrassen, biologische und intelektuelle Unterschiede gibt . Als Rassenschande galt gemäß dem NS-„Blutschutzgesetz“ von 1935 der außer-eheliche Verkehr von anderen nicht-arischen Menschen, in erster Linie Juden mit Staatsangehörigen 32 „deutschen oder artverwandten Blutes“ . Die nicht-jüdische Ehefrau eines Juden wurde als Rassenschänderin beleidigt. In der Form kann man auf Rumänisch keine Entsprechung derselben Bezeichnung finden. Eine Übersetzung ohne zusätzliche Erklärung seitens des Übersetzers würde sicherlich mißverstanden werden. Mit Berücksichtigung des kulturellen und kontextuellen Aspekts würden wir folgende Übersetzungen vorschlagen: necinstirea rasei, pâng`rirea rasei oder profanarea rasei, Begriffe, die einen fast kirchlichen Klang haben. Wir möchten mit einem Wort altgerm. Ursprungs enden: rein < ahd. [h]reini, got. hrains, schwed.33ren das auf einer alten Prinzipialbildung zu der Wurzelform [s]kr i „schneiden, sichten, sieben“ beruht. In der Zielsprache - hier Rumänisch könnte dieser Inhalt durch das Wort pur 34 (<lat. purus ) wiedergegen werden, wobei die Bezeichnung nicht dieselbe ist. Die rumänischen Legionäre sprachen eher von der Reinheit der Seele, auf einer geistlichen und seelischen Ebene, durchaus im biblischen Sinne. Der Bezug des Wortes auf das Prozess der Judenausrottung kann aber nicht völlig ignoriert werden. Das LTI- Wort bezeichnet aber eine physische Realität, die Reinheit der Rasse wird de facto realisiert. Schlußbemerkungen Die kulturgeschichtliche Dimension der Ausgangssprache bereitet dem Übersetzer die meisten Probleme. Sie ist aber zugleich, wie Coseriu im erwähnten Artikel meint, die Voraussetzung der Existenz des Übersetzens als Prozess, sonst gäbe es nur einfache Transkription, oder computergesteuerte Übersetzung. Unsere Versuche, aus dem Buch von Victor Klemperer zu übersetzen, haben nachgewiesen, dass an diesem Prozess mehrere Faktoren beteiligt sind. Sprachwissenschaftliche Faktoren müssen gegenüber kulturgeschichtlichen oft zurücktreten. Die Bedeutungen spielen auf der sprachlichen Ebene eine Rolle, Bezeichnungen sind aber kulturbedingt, und daher sprechen manche Übersetzungswissenschaftler, wie z. B. Katharina Reiß und Hans J. Vermeer in ihrem Buch: Grundlagen einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen 1991 über die Bikulturalität des Übersetzers. Er muß oft nicht nur zweisprachig sein, sondern auch bikulturell. Um originalgerecht zu übersetzen, sollte man wissen, welche Mittel man verwenden kann, der Übersetzer muß aber zugleich die ausgangssprachliche und zielsprachliche Kultur kennen. Sprache spricht für sich, war der Leitgedanke meiner Arbeit, Sprache verrät aber auch ein Stück Kultur. Literatur : 1. 2. Grucza, Franciszek: Interkulturelle Translationskompetenz: Ihre Struktur und Natur. In: Arnim, Paul Frank (Hrsg.): Geisteswissenschaftliches und literarisches Übersetzen im internationalen Kulturaustausch. Teil 1. Berlin 1993. 31 Ebd., S. 903. Schlosser, Dieter (Hrsg). : Lexikon der Unwörter. Berlin 2000, S. 91. 33 Drosdowski, Günther (Hrsg.): Duden. Ethymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache“, 2. Völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1989, S. 583. 34 Marcu, Florin und Mânec`, Constant (Hrsg.): Dic]ionar de neologisme, 3. Auflage, Bucure[ti 1978, S. 891. 32 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 595 Laura Gabriela Laza 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 596 Coseriu, Eugen: Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie. in: Wilss, Wolfram (Hrsg.): Übersetzungswissenschaft. Darmstadt 1981 Coseriu, Eugen: Limbaj [i politic`. In: Revista de lingvistic` [i [tiin]a literar` a Institutului de lingvistic` [i istorie al Academiei de [tiin]e din Moldova. Nr. 5/1996. Dic]ionar explicativ al limbii române. Bucure[ti 1996 Dic]ionar român-german. Bucure[ti 1958 Draganovici, Mihai: Die literarische Übersetzung als sprachlicher und kultureller Transfer. Einige Überlegungen. In: Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, 7. Jahrgang, Heft 1-2 (13-14), Bukarest 1998, S. 284-286 Drosdovski, Günther (Hrsg.) : Duden Ethymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 2. Auflage, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1989 Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975 Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. Auflage. Berlin 1998 Kupsch-Losereit, Sigrid: Übersetzen als transkultureller Verstehens- und Kommunikationsvorgang: andere Kulturen, andere Äußerungen. Auf: www.fask.uni-mainz.de Marcu, Florin; Mânec`, Constant: Dic]ionar de neologisme. 3. Auflage. Bucure[ti 1978 Reiß, Katharina. Vermeer, Hans J.: Grundlagen einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen 1991 Neues Deutsches Wörterbuch, Naumann & Göbel Verlag, Köln o. J. Schlosser, H. Dieter: Lexikon der Unwörter. Berlin 2000 Siehr, Karl-Heinz (Hrsg.): Victor Klemperers Werk. Berlin 2001 Sima, Horia: Doctrina legionar`. Bucure[ti 1998 Sima, Horia: Menirea na]ionalismului. Bucure[ti 1993 Stolze, Radegundis: Übersetzungstheorien. Eine Einführung. Tübingen 1994 100 Wörter des Jahrhunderts. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999 Witte, Heidrun: Die Kulturkompetenz des Translators. Begriffliche Grundlegung und Didaktisierung, Tübingen 2000 Zelea-Codreanu, Corneliu: Pentru legionari. Sibiu 1936 Zelea-Codreanu, Corneliu: Pentru legionari. Sibiu 1940 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003