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GLAMOUR Mai 2003
Gangs of Florenz: Der Calcio Storico fängt an wie ein Historien-Spiel, doch
dann reißen sich die Männer ihre T-Shirts vom Leib - und das Spektakel
beginnt
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Der Heilige Giovanni holt sie an die Sonne - die schönsten Männer von Florenz. Als Touristin
sieht man sie kaum bei regulären, meist gehetzten Shopping- oder Kulturtouren durch die
Altstadt von Florenz. Sie stehen nicht vor den Gemälden im Palazzo Pitti oder in den Uffizien
- sondern verstecken sich in Bars, unter Motorhauben oder in Fitnessstudios. Am 24. Juni
aber, dem Namenstag des Schutzheiligen ihrer Stadt, treten sie an, um ihre Kräfte zu
messen. Und die jungen Frauen zu erobern.
Calcio Storico Fiorentino heißt das Spiel, das auf dem weiten, von alten Häusern
umstandenen Kirchplatz von Santa Croce in der Altstadt von Florenz ausgetragen wird. Ein
historisches Fußballspektakel, das den Proleten-Sex-Fantasien aus dem Film "Thelma und
Louise" entsprungen sein könnte, in dem sich Gena Davis stellvertretend für den Rest der
Weiblichkeit von einen unterbelichteten aber göttlich attraktiven Brad Pitt vernaschen lässt.
Muskulöse Körper, schweißnasse Haut, jede Menge Tätowierungen... und brachiale Kraft.
Die vier Mannschaften, die an diesem Turnier teilnehmen, lassen die Passanten erschauern,
wenn sie durch die engen, verwinkelten Gassen der Altstadt zur Arena vor Santa Croce
ziehen. An kleinen Läden, Handwerksbetrieben und Trattorien vorbei, brüllen die finster
dreinblickende Muskelpakete mit kahl geschorenen Köpfen ihre Schlachtrufe. Sie könnten
Rollenvorbilder für Hollywoodstars sein. Aufgeputscht und angestachelt. Mit Blicken, die
sagen: Alles ist erlaubt, denn es regiert das Recht des Stärkeren. Und wer weiß? Daniel DayLewis, der in "The Gangs of New York" einen Messerwerfer mimt, hat in Florenz gelebt und
dort das Schuhmacherhandwerk gelernt. Wer weiß, welche Erfahrungen er noch aus der
Toskana mitgenommen hat?
Einer der Fighter ist Gregorio. Er kauert mit seinen Freunden, den Weißen, am rauhen
Gemäuer der Kirche Santa Croce. Es ist die Grabeskirche Michelangelos, Galileis und
Machiavellis und hält Kunstschätze wie das Altartabernakel von Donatello und die
revolutionären Fresken von Giotto, die erstmals Perspektive zeigten. Doch heute ist die
Kirche kein Hort der Kunst. Heute ist sie Kulisse für das rauhste und gröbste Fußballspiel der
Welt. Das Spektakel gehört den Rossi aus der rauhen Bahnhofsgegend um Santa Maria
Novella und den Azzuri aus Santa Croce, einst eines der ärmsten Viertel der Stadt. 27 Rote
werden 27 Blauen auf dem mit Sand aufgeschütteten Kirchplatz entgegentreten. Dafür haben
sie seit Jahresbeginn drei Mal pro Woche trainiert: Boxen, Sprinten, Kicken, Gewichte
stemmen. Der Knochenbrechersport Rugby ist dagegen ein Kinderspiel. Die
Nachmittagssonne brennt vom strahlend blauen Himmel. Auf der Piazza werden Trommeln
geschlagen und Fahnen geschwungen. Gleich geht es los. Testosteron pur. Die Bianci um
Gregorio aus dem Stadtteil Santa Spirito jenseits des Flusses Arno, der die Stadt teilt, und die
Grünen aus San Giovanni werden nur von der Bande aus zuschauen. Sie sind im K.O.System der Vorrunde ausgeschieden.
"Eigentlich kann man bei diesem Spiel nur verlieren", kommentiert Gregorio, der nach seinem
Vorrundenspiel einige Tage lang im Krankenhaus lag. "Ohne Schrammen verlässt keiner das
Spielfeld." Vor ein paar Tagen noch war seine Nase angeschwollen, sein linkes Auge
blutunterlaufen. Einer vom Team der Blauen hatte ihn mit einem Fausthieb ausgeknockt. Und
das Publikum hatte gejubelt, als Gregorio ohnmächtig und blutend in den roten Sand sank. Er
hatte keine Abwehrchance. Der K.O. kam aus dem Nichts. Platzwunden, blaue Augen und
Knochenbrüche sind keine Seltenheit. Und diese ständig drohende Gefahr heizt das
Publikum an.
Es ist diese Faszination roher Gewalt, die man von Boxkämpfen kennt. Wenn zarte, hübsche
Frauen in der ersten Reihe sitzen und das Blut vom Boxring aus auf ihr teures Outfit spritzen
lassen. Auch wenn es diesen Frauen im Alltag schon schlecht wird, wenn sie sehen, wie zwei
Katzen miteinander raufen, hier siegt die Leidenschaft für das Machotum. Sie ruft Fantasien
wach, die sonst in den dunklen Ecken ihres cleanen Bewusstseins schlummern.
Wie ein Boxkampf zieht auch Calcio Storico ein buntes Mix der Bevölkerung in seinen Bann.
Auf den Tribünen sitzen Touristen neben Florentinern in eleganter Sommerkleidung, alte
Männer, die vor Jahrzehnten selber ihr Viertel im Turnier vertreten haben, reiben ihre
Schultern mit jungen Burschen im Muskelshirt. Doch am lautesten und auffälligsten sind die
Hardcorefans hinter den Toren. Sie sind in einer Art Acid-Rausch. Sie dominieren die
Geräuschkulisse. Während die Männer nur sporadisch ihre Kommentare und
Beschimpfungen der Gegner aufs Spielfeld grölen, brüllen sich die "ragazze simpatizzanti"
die Seele aus dem Leib. Sie wissen, dass sie provozieren und es gefällt ihnen. Das sind nicht
die Mädchen, die Abend für Abend in Gruppen den Corso der umliegenden, malerischen
Kleinstädte auf und ab flanieren, und den Jungs der Stadt ihre neue Sonnenbrille und ihr
neues, teures Outfit vorführen. Hier geben vor allem die Mädchen den Ton an, die auch sonst
selbstbewusst und rotzfrech auf ihren Motorrollern durch die Gassen der Außenbezirke flitzen
und den Männern, die rauchend an den Mauern stehen, wie aus dem Schnellfeuergewehr
geschossen Anzüglichkeiten hinterher rufen. Sie tragen Jeans, Nike-Schuhe und knappe
Tops statt Prada, Gucci und Ferragamo. Und doch sind auch sie Töchter von Florenz. Auch
sie hat heute der Heilige Giovanni ins Zentrum des Geschehens gelockt. Heute gehört ihnen
die Piazza der Innenstadt und ihre Aufmerksamkeit gehört ausschließlich den Männern auf
dem Feld.
Vor dem Spiel versuchen sie sich durch die Absperrungen und an den massigen SecurityMännern vorbeizumogeln, um mit den Spielern zu quatschen, sich ein Stirnband oder gar
eine Verabredung für nach dem Spiel abzuholen. Während des Spiels brüllen sie den
Gegnern ein hasserfülltes "figlio di puttana", Hurensohn, oder "stronzo", Arschloch, zu. Je
obszöner, desto besser. Dem eigenen Team gehören die unermüdlichen Anfeuerungsrufe
und Aufmunterungen. Sie werfen Rosen in den Farben ihrer Mannschaft über die
Absperrung. Hin und wieder belohnt sie einer der Spieler mit einer Kusshand. Das ganze hat
etwas von Beckham-Verehrung. Nur mit mehr Sex, Passion und italienischer Spielerei. Hier,
beim Calcio Storico können die Männer gar nicht genug Macho sein. Hier sieht man alle
italienischen Klischees wie mit der Lupe vergrößert.
Die Fans wollen, dass die wuchtigen Körper auf dem Spielfeld aufeinander prallen, dass es
abgeht, wie bei einem Catching-Spektakel. Nur, dass die Akteure wesentlich besser
aussehen und hier keine Tricks und Stunts gezeigt werden. Alles ist echt. Regeln gibt es
während der 50 Minuten unter sengender Sonne so gut wie nicht. Tabu sind nur Schläge und
Tritte aus dem Hinterhalt.
Jedes Team hat drei Spielertypen: (1.) Schrankartige Fleischberge, die den Gegner stoppen,
ihn am Hosenbund halten oder auf den Boden niederringen, (2.) schmerzresistente Boxer, die
Hiebe einstecken, ohne den Ball loszulassen und ihn dann an die (3.) flinken, drahtigen
Flügelflitzer weitergeben, die fürs Tore machen zuständig sind. Um ein Tor zu erzielen, muss
die Lederkugel im "Caccia", einem mannshohen Netz, das über die gesamte Platzbreite
gespannt ist, versenkt werden.
Es wird gerungen, gespuckt, geschlagen, gestoßen, getreten, geboxt. Kein Wunder, dass auf
den Tribünen kaum Mamas zu sehen sind. Die von Gregorio bleibt auch lieber daheim in ihrer
Altstadtwohnung als sich die Spiele ihres 27-jährigen Sohnes anzutun. "Sie hat einfach zu
viel angst um mich." Und die Freundin? "Ich habe keine feste Freundin", grinst der
Politikstudent. "Aber ich weiß, dass es jede Menge Frauen im Publikum gibt, die unser Spiel
sehr, sehr sexy finden." Das Turnier macht ihn eindeutig noch attraktiver in seinem Viertel.
Das zahlt sich für Gregorio vor allem in den Wochen nach dem Turnier aus, wenn er bei den
Mädchen noch besser landet als sonst.
Davon haben schon die profitiert, die Calcio Storico erfanden. Für sie war das Turnier von
Anfang an eine Demonstration von männlicher Kraft und Durchsetzungsvermögen. Wie
damals, im Februar 1530, als Florenz belagert wurde. Ein Jahr lang lagen die Truppen von
Karl V. vor den Toren der Stadt. Als Demonstration ihrer ungebrochenen Moral beschlossen
die Bürger von Florenz, ein Spiel auf dem Kirchplatz von Santa Croce veranstaltet. Hart sollte
es zugehen. Die Spieler sollten sich nicht schonen. Man wollte es dem Feind zeigen. Damals
waren es die Söhne der reichen Familien, die sich in farbenprächtigen Uniformen aufreihten
und gegeneinander antraten. Mehr der Kampfreihen-Aufstellung römischer Legionen folgend,
als moderner Fußballtaktik. Florenz musste sich 1530 zwar ergeben, das Turnier wurde
trotzdem bis Ende des 18. Jahrhunderts fortgeführt. Die jungen Noblen - darunter auch ein
späterer Papst aus der Familie der Medici - maßen von nun an ihre Kräfte in aller
Öffentlichkeit, um vor den jungen Damen der Gesellschaft anzugeben.
Doch aus dem Sport der Noblen, wurde ein Sport der Diebe. Als sich die jungen Florentiner
1930 wieder an das Turnier erinnerten, waren ihre Viertel verarmt. Die Zeiten hatten sich
geändert - und damit auch die Spieler. Auch wenn heute keine schweren Jungs mit
langjähriger Vorstrafe in den Teams stehen dürfen und Studenten wie Gregorio mit
Akademikern, Büroangestellten, Bäckern, Handwerkern und Arbeitslosen in einer Reihe
stehen, der Ruf ist geblieben.
Nach 50 Minuten ist das Spiel vorbei. Die Blauen jubeln, die Roten liegen erschöpft im Sand.
Die Azzuri haben wie schon im Vorjahr gewonnen. Sie sind die Größten. Jetzt werden sie ihre
Trophäe abholen, ihre Mädchen von den Rängen über den mannshohen Zaun hinweg aufs
Spielfeld heben. Bei Männern und Frauen pumpt das Adrenalin. Es wird massiert, es wird
geküsst, Wunden werden gepflegt. Bei der Siegesfeier in einer der Diskotheken werden sie
ihrer Leidenschaft freien Lauf lassen. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.