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WENN WENN WENN GOTT GOTT GOTT BERUFT BERUFT BERUFT UND UND UND SEGNET SEGNET SEGNET RRR UUU EEE DDD I II SSS TTT AAA UUU BBB WENN GOTT BERUFT UND SEGNET R U E D I P43076_inh_Buch_Staub.indd 3 S T A U B 06.02.15 13:31 Impressum © 2015 Ruedi Staub, alle Rechte vorbehalten für auszugsweise Wiedergabe oder Fotokopie. Umschlaggestaltung: Fabien Besson, Digitaltechnik, 1012 Lausanne Fotos: Ruedi Staub Satz und Druck: www.jordibelp.ch 1. Auflage: 1-3000 Januar 2015 ISBN 978-2-8399-1589-2 Buchauslieferung: Telefon: Fax: E-mail: Internet: Postkonto: P43076_inh_Buch_Staub.indd 4 Christliche Ostmission (COM) Bodengasse 14, CH-3076 Worb BE 031 838 12 12 031 839 63 44 [email protected] www.ostmission.ch 30-6880-4 06.02.15 13:31 Widmung Ich widme dieses Buch meiner Familie und den Freunden der Christlichen Ostmission P43076_inh_Buch_Staub.indd 5 06.02.15 13:31 P43076_inh_Buch_Staub.indd 6 06.02.15 13:31 Danksagung Herzlichen Dank all jenen die mitgebetet und mitgewirkt haben, dass dieses Buch erscheinen kann: für die Ermutigung durch meinen lieben Freund, Pfr. Fredy Staub, dieses Buch zu schreiben. Besten Dank den beiden Korrektoren: Daniel Lippuner und Andreas Brüderlin Für die Unterstützung durch Beatrice Käufeler Ein grosser Dank auch an meinen Enkel, Fabien Besson, für die Umschlaggestaltung. P43076_inh_Buch_Staub.indd 7 06.02.15 13:31 Inhalt Einleitung .................................................................................................................................................................. 11 Prolog ............................................................................................................................................................................. 12 Eine ungewöhnliche Berufung ............................................................................................................. 15 Anfang und Kindheit ....................................................................................................................................... 19 Unser neues Heim .............................................................................................................................................. 22 Generalmobilmachung (Die Kriegsjahre 1939 bis 1945) ........................................... 27 Dramatische Begebenheiten .................................................................................................................... 32 Meine Wiedergeburt ......................................................................................................................................... 37 Das erste Mal im Welschland .................................................................................................................. 39 Meine Jünglingsjahre ..................................................................................................................................... 41 Ich finde defnitiv eine Freundin .......................................................................................................... 45 Unsere Freundschaft vertieft sich und bald darauf die erste Krise ................... 47 Meine letzten Jahre daheim und die RS ...................................................................................... 51 Meine Studienzeit am TSC ........................................................................................................................ 55 Plötzlich bin ich Student ............................................................................................................................ 57 Mein Bruder will nicht Bauer werden ........................................................................................... 61 Unsere Freundschaft vertieft sich ...................................................................................................... 63 Das zweite Studienjahr ................................................................................................................................. 65 Das dritte Studienjahr ................................................................................................................................... 69 So kann es nicht weitergehen ................................................................................................................ 72 Unsere Verlobung und «das Danach» ............................................................................................. 74 Bibelschule für meine zukünftige Frau mit Folgen ........................................................ 77 Die letzten Weihnachtsferien zu Hause und Umzug meiner Familie ins Waadtland .............................................................................. 82 Ich werde Evangelist der EGB ............................................................................................................... 85 Unsere Hochzeit und sogleich unerwartete Schwierigkeiten ................................ 87 Die beschwerliche Geburt unserer Suzanne ........................................................................... 93 Bau im Reich Gottes und am Vereinshaus ................................................................................ 96 Eine unglaubliche Geschichte und ihre Auswirkungen ........................................... 102 Unerwartete Probleme und Schwierigkeiten ....................................................................... 106 Unsere Versetzung ins Emmental ................................................................................................... 110 Gottes Wege sind einfach wundervoll ......................................................................................... 112 Wieder am Bauen ............................................................................................................................................. 115 Unser Umzug ins Welschland nach Moudon ........................................................................ 121 Eine aussergewöhnliche Jugendarbeit ....................................................................................... 124 Eine Bücherlawine ohne Bibel und Geistliches ................................................................ 139 Der Fall von Pastor Vasile Raskol .................................................................................................... 142 8 P43076_inh_Buch_Staub.indd 8 06.02.15 13:31 Wir reisen als Familie mit einem VW-Bus voll Literatur hinter den eisernen Vorhang ...................................................................................... 146 Die COM wird selbstständig .................................................................................................................. 153 Menschen ergreifen massenweise die Flucht ...................................................................... 154 Die Flüchtlingshilfe der COM ............................................................................................................. 156 Die Familie unseres Schwiegersohnes geht nach Somalia .................................... 164 Der Gesundheitszustand meiner lieben Frau verschlechtert sich ................. 168 Meine Arbeit in der Gemeinde und der Jungen Kirche Schweiz ..................... 172 Bericht von Esther über ihre Zeit in Moudon .................................................................... 175 Zeugnis von Johannes Koch ................................................................................................................. 178 Schwierige Situationen in der Gemeindearbeit ................................................................ 180 Wir streben ein Sabbatjahr an ............................................................................................................ 182 Unsere Kinder werden flügge .............................................................................................................. 187 Wir dürfen ernten ............................................................................................................................................ 189 Wird unsere Annelis sterben? .............................................................................................................. 193 Unsere letzten Jahre in der Kirchgemeinde ......................................................................... 209 Eine Herzoperation wird unumgänglich ................................................................................. 211 Abschiedsgottesdienst 1999 in der Kirche St. Etienne .............................................. 214 Gott hat unseren «Alterssitz» vorausgeplant ...................................................................... 216 Ich stürze noch einmal von einem Baum ............................................................................... 221 Unvermittelt steht Krebsverdacht im Raum ........................................................................ 223 Mein 80. Geburtstag ...................................................................................................................................... 233 9 P43076_inh_Buch_Staub.indd 9 06.02.15 13:31 P43076_inh_Buch_Staub.indd 10 06.02.15 13:31 Einleitung zu Ruedi Staubs Buch Es gibt viele Bücher, die kaum jemand wirklich liest. Und es gibt solche, die man nicht mehr aus der Hand lässt, bis sie zu Ende gelesen sind. Ruedi Staubs Buch gehört zu denen, die es einem schwer machen, die Lektüre zu unterbrechen. Hier reihen sich atemberaubende Begebenheiten, die unter die Haut gehen. Attraktiv. Inspirierend. Überwältigend. Vor allem aber zeigt dieses Buch die erfahrbare Grösse Gottes im Hier und Jetzt. Manch eine lesende Person wird sich während der Lektüre sagen: Mensch, Gott ist grösser als ich bisher gedacht habe. Der Autor schliesst mit diesem Buch die Türe auf zum wunderbaren Wirken des Allerhöchsten. Er nimmt die Leser sozusagen an der Hand und zeigt ihnen, was Gott heute bewirken kann. Ruedi Staub ist ein glaubensstarker Mann und er ist ein durch und durch ehrlicher Mensch. Ihm geht es nicht darum, sich selber gross darzustellen oder gar Ehre für sich zu nehmen. Nein. Dazu ist der Autor zu demütig. Ihm geht es darum, dass alle, die wir jetzt seine Erfahrungen geradezu miterleben können, selber von Gottes Liebe frisch berührt, erfasst und erfüllt werden. Dass das, was hier steht, pure Realität ist, das haben mir immer wieder Leute bestätigt, die dank dem Engagement von Ruedi Staub wesentliche Hilfe und tiefen Glauben an Jesus Christus gefunden haben. Ob Atheisten, Menschen anderer Religionen oder Christen verschiedenster Couleur, jede Leserin und jeder Leser wird mit diesem Buch von Gott beschenkt. Hier legt ein Mann den Mut an den Tag, nicht an seinen Grenzen stehen zu bleiben, sondern der grenzenlosen Liebe und der uferlosen Macht Gottes gebührend Raum zu geben. Das steckt beim Lesen an. Ruedi Staub, ich danke dir, dass du uns mit diesem Buch einen freudigen Wegweiser in die Hand gibst, der uns allen Grund gibt, nicht noch länger bei unseren eigenen Unmöglichkeiten stehen zu bleiben, sondern uns von Gottes Geist verändern und erfüllen zu lassen. Der gleiche Gott, der dein Leben in vielerlei Hinsicht so reich gemachte hat, möge alle, die dieses Buch lesen, zu neuen Dimensionen ureigener und tief beglückender Glaubenserfahrung führen. Fredy Staub, Eventpfarrer, Wädenswil 11 P43076_inh_Buch_Staub.indd 11 06.02.15 13:31 Prolog Sicher machen sich viele Menschen Gedanken über ihre Familien- und Lebensgeschichte. Wir alle wurden durch diese nachhaltig geprägt und beeinflusst. Schon mehrmals forderte man mich auf, meine Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Meinen Angehörigen habe ich bereits angefangen, diese zu erzählen. Als wir 2011 am Weihnachtsfest wieder einmal alle zusammen waren (21 Personen), wollten vor allem die Grosskinder, dass ich mit dem Erzählen fortfahre. Wenn schon unsere Teenager ein solches Interesse an der Schilderung meiner Chronik bekunden, habe ich mich nun entschlossen diese niederzuschreiben. In unserer schnelllebigen Zeit ist das Wissen um die eigenen Wurzeln umso wichtiger. In meinem Leben gibt es so viele verschiedene, interessante Facetten, welche den Leser faszinieren können. Zwecks einer gewissen Identitätswahrung verzichte ich öfter auf eine persönliche Namensnennung. Aus dem gleichen Grund führe ich nicht alle Ortsbezeichnungen auf. In meinem zwanzigsten Lebensjahr erfuhr ich einen tiefgreifenden Einschnitt für mein Leben. Dieser hat meine Existenz nachhaltig verändert und beeinflusst. Ich war in diesem Alter nicht wunschlos, aber rundum glücklich. Als engagierter Christ las ich eifrig die Bibel. Ich hatte bereits einen Kurs für freiwillige Mitarbeiter in der Kirche erfolgreich durchlaufen. Das Mitsingen im Gemeindechor machte mir Freude, und in der Blaukreuzmusik war ich ebenfalls aktiv tätig. Aber am meisten Befriedigung bereitete mir das Mitwirken in der Jugendgruppe und der Sonntagsschule. Ausserdem war ich in ein charmantes Mädchen verliebt. 1950 hatte ich Jeanne-Marie in der französischsprachigen Schweiz kennen gelernt. Die Mitarbeit auf dem elterlichen Bauernhof brachte mir viel Genugtuung. Auf unserem Betrieb standen über dreihundert Obstbäume. Ich hatte bereits einen Baumwärterkurs absolviert und baute den Obstanbau ständig aus. Damals waren das noch alles Hochstammbäume. Auch Himbeeren und Brombeeren erweiterten unser Angebot an Früchten. Der Verkauf vollzog 12 P43076_inh_Buch_Staub.indd 12 06.02.15 13:31 sich mehrheitlich von Haus zu Haus, direkt an Privatkunden. Dazu fuhren wir mit dem Pferdefuhrwerk in die Randgebiete der Stadt Thun. Nur die Äpfel lieferten wir zum Teil an die landwirtschaftliche Genossenschaft. Unser Bauernhaus im Gürbetal Wie bereits erwähnt, engagierte ich mich besonders in der christlichen Gemeinde. Unser Seelsorger hatte mich schon mehrmals aufgefordert, darüber nachzudenken und zu beten, ob Gott mich nicht im vollzeitlichen Dienst haben möchte. Aber gerade das wollte ich nicht. Mit grosser Freude engagierte ich mich in der Gemeinde. Aber einen vollzeitlichen Kirchendienst konnte und wollte ich nicht in Erwägung ziehen. Im Sommer 1954 erlebte ich ein einzigartiges Wunder: Ich stürze vom Gipfel des achtunggebietenden Birnbaumes acht Meter hinunter. Anstatt mir den Rücken auf dem letzten Ast zu brechen, stehe ich unverletzt aufrecht auf dem untersten dicken Ast. Dreimal zwanzig Jahre später falle ich beim Apfelpflücken, nun achtzig Jahre alt geworden, wieder vom Baum. Dieser Absturz verlief weniger erfreu- 13 P43076_inh_Buch_Staub.indd 13 06.02.15 13:31 lich als derjenige vor sechzig Jahren. Die Ambulanz transportierte mich ins Kantonsspital, wo man einen doppelten Beckenbruch diagnostizierte. Bald einmal wurde dieser Unfall als Chance gewertet; denn eine Blutanalyse ergab folgendes Ergebnis: Im Bereich der Bauchspeicheldrüse und der Leber wurde ein Problem festgestellt... Obschon nicht direkt angesprochen, stand Krebsverdacht «im Raum». Sollte sich so der Bogen eines belangreichen Lebens schliessen? Würde Gott nochmals gnädig eingreifen und ein Wunder wirken? Eine Bestätigung dessen. was Jesus in Johannes 15,16 zugesagt hat: «Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich euch, damit ihr euch auf den Weg macht und Frucht bringt, die bleibt.» Dank der Gnade Gottes durfte mein Leben segensreiche Spuren hinterlassen. Ich wurde reich gesegnet, und es ist mein Wunsch, dass mit diesem Buch Segen- und Fruchtbringendes weiter gehen darf. 14 P43076_inh_Buch_Staub.indd 14 06.02.15 13:31 Eine ungewöhnliche Berufung Im Spätsommer 1954 waren wir mit dem Pflücken der Hanselibirnen beschäftigt. Dieser Baum war der Erhabenste und Mächtigste, den wir hatten und stand auf dem Hausplatz. Zusammen mit dem Vater holten wir im Schuppen die längste Leiter. Sie hatte vierunddreissig Sprossen. Dank dieser Megaleiter war es mir möglich, die schönsten Birnen in der Krone des Baumes zu pflücken. Auf der letzten Sprosse stehend, mich an der Krone festhaltend, wollte ich gerade die letzte Birne einsammeln, als das Unglück geschah: Etwa zwei Meter unter mir brach die Leiter entzwei. Der Ast, an dem ich mich festhielt, brach weg, ein anderer, auf den ich fiel, ebenfalls. Rücklings stürzte ich durch den Baum hinunter. Dann geschah etwas total Unfassbares: Unversehens stehe ich aufrecht auf dem untersten Ast des Birnbaumes. Ich hatte weder Angst noch Panik verspürt. Ganz im Gegenteil: Es war, als hätten mich Engel auf den Händen durch den Baum hinuntergetragen und auf diesem Ast einfach abgestellt. Dieses spektakuläre Geschehen kann man nicht erklären. Zumindest der Pflückkorb müsste ausgeschüttet sein, und ich hätte Schmerzen verspüren und Schürfmerkmale davontragen müssen – aber weder noch! Mir widerfuhr etwas ganz anderes: Gott sprach zu mir. Noch auf dem Ast stehend, hörte ich seine Stimme: «Weißt du, was das bedeutet? Ich habe dich bewahrt. Ich will, dass du mir vollzeitlich dienst!» Ich erlebte einen überglücklichen Zustand, war von einer tiefen Ruhe und einem unerklärlichen Frieden erfüllt. Mein Vater hatte ebenfalls Birnen gepflückt und alles beobachtet. Er war, völlig sprachlos, aber überaus dankbar, dass ich vollkommen heil war! Unsere Familie hatte die Gewohnheit, nach dem Abendessen eine Andacht mit Gebetsgemeinschaft zu pflegen. Es war nur naheliegend, dass an diesem Abend das Geschehen beim Birnenpflücken thematisiert und besprochen wurde. Ich bezeugte, wie ich das Ganze erlebt, und wie Gott zu mir geredet hatte. Wir waren alle tief ergriffen, am meisten mein Vater, der in 15 P43076_inh_Buch_Staub.indd 15 06.02.15 13:31 Tränen ausbrach. Am grössten aber war die Dankbarkeit über diese wunderbare Bewahrung. Eigentlich hätte ich genau mit dem Rücken auf den untersten Ast aufprallen müssen. Ich hätte mir das Rückgrat brechen und eine Querschnittlähmung davontragen können! Für unsere Familiensituation wurde das Ganze zu einer echten Herausforderung. Im vergangenen Winter hatte ich die Sanitätsrekrutenschule durchlaufen und diese mit einem dreiwöchigen Spitalkurs im Kantonsspital von Lausanne beendigt. Auch die landwirtschaftlichen Fortbildungskurse lagen hinter mir. Es war vorgesehen, dass ich einmal den väterlichen Betrieb übernehmen sollte. Mein Bruder, welcher das letzte Schuljahr absolvierte, hatte bereits deutlich gemacht, dass dies für ihn nicht in Frage käme. Für mich war der Sachverhalt jedoch eindeutig und unmissverständlich. Gott hatte mir meine Lebensaufgabe mehr als augenfällig gemacht! Ich nahm mit unserem Seelsorger Kontakt auf. Er war hoch erfreut über die wunderbare Führung Gottes in meinem Leben. Seines Erachtens kam für mich vor allem das theologische Seminar von St. Chrischona in Frage. Dort erklärte man sich bereit, meine Aufnahme zu prüfen, obschon die Anmeldefrist längst vorbei war. Umgehend erhielt ich die Unterlagen. Diese sandte ich sofort ausgefüllt, versehen mit allen verlangten Zeugnissen, zurück. Dass ich ja bereits eine feste Freundin hatte, verschwieg ich. Ich wollte nicht, dass meine Aufnahme als Student dadurch gefährdet sein könnte. Für meine Eltern, besonders den Vater, bedeutete die ganze Angelegenheit eine gewaltige Herausforderung. Wir waren eine glückliche Familie. Ich hatte eine ältere und eine jüngere Schwester, und der bereits erwähnte Bruder war der «Benjamin» der Familie. Wie erwähnt, wollte er auf keinen Fall Bauer werden. Meine Eltern waren einerseits glücklich und dankbar, dass Gott mich für die Arbeit im Reiche Gottes berufen hatte. Doch andererseits waren die Konsequenzen für sie schwer zu akzeptieren. Das Ganze hing mit der schwierigen Situation unseres Bauernbetriebes zusammen. Dieser umfasste nur sieben Hektaren Land und etwas Wald. Die Hälfte des Landes war sehr steil. Trotzdem wurde der ganze Betrieb intensiv bewirtschaftet. Bevor am Hang ein Feld gepflügt werden konnte, musste jeweils unten eine Furche ausgehoben und die Erde nach oben auf das Feld transportiert werden. Dies geschah, indem durch ein Drahtseil die mit Erde 16 P43076_inh_Buch_Staub.indd 16 06.02.15 13:31 beladene Karre nach oben gezogen wurde. Dort war eine Verankerung installiert. An dieser hing eine Rolle, so dass die Pferde das Drahtseil nach unten ziehen konnten. Dieses mühevolle Verfahren beanspruchte fast soviel Zeit wie nachher das Pflügen des Ackers. Meistens half unsere Mutter bei diesen Arbeiten mit. Unumwunden erklärte mein Bruder Otto, warum er nicht «bei der Scholle bleiben wollte»: «Ich möchte nicht, dass meine Frau sich einmal so abrackern muss wie meine Mutter». Sollte jedoch kein Nachfolger für die Hofübernahme existieren, würden unsere Eltern den Betrieb aufgeben. Es entstand eine heikle Situation. Dankbar durften wir alles im Gebet immer wieder vor Gott ausbreiten. Die Worte Jesu wurden mir zunehmend wichtig: «Bemüht euch vor allem um das Reich Gottes und lebt nach Gottes Willen! Dann wird er euch mit allem anderen versorgen.» (Matth. 6,33) Innerhalb kürzester Frist erhielt ich von der Missionsschule St. Chrischona positiven Bericht. Ich war angenommen und zwar als Gastschüler. Diese müssen das Studium selber bezahlen, geniessen jedoch mehr Freiraum. Ich sollte baldmöglichst eintreten, da der Unterricht bereits begonnen hatte. Für die Beziehung zu meiner Freundin war dies eine segensreiche Fügung, war es doch offensichtlich, dass sie mit ihrem zart gebauten Körper eher eine Pastorenfrau, als eine Bäuerin sein könnte. Noch ahnten wir nicht, dass mein bevorstehendes, vierjähriges Studium für uns beide eine nicht geringe Belastung mit sich bringen würde. Im vergangenen Jahr hatten wir uns regelmässig, möglichst einmal im Monat, getroffen. Meine Liebste hatte jeweils auch einige Ferientage bei uns verbracht. Sie gehörte bereits ein wenig zu unserer Familie und fühlte sich bei uns angenommen, geschätzt und glücklich. Als Laienprediger und verantwortlicher Leiter der Brüdergemeinde in Neuenburg war mein zukünftiger Schwiegervater über diese Umstellung in unserem Leben sehr angetan. Er war schon ganz offensichtlich ein wenig stolz auf seinen zukünftigen Schwiegersohn. 17 P43076_inh_Buch_Staub.indd 17 06.02.15 13:31 So kam ich im September 1954 etwas verspätet auf St. Chrischona an. Trotz einiger Schwierigkeiten zu Beginn lebte ich mich erstaunlich schnell in die neue Situation ein. Freilich waren die Herausforderungen beträchtlich: Bezüglich meiner Schulbildung musste ich vieles nachholen. Im ersten Studienjahr hatten wir ziemlich viel Deutschunterricht. Doch schon bald erhielt ich zu meiner Freude im Lesen und Rezitieren beste Zensuren. Zum Glück hatten wir täglich zwei Stunden praktische Arbeit zu leisten. Diese Abwechslung war für mich ein Vorteil. Ich konnte mich vor allem im Obstbau betätigen. Ich schätzte es ferner, dass ich mit anderen Gastschülern in einem Viererzimmer untergebracht war und nicht in einem Schlafsaal. Auch hatten wir in den drei ersten Jahren sonntags frei. Das Zusammentreffen mit meiner Freundin wurde jedoch stark beschnitten. Dafür schrieben wir uns Briefe oder telefonierten miteinander. Freilich musste sich Jeanne-Marie die Zeit dazu stehlen. Sie war nicht nur beruflich als Telefonistin bei der Post, sondern auch zu Hause, stark gefordert, ja sogar überfordert. Ihre Mutter war oft erschöpft und kränklich. Als Älteste war Jeanne-Marie für ihre acht Geschwister eine Art Ersatzmutter. Das war eine Überforderung. Bereits litt ihre Gesundheit darunter. Besonders wenn sie Spät-, Früh- oder Nachtdienst hatte, fehlte ihr zu Hause die nötige Ruhe. Sie teilte nicht nur ihr Zimmer mit drei Schwestern, sondern auch noch ihr Bett mit einer ihrer Schwestern. Ihre Familie war eben nicht auf Rosen gebettet. Ganz im Gegenteil, ihr Vater hatte auf dem kleinen Anwesen seines Schwiegervaters unter grossen Anstrengungen ein Rebgut aufgebaut. Leider hatten sie mehrmals grosses Pech: Zweimal kam es vor, dass die Reben nach dem Austreiben erfroren. Einmal wurde durch Hagelschlag alles vernichtet. Um seine grosse Familie ernähren zu können, arbeitete der Vater von Jeanne-Marie zusätzlich in einem Maurergeschäft. 18 P43076_inh_Buch_Staub.indd 18 06.02.15 13:31 Anfang und Kindheit Ich möchte nun in meiner eigenen Familiengeschichte etwas weiter zurückblicken. Meine drei Geschwister kamen alle durch eine Hausgeburt auf die Welt. Nur ich wurde im Spital geboren. Das hatte eine besondere Bewandtnis. Nach der Hausgeburt meiner älteren Schwester verlor unser Vater seine liebe Frau. Mit den Worten: «Mein armer Ernst» starb sie an einer Embolie, in den Armen ihres Ehemannes. Für ihn war das ein ganz schwerer Schicksalsschlag. Er half damals auf dem Belpberg seinen Eltern auf dem väterlichen Bauernhof. Von seinen zehn Geschwistern waren die Jüngsten noch zu Hause. Eine jüngere Schwester seiner verstorbenen Gattin wurde die Gotte seines Töchterchens Ruthli. Am 27. März 1933 verheiratete Ernst Staub sich dann mit dieser Schwägerin, Emma Schweingruber, meiner zukünftigen Mutter. Diese war im Emmental aufgewachsen und zog dann zu ihm auf den Belpberg. In der Folge konnte er den väterlichen Hof in Pacht nehmen. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde entschied der Vater als Konsequenz der bitteren Erfahrung bei der Geburt meiner Schwester Ruth, dass seine Frau zur Entbindung ins Spital musste. Und so kam es, dass ich als einziges Kind unserer Familie das Licht der Welt im Spital erblickte. Meine Eltern und Paten anlässlich meiner Taufe 19 P43076_inh_Buch_Staub.indd 19 06.02.15 13:31 Ich als kleiner «Knirps» Meine Grosseltern väterlicherseits hatten sich 1891 vermählt. In der Folge wurden ihnen 12 Kinder geschenkt, wovon eines starb. Es war für sie offensichtlich, dass sie mit ihrer grossen Familie hinter dem Tschuggenhubel auf dem Längenberg keine reelle Zukunft haben würden. Das Heimwesen war unglaublich abschüssig. Spasshalber wurde gesagt, dass die Äcker so steil seien, «dass man die Kartoffeln am besten mit dem Karabiner sollte setzen können». Wen wundert es, dass sie bei der erstbesten Gelegenheit einen Betrieb mit ebenem Land kauften. So zogen sie auf den Belpberg. Hier angekommen, bemerkten böse Zungen: «Mit so vielen Kindern und so wenig Kühen machen die es sicher nicht lange!» Doch schon meine Grosseltern hatten ein starkes Gottvertrauen, und dieses wurde offensichtlich belohnt: Heute lebt auf diesem Hof bereits die fünfte Generation. Meine Grosseltern. In der Mitte meine Schwester Ruth, vor dem Grossvater ich und auf dem Schoss der Grossmutter Rosalie 20 P43076_inh_Buch_Staub.indd 20 06.02.15 13:31 Weil mein Grossvater ein fortschrittlich denkender Mensch war, konnte mein Vater, wie erwähnt, den väterlichen Hof, nach seiner Wiederverheiratung in Pacht nehmen. Das war alles andere als selbstverständlich, und er schätzte das sehr. Er war sich jedoch bewusst, dass dieses Pachtverhältnis befristet sein würde, wenn sein jüngster Bruder der Scholle treu bleiben würde. Und so kam es dann auch. Nach «bernischer Gepflogenheit» stand dem jüngsten Sohn die Übernahme des elterlichen Bauernhofes zu. Mein jüngster Onkel war mit einer Bauerntochter aus der Nachbarschaft verlobt und hatte vor sie zu heiraten. Seine Braut äusserte ebenfalls den Wunsch, ihr zukünftiger Mann soll den elterlichen Betrieb übernehmen. Deshalb machte sich mein Grossvater, zusammen mit meinen Eltern, auf die Suche nach einer Lösung. Für sich und ihre drei Kinder brauchten meine Eltern ein neues Heim und eine Existenzgrundlage. Im Gürbetal war ein Bauernhof zum Kauf ausgeschrieben, weil der Inhaber ganz unerwartet und sehr jung an einem Herzschlag gestorben war. Mein Vater war eher skeptisch. Er gab meinem Grossvater zu verstehen: «Du hast das steile Heimwesen auf dem Tschuggenhubel gegen das Ebene auf dem Belpberg eingetauscht, und ich soll nun wieder ein solch «stotziges» Anwesen kaufen!» Doch dieser erwiderte: «Du kannst es dann später auch machen wie ich, aber dieses Anwesen kaufen wir jetzt.» Als Pächter besass mein Vater bereits Inventar. Den Bauernhof jedoch musste er durch Kredite bei der Bank und einem Darlehen bei der verwitweten Verkäuferin finanzieren. In meiner Erinnerung blieb mir eine einzige Begebenheit vom Belpberg erhalten. Zu Weihnachten bekam ich ein sogenanntes Dreiradvelo. Dieses war sehr solide gebaut. Es diente nicht nur mir, sondern auch meiner jüngeren Schwester, Rosalie, welche am 1. Januar 1936 auf die Welt gekommen war, später auch unserem Bruder und dann sogar noch den Kindern meiner älteren Schwester Ruth. 21 P43076_inh_Buch_Staub.indd 21 06.02.15 13:31 Unser neues Heim So kam es, dass im Frühjahr 1938 unsere Familie in das neue Heim ins obere Gürbetal übersiedelte. Wir nahmen auch den Verdingbub der Vorgängerfamilie, bei uns auf. Ein Jahr später kam er aus der Schule und zog anderswohin. Dann kam Werner Rohrbach zu uns, welcher schon auf dem Belpberg bei uns gewesen war, als Knecht in unsere Familie zurück. Er war dann jahrelang eine wertvolle Hilfskraft. Durch uns lernte er seine spätere Frau kennen und gründete dann im Baselbiet eine eigene Familie. Wir blieben zeitlebens in gutem Kontakt mit ihnen, und sie nahmen auch an unseren Familiezusammenkünften teil. Eine solche ausserordentliche Familienzusammenkunft war die Goldene Hochzeit der Grosseltern Staub 1942 auf dem Belpberg Meine Grosseltern mit 10 ihrer Kinder und den Grosskindern feiern ihre Goldene Hochzeit Ganz links mein Vater. Vor ihm unsere Mutter, mit Rosalie und Otto auf den Knien, davor ich und meine Schwester Ruth, sitzend Mitte Dezember 1938 wurde mein Bruder, der Benjamin unserer Familie geboren. Wegen gesundheitlichen Problemen hatten meine Eltern grosse Angst, der Säugling könnte sterben. Ihre inständigen Gebete wurden jedoch erhört und der Säugling genas. Das Bauernhaus im Burgiwil war alt und unpraktisch eingerichtet. Nur die zwei unteren Stuben konnten mittels eines Sandsteinofens beheizt werden. 22 P43076_inh_Buch_Staub.indd 22 06.02.15 13:31 Das Wasser musste man draussen vom Brunnen holen. Das war dem Vater von Anfang an ein «Dorn im Auge». So erinnere ich mich recht gut an die ersten baulichen Veränderungen. Der Brunnentrog stand quer vor dem Haus und versperrte den direkten Zugang zur Tenne. Das Gras konnte nur von hinten über eine ansteigende Terrasse eingefahren werden. Oft lösten die Hufeisen der Pferde auf dem Beton Funken aus. Manchmal fielen dabei den Tieren sogar die Knie ein. So wurde als erstes neben dem Pferdestall ein grosser Aushub gemacht, und eine hohe Stützmauer errichtet. Davor wurde ein etwa sechs Meter langer Brunnentrog erstellt. Dadurch konnte der mit Gras beladene Wagen vor dem Haus abgestellt und mühelos «von Hand» in die Tenne gerollt werden. Etwas später wurde vor dem Haus und in der Scheune der Betonboden aufgebrochen, um das Wasser in die Küche zu leiten und die nötige Abwasserleitung zu erstellen. War das ein Segen für unsere Mutter! Nun hatten wir fliessendes Wasser in der Küche, wo wir uns waschen und in einem Zuber auch baden konnten. Als nach dem Krieg bei uns ein Pole interniert wurde, staunte dieser über dieses Wunderwerk. Dann sagte er: «Wenn ich wieder Hause bin, ich auch will Wasser von Wand.» In der Küche wurde der alte Holzherd durch einen Tiba Kombiherd ersetzt. Das ermöglichte das Hinzufügen einer Zentralheizung. War das eine Wohltat! Der Aushub aus den jeweiligen Baugruben wurde auf eine Parzelle geführt, auf welcher früher ein Teich war. Als dann beim Bahnhof eine Lagerhalle errichtet wurde, konnte auch von dort die ausgebaggerte Erde zum ehemaligen Teich gebracht werden. Werner, der diese Arbeit jeweils verrichtete, nahm eines Tages auf dem Wagen meine Schwester Rosalie mit. Unglücklicherweise fiel sie «im Mösli» vom Wagen, wobei das vordere Wagenrad über ihren Brustkasten rollte, bevor Werner das Gefährt anhalten konnte. Furchterfüllt liess er alles liegen und rannte mit der Kleinen auf den Armen nach Hause. Wie der Arzt benachrichtigt wurde, weiss ich nicht mehr. Aber Rosalie konnte kaum mehr atmen. In Erinnerung geblieben ist mir, wie ich anfing zu weinen. Dann hat meine Mutter gesagt: «Nicht weinen, lasst uns vielmehr beten!» Dann geschah ein Wunder. Plötzlich erbrach die Kleine Blut, 23 P43076_inh_Buch_Staub.indd 23 06.02.15 13:31 sodass sie wieder besser atmen konnte. Der Arzt bestätigte im Nachhinein: «Indem das Mädchen das Blut von sich geben konnte, ist es nicht erstickt. Im Übrigen scheint sie bereits wieder wohlauf zu sein. Offensichtlich hat sie auch keine inneren Verletzungen davongetragen.» Wir lobten und dankten Gott, dass er unsere Gebete so gnädig erhört hat! Meine Schwester ist bis heute überzeugt, dass ihr damals das Leben ein zweites Mal geschenkt worden ist! Hier wird offensichtlich, welch ein Vorrecht es ist, in einer gläubigen Familie aufzuwachsen. Für unsere Familie war Gottes Zugegensein ganz selbstverständlich. Vor allem meine liebe Mutter hat uns an Hand der bebilderten Bibel die biblischen Geschichten erzählt und erklärt. In einer späteren Bauetappe wurde dann vor dem Wohnhaus die Terrasse entfernt, darunter eine grosse Ausgrabung vorgenommen und eine Waschküche errichtet. Der Kies für alle Betonarbeiten wurde immer unten im Tal, im Flussbett der Gürbe geholt. Hier befand sich ein sogenannter Sammler, da war immer genügend Kies vorhanden. Oft half uns ein Nachbar bei diesen Bauarbeiten. Wenn ich mich recht erinnere, erhielt er einen Stundenlohn von zwei Franken fünfzig Rappen. Auch bei den Entwässerungsarbeiten im bereits erwähnten «Mösli» sowie bei denjenigen unten im Tal half dieser Mann nachbarlich mit. Das Anschaffen einer Waschmaschine wies deutlich auf die fortschrittliche Gesinnung unseres Vaters hin. Das Gerät hatte eine Holzeinfassung. Im Innenraum befand sich eine Vorrichtung, welche durch einen Benzinmotor angetrieben wurde. Als Aufsatz war eine Auswinde angebracht, durch die das Wasser aus der Wäsche gepresst wurde. Als die BKW die Stromstärke von 220 auf 380 Volt ausbaute, kauften wir unverzüglich einen Elektromotor. Das war eine Erleichterung! Statt den Benzinmotor mühsam in Gang zu setzen, was besonders im Winter schwierig war, betätigte man jetzt einfach einen Schalter! Jetzt konnten wir auch im Brunnentrog der Waschküche baden. Das Wasser wurde im grossen Waschhafen heiss gemacht. Das alles war viel einfacher als auf dem Holzkochherd in der Küche und das Baden in einer Bütte. Hier noch eine Anekdote, die mir geblieben ist: Unmittelbar unter dem Burgisteinschloss, war ein noch viel steileres Heimwesen als das unsrige. Dort 24 P43076_inh_Buch_Staub.indd 24 06.02.15 13:31 lebte ein ehemaliger Tessiner. Die BKW erstellte dort ebenfalls eine Starkstromleitung durch seinen Besitz. Sie zahlte ihm aber dafür keine Entschädigung mit der Begründung, dass es sich ja bloss um Weideland handle. Von da an bezahlte der geprellte Bauer die Stromrechnungen nicht mehr. Als man ihm zuletzt drohte die Stromlieferung einzustellen, antwortete er: «Nur zu, d’Sagi isch gfielt» Dieser Wink mit dem «Zaunpfahl» bewirkte, dass man ihn dann doch entschädigte. Dank dem starken Elektromotor konnten wir nun eine Hochdruckpumpe anschaffen. Diese ermöglichte es, die Jauche auf allen Wiesen auszubringen bis hinauf zu den höchstgelegenen Parzellen. Wie erwähnt, war mein Vater sehr fortschrittlich gesinnt und in mancher Hinsicht sogar ein richtiger Pionier. So war er der erste, welcher in unserem Dorf einen mit Pneus versehenen Wagen anfertigen liess. Er erklärte dem Schmied, wie er sich diesen wünschte. Bei allen mit Eisen bereiften Wagen waren üblicherweise die Vorderräder kleiner als die beiden hinteren. So konnte der Schmied nicht davon überzeugt werden, vier Räder mit dem gleichen Durchmesser zu verwenden. Die Konsequenz war, dass wir deshalb kein Ersatzrad hatten. Dieser Wagen war enorm praktisch und hinterliess auf den Feldern weniger Spurenschäden. Er war über vierzig Jahre lang im Gebrauch. Logischerweise hatten dann sehr schnell alle Bauern solche pneubereiften Gefährte anfertigen liessen. Dann wurde unser Vater wieder beim Schmied vorstellig und beantragte die Anfertigung eines Hundewagens, um die Milch in die Käserei zu fahren. Dies geschah bislang mit einem recht grossen Handkarren, welcher zwei gebogene Stangen hatte. Eine Person befand sich zwischen diesen Lenkstangen, wobei auf der Seite ein Hund beim Ziehen half. Oft zog der Hund mehr seitwärts als noch vorne, weil er sich frei in seinem Geschirr bewegen konnte. Die Pionieridee meines Vaters war wie folgt: Für die Anfertigung dieses leichten Käsereiwagens sollten zwei ausgediente Räder von einem Motorrad verwendet werden. Der Hund sollte zwischen den Stangen, an welchen ein Geschirr fixiert war, eingespannt werden. Wenn es nicht gerade aufwärts ging, sollte die Begleitperson auf dem Wägelchen «mitreiten» können. Die Verwirklichung dieser Idee war so fantastisch, dass sich innerhalb von zwei Jahren fast alle Bauern ein solches Gefährt anschafften. 25 P43076_inh_Buch_Staub.indd 25 06.02.15 13:31 Vergessen werde ich nie die Überschwemmung, welche unser Tal 1939 heimgesucht hat. Auf dem Fluss schwamm eine Unmenge Treibholz, zum Teil ganze Bäume. Vielerorts trat das Wasser der Gürbe über die Ufer. Am schlimmsten war es bei der Eisenbahnbrücke, welche den Fluss überquerte. Weil sich das Treibholz dagegen staute, überflutete das Wasser weite Teile der angrenzenden Felder. Zwischen dem Eisenbahndamm und dem Flussufer bildete sich ein grosser See. Tagelang wurde dann dieses Wasser mit unserer Pumpe zurück in den Fluss befördert. 26 P43076_inh_Buch_Staub.indd 26 06.02.15 13:31 Generalmobilmachung (Die Kriegsjahre 1939 bis 1945) Ein Radio gab es bei uns im Jahr 1939 noch nicht, auch kein Telefon. Dringende Nachrichten, welche nicht im Anzeiger publiziert werden konnten, wurden von einem sogenannten Kolporteur von Tür zu Tür überbracht. Als Fünfjähriger war ich zu jung, um die Ereignisse, welche sich in unseren nördlichen Nachbarländern anbahnten, zu verstehen, Eines Morgens kam nicht der übliche Kolporteur, um eine Mitteilung zu überbringen, sondern der Gemeindeschreiber höchst persönlich. Er brachte keine guten Nachrichten. Die Hiobsbotschaft hiess: Generalmobilmachung. Wir Kinder merkten bald, dass das eine schlimme Kunde war. Die Militärsachen meines Vaters wurden hervorgeholt. Ich entsinne mich noch, wie die Mutter, gemeinsam mit dem Vater, den Mantel zusammenrollte und wie dieser dann um den Tornister festgeschnallt wurde. Auch die folgende Szene ist bei mir haften geblieben und treibt mir noch heute die Tränen in die Augen: Am folgenden Tag, als die Morgendämmerung anbrach, nahm der Vater von uns Abschied. Es war herzzerreissend. Zusammen mit der Mutter standen wir vor dem Haus auf der Laube. Wir weinten und winkten dem Vater so lange nach, bis seine Gestalt im Morgengrauen verschwunden war. Wie sollte es nun weitergehen? Zum Glück war vorerst noch Werner bei uns. Nach Möglichkeit half uns auch der schon erwähnte Nachbar aus. Aber es kam noch schlimmer, weil auch unsere beiden Pferde eingezogen wurden. An ihrer Stelle mussten nun Kühe als Zugtiere benutzt werden. Letztendlich konnte der Gemeindeschreiber bewirken, dass eines der Pferde wieder zurückgeschickt wurde. In der Folge richteten wir es so ein, dass dieses immer ein Fohlen hatte und deshalb nicht mehr Dienst leisten musste. Unsere Mutter hat in den Kriegsjahren Unvorstellbares geleistet. Die Regierung machte den Bauern immer mehr Auflagen. Zum Beispiel mussten wir Raps und Flachs anpflanzen. Diese Kulturen waren uns bislang unbekannt. 27 P43076_inh_Buch_Staub.indd 27 06.02.15 13:31 Nur hie und da kam der Vater über ein Wochenende oder für einen Urlaub nach Hause. Er war bei der Festungswache in Andermatt eingeteilt. Die lange Reise aus der Innerschweiz war beschwerlich und beanspruchte viel Zeit. Da der grosse Waffenplatz von Thun in unserer Nähe lag, wurden in unserer Gegend öfters militärische Übungen und Manöver durchgeführt. Manchmal gab es während der Nacht Fliegeralarm. Ausser in verdunkelten Räumen durften keine Lichter brennen. Dann hörten wir über uns das Brummen der überfliegenden Bomber der alliierten Streitkräfte. Eines Nachts gab es einen Riesenknall, als im Nachbardorf Riggisberg eine tonnenschwere Bombe explodierte. Tags darauf besuchten wir mit der Schulklasse den Unglücksort. Ein altes Haus war von einer Brandbombe getroffen vollständig niedergebrannt. Ein anderes Haus im Dorfkern wurde ebenfalls getroffen. Da die Hausbesitzer Sandsäcke vorbereitet hatten, konnten sie den Brand löschen. An diesem Beispiel wurde uns veranschaulicht, wie wichtig es war, Sandsäcke bereitzuhalten. Zum Glück war die eintausend Kilogramm schwere Sprengbombe ausserhalb des Dorfes, in der Nähe eines Bauernhauses, explodiert. Durch die Wucht der Detonation wurde das Ziegeldach abgedeckt und der ganze Dachstock verschoben. Diese Geschehnisse trugen dazu bei, dass ich zusammen mit Knaben aus der Nachbarschaft eine Bande bildete. Oben in unserem Wald bauten wir einen Bunker. Wir fertigten hölzerne Gewehr- und Säbelattrappen an. Von unserem Bunker aus bekriegten wir manchmal andere Gruppierungen. Vor allem während der Kriegsjahre kamen Leute aus der Umgebung von Thun, Bern und sogar von Interlaken bei uns Erzeugnisse kaufen. Ich entsinne mich, wie einmal eine Familie aus Bern Kirschen pflückte. Als meine Mutter diese Leute zum Zvieri einlud, wollte ihr etwa achtjähriger Bub die Küche nicht betreten. «Da riecht es nicht gut», meinte er. Tatsächlich stand auf dem Holzkochherd ein grosser Hafen, in welchem die Speisereste für die Schweine gekocht wurden. Der Vater versuchte seinen Sprössling mit den Worten zu ermuntern: «Komm, hier gibt es gute Kuhmilch!» Der Bub erwiderte: «Ich mag keine Kuhmilch; ich will die Milch von Frau Moser.» Erklärend bemerkte der Gast aus Bern: «Entschuldigen sie bitte meinen Bub. Diese Frau Moser führt bei uns das Milchgeschäft.» 28 P43076_inh_Buch_Staub.indd 28 06.02.15 13:31 Als Siebenjähriger musste ich zur Schule gehen. Unsere Lehrerin war die Frau des Gemeindeschreibers. Sie unterrichtete die vier ersten Klassen der Unterschule. Als engagierte Christin begann sie den Unterricht mit Gebet oder liess uns ein Lied singen. Eines Tages beauftragte man mich, unterhalb des Hauses Pflaumen aufzulesen. Doch ich holte eine Leiter, um die Früchte am Baum zu pflücken. Das war ein verhängnisvoller Fehler. Als ich die Leiter hinaufstieg kippte diese um. Als meine Mutter nachschaute, weil sie die Pflaumen benötigte, fand sie mich ohnmächtig unter dem Baum liegen. Es stellte sich heraus, dass ich beide Handgelenke gebrochen hatte. Ich entsinne mich noch heute, wie ich aufschrie, als der Arzt die Brüche richtete und meine Arme eingipste. Mit den eingegipsten Armen helfe ich beim pflügen Als 45 jähriger wurde unser Vater 1943 aus dem Aktivdienst entlassen. Das war für uns alle, insbesondere für meine Mutter, eine grosse Erleichterung. Von da an genossen wir das Familienleben mehr denn je. Vor allem feierten wir den Sonntag. Im Baumgarten spielten wir Baumtauschen. Doch am meisten liebten wir das Krocket, ein englisches Rasenkugelspiel. Wir machten Spaziergänge oder fuhren mit der Kutsche aus. Als ich etwas gösser war, säuberte ich jeweils am Samstag den Hausplatz und manchmal auch den etwas über hundert Meter langen privaten Zufahrtsweg zu unserem Hof. Bereits am Samstagabend machten wir es uns behaglich und genossen den Feierabend. Vater stöpselte das Butterfass und wir bereiteten für das Mittagessen vom Sonntag alles Mögliche vor. Der Sonntag wurde bei uns richtig heilig gehalten. Das Futter für das Vieh 29 P43076_inh_Buch_Staub.indd 29 06.02.15 13:31 wurde schon am Samstag zubereitet. Am Montag früh wurde wiederum das Gras von der Wiese geholt. Doch dann beanstandete man einmal im Hochsommer unser diesbezügliches Verhalten. Es wurde argumentiert: Es sei für die Milchqualität nicht gut, wenn das Gras für die Fütterung vom Sonntag, bereits am Vorabend zubereitet werde. Gezwungenermassen mussten wir uns dieser Anordnung fügen und das Futter am Sonntagmorgen zubereiten. Als an einem darauffolgenden Sonntag ein grosses Dorffest stattfand, wurde jedoch von den meisten Bauern das Gras für den Feiertag schon am Samstag zubereitet. Da erklärte unser Vater, dass er dies in Zukunft wieder – ohne Ausnahme – am Samstag machen würde. Als Folge davon wurden uns einmal am voll beladenen Grasfuder in der Nacht auf den Sonntag Pneus durchstochen. Es kam vor, dass wir wegen unseres Glaubens bespöttelt wurden. Wenn mich gewisse Nachbarskinder beschimpfen wollten, betitelten sie mich als «Stündelibock». Vor allem ein Nachbar schikanierte uns über die Massen. Mit seinem Bauernhof verband uns eine lange, gemeinsame Grenze. Einerseits markierte er diese mit einem Stacheldrahtzaun. Zum andern forderte er mit eingeschriebenem Brief, dass wir alle grenzüberschreitenden Äste bei den Obstbäumen und am Waldrand entfernen sollten. Er durchtrennte die Wurzeln, welche auf sein Land hinauswuchsen. Der eine der beiden Söhne dieser Familie war gleich alt wie ich, der andere wie mein Bruder. Immer, wenn es ihnen möglich war, kamen sie zu uns. Oft wurden sie deswegen streng bestraft. Leider wurde auch ihre Mutter geschlagen. Diese Frau hatte wirklich ein elendes Leben! Mit zwei Nachbarsfamilien hatten wir ein sehr gutes Verhältnis. Wir halfen einander gegenseitig. Sie waren Kleinbauern, ihr Land reichte gerade zur Selbstversorgung. Den Broterwerb verdienten sie sich als Angestellte. Es kam manchmal vor, dass wir ihnen mit unseren Pferden zu Diensten stunden. Als ich wieder einmal ihr Heufuder auf ihre Bühne fuhr, gab man mir, weil es sehr heiss war, Bier zu trinken. Dieser Nachbar arbeitete in der Gurtenbierbrauerei. Obschon ich Durst hatte, fand ich diesen Gerstensaft furchtbar. Aber aus Wohlerzogenheit trank ich das Glas leer. Das hatte zur Folge, dass ich nie wieder Bier getrunken habe. Natürlich war es mir viel lieber, wenn ich ein Trinkgeld erhielt. Ein Franken bedeutete für mich damals schon ein kleines Vermögen. 30 P43076_inh_Buch_Staub.indd 30 06.02.15 13:31 Ich hatte, wie alle meine Geschwister, eine Sparbüchse. Wir vier Kinder besassen bei der Ersparniskasse ein Sparheft. Allerdings waren die Möglichkeiten, dass wir etwas auf die Seite legen konnten, selten genug. Für jeden Sechser im Schulzeugnis erhielten wir einen Franken. Erst viele Jahre später realisierte ich, wie nachhaltig mich dies beeinflusst hat. Meine gute Leistung wurde belohnt. Jedoch was das Glaubensleben anbelangt, musste ich dann diesbezüglich grundlegend umdenken. Ich werde später noch auf diesen Sachverhalt zurückkommen. 31 P43076_inh_Buch_Staub.indd 31 06.02.15 13:31 Dramatische Begebenheiten Als neunjähriger hatte ich ein einschneidendes Erlebnis. Nach einer kalten Winternacht im Frühjahr 1943 hatte es fast dreissig Zentimeter geschneit. In der Pause machten wir eine Schneerolle. Als diese fast zwei Meter Durchmesser hatte, kippte sie plötzlich und begrub mich vollends unter sich. Zuerst hörte ich die Mitschüler noch nach mir rufen. Während sie versuchten, die Schneemasse abzutragen, verlor ich das Bewusstsein. Während diesem komaähnlichen Zustand sah ich «meinen Lebensfilm ablaufen». Dies empfand ich als beängstigend. Als die Lehrerin die Schüler in die Klasse zurückrief, wurde sie von dem Unglücksfall ins Bild gesetzt. Sofort holte sie Hilfe. Von den Schneemassen befreit, erlangte ich langsam wieder das Bewusstsein. Drei Mitschüler bekamen den Auftrag, mich auf einem Schlitten nach Hause zu bringen. Nahe am Ziel ging es ziemlich steil bergan. Ich schlug vor, den restlichen Weg zu Fuss zurückzulegen. Die Mitschüler wollten aber nichts davon wissen, obschon das Ziehen und Stossen des Schlittens für sie mühsame Arbeit war. Unsere Schulklasse im Winter Während meiner Kindheits- und Jugendzeit gab es jeweils noch viel Schnee. Dann legten wir den Schulweg auf den Skiern zurück. Wie gross war mein Glück, als ich das erste Paar Skier mit Kandaharbindung und Metallkanten bekam. An einem Sonntag, als das «Seelibühl»-Skirennen stattfand, durfte ich mit dem Postauto in aller Frühe auf den Gurnigel fahren. Als das Rennen zu Ende war, nahm ich die Rennpiste selber in Angriff. Das Tempo 32 P43076_inh_Buch_Staub.indd 32 06.02.15 13:31 wurde zusehends schneller. Ich schaffte es gerade bis ins Ziel. Zu Stoppen vermochte ich jedoch nicht. So überschlug es mich mehrmals heftig und ich blieb einfach liegen. Als ich hörte, wie man nach dem Rettungsschlitten rief, rappelte ich mich mühsam auf. Zum Glück hatte ich nichts gebrochen. Eine traurige Begebenheit ist mir besonders in Erinnerung geblieben. An einem Sonntagmorgen kam ein kleines Mädchen, nur mit dem Nachthemd bekleidet und seinen Kleidern unter dem Arm auf den benachbarten Bauernhof. Auf die Frage: «Was ist denn los, wo sind deine Eltern?» antwortete die Kleine mit weinerlicher Stimme: «Die sind noch im Badezimmer.» Es stellte sich dann folgendes heraus: Am Samstagabend kippte beim Baden eine elektrische Lampe in die Wanne, sodass das Ehepaar infolge des elektrischen Stromschlags sofort umkam. Doch erst am Montagmorgen erschien die Kleine auf dem Bauernhof. In Zusammenarbeit mit unserem Gemeindeschreiber konnte mein Vater erreichen, dass die kleine Ruth, so hiess das Mädchen, von dem Ehepaar seines Schwagers aufgenommen und dann adoptiert wurde. Die neue Adoptivmutter war übrigens meine Gotte, und sie war kinderlos. Ruth hat sich in der Folge sehr gut entwickelt und eine gute Ausbildung erhalten. Wir haben bis heute einen guten Kontakt miteinander. Jedes Jahr hatten wir am Ende eines Schuljahres, an einem Samstag, das grosse Schlussexamen, wo wir Schüler vorzeigen mussten, was wir im Laufe des letzten Schuljahres gelernt hatten. An diesem denkwürdigen Tag stellte der Dorfbäcker einen Stand auf und verkaufte Backwaren und Orangen. Wir Kinder durften uns jeweils für zwanzig bis dreissig Rappen ein Gebäck kaufen. Ich entschied mich meistens für eine Cremeschnitte. Im späteren Nachmittag verlagerte sich dann die Veranstaltung in den Saal des Gasthofes zu Unterhaltung und Tanz. Daran nahmen wir nicht teil. Unsere Lehrerin arrangierte für die Kinder, welche nicht in den Gasthof gingen, interessante Feierlichkeiten und Unterhaltung im Schulhaus. 33 P43076_inh_Buch_Staub.indd 33 06.02.15 13:31 Unsere Familie vor dem Haus im Burgiwil Wie bereits erwähnt, pflegten wir ein intensives Familienleben. Nebst den Gottesdienstbesuchen unternahmen wir Ausflüge zu Fuss oder mit der Kutsche. Viel Spass erlebten wir beim Krocketspiel. Auch das Baumtauschspiel in der Hofstatt und das Versteckspiel waren von froher Geselligkeit geprägt. Bei schlechtem Wetter spielten wir «Eile mit Weile», «Elferraus», «Quartett» und anderes mehr. Meistens waren die Eltern mit von der Partie. Als der Krieg zu Ende war, nahmen meine Eltern Kinder aus Deutschland auf. Auch ein Pole wurde einige Zeit bei uns beherbergt. Während den Schulferien kamen Verwandte zu uns in die Ferien. Als meine Cousine, Vreni, aus Münsingen bei uns weilte, verübte ich einen Schabernack. Zusammen mit meiner Schwester nahm sie in der Waschküche ein Bad. Wegen der Bundesfeier vom 1. August besass ich «Schweizerkracher». Durch das Ofenrohr vom Waschherd liess ich einen solchen Kracher hinunterfallen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das Projektil eine solche Explosion auslösen würde. Durch die Detonation sprang die Tür am Waschherd auf. Die beiden Mädchen erschraken zu Tode und schrien wie am Spiess. Für diesen Ulk bekam ich dann eine Tracht Prügel. Meine Cousine hat mir letzthin folgende Mitteilung zugeschickt: «Dein Vater hat schon 1945 ein gut funktionierendes Überwachungssystem gehabt: Er hat jedem Kind einen Batzen versprochen, wenn es beobachtete, dass im Stall alle Kühe auf der gleichen Seite lagen. Das hatte zur Folge, dass wir bei jeder Gelegenheit in den Stall sahen, und sofort erkannt hätten, wenn etwas nicht in Ordnung war. 34 P43076_inh_Buch_Staub.indd 34 06.02.15 13:31 Höhenpunkte waren jeweils die regelmässigen Besuche bei unseren Verwandten. Mein Vater hatte zehn und die Mutter fünf Geschwister. Die Visiten im Baselbiet, bei den Angehörigen mütterlicherseits, waren für uns besonders attraktiv. Damals wurde von Olten aus die alte Hauensteinbahnlinie noch mit Dampflokomotiven betrieben. Diese puffenden Ungeheuer mit ihren schrillen Pfeifen hatten es uns ganz besonders angetan. Dass meine Eltern die Auslagen für diese Besuche auf sich nahmen, rechne ich ihnen noch heute hoch an. Wir waren nicht unbedingt arm, aber manchmal mangelte es doch am nötigen Geld. Der Ausbau und die Modernisierung unseres Bauernbetriebes verursachten hohe Kosten. Es konnte vorkommen, dass dann das Geld knapp wurde, um die Schuldzinsen zu begleichen. Dies war zum Beispiel der Fall, als ein Tiba Kombikochherd angeschafft wurde, verbunden mit dem Einbau der Zentralheizung. Zugleich wurde ein Raum als Badezimmer ausgebaut. All das zusammen war für unsere Verhältnisse kostspielig. Aber welch eine Wohltat waren diese Innovationen! Jetzt musste man nicht mehr das Wohnhaus verlassen, um die Toilette aufzusuchen. Diese befand sich nämlich neben dem Kuhstall, direkt über der Jauchegrube. Und die Waschküche war im Untergeschoss beim Keller gewesen. Die Zentralheizung erleichterte der Mutter die Arbeit ganz wesentlich. Es kam auch vor, dass wir von Pech und Unglück nicht verschont blieben. Zweimal waren es Maikäferplagen, welche uns zusetzten. Diese waren so schlimm, dass wir mit der Schulklasse Sammelaktionen veranstalteten. Da in unserem Dorf eine grosse Grastrocknungsanlage existierte, wurden die Käfer angeliefert, abgebrüht, anschliessend getrocknet und zu Futtermehl verarbeitet. Die ganze Angelegenheit hatte jedoch für unsere Region schlimme Folgen. Die Maikäfer wurden aus einem grösseren Umkreis in unser Dorf gebracht, um hier, wie erwähnt, verarbeitet zu werden. Bei dem ganzen Procedere entwichen sehr viele Käfer. In der Folge hatten wir massenweise Engerlinge. Auf unseren Wiesen wurden die Wurzeln der Gräser total abgefressen, sodass diese verdorrten. Zur Bekämpfung schnitten wir Bretter zurecht, versahen diese mit Nägeln und einem Stiel. Damit schlugen wir auf die Wiesen ein, um die Engerlinge zu töten. Wenn jedoch die Wurzeln mehrheitlich fehlten, füllten sich die Bretter schnell mit den übriggebliebenen Grasbüscheln. 35 P43076_inh_Buch_Staub.indd 35 06.02.15 13:31 Wir Kinder waren dazu angehalten, unserem Alter entsprechend bei den anfallenden, täglichen Arbeiten mitzuarbeiten. Auf unseren Wiesen hatten sich Wühlmäuse und Maulwürfe bemerkbar gemacht. Kurzentschlossen stellte ich ihnen Fallen, und alle staunten, dass ich in der Lage war, die Nager zu fangen. Dazu bekam ich pro Stück erst noch zwanzig Rappen. Dass ich später als Student mit dem Fangen von Mäusen gutes Geld verdienen würde, konnte ich zu dieser Zeit natürlich unmöglich erahnen. Eine andere Plage erlebten wir nach dem Kauf eines trächtigen Rindes. Es wurde eine Seuche eingeschleppt, durch welche unsere Kühe die Kälber durch Frühgeburten verloren. Das war eine ganz schlimme Zeit! Die Eltern verzweifelten fast wegen diesem Geschehen. Aber unser Familienzusammenhalt wurde durch diese Schwierigkeiten gefestigt. Meine Eltern hatten ein starkes Gottvertrauen. Jeden Abend, bevor sie sich zur Ruhe legten, knieten sie vor ihren Betten nieder und beteten zusammen. Bei uns wurde auch viel gesungen. Ab dem neunten Altersjahr lernte ich das Harmonium spielen. Als ich später Lieder begleiten konnte, sang ich dazu aus vollem Herzen. 36 P43076_inh_Buch_Staub.indd 36 06.02.15 13:31 Meine Wiedergeburt Als Dreizehnjähriger schickten die Eltern mich zum ersten Mal in ein «Bibellesebund»-Lager nach Vennes bei Lausanne. Geleitet wurde dieses von Ernst Aebi. Er war der Gründer dieser biblisch ausgerichteten Organisation. Seine überaus fröhliche Art hat mich sofort fasziniert. Nach einer Morgenversammlung übergab ich mein Leben ganz bewusst Jesus Christus. Nach der Aussprache mit Herrn Aebi und seinem anschliessenden Gebet war ich überglücklich. Ganz stark spürte ich die Nähe Gottes! Beseelt sagte ich: «Jetzt möchte ich sterben!» Darauf bekam ich zur Antwort: «Zuerst musste Du lernen, für Jesus zu leben!» Doch meine Glückseligkeit war so gross, dass ich wünschte, geradewegs in den Himmel, zu Jesus, meinem Heiland und Erlöser, zu gehen! Durch dieses Bekehrungserlebnis erfuhr mein Leben eine entscheidende Wende. Ich war mir sogleich ganz sicher, dass Gott einiges mit mir vorhatte. Unsere täglichen Andachten, morgens und abends im Familienkreis, gewannen für mich an Bedeutung. Ich war nicht ein Heiliger geworden. Aber mit kindlichem Verlangen lebte ich die Beziehung mit Jesus. Die persönliche tägliche Bibellese war mir wichtig. Die Sonntagsschule bedeutete mir viel. Zusammen mit den Eltern nahm ich gerne an den Gottesdiensten teil. Die Festanlässe in der Gemeinde waren geistliche Höhepunkte. Zusammen mit meiner älteren Schwester Ruth besuchte ich Konferenzen und Tagungen, insbesondere diejenigen des Bibellesebundes. Ein Jahr später durfte ich wieder an einem Bibellesebundlager in Vennes teilnehmen. Fast wäre dies vereitelt worden. Zwei Wochen vor Lagerbeginn verletzte ich mich am rechten/Unterarm aufgrund eines Schlags am Mähbalken unseres Motormähers. Tags darauf half ich noch beim Einbringen des Heus. Darauf schmerzte mein Arm immer mehr, sodass ich mich hinlegen musste. Am Sonntagmorgen war der ganze Unterarm dick geschwollen und ich hatte hohes Fieber. Als dar Arzt kam, machte er ein nachdenkliches Gesicht und sagte: «Das sieht nicht gut aus. Ich muss dich mitnehmen und ins Spital bringen.» Dort angekommen, wurde ich sofort operiert. Durch das Verabreichen von Penicillin konnte eine Amputation mit knapper Not 37 P43076_inh_Buch_Staub.indd 37 06.02.15 13:31 verhindert werden. Zwei Wochen später, konnte ich mit ärztlicher Erlaubnis, trotzdem mit ins Lager gehen. Das war ein Gnadengeschenk Gottes! Im Lager erfuhr ich wieder eine wunderbare Zeit der Glaubensstärkung. Leider war der Besuch der Sekundarschule bei uns nie ein Thema gewesen. Diese befand sich in einem entfernten Nachbardorf. Der Schulweg hin und zurück betrug gesamthaft fast zwei Stunden. Da ich den Schulunterricht mühelos bewältigte, langweilte ich mich oft. Der Lehrer erlaubte mir, wenn ich übrige Zeit hatte, zu lesen oder frühzeitig nach Hause zu gehen. Schon in diesem Alter arbeitete ich gerne mit dem Rapid Motormäher. Beim Heugrasmähen am steilen Hang, überanstrengte ich mich doch einmal, sodass ich daraufhin zwei Tage im Bett liegen musste. Auch bei den vielen Renovationen und baulichen Veränderungen an unserem Haus half ich gerne mit und lernte diesbezüglich mancherlei, was sich später als hilfreich erwies. 38 P43076_inh_Buch_Staub.indd 38 06.02.15 13:31 Das erste Mal im Welschland Da ich mich in der Schule zunehmend langweilte, beschlossen meine Eltern, dass ich das neunte Schuljahr im Welschland verbringen sollte. So kam ich zu einem Cousin meines Vaters in die Nähe von Lausanne. Leider wurde hier im Familienkreis nur deutsch gesprochen. So erlernte ich die französische Sprache nur mangelhaft. Zudem pflegte ich regen Kontakt mit der Stadtmission. Hier sprach man ebenfalls nur deutsch. Meine Gastfamilie hatte selber drei Kinder, eine Tochter und zwei Söhne. Der Jüngste war gleich alt wie ich. Manchmal kamen sie mit in die Stadtmission, wo ich ein geistliches Zuhause gefunden hatte. Auf dem Hof wurde viel Gemüse angepflanzt. Jeden Samstag wurde dieses auf dem Markt in Lausanne verkauft. Um mein Französisch zu verbessern, verbrachte ich dann die Herbstferien in der «La Côte», am Genfersee auf einem grossen Bauernhof. Die Gastfamilie gehörte zu der Darbistengemeinde. Jeden Tag musste ich die Viehherde hüten. Manchmal brannten die Kühe durch, was dann streng gerügt wurde. Ich bekam furchtbar Heimweh und weinte oft. Am Sonntag besuchte die ganze Familie den Gottesdienst, ich jedoch musste das Vieh hüten. Am Abend konnte ich dann an ihrer Versammlung teilnehmen. Es hatte in der Familie auch ein «Au-pair Mädchen». Dieses wollte mich dann «auf ihre Art» trösten, was ich jedoch kategorisch ablehnte. Meine Französischkenntnisse wurden nicht viel besser. Und die Sprache des Rindviehs war ohnehin die gleiche wie bei uns zu Hause. Dafür las ich viel in der Bibel. Besonders das letzte Buch der Heiligen Schrift hatte es mir angetan. Die Seiten der Offenbarung wurden noch etwas bunter. Ich benutzte verschiedene Farben, um die Sachbereiche zu kennzeichnen, denn ich beschäftigte mich intensiv mit der Endzeit. Obschon ich vieles nicht verstand, faszinierten mich die Berichte und Schilderungen des Johannes. Während der Wintermonate spielten wir in meiner Gastfamilie an den Wochenenden oft «Monopoly»; samstags manchmal die halbe Nacht hindurch. Zur Familie gehörte auch ein Melker. Er kam aus dem benachbarten Kanton Freiburg. Dieser hatte bereits eine bewegte Vergangenheit hinter sich. 39 P43076_inh_Buch_Staub.indd 39 06.02.15 13:31 Manchmal erzählte er mir einiges davon. Zu Hause hatte er oft gewildert. Eine Geschichte ist mir dabei unvergesslich geblieben: Wieder einmal hatte er zusammen mit einem Kollegen im Vorgebirge ein Reh erlegt. Doch diesmal wurden sie vom Wildhüter entdeckt. Sie liessen das Wildbret liegen und flohen quer durch den Wald zur Landstrasse hinunter. Unbemerkt konnten sie auf einen Lastwagen klettern, welcher Langholz transportierte. Auf diese Weise kamen sie ziemlich schnell nach Hause. Dort angekommen führten sie sofort Jauche auf das Feld hinaus. Der Wildhüter war ziemlich sicher sie erkannt zu haben. Als er jedoch im Dorf ankam, hatten die Burschen ein Alibi und kamen ungeschoren davon. Der gleiche Knecht stellte im nahen Wald Schlingfallen aus. Von Abenteuerlust ergriffen tat ich meinerseits das Gleiche. Als dann ein deutscher Schäferhund mit einer Schlinge um den Hals bei seinem Besitzer auftauchte, erstattete dieser Anzeige. So wurden auch die Fallen unseres Knechtes entdeckt. Dieser übte soviel Druck auf mich aus, dass ich die ganze Verantwortung auf mich nahm. In Lausanne kam es zu einer Gerichtsverhandlung, wo ich zu einer Busse verurteilt wurde. Der Knecht war dann immerhin bereit einen Teil der Busse zu übernehmen. So kam ich im Frühjahr 1950 als vorbestrafter 16-jähriger Teenager aus dem Welschland nach Hause zurück. 40 P43076_inh_Buch_Staub.indd 40 06.02.15 13:31 Meine Jünglingsjahre Zuerst war vorgesehen, dass ich eine Lehre als Feinmechaniker absolvieren sollte. Doch klappte es mit der Lehrstelle nicht. Deshalb trat ich dann einen Arbeitsplatz auf einem Bauernhof in Essertines sur Rolle an. Dass dies für mein zukünftiges Leben eine bedeutungsvolle Weichenstellung werden sollte, konnte ich natürlich damals nicht ahnen. Meine Meisterleute waren gläubig. Mein Arbeitgeber war zugleich Laienprediger. Das Besondere war, dass im Gebäude dieser Familie ein Versammlungssaal war. Am Sonntagmorgen fanden hier Gottesdienste und Sonntagsschule statt und abends meistens noch eine Versammlung. Ich besuchte auch hier die Gottesdienste der Stadtmission, welche am Sonntagnachmittag in Bière stattfanden. Der Ort war mit dem Fahrrad in etwa einer halben Stunde zu erreichen. Wir waren auf unserem Anwesen drei Bedienstete: zwei Deutschschweizer und eine Deutschschweizerin. Das war zum Erlernen der französischen Sprache wieder nicht eine optimale Situation. Die Meisterleute mit uns drei Angestellten 41 P43076_inh_Buch_Staub.indd 41 06.02.15 13:31 Das Aupair-Mädchen war sehr scheu, dasjenige im Nachbarhaus jedoch das pure Gegenteil. Ihr Selbstbewusstsein beeindruckte mich. Als sie meiner Einladung Folge leistete und zum Gottesdienst in die Stadtmission mitkam, war ich erfreut. Als wir aber dann zusammen spazieren gingen, liess sie mit der Zeit keine Zweifel aufkommen, dass sie ganz andere Interessen hatte. Sie lud mich ein, diese zusammen auszuleben. Als sie gewahr wurde, dass ich dafür nicht zu haben war, bedeutete dies das Ende unserer Kameradschaft. Bald darauf ging sie eine Beziehung mit einem Ausländer ein. Beim Kirschenpflücken passierte mir wieder ein kleiner Unfall. Als ein etwas morscher Ast brach, kippte meine Leiter und ich brach mir das linke Handgelenk. Für einige Zeit war ich nun dazu verurteilt, all jene Arbeiten zu verrichten, welche nur mit der rechten Hand ausgeführt werden konnten. Vor allem fiel mir jetzt das lästige, tägliche Wasserpumpen zu. Da sich der Bauernhof auf einem Hochplateau befand, musste das Wasser für das Wohnhaus, damals noch mit einer handbetriebenen Einrichtung, in ein Reservoir in den Estrich hinaufgepumpt werden. In den Sommerferien kamen dann Nichten meiner Meisterleute in die Ferien. Mit diesen verstand ich mich sehr gut, was dem Französischerlernen zu Gute kam. Jeanne-Marie, eines dieser Mädchen gefiel mir ganz besonders. Obwohl es sehr jung war, befreundeten wir uns zusehends. Zu Hause hatte Jeanne-Marie es nicht gerade leicht. Sie war als Säugling zu meinen Meisterleuten gekommen, da ihre Mutter nach der Geburt gestorben war. Weil diese an Tuberkulose erkrankte wurde ihr erklärt: «Wenn wir diese Schwangerschaft nicht unterbrechen, werden Sie sterben.». Das junge Paar lebte damals, zusammen mit Geschwistern auf dem elterlichen Bauernhof, im Gros de Vaud. Über die damaligen Geschehnisse und das, was sich in der Folge zugetragen hat, wurde nie gesprochen. Das einzige, was wir wissen ist, dass die junge werdende Mutter sich vehement gegen eine Abtreibung wehrte. Sie hat sich ausdrücklich für ihr Ungeborenes entschieden. Da sie wusste, was ihr bevorstand, hat sie mit ihrer Schwägerin, welche selber kinderlos war, vereinbart, dass diese den Säugling nach der Geburt übernehmen würde. Wegen der fortschreitenden Krankheit wurde dann die Entbindung frühzeitig im Kantonsspital von Lausanne vorgenommen. Das Neugeborene wurde sofort von der Mutter getrennt. Diese konnte ihr Bébé nur ein einziges Mal, hinter einer Glasscheibe sehen. Kurz danach starb sie dann tatsächlich. 42 P43076_inh_Buch_Staub.indd 42 06.02.15 13:31 Bei meinen Meisterleuten wurde dieser Säugling zum Sonnenschein der Familie. Da die Pflegemutter nach mehreren Schwangerschaften, welche nie zu einer Geburt führten, den Wunsch nach einem eigenen Kind fallen lassen musste, war ihr dieses anvertraute Kind hoch willkommen. Ihre Schwägerin hatte auch die Namensgebung ihres Kindes vorausbestimmt. Es sollte den Namen der Schwägerin, Jeanne, sowie ihren eigenen, Marie, erhalten. Deshalb hiess meine neue Kameradin: Jeanne-Marie und wurde von ihren Pflegeltern «auf Händen getragen», um nicht zu sagen verwöhnt. Als dann ihr Vater seine zweite Frau kennen lernte, wurde entschieden, die damals etwa zwei Jahre alte Jeanne-Marie zurück zu holen. Dieser Entscheid wurde für das Kleinkind zur Katastrophe. Nachdem es am neuen Ort drei Tage und zwei Nächte ununterbrochen, geweint hatte, ohne zu schlafen, entschied die Familie zusammen mit dem Vater: Wenn das noch eine Nacht so weiter geht, müssen wir sie zurückbringen. Total abgekämpft und ermattet, schlief die Kleine dann doch in der folgenden Nacht ein. All das erfuhr ich natürlich erst viel später. So auch die Tatsache, dass Jeanne-Marie als Zwölfjährige ein einziges Mal das Grab der Mutter mit ihrem Vater zusammen besuchen konnte. Dieses war schmucklos, ohne Grabstein, ohne Kreuz. Nur eine Plakette mit einer Nummer bezeichnete die trostlose Stätte. Während dieses kurzen Besuchs äusserte der Vater kein einziges Wort, sondern verliess zusammen mit dem heranwachsenden Mädchen nach kurzer Zeit den leidvollen Ort. Jeanne-Marie hatte es zu Hause nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Einmal schimpfte die Mutter mit ihr und sagte dann. »Wenn ich denke, was ich alles für dich mache und du bist nicht einmal meine Tochter!» Diese Ereignisse wirkten sich in der Folge leider wie eine «Hypothek» auf das Leben von Jeanne-Marie aus. Wahrscheinlich ist der Begriff «Hypothek» nicht zutreffend. Diese kann man jederzeit zurück bezahlen. Im seelischen Bereich ist dies unvergleichlich komplizierter. Als Zwölfjährige hatte Jeanne-Marie acht Halbgeschwister und wurde zu Hause sehr gefordert. Da sie als Kleinkind, wie bereits erwähnt, bei Onkel und Tante untergebracht war, bestand zu ihnen eine enge Beziehung. Deshalb verbrachte sie regelmässig im Sommer und Winter einige Ferientage hier. 43 P43076_inh_Buch_Staub.indd 43 06.02.15 13:31 Bevor auf dem Bauernhof die grossen Herbstarbeiten begannen, bekam ich zehn Tage Ferien. Mit dem Fahrrad fuhr ich den langen Weg nach Hause. In Lausanne hatte ich einen solchen Durst, dass ich in einem Restaurant einen ganzen Liter Süssmost trank. Zu Hause angekommen wurde mir erst so richtig bewusst, wie schön es doch daheim ist! Allein die wunderbare Aussicht in die Alpenwelt, welch ein Panorama! Auf der rechten Seite der Niesen und die Stockhornkette. Links der Sigriswilergrat bis zum Hogant. Dazwischen die drei Erhabenen: Eiger, Mönch und Jungfrau, flankiert von einer Anzahl weiterer, schneebedeckter Gipfel. Doch die paar Tage zu Hause waren schnell vorbei. Ich ging eigentlich ganz gern zurück nach Essertines. Meine Meisterleute hatten oft Besuch, auch von Missionaren. So lernte ich eine Menge Leute kennen. Das bedeutete für mich eine grosse Bereicherung. 44 P43076_inh_Buch_Staub.indd 44 06.02.15 13:31 Ich finde defnitiv eine Freundin Während der Weihnachts- und Neujahrsferien kam wieder Jeanne-Marie zu Besuch. Da wir drei Angestellte waren, konnten nicht alle während den Festtagen Ferien nehmen. Mir war es nur recht, während dieser Zeit da zu bleiben. In diesen Tagen entwickelte sich die Bekanntschaft zu Jeanne-Marie schon fast zu einer festen Freundschaft. Als sie mir eines Tages, als wir mehr als einen Kilometer vom Hof entfernt an der Arbeit waren, trotz viel Schnee dort einen Besuch abstattete, bestärkte dies meine Zuneigung zu ihr sehr. Für mich war nun eindeutig, dass sie mich auf jeden Fall sehr mochte. Abends beim Nachtessen sassen wir am Tisch einander gegenüber. Als ich unter dem Tisch mit meinen Füssen diejenigen von meiner Freundin umklammerte, liess sie dies scheinbar gerne geschehen. Für mich war vor allem die Tatsache, dass Jeanne-Marie ein tief gläubiges Mädchen war, sehr wichtig. In der Folge schrieb ich meinen Eltern einen Brief, in welchem ich ihnen mitteilte, dass ich in der Nichte meiner Meisterleute eine Freundin gefunden habe. Interessanterweise war meine Mutter darüber nicht erstaunt. Sie war vor allem glücklich, dass es sich um ein gläubiges Mädchen handelte. Nach dem Welschlandjahr arbeitete ich auf dem elterlichen Hof. Im Winter absolvierte ich die landwirtschaftliche Fortbildungsschule. Ich machte auch einen Baumwärterkurs. Zusehends engagierte ich mich in der Gemeindearbeit: Am Samstagabend in der Jugendgruppe, am darauffolgenden Morgen als Sonntagsschullehrer. Das nötige Rüstzeug erwarb ich mir in Kursen. Ich beteiligte mich auch an evangelistischen Strasseneinsätzen. In der Blaukreuzmusik spielte ich Trompete und als Sänger wirkte ich im Chor mit. Wie schon erwähnt war ich ein eifriger Bibelleser. Besonders die Offenbarung hatte es mir angetan. Deshalb waren diese Seiten in meiner Bibel bunt bemalt. Ich besuchte Vorträge, welche das Endzeitgeschehen zum Thema hatten. Diese wurden von einem Judenchristen Namens Poljak gehalten. Meine Freundschaft mit Jeanne-Marie bedeutete mir sehr viel, obschon sie erst dreizehn Jahre alt war. Hie und da schrieben wir uns Briefe. Nach der 45 P43076_inh_Buch_Staub.indd 45 06.02.15 13:31 Schule kam sie, jetzt 15-jährig, als Volontärin nach Iseltwald in die Sprachund Handelsschule. Vom ersten Tag weg litt sie dort unter starkem Heimweh. Nicht zuletzt wegen diesem Umstand schrieben wir uns nun regelmässig Briefe. Dann vereinbarten wir einen Besuch. So fuhr ich mit dem Fahrrad an den Brienzersee. Zu meinem Leidwesen kam das Zusammentreffen aber nicht zustande. Es wurde Jeanne-Marie nicht erlaubt, ohne Begleitung den Campus zu verlassen und, sie wollte auf keinen Fall riskieren, dass die Diakonissinnen von ihrer Freundschaft erfuhren. Allein die Briefe, welche sie regelmässig von mir erhielt, waren verdächtig genug. Etwas umsichtiger planten wir dann ein nächstes Treffen. Ich hatte das letzte Mal die Umgebung etwas ausgekundschaftet. So konnten wir einen geeigneten Treffpunkt vereinbaren. Doch nun wurde auch dieses Rendezvous erschwert. Meine Eltern vereinbarten zusammen mit meinen Geschwistern genau auf dieses Wochenende einen Besuch bei den Verwandten im Baselbiet. Ich sollte während ihrer Abwesenheit die nötigen Arbeiten ausführen. Das hiess vor allem morgens und abends die Kühe melken. Es war offensichtlich, dass ich am Sonntagabend unmöglich zurück sein konnte Da es für Jeanne-Marie sehr schwierig gewesen war, einen freien Sonntag zu bekommen, wollte ich unser Zusammentreffen unbedingt beibehalten. Unverlegen engagierte ich deshalb den gleichaltrigen Sohn eines Nachbarn, welcher am Sonntagabend die Stallarbeiten verrichten sollte. Und so kam das erste Zusammentreffen mit Jeanne-Marie trotz allem zustande. Wieder mit dem Fahrrad vom Gürbetal aus, durchs Stockental und dem Thunersee entlang in Iseltwald angekommen, musste ich einige Zeit am vereinbarten Ort warten, bis meine Jeanne-Marie eintraf. 46 P43076_inh_Buch_Staub.indd 46 06.02.15 13:31 Unsere Freundschaft vertieft sich und bald darauf die erste Krise Während zwei ein halb Jahren hatte ich mich mit Fotos von Jeanne-Marie begnügen müssen. Nun kam sie leibhaftig auf mich zu. Mein Herz machte Freudensprünge. Etwas verlegen begrüssten wir uns einfach mit einem Händedruck. Abseits anderer Leute fanden wir eine Wiese, wo wir uns unter dem wolkenlos blauen Himmel niederliessen. Wir hatten uns so viel zu erzählen. Und bald einmal kam es dann zum ersten, unvergesslichen Kuss. Viel später offenbarte mir mein Schatz, dass sie sich im voraus Gedanken gemacht habe, ob ich sie wohl auf den Mund küssen werde und wie das sein würde. Freilich waren unsere Küsse nur flüchtig. Zu schnell verflog die Zeit unseres ersten Zusammenseins und dann hiess es bereits wieder Abschied nehmen. Doch das, was ich für dieses kostbare Mädchen empfand, überstieg alles, was ich je für einen anderen Menschen empfunden hatte. Es war ganz einfach eine unbeschreibliche Verliebtheit. Als meine Eltern nach ihrer Heimkehr erfuhren, dass ich Jeanne-Marie besucht hatte, reagierten sie doch ziemlich ungehalten. Für mich war dies die Bestätigung dass ohne mein findiges Handeln meine erste Verabredung mit meinem Schatz nicht hätte stattfinden können. Nun schrieben wir uns regelmässig. Jeanne-Marie auf französisch, ich auf deutsch. Die Anrede meines Lieblings lautete jeweils: «Mon cher Ruedi» der Abschiedsgruss: «Reçois, mon cher Ruedi, affectueuses salutations et baiser, Jeanne Marie.» Das war für mich «wohltuende Musik». Meine Briefe begannen mit. «Meine liebste Jeanne-Marie» und endeten: «Mit herzlichen Grüssen und Küssen, Dein Ruedi.» Im Herbst erkrankte Jeanne-Marie. Der Arzt in Interlaken diagnostizierte Blutarmut. Die verabreichten Medikamente brachten aber keine Besserung. Am 8. September schrieb sie mir während ihrer Zugfahrt von Interlaken nach Hause einen Brief, in welchem sie die Hoffnung äusserte, nach zwei Wochen wieder nach Iseltwald zurückzukehren. Daraus wurde jedoch nichts. Ihr Hausarzt war dagegen. 47 P43076_inh_Buch_Staub.indd 47 06.02.15 13:31 Diese Situation führte in unserer noch kurzen Beziehung zu einer ersten Krise. Natürlich musste Jeanne-Marie zu Hause ihre Eltern betreffs unserer Freundschaft ins Bild setzen. Verständlicherweise waren diese darüber nicht gerade erfreut. Mit Datum vom 18. Dezember 1953 erhielt ich endlich den lang ersehnten Brief von meiner geliebten Jeanne-Marie. Auf dem Briefkopf stand Vers 17 aus Jesaja 48: (Hier folgt die Übersetzung auf Deutsch) «Ich bin der Herr, euer Gott. Ich lehre euch, was gut für euch ist, und zeige euch den Weg, den ihr gehen sollt.» «Lieber Ruedi, Endlich ein Brief von mir, um Dir für all die Dinge zu danken, mit denen Du mich überhäuft hast; weißt du, ich bin all dessen gar nicht würdig. Verzeih mir, dass ich Dir bis jetzt nicht geantwortet habe. Heute Abend hat mich mein Vater getadelt, dass ich Dir bis jetzt nicht geschrieben habe. Ich war in der letzten Zeit sehr beschäftigt, da die Mutter in die Ferien ging. Ich hatte so viel Arbeit, dass ich an nichts anderes denken konnte. Aber ich sollte nicht immer eine Entschuldigung suchen. Meine Eltern wissen alles, was uns betrifft. Sie haben mich deswegen nicht gescholten. Sie finden jedoch, ich sei zu jung, um schon eine so wichtige Entscheidung zu treffen. Sie haben Angst ich könnte meine Ansicht noch ändern. Sie finden auch, dass ich besser täte, noch einige Jahre zu warten. Wir sollten auch nicht zu oft mit einander korrespondieren. Wenn wir uns wirklich liebten, würden wir einander auch so treu bleiben. Sollte vielleicht das Gegenteil eintreten, ich weiss nicht, was ich dazu niederschreiben soll, aber Du wirst das wohl verstehen. Ich glaube auch, dass es so richtig ist und wir den weisen Rat meiner Eltern befolgen sollten. Ich habe viel darüber gebetet und meine Eltern auch. Ich hoffe, dass Du mich verstehst. Ich danke Dir vielmals für deine Einladung. Ich kann sie aber nicht annehmen, denn mein Onkel und die Tante in Essertines wünschen, dass ich die Weihnachtsferien bei ihnen verbringe. So werde ich demnächst dorthin fahren. Danach muss ich wieder zu Hause helfen. Ich beende diesen Brief, indem ich dir frohe Weihnachten wünsche. Der Herr segne dich. Empfange meine besten Grüsse, Jeanne-Marie» 48 P43076_inh_Buch_Staub.indd 48 06.02.15 13:31 Natürlich hat mich dieser Brief, so kurz vor Weihnachten, schwer enttäuscht. Andererseits konnte ich die Reaktion der Eltern von Jeanne-Marie und den daraus resultierenden Brief meiner lieben Freundin verstehen. Doch halt! – Sie war jetzt wahrscheinlich nicht mehr meine Jeanne-Marie. Aber so schnell würde ich nicht aufgeben, und sie wahrscheinlich auch nicht. Stand doch auf dem Briefkopf dieser verheissungsvolle Bibelvers. Das war für mein verwundetes Herz wie Balsam, dass meine Freundin diesen ausgewählt hatte. Freilich waren wir jung, Jeanne-Marie sogar sehr jung: Erst gerade sechzehnjährig! Doch welch ein Trost ist dieser Zuspruch Gottes: «Ich lehre euch, was gut für euch ist, und zeige euch den Weg, den ihr gehen sollt.» Ich sagte zu: «Ja, Herr, darauf will ich mich von ganzem Herzen verlassen!» Doch niemals hätte ich zu diesem Zeitpunkt erahnen können, welch einschneidende Konsequenzen dieser Zuspruch Gottes für unser zukünftiges Leben zur Folge haben würde. Innerhalb der nächsten neun Monate bewirkte Gott Unvorstellbares! Mit dem allerbesten Willen wäre es unmöglich gewesen, dies durch menschliches Planen oder Tun zu bewerkstelligen. Die Eltern von Jeanne-Marie hatten uns ja den Kontakt nicht verboten. Das war ein grosses Entgegenkommen. Wir sollten einander nur nicht zu oft schreiben. Was aber heisst: Nicht zu oft? – insbesondere wenn man verliebt ist? Umso mehr engagierte ich mich in der Kirche. Ich besuchte Vorträge, nahm an Konferenzen teil und wirkte bei Grossevangelisationen von Billy Graham und dem Janz Team mit. Auch die jährlichen Konferenzen vom Bibellesebund in Bern und Zürich waren jeweils Höhepunkte in meinem geistlichen Leben. Da Jeanne-Maries Stiefmutter (ich brauche hier absichtlich diese Bezeichnung, um daran zu erinnern, dass es sich nicht um ihre leibliche Mutter handelt.) vor ihrer Heirat PTT-Telefonistin gewesen war, konnte sie durch ihre Beziehungen für ihre Stieftochter eine Anstellung auf dem Hauptpostamt in Neuenburg arrangieren. Die diesbezügliche Lehre dauerte nur ein Jahr. Bereits während dieser Zeit wurde ein guter Lohn angeboten. 49 P43076_inh_Buch_Staub.indd 49 06.02.15 13:31 Mit Bravour bestand mein Schatz die Aufnahmeprüfungen. Leider war die komplexe, neue Situation für Jeanne-Marie nicht nur eine Herausforderung, sondern eine Überforderung. Allein der Arbeitsweg war beträchtlich: Zuerst gute zwanzig Minuten zu Fuss, dann noch einmal soviel Zeit mit dem Bus. Wegen der unregelmässigen Arbeitszeit legte sie den Weg oft viermal am Tag zurück. Zudem gab es zu Hause über das Mass viel Arbeit zu bewältigen. Nie kam sie wirklich zur Ruhe. Mir war es ein Anliegen, der Familie meiner Freundin einen Besuch abzustatten. Wir mussten uns kennen lernen. Und tatsächlich wurde ich willkommen geheissen. Dieses Zusammentreffen wurde zu einem Meilenstein und es herrschte ein gutes Einvernehmen. Ich begegnete hier tatsächlich einer Grossfamilie. Nebst den Eltern mit ihren 9 Kindern umfasste sie noch den Grossvater mütterlicherseits sowie dessen Sohn und Bruder der Mutter, der geistig stark behindert war und deswegen nicht für sich alleine sorgen konnte. Die Familie meiner Freundin Nach diesem Besuch wurden unsere Kontakte wieder etwas belebter und zunehmend hoffnungsvoller. Ich war dankbar, dass ich in Neuenburg so gut aufgenommen wurde. Wir schrieben uns in der Folge wieder etwas regelmässiger. 50 P43076_inh_Buch_Staub.indd 50 06.02.15 13:31 Meine letzten Jahre daheim und die RS Bei uns zu Hause gab es jede Menge Arbeit. Da, wie bereits erwähnt, die eine Hälfte des Anwesens sehr steil war, gestalteten sich hier alle Arbeiten sehr mühevoll. Der Arbeitsaufwand war mindestens doppelt so gross wie auf der anderen, weitgehend flachen Hälfte des bewirtschafteten Landes. Unten im Tal besassen wir zwei Landstücke. Die Erde war hier lehmig und schwer. Das hatte zur Folge, dass das Pflügen mit zwei Pferden unmöglich war. Entweder mussten wir bei einem Nachbarn zusätzlich ein Pferd ausleihen oder zwei Kühe zum Mitziehen vorspannen. Hie und da liessen wir diese Felder mit einem Traktor bearbeiten. Dieser Erdboden eignete sich bestens für das Anpflanzen von Kohl. Nicht umsonst wurde unser Tal im Volksmund «Kabisland» genannt. Vom Monat Juni an gab es fast ununterbrochen Früchte, Beeren und Obst zu ernten. Es fing mit den Kirschen und Himbeeren an, dann folgten die kleinen und grossen Pflaumen, dann Birnen, Brombeeren, zuletzt erfolgte die Zwetschgen- und Apfelernte. Dazu waren wir ständig mit dem Renovieren und Ausbauen des Hauses beschäftigt. Auch der Baum- und Beerenbestand wurde weiter vergrössert. Am Samstagabend begann dann die Sabbatruhe. In der angenehmen Jahreszeit sassen wir vor dem Haus auf der Bank, in der übrigen Zeit in der Küche um den Tisch. Wie ist mir doch dies in so angenehmer Erinnerung! Moderne Küchengeräte gab es nicht: Alles wurde von Hand für den Sonntag vorbereitet. Und dann wurde der Sonntag so richtig genossen. Da gab es oft Gesellschaftsspiele oder Ausflüge und am Abend meistens eine Versammlung in der Gemeinde. Und dabei war von Stress und Hektik keine Spur. An einem Wettbewerb der Uhrenfabrik Richard hatte ich eine «Lambretta» (Motorroller) gewonnen. Das war für mich ein Riesengeschenk! Entsprechend gross waren der Jubel und die Dankbarkeit. Schnell machte ich die nötigen Prüfungen. Die grössere Mobilität war mir sehr nützlich. Etwas später erwarb ich dann auch noch den Führerausweis für das Autofahren. 51 P43076_inh_Buch_Staub.indd 51 06.02.15 13:31 Unvergesslich ist mir in meinem Gedächtnis dieser Prüfungstag geblieben. Da wir kein Auto besassen, musste ich die Fahrstunden alle mit einem Fahrlehrer machen. In der Nacht auf den Prüfungstag hatte es fast zwanzig Zentimeter Neuschnee gegeben. Zum Glück waren wir etwas zu früh in Bern, am Prüfungsort eingetroffen. So nutzte der Fahrlehrer die Zeit, um noch einmal den theoretischen Teil der Prüfung zu repetieren. Bei den Fragen betreffs der diversen Kreuzungen unterlief mir ein Fehler. «Oh! Damit wären Sie bereits durchgefallen», bemerkte der Fahrlehrer. «Deshalb wiederholen wir jetzt nochmals die verschiedenen kniffligen Möglichkeiten betreffs der Strassenkreuzungen». Das kam mir dann tatsächlich bei dem theoretischen Examen zugute. Dieses dauerte fast eine Stunde. Damals gab es diesbezüglich noch keine schriftlichen Fragebogen. Alles wickelte sich mündlich ab. Wir waren sechs Prüflinge. Einige hatten etwas Mühe. Höchste Aufmerksamkeit war gefragt, besonders was die verschiedenen komplexen Situationen auf den Strassenkreuzungen anging. Da wurde auf der Lagezeichnung mit Fahrzeugen nur so «hin und her jongliert». Oft wurde ich dann aufgerufen um Antwort zu geben auf die Frage: «Was sagen Sie dazu?» Und meine Antworten waren immer korrekt. Die praktische Prüfung war wegen des Neuschnees problematisch. Auf einer steilen Strasse musste ich das sogenannte «Stöcklifahren» demonstrieren. Das hiess, vorwärts an das aufgestellte Stöckli heranfahren und so anhalten, dass die Stossstange mit diesem in Berührungskontakt blieb. Dann hiess es, beim Rückwärtsfahren dasselbe Manöver auszuführen. Dabei musste die hintere Stosstange das Stöckli erneut berühren. Es durfte aber beim Wegfahren nicht umfallen. Aber oh weh! Wegen des vielen Schnees spulten die Räder durch. Mir war bewusst: Wenn ich das Manöver unterbreche, fällt das Hindernis um. So behielt ich diese heikle Situation bei, bis der Experte sagte: «OK es ist gut.» Das Parkieren und sogenannte «S-Fahren» gelang mir zwar musterhaft. Dann aber unterlief mir auf dem Waisenhausplatz ein Fahrfehler. Zurück im Strassenamt erwähnte der Experte meinem Fahrlehrer gegenüber meinen «Schnitzer», fügte aber an: «Trotzdem bekommt ihr Schüler den Ausweis, weil sonst alles gut klappte und er eine exzellente Theorie absolviert hat.» Einmal mehr durfte ich die gnädige Hand Gottes erfahren und ihm dafür aus vollem Herzen danken. 52 P43076_inh_Buch_Staub.indd 52 06.02.15 13:31 Dass mich meine Eltern aktiv unterstützt haben, so dass ich das Autofahren, schon so früh erlernen konnte, war eindeutig von Gott geplant und für meine Zukunft wichtig! Im Februar des Jahres 1954 begann für mich die Rekrutenschule. Bei der vorangehenden Aushebung hatte ich mich ganz klar dazu entschieden, diese bei der Sanitätseinheit zu absolvieren. Als sich dann herausstellte, dass mein Herz bei starker Beanspruchung überreagierte, «war die Sache besiegelt» und ich wurde problemlos zur Sanität eingeteilt. Wir mussten auch ein Formular ausfüllen und auf diesem sämtliche Krankheiten vermerken, welche wir schon gehabt hatten. Da machte ich einen Schreibfehler. Unter anderem notierte ich auch den erlittenen Keuchhusten, schrieb aber Keuschhusten. Das löste beim zuständigen Aushebungsoffizier ein Schmunzeln aus. Mit seiner Frage: «Was ist das für eine Krankheit?» brachte er mich wirklich in Verlegenheit. Möglicherweise war jedoch dieser Schreibfehler irgendwie ein prophetischer Fingerzeig für spätere Tage... Das heisst: Keusch zu leben. Verbandtraining in der RS Dann verbrachte ich fast vier Monate, grün eingekleidet, in Basel. Hinter dem Kasernenareal befand sich eine evangelische Gemeinde. Bald einmal ging ich dort ein und aus, so oft es mir möglich war. In der RS bekannte ich mich ganz klar zu meinem Glauben, was die Kameraden respektierten. Die Bibel war mein treuer Begleiter. 53 P43076_inh_Buch_Staub.indd 53 06.02.15 13:31 In der erwähnten christlichen Gemeinde erhielt ich die nötige Glaubensstärkung. Auf ihrem Areal konnte ich auch meine Lambretta parkieren. Weil ich dann zur Truppensanität eingeteilt wurde, durchlief ich noch einen dreiwöchigen Spitalkurs im Kantonsspital von Lausanne. Sowohl die Rekrutenschule wie auch dieser Kurs waren für mich sehr interessante und bereichernde Erfahrungen. Hie und da machte ich während der Rekrutenschule einen Besuch in Neuenburg. Wie schon erwähnt, war meine Freundin neben der Arbeit auf dem Telefonamt der PTT zu Hause sehr beansprucht. Mit Datum vom 12. Mai 1954 schrieb – an Stelle von Jeanne-Marie – ihr Vater auf meine Anfrage, ob ich am nächsten Wochenende einen Besuch machen dürfe, folgendes: «Lieber Ruedi, da Jeanne-Marie sehr beschäftigt ist, beantworte ich deinen Brief. Es ist also abgemacht, wir erwarten Dich mit Freuden. Du kannst nächsten Samstag zu uns kommen. In dieser Erwartung empfange, lieber Ruedi, unsere besten Grüsse, A. Gerber.» Unsere Freundschaft wurde nun offensichtlich entgegenkommend zugelassen. Insbesondere der Vater von Jeanne-Marie hatte erkannt, dass seiner Tochter unsere Freundschaft gut bekam und sogar in Bezug auf ihr Wohlergehen gut für sie war. 54 P43076_inh_Buch_Staub.indd 54 06.02.15 13:31 Meine Studienzeit am TSC Im August 1954, einige Wochen nach der RS, ereignete sich dann das unglaubliche, unfassbare «Birnbaumerlebnis» worüber ich zu Beginn schon berichtet habe. Diese Berufung war so unmissverständlich und anschaulich eindeutig, dass ich nie an ihr gezweifelt habe. Letztlich war ich gar nicht dazu qualifiziert. Ich hatte nicht einmal die Sekundarschule besucht. Die Frage der Qualifikation stellte sich gar nicht, weil Gott mich eindeutig berufen hatte. Doch in der Praxis führte diese Begebenheit zu einschneidenden Konsequenzen. Zum Beispiel im Verhältnis zu meiner lieben JeanneMarie. Vorerst berichtete ich ihr alles am Telefon. Sie war überrascht, hat aber wahrscheinlich nicht alles richtig mitbekommen. Als ich sie dann bat, mit mir dafür zu beten, dass Gott im Blick auf meine Berufung alles in die Hand nehmen solle, unterstützte sie mich voll. Wir vereinbarten auch, dass wir uns baldmöglichst treffen wollten. Dieser Besuch kam dann auch zustande. Ich richtete es so ein, dass ich am Morgen zusammen mit Jeanne-Maries Familie am Gottesdienst teilnehmen konnte. Natürlich war mein Berufungserlebnis mit Erstaunen aufgenommen worden. Man betete auch für mich. Ganz offensichtlich wurde mein Leben umgekrempelt. Schon meine Mutter konnte sich Jeanne-Marie nicht als Bäuerin vorstellen. Die Eltern meiner Freundin hatten noch mehr Mühe damit, dass ihre Tochter einmal einen Landwirt heiraten würde. Deshalb war diese Wende in meinem Leben auch diesbezüglich wundervoll. Als dann die Bestätigung der Missionsschule eintraf, teilte ich dies natürlich Jeanne-Marie sofort telefonisch mit. Ich erklärte ihr auch, dass wir uns, wenn irgend möglich, vor meinem Studienbeginn noch einmal, und zwar hier bei mir zu Hause, treffen sollten. Denn nur hier, wäre es uns möglich, in Ruhe alles eingehend zu besprechen und darüber zu beten. Das war für mich sehr wichtig. Unser Leben erhielt bereits jetzt eine ganz neue Ausrichtung: Nach Gottes Ratschluss würde ich immerhin eines Tages Pfarrer sein. Alles ereignete sich jedoch so schnell, dass wir Mühe hatten, die neue Situa- 55 P43076_inh_Buch_Staub.indd 55 06.02.15 13:31 tion richtig einzustufen. Vor allem die daraus resultierenden Konsequenzen zu erkennen und abzuschätzen. Glücklicherweise konnte Jeanne-Marie noch zwei Tage frei bekommen. Dieses Zusammensein, unmittelbar bevor ich mein Studium aufnahm, war wertvoll. Der Zuspruch Gottes, welchen mir meine liebe Jeanne-Marie vor neun Monaten geschickt hatte, verwirklichte sich ganz offensichtlich: «Ich bin der Herr, euer Gott. Ich lehre euch, was gut für euch ist, und zeige euch den Weg, den ihr gehen sollt.» Ich war einfach überwältigt. Wie gross und wunderbar ist unser Gott! Ein Leben als engagierter Christ ist absolut spannend, kann aber auch grosse Herausforderungen beinhalten. Es war mir ein wichtiges Herzensanliegen, dass meine Freundin die Konsequenzen dieser Berufung Gottes erkennen und erfassen konnte. Sie sollte sich von Herzen freuen können, dass wir zusammen auf diesem Weg unterwegs sein durften. Natürlich war mein Liebling vorerst noch ein wenig von den Ereignissen und der daraus resultierenden neuen Situation überfordert. Aber ganz eindeutig herrschte die Freude und Dankbarkeit vor. Dass wir zusammen beten und unseren zukünftigen Weg in Jesu Hände legen konnten, war befreiend. Beim Abschied nehmen waren wir immer noch wie Träumende. Es war einfach fast zuviel auf einmal. Nun galt es auch, sich an das andere wichtige Bibelwort zu halten: «Bemüht euch um das Reich Gottes, und lebt nach Gottes Willen. Dann wird er euch mit allem anderen versorgen.» Wie wegweisend und zutreffend diese Zusage unseren zukünftigen Lebensweg begleiten würde, konnten wir zu diesem Zeitpunkt nicht erahnen. 56 P43076_inh_Buch_Staub.indd 56 06.02.15 13:31 Plötzlich bin ich Student Aller Anfang ist schwer, sagt das Sprichwort. Das bewahrheitete sich tatsächlich auch für mich, in der Anfangsphase des Studiums. Es war eine grosse Umstellung für mich. Als ich auf St. Chrischona eintraf, hatte das Studienjahr bereits begonnen, und ich bekundete grosse Mühe, mich einzuleben und den Anschluss zu finden. Meine vierundzwanzig Klassenkameraden waren schon eine «eingespielte» Gruppe. Was ich diesbezüglich im ersten Monat nach Hause geschrieben habe, weiss ich nicht mehr. Doch der Brief, den mir meine liebe Mutter daraufhin geschrieben hat, ist sinnreich: Burgiwil, den 4. Oktober 1954 Lieber Ruedi! Danke Dir für Deinen Brief, und will schnell noch Deine Fragen beantworten. Du tust mir sehr leid, dass Du oft so schwer hast. Aber ich denke immer, wenn Du doch die Gewissheit hast, dass es Dein Weg ist Prediger zu werden, so wird Dir der Herr sicher auch die Kraft geben zu Deinen Aufgaben. Ich glaube Du lebst eben noch zu viel beim Bauern, und Du musst das mehr und mehr ablegen können. Vertraue Dich nur ganz Deinem Heiland an, so gibt er Dir sicher jeden Tag die nötige Kraft. Es ist sicher schwer für Dich, aber wenn Du nun zum Dienst am Evangelium berufen bist, so heisst es eben überwinden. Ich habe doch schon oft für mich selber gedacht, Gottes Wege seien wunderbar! Schon dass Du die Jeanne-Marie hast kennen gelernt, und ihr beide trotz allem zusammen gekommen seid, ist sicher nicht von ungefähr. Der Herr meint es schon gut mit Dir, dass er Dir ein so liebes, frommes Mädchen geschenkt hat. Wenn Du hättest Bauern sollen, so hättest Du sicher die Jeanne-Marie nicht, da das sicher zu schwer für sie wäre. Aber Du musst Dich eben jetzt noch gedulden und Dein Herz während der Studienzeit noch nicht zu sehr an sie hängen, denn ich habe mich schon oft gefragt, ob dies nicht auch ein wenig ein Hindernis sei für Dich während der Studienzeit. Ich hoffe, Du verstehst mich recht, ich meine ja nicht, dass Du sie weniger lieben sollst, aber so wie der Heiland sagt in seinem Wort: «Wer etwas mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.» 57 P43076_inh_Buch_Staub.indd 57 06.02.15 13:31 Wenn Du alles tust, um Deines Heilandes Willen, so wird Dir sicher auch das Lernen leichter. Ich glaube ja gerne, dass es oft sehr schwer ist für Dich, Dich nur so dem Studium zu widmen, aber das geht ja vorbei. Wenn Du dann ganz im Dienst Deines Herrn stehst, wirst Du sicher auch viel Freude erleben. Nun will ich aufhören mit diesem Thema und hoffe, Du verstehst mich recht.» Was meine treu besorgte Mutter dann noch über die Arbeiten auf dem Hof geschrieben hat, lasse ich beiseite. Hier noch ihre Grussworte zum Briefschluss: «Will nun schliessen und bleibe in treuer Fürbitte, stets in Liebe an Dich denkende Mutter. Herzliche Grüsse vom Vater und Deinen Geschwistern. Deine Mutter» Wie wohltuend und wichtig war doch dieser Brief für mich gewesen! Das Herz einer Mutter ist wertvoll und unbezahlbar kostbar! Dass besonders sie, auch Jeanne-Marie und weitere treue Beter hinter mir standen, gab mir Mut und Kraft, mich vertrauensvoll dem Studium zu widmen. Und tatsächlich machte ich von Woche zu Woche Fortschritte in verschiedenen Bereichen. Nach einiger Zeit war ich voll in der Klasse integriert. Das Lernen verlief besser. Einzig das Auswendiglernen ganzer Bibeltexte machte mir ziemlich Mühe. Beim Studium in meinem Zimmer 58 P43076_inh_Buch_Staub.indd 58 06.02.15 13:31 Und schon waren die willkommenen Weihnachtsferien in Sicht. Als Gastschüler konnte ich diese ganzen Ferien zu Hause verbringen. Und es war sogar eingeplant, dass mein Schatz während dieser Zeit einige Tage kommen würde. Auf dem Heimweg erlebte ich mit der Lambretta einen kleinen Unfall. Die Strasse war schneebedeckt und «glitschig». Auf einem Bahnübergang geriet mein Vorderrad ins Schleudern, sodass ich stürzte. Als ich mich wieder aufrichtete, stellte ich erleichtert fest, dass niemand den Sturz beobachtet hatte. Da ich mir bloss ein paar harmlose Prellungen zugezogen hatte, stellte ich die Lambretta wieder auf die Räder, startete und fuhr schnell weiter; dankbar, dass mir nichts Schlimmes zugestossen war. Ich genoss diese Tage zu Hause in vollen Zügen. Natürlich ganz besonders die drei Tage, an welchen Jeanne-Marie zu Besuch kam. Nicht allein für uns beide war dieses Zusammensein und Austauschen wichtig. Meine ganze Familie war erfreut, meine Freundin besser kennen zu lernen. Dass besonders meine Mutter diese schon so fest in ihr Herz geschlossen hatte und liebte, erfüllte uns mit Freude und Dankbarkeit. Dies machte insbesondere meine Freundin tief glücklich. Erst später wurde uns die Tatsache bewusst, wie sehr Jeanne-Marie unter einem Defizit litt, weil sie als Kind nie liebevoll umarmt, und weder von der Mutter noch vom Vater auf den Schoss genommen und liebkost worden war. Das ist sicher mit ein Grund, dass sie sich so jung mit mir angefreundet hat. Schnell flogen diese Ferien dahin und dann hiess es, sich wieder voll und ganz dem Studium zuzuwenden. Die Chrischona war für die Basler ein beliebtes Ausflugsziel. An den Wochenenden, besonders sonntags, zog es viele Leute auf den «Berg», wie die Chrischona von den Einheimischen liebevoll genannt wurde. Zuoberst auf der Hügelkuppe befindet sich die Kirche. Auf der einen Seite ist sie von der Gärtnerei und den Ökonomiegebäuden umgeben. Auf der anderen Seite befinden sich die Häuser, in welchen die Studenten und zum Teil auch die Lehrkräfte untergebracht sind. Im Hauptgebäude befanden sich die Küche, der Speisesaal, ein Andachtssaal und vier Unterrichtsräume. Der Dachstock beherbergte früher die Gebetskämmerchen, in welche man sich zurückziehen konnte. Hier war auch ein 59 P43076_inh_Buch_Staub.indd 59 06.02.15 13:31 schönes Viererzimmer, welches jeweils von Absolventen des letzten Studienjahres bewohnt wurde. In diesem Gebäude sind auch verschiedene sanitäre Einrichtungen untergebracht. Im Untergeschoss waren Viererzimmer eingerichtet. Darüber befand sich eine Mehrzweckhalle. Diese diente vom Frühjahr bis Herbst für Konferenzen, Tagungen und natürlich die jeweilige Einsegnung der «Brüder», wie wir Studenten genannt wurden. Ich war also «Bruder Staub». Zufälligerweise hiess der damalige Chrischonadirektor ebenfalls Staub. Das «Haus zu den Bergen» war einerseits ein Ferienheim. Andererseits befand sich hier die Bibelschule für Töchter. Dann gab es noch ein gut besuchtes Restaurant, die sogenannte «Kaffeehalle». Diese wurde von einem tüchtigen Ehepaar geführt. Besonders an den Wochenenden arbeiteten dort Studenten aushilfsweise in der Küche, im Office, am Buffet und natürlich im Service. Ich war jedes Mal froh, wenn ich zum Service-Dienst eingeteilt wurde, denn das jeweilige Trinkgeld durften wir unter uns aufteilen. Nebst diesem Arbeitsbereich waren wir Studenten noch im Landwirtschaftsbetrieb, den Obstanlagen und der Gärtnerei tätig. Weitere Arbeits-Domänen für Studenten befanden sich unter anderem in der Bäckerei, der Buchbinderei, Schusterei und der Schreinerei, für welche man während den beiden ersten Studienjahren täglich zwei Stunden, in den beiden folgenden eine Stunde pro Tag Tätigkeiten verrichtete. Dem Chrischonawerk war auch der ausgedehnte Komplex des Diakonissenwerkes mit der Ausbildungsstätte und dem Pflegeheim angegliedert. Zum Glück war das Bauen auf dem ganzen Hügel untersagt worden. Trotzdem wurde dann später, nach meiner Studienzeit, ein riesiger Fernsehturm errichtet. Da dieses Bauwerk der Allgemeinheit dienlich sein sollte, wurden alle Einsprachen abgelehnt. 60 P43076_inh_Buch_Staub.indd 60 06.02.15 13:31 Mein Bruder will nicht Bauer werden Bereits während der Weihnachtsferien 1954 hatte mein Bruder, welcher das letzte Schuljahr besuchte, erklärt, er wolle nicht Bauer werden. Unmittelbar bevor ich nach St. Chrischona zurückkehrte gab es noch ein diesbezügliches Gespräch. Mein Vater erklärte: «Wenn niemand von der Familie «bei der Scholle bleibt», werden wir wahrscheinlich den Betrieb nicht weiterführen. Wie gut konnte ich das verstehen! Meine liebe Mutter hatte schon viele Jahre zu streng arbeiten müssen. Weil mich diese Angelegenheit sehr beschäftigte, schrieb ich meinem Bruder einen Brief. Ich legte ihm dar, dass wir Kinder riskierten, unser Zuhause zu verlieren, wenn er der Landwirtschaft den Rücken kehrte. Und das wäre doch wirklich sehr schade. Ich schrieb ihm unter anderem: «Ich verstehe Dich, dass Du nicht möchtest, dass Deine zukünftige Frau sich einmal so «abrackern muss» wie unsere Mutter. Aber Du weißt ja, dass unser Vater bereits schon vor ein paar Jahren einen anderen, ebenen und grösseren Hof erwerben wollte. Du hast ja kaum eine Ahnung, wie das sein würde, einen solchen Betrieb bewirtschaften zu können. Ich bitte Dich, wage wenigstens den Versuch: Geh in die welsche Schweiz und absolviere dort auf einem Bauernhof ein landwirtschaftliches Lehrjahr. Wenn es Dir dann wirklich nicht zusagt, kannst Du immer noch etwas anderes lernen» Zu meiner grossen Erleichterung, war mein Bruder dazu bereit. Dann wurde vereinbart, dass er bei meinem ehemaligen Meister, dem Onkel von Jeanne-Marie, das landwirtschaftliche Lehrjahr absolvieren kann. Wieder einmal lobte und dankte ich unserem Herrn für sein treues Führen. Sein Zuspruch gilt immer wieder neu: «Bemüht euch um das Reich Gottes und lebt nach Gottes Willen. Dann wird Gott euch mit allem anderen versorgen.» (Matth. 6,33) Langsam neigte sich mein erstes Studienjahr dem Ende zu. Ich konnte die ganzen Semesterferien wieder zu Hause verbringen. Mein Bruder befand sich im Lehrjahr. Obschon meine jüngere Schwester zu Haus mithalf, war 61 P43076_inh_Buch_Staub.indd 61 06.02.15 13:31 während den intensiven Sommer- und Herbstmonaten meine Arbeitskraft auf dem elterlichen Hof sehr willkommen. Diese Mithilfe war ein Dank dafür, dass die Eltern meine Ausbildung finanzierten. 62 P43076_inh_Buch_Staub.indd 62 06.02.15 13:31 Unsere Freundschaft vertieft sich Bereits während der zweiten Hälfte meines ersten Studienjahres hatte sich meine Freundschaft mit Jeanne-Marie gefestigt. Hie und da machte ich bei ihr zu Hause einen Besuch. Mit der Lambretta holte ich sie auf dem Postamt ab und brachte sie zu Arbeitsbeginn wieder hin. Hatte sie manchmal zwei, oder sogar drei Tage frei, kam sie meistens zu uns nach Hause. Hier konnte sie sich besser erholen als daheim in Hauterive. Dann vereinbarten wir, dass Jeanne-Marie, ihre Ferien bei uns verbringen konnte. Schon Wochen im Voraus schrieb ich meinem Schatz: «Ich vermag meine Vorfreude auf diese zwei Wochen nicht in Worte zu fassen... Das werden Tage der Freude, des Glücks, aber auch des Segens sein. An Gottes Segen ist alles gelegen. Wir wollen dann auch die Gemeinschaft mit unserem Herrn und Erlöser pfleJeanne-Marie, mein Schatz! gen. Es sollen nicht nur Tage der Freude und des Glücks werden, sondern auch Tage der Heiligung für unser Leben und das wird dann bleibende Freude geben...» Mit Datum vom 20. Juni 1955 schrieb ich unter anderem: «Oh, es kommt mir wie ein Traum vor, dass ich einen Teil der Ferien mit Dir verbringen kann. Geht es Dir auch so? Ja das werden, so Gott will, wunderschöne Tage werden.» Tatsächlich waren diese zwei Wochen eine reich gesegnete Zeit. Jeanne-Marie konnte diese Tage richtig geniessen und sich auch ein wenig erholen. Das hatte sie auch dringend nötig! Die fortwährende Überbeanspruchung und die Tatsache, dass sie zu Hause kein eigenes Zimmer hatte, machten ihr zusehends Mühe. 63 P43076_inh_Buch_Staub.indd 63 06.02.15 13:31 Im darauffolgenden August wurde unsere Beziehung mit einer Krise überschattet. Mein Liebling war plötzlich so launisch und unberechenbar. Sie zog sich wie in ein «Schneckenhaus» zurück. Im Nachhinein konnte sie sich selber nicht verstehen und litt unter echter Bekümmernis. Sie schrieb mir: «Ich kann Dir versichern, dass diese Prüfung mir gut getan und mich reifer gemacht hat. Meine Liebe zu Dir ist stärker geworden. Mit Gottes Hilfe will ich meine Verhaltensweise korrigieren und Dir viel mehr Zärtlichkeit erweisen. Hilf mir bitte dabei; Ich liebe Dich so sehr...» Das Liebesdefizit, welches Jeanne-Marie während ihrer Kindheit erleiden musste, zeitigte immer wieder negative Auswirkungen im Blick auf unsere Beziehung. Ihre seelischen Verletzungen machten sich beharrlich bemerkbar. Einerseits war sie anlehnungsbedürftig, aber irgendwie unzugänglich. 64 P43076_inh_Buch_Staub.indd 64 06.02.15 13:31 Das zweite Studienjahr Im Herbst 1955 begann mein zweites Studienjahr. Nun hiess es, sich wieder ganz der Ausbildung zu widmen. Einmal pro Woche besuchte ich den Klavierunterricht. Oft spielte ich geistliche Lieder und begleitete sie mit meinem Gesang. Es konnte vorkommen, dass mich Mitstudenten deswegen neckten, was mich befremdete. Vor allem in der Klasse des letzten Studienjahres waren ein paar «modernistisch eingestellte» Brüder. Wöchentlich hatte einer von ihnen vor der Hausgemeinde eine Predigt zu halten. Als sich dann ein Student anmasste, in seiner Predigt die Frage zu stellen, ob in gewissen Vorlesungen nicht manchmal «leeres Stroh gedroschen» werde, kam es zum Skandal. Bald einmal wurde offensichtlich, dass dieser Student von der Bibelschule verwiesen würde. Da nützte auch eine Solidaritätskundgebung vieler Mitstudenten nichts. An einer sogenannten «Vollversammlung» erläuterte unser Ethikprofessor Dr. Schick, dass ein solches Verhalten taktlos sei und auf keinen Fall geduldet werde. Dann fiel der schwerwiegende Satz: «Eher trennen wir uns von Brüdern, welche sich freidenkerisch mit dem Fehlverhalten des Beschuldigten solidarisieren, als dass wir so etwas hinnehmen.» Damit war der Vorfall besiegelt und der fehlbare Student wurde entlassen. Dieses Vorkommnis hat mich in meiner eher «fundamentalistischen» Glaubenseinstellung bestärkt und gefestigt. Während des zweiten Studienjahres war es mir möglich, eine Reise in den Nahen Osten zu unternehmen. Diese Studienreise, begleitet vom bekannten Theologieprofessor Zimmerli, war ein Höhepunkt während meiner Ausbildung. Zuerst ging es in den Libanon, dann in die riesige Ruinenstadt Baalbek. Diese antike Heliopolis wurde durch hunderttausend Sklaven von den Römern im Baakatal erbaut. Der Sonnentempel war ihr Wahrzeichen gewesen. Die zwölf Meter hohen Säulen aus einer speziellen Sorte Marmorstein, welcher nur in Ägypten vorkommt, sind einmalig. Sie wurden im Lande Hams zubereitet, danach über den Nil und das Mittelmeer nach Beirut transportiert. Dann wurden sie über das Libanongebirge nach Baalbek gerollt. Über Damaskus kamen wir nach Jordanien. Hier besuchten wir die bekanntesten biblischen Ortschaften, darunter die Altstadt Jerusalem, Bethlehem, 65 P43076_inh_Buch_Staub.indd 65 06.02.15 13:31 Nazareth, Hebron und Beersheba. Damals gehörten diese Orte zum Königreich Jordanien. Jerusalem war durch das sogenannte Niemandsland zweigeteilt. Man konnte nur vom jordanischen Teil Jerusalems, an einem einzigen Grenzübergang, nach Israel gelangen. Ein Zurück war ausgeschlossen. Mein Aufenthalt an jenen Stätten und Pfaden, an denen die Erzväter, die Propheten, die Israeliten und vor allem Jesus gelebt hatten, war einzigartig, ganz einfach phantastisch! Dass ich mich im Heiligen Land, mit seiner bewegten Geschichte befand, überwältigte mich zutiefst. Ganz besonders herzbewegend erlebte ich den Besuch des Ölberges, des Gartens Gethsemane und natürlich die Wanderung über die Via Dolorosa nach Golgatha. Die kompetenten, biblisch fundierten Kommentare von Professor Zimmerli bereicherten mein theologisches Verständnis der Heiligen Schriften wesentlich. Vieles wurde hier an Ort und Stelle der biblischen Stätten viel fassbarer und substanzieller gemacht In der Folge konnte ich das Erlebte durch mehrere Lichtbilder-Vorträge in verschiedenen Gemeinden sowie auf Chrischona darbieten. Gegen Ende des zweiten Studienjahres machte ich die Bekanntschaft mit Pfarrer Fotsch aus Zürich. Dieser hatte einen Filmverleih ins Leben gerufen. Die Möglichkeit, Filme im Reich Gottes einzusetzen, interessierte mich sehr. Mir wurde eine komplette Filmausrüstung zur Verfügung gestellt. Voraussetzung war jedoch der Besitz eines Autos, um diese transportieren zu können. Da Jeanne-Marie eine kleine Erbschaft erhalten hatte, stellte sie mir dieses Geld zur Verfügung, so dass ich mir einen VW-Käfer anschaffen konnte. Damit begann meine Mitarbeit in der Filmmission. An den Wochenenden hatte ich nun oft Filmvorführungen in verschiedenen Gemeinden und kirchlichen Kreisen, wochentags sogar in Schulen. Im Kanton Bern machten mir die Behörden jedoch Schwierigkeiten bezüglich der Bewilligung. In Basel konnte ich dann aber – dank guten Beziehungen – die Prüfung als Film-Operateur ablegen. Dieser anerkannte Ausweis half mir, diese Schwierigkeiten auszuräumen. Dank dieser Beschäftigung konnte ich meinen Lebensunterhalt fortan selber bestreiten. Meine Mitarbeit in der Filmmission wurde sehr geschätzt, besonders als der erste Billy-Graham Film erworben wurde. Ich konnte erreichen, dass die Ansprache von Billy Graham, simultan per Magnettonspur, auf die Filmrolle kam. 66 P43076_inh_Buch_Staub.indd 66 06.02.15 13:31 Freilich machte sich bei mir die zusätzliche Belastung bemerkbar. Ich war oft übermüdet. Doch bald waren die Sommerferien in Sicht. Zu Beginn derselben hatte ich in Basel einen grossen Saal gemietet, um den erwähnten Billy-Graham Film: «Menschen der Ölstadt» zu zeigen. Auf dem Gepäckträger meines VW-Käfers hatte ich eine Art Holzkiste installiert. Auf derselben luden Plakate zu diesem Event ein. Während drei Tagen war der Wettsteinsaal Abend für Abend mit mehr als vierhundert Personen voll besetzt, sogar überfüllt, so dass Leute keinen Platz mehr fanden. Die Ferien verbrachte ich wieder zu Hause. Während dieser Zeit veranstaltete ich immer wieder Filmvorführungen. Vor allem konnte ich die wissenschaftlich interessanten Moody-Filme öfters in Schulen vorführen. Die Filme beinhalteten interessante wissenschaftliche Fakten zum Beispiel über das Universum, die Tierwelt den menschlichen Körper. Der Film: «Wenn die Steine schreien» behandelte biblische Fakten und zeigte eindeutlich wie authentisch und zeitnah die Bibel ist. Wenn möglich hatte ich noch gleichentags eine öffentliche Abendveranstaltung, aber diese waren nicht immer gut besucht. In Ütendorf, nahe bei Thun, kamen einmal gerade 7 Personen. Deshalb fing ich an, Kirchen und christliche Gemeinden einzubinden, damit dies bei der Bewerbung und Organisation der Filmanlässe mit hand anlegten. Trotz vielseitiger Beanspruchung nahmen Jeanne-Marie und ich jede Gelegenheit wahr, uns zu treffen, mindestens ein bis zweimal pro Monat. Meine Eltern hatten im Wohntrakt unseres Bauernhauses ein Besuchszimmer eingerichtet. Unsere Beziehung bedeutete nicht immer nur Sonnenschein. Meiner lieben Jeanne-Marie wurde mehr und mehr bewusst, dass sie emotional wirklich ein grosses Defizit aufwies. Sie hatte Mühe, mir ihre Zuneigung und Liebe zu zeigen. In ihren Briefen konnte sie sich am besten ausdrücken und mitteilen. Verständlicherweise erwartete ich diese immer mit grosser Spannung und Vorfreude. Meistens schrieben wir uns zweimal wöchentlich. Selbstverständlich genossen wir aber am meisten jedes Zusammensein. Einmal unternahmen wir einen Ausflug an den Genfersee und ins Wallis. Via Grimselpass gelangten wir zurück nach Hause. Für den VW-Käfer, welcher mir so gute Dienste erwies, war ich natürlich in solchen Momenten besonders dankbar! 67 P43076_inh_Buch_Staub.indd 67 06.02.15 13:31 Ausflugsfahrt mit dem VW-Käfer Unvergesslich blieb eine zweitägige Bergwanderung auf das Hohtürli. Da wir uns nur mit Nivea Creme eingestrichen hatten, zog sich Jeanne-Marie einen schwerwiegenden Sonnenbrand zu. Als wir zu Hause ankamen, waren ihr Gesicht, die Arme und Beine bereits stark angeschwollen. Die Haut war so stark verbrannt, dass sie sich ablöste! Der Arzt sagte: «Die verwendete Creme hat alles noch viel schlimmer gemacht.» Mit starken Schmerzen und Fieber lag mein Liebling daraufhin eine Woche mit bandagierten Armen und Beinen im Bett. Während den drei ersten Tagen kam unser Hausarzt täglich vorbei, um nachzuschauen, wie es der Patientin erging. Nur langsam erholte sie sich. Bei Jeanne-Marie zu Hause, in Hauterive, war ihre Mutter wegen dieser Situation sehr unzufrieden. Ihr fehlte natürlich die Mithilfe ihrer Tochter während diesen Tagen. 68 P43076_inh_Buch_Staub.indd 68 06.02.15 13:31 Das dritte Studienjahr Bald einmal gingen meine Sommerferien zu Ende. So begab ich mich Anfangs Herbst wieder nach St. Chrischona und nahm das dritte Studienjahr in Angriff. Zu Beginn hatte ich wieder Schwierigkeiten mit dem Lernen. Oft waren die Nächte kurz, weil ich mich bis spät abends und bereits wieder früh morgens mit dem Studium beschäftigte. Doch die Zeit verging relativ schnell. Dazu kam, dass ich eine ganz neue, unerwartete Beschäftigung fand. Ich wurde Mausefänger. Diese Nager verbreiteten sich epidemisch. Davon waren besonders die Obstanlagen betroffen und entsprechend gefährdet. Früh morgens stellte ich die Fallen, mittags und abends sammelte ich die gefangenen Mäuse ein. Sogar unser Direktor nahm einen Augenschein und bedankte sich persönlich bei mir für mein diesbezügliches Engagement. Deswegen war ich wohl in dieser Zeit der Nutzbringendste unter den Studenten. Der Nutzen war auch auf meiner Seite: Die Gemeinde Bettingen bezahlte mir für jede gefangene Maus 50 Rappen. Es kam vor, dass ich pro Tag bis dreissig Franken verdienen konnte. Da drängt sich doch eine Anspielung geradezu auf: Ich fing nicht Fische, sondern Mäuse; und eines Tages würde ich Menschen fangen. (Vergleiche Lukas 5) Dass ich mich sehr früh für Jesus entschieden habe, hat mein Leben nachhaltig beeinflusst und geprägt. Nun hiess es, durch eine gründliche, theologischpraktische Ausbildung persönlich in einer gesunden Spiritualität zu wachsen und zugleich das nötige Rüstzeug zu empfangen, um in diesem Sinne eines Tages im Reich Gottes zu wirken und Mitmenschen zu dienen. Wie ich mich auf diese Zeit schon jetzt freute! Immer wieder hatte ich sehr viel Arbeit. Öfters lernte ich bis gegen Mitternacht. Zum Beispiel fand ich folgende Tagebuch-Notiz vom Donnerstag, den 15. November 1957: «Am Sonntag darf ich Sonntagsschule und einen Gottesdienst halten. Noch habe ich kein Wort zu Papier gebracht. Im Kopf, da hat sich schon einiges vorbereitet. Zuversichtlich weiss ich, dass Gott mir beistehen wird. Nächste Woche muss ich eine Predigt vor den Studenten vortragen. Auch diese Predigt sollte noch ins Reine geschrieben werden.» Inzwischen war es bereits Mitte November geworden. Die Zeit ging so schnell vorbei, und das war gut so! Ich wartete mit Sehnsucht auf den Tag, 69 P43076_inh_Buch_Staub.indd 69 06.02.15 13:31 an dem mein vollzeitlicher Dienst begann, zu dem Gott mich berufen hat: «Christus, den Herrn der Herrlichkeit zu verkündigen. Mit aller Weisheit, die Gott mir geben wird die Menschen zu ermahnen und zu unterweisen, damit jeder Einzelne im Glauben durch die Verbindung mit Christus reif und mündig werde», das würde dann, wie Paulus, dies den Kolosserchristen (Kol. 1,28) geschrieben hatte, auch für mich Verpflichtung und Auftrag sein.» Es war vorgesehen, dass ich nach dem Studium vollzeitlich im Werk der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Bern angestellt sein würde. Schon seit 1955 war ich Mitglied dieses innerkirchlichen Missionswerkes und hatte, wie erwähnt, als Sonntagsschullehrer und in der Jugendarbeit mitgewirkt. Für den letzten Sonntag vor Weihnachten 1957 war ein Besuch meiner Eltern in Hauterive, bei der Familie von Jeanne-Marie, eingeplant. Meine Weihnachtsferien begannen am Freitag davor, den 20. Dezember 1957. An diesem Tag fuhr ich bereits zu Jeanne-Marie nach Hause. Mein Liebling schrieb mit Datum vom 12.12. unter anderem: «Ich hoffe, dass du einen guten Sonntag verbracht hast. Ich habe viel an dich gedacht. Ich freue mich sehr auf den Besuch deiner Eltern am kommenden Sonntag... Noch einige Tage und dann sind wir beisammen. Wie ich mich darauf freue! Heute ist Montag. Du wirst sehen der Freitag ist schnell da. Meine kleinen Geschwister fragen täglich: «Kommt Ruedi heute»? So ungeduldig wirst Du erwartet! Doch die Ungeduldigste bin ich; denn ich freue mich so sehr! Ich liebe dich je länger je mehr, mein Liebling. Meine Gedanken weilen fortwährend bei dir.» Für alle Beteiligten war der Besuch meiner Eltern lohnend und wertvoll. Vor allem meine liebe Mutter konnte sich ein Bild machen, in welchen Verhältnissen ihre zukünftige Schwiegertochter zu Hause lebte. Nach Weihnachten nahm ich den ältesten Bruder von Jeanne-Marie mit zu uns nach Hause. So feierte er den Neujahrstag zusammen mit uns. Jedes Jahr begingen wir den Jahresanfang mit einem Festessen. Dieses fand in der «guten Stube» statt. Der Tisch war schön zurechtgemacht und mit reich verziertem, altem Tafelgeschirr gedeckt. Als Vorspeise kam Lammvoressen mit wunderbarem Zopf auf den Tisch. Als Hauptspeise eine reich ausgestattete Bernerplatte. Dazu Getränke, für die Erwachsenen Wein. 70 P43076_inh_Buch_Staub.indd 70 06.02.15 13:31 Das gleiche Essen gab es noch ein zweites Mal im Jahr, und zwar immer, nachdem die Ernte eingebracht war. Diese Feierlichkeit nannte man die «Sichlete», ein Erntedankfestessen. Das war jeweils ein richtiger Höhepunkt im Jahresablauf. 71 P43076_inh_Buch_Staub.indd 71 06.02.15 13:31 So kann es nicht weitergehen Leider war Jeanne-Marie fortwährend sehr müde und hatte oft Kopfschmerzen und «kränkelte». Meiner Mutter war schon lange bewusst, dass ihre zukünftige Schwiegertochter überbeansprucht war, ja sogar ausgenutzt wurde. Jeanne-Marie hatte oft Nachtschicht und zwar von 18.00 und 08.00 Uhr. Wie bereits erwähnt teilte sie ihr Zimmer mit drei Schwestern. Auch ihr Bett teilte sie mit einer Schwester. Ihr fehlte selbstverständlich die nötige Ruhe tagsüber. Dazu kam, dass sie zu Hause viel mithelfen musste. Natürlich war ihre Mutter nach acht Geburten innerhalb von fünfzehn Jahren ebenfalls überfordert und oft unpässlich. Nur ganz selten beklagte sich mein Schatz über den Zustand bei ihr zu Hause. Doch war sie manchmal sehr traurig und unglücklich, weil sich all das auch negativ auf unsere Beziehung auswirkte. Hier ein Auszug aus einem sechsseitigen Brief: «Oh! du bist mir in allem so kostbar und ich möchte dir auch in allen Dingen Freude bereiten. Ich weiss, du möchtest, dass einige Dinge anders wären. Zum Beispiel, dass ich dir gegenüber aufgeschlossener und zärtlicher sein könnte. Ich verstehe dich voll und ganz. Ich möchte ja auch so sein. Aber ich versuche es zu erklären: Wenn meine Eltern sich viel mehr um mich gekümmert und wir ein wirkliches Familienleben, mit vorhandener Liebe erfahren hätten, wäre ich sicher anders. Aber bei uns war es nicht üblich, Gefühle zu zeigen. Darum habe ich mich immer mehr abgekapselt... Das will aber nicht sagen, dass ich nicht einfühlsam sein kann. Im Gegenteil, in meinem tiefsten Sein fühle ich alles sehr wohl. Ich bin wirklich ein sensibles Mädchen, sogar mehr als die anderen. In meinem tiefsten Inneren haben alle kleinen und grossen Freuden, welche du mir bereitet hast, immer ein Glücksgefühl ausgelöst. Ich würde so gerne viel offener sein, habe mir das immer gewünscht. Ich verstehe gut, dass du möchtest, dass ich besser mitteilen könnte, was ich empfinde. Das wäre natürlich und normal. Oh! Mein Liebling hilf mir, dass ich mich ganz öffnen kann. Ich weiss, dass es kommen wird, langsam und sachte. Aber es braucht viel Geduld. Ich hoffe, dass du mich verstehen kannst. Jetzt war ich zu dir wirklich offenherzig 72 P43076_inh_Buch_Staub.indd 72 06.02.15 13:31 und ich hoffe, dass du mich verstehst. Ich wiederhole es noch einmal: Mein Wunsch ist es, dir alles, was in meinem tiefsten Herzen ist, mitzuteilen und dir gegenüber viel zärtlicher zu sein... Ich will das, aber jetzt verstehst du, weshalb das für mich schwierig ist ...» Etwas später kam mein Schatz noch einmal auf diese Angelegenheit zurück. Sie schrieb mir so offenherzig und zärtlich, dass mein Herz vor Freude und Dankbarkeit jubelte. Dann eröffnete sie mir folgendes: «Ich habe Angst, dass wir, wenn wir so zärtlich zueinander sind, eines Tages « zu weit gehen», und das nachher bereuen. Auch bin ich mir nicht sicher, dass ich die Kraft hätte zu widerstehen.» Dass mein Liebes diese Gedanken im Brief und nicht mündlich äusserte war typisch für sie. Ich war jedoch sehr dankbar, dass sie es überhaupt mitteilen konnte. Dankerfüllt darf ich bekennen, dass ich diesbezüglich wirklich nie das geringste Problem hatte. Niemals war ich versucht gewesen, mit Jeanne-Marie vor der Ehe zu schlafen. Für mich war das ein absolutes Tabu. Während unserer langen Freundschafts- und Verlobungszeit hätte es an diesbezüglichen Gelegenheiten wirklich nicht gefehlt. Dass ich in dieser Hinsicht nicht ein einziges Mal in Versuchung geraten bin, erfüllt mich noch heute mit grosser Dankbarkeit. Dazu hat sicher, nebst der Bewahrung durch Gott, auch beigetragen, dass mein Schatz mir im besagten Brief geschrieben hat, sie wolle sich in dieser Beziehung keine Sorgen mehr machen und mir einfach ganz vertrauen. 73 P43076_inh_Buch_Staub.indd 73 06.02.15 13:31 Unsere Verlobung und «das Danach» Ein Höhepunkt war die Verlobung mit Jeanne-Marie am Ostertagsonntag 1957. Es war ein herrlicher, sonnenreicher Frühlingstag. Ich war dreiundzwanzig und meine Braut neunzehn Jahre alt. Diese Feier fand bei uns zu Hause im Burgiwil statt. Es war ein wunderbares Familienfest. Nebst den Angehörigen meiner zukünftigen Frau, waren auch ihr Onkel und die Tante, bei denen sie als Säugling gewesen war, anwesend. Eine Cousine aus Genf und sogar ihr Grossvater, der Vater ihrer leiblichen Mutter, sowie der Vater ihrer Stiefmutter waren da. Unserer Verlobung, rechts von uns meine Eltern links diejenigen von Jeanne-Marie sowie ihr Grossvater mütterlicherseits. Nebst meiner ganzen Familie, nahmen mein Götti, sowie ein Studienfreund an der Feier teil. In unsere goldenen Ringe hatten wir die Bibelstelle Römer 8,28-39 eingravieren lassen wo es unter anderem heisst: «Das eine aber wissen wir: Wer Gott liebt, dem dient alles, was geschieht, zum Guten. Dies gilt für alle, die Gott nach seinem Plan und Willen zum neuen Leben erwählt hat. Wen Gott nämlich auserwählt hat, der ist nach seinem Willen auch dazu bestimmt, seinem Sohn ähnlich zu werden, damit dieser der Erste ist unter vielen Brüdern und 74 P43076_inh_Buch_Staub.indd 74 06.02.15 13:31 Schwestern. Und wen Gott dafür bestimmt hat, den hat er auch in seine Gemeinschaft berufen; wen er aber berufen hat, den hat er auch von seiner Schuld befreit. Und wen er von seiner Schuld befreit hat, der hat schon im Glauben Anteil an seiner Herrlichkeit.» Unser Wunsch war es, dass dieser Text unser Leben begleiten und bereichern möge! Unsere Verlobung Nun waren wir also verlobt. Doch auf St. Chrischona hatte ich der Direktion diesbezüglich nichts mitgeteilt. Deswegen machte mir ein Freund aus der ersten Studienklasse Vorhaltungen. So nahm ich allen Mut zusammen und teilte dem Direktor mit, dass ich mich verlobt habe. Anstatt mich zu tadeln, erklärte er: «Da Sie ja Gastschüler sind, stellt dies kein wirkliches Problem dar». Wie erwähnt, war meine liebe Mutter bezüglich des Ergehens von Jeanne-Marie besorgt. Das Wohlergehen ihrer zukünftigen Schwiegertochter beschäftigte sie zunehmend. Ihr war bewusst geworden, dass es so nicht weiter gehen konnte. «Da musst du unbedingt etwas unternehmen», sagte sie eines Tages zu mir. Nach eingehenden Gesprächen sahen wir die Lösung darin, dass Jeanne-Marie von zu Hause wegziehen soll. Am besten wäre es, wenn sie in die deutschsprachige Schweiz versetzt würde. Dies schien auch deshalb wünschenswert, weil sie als zukünftige Frau eines Pfarrers die deutsche Sprache, insbesondere die Mundart, beherrschen sollte. Mit Hilfe des Hausarztes, welchem die Sachlage von Jeanne-Marie bekannt war, und einem Gesuch bei der PTT-Direktion versuchten wir eine Lösung 75 P43076_inh_Buch_Staub.indd 75 06.02.15 13:31 zu finden. Unerwartet rasch bahnte sich diese an: Jeanne-Marie sollte nach Chur versetzt werden. Doch ihre Mutter stellte sich vehement gegen diese Veränderung. Als ehemalige PTT Angestellte hatte sie gute Beziehungen. Sie konnte bewirken, dass ihre Stieftochter vom Nachtdienst befreit und die Versetzung rückgängig gemacht wurde. Leider war das aber keine wirkliche Entlastung. Bei Frühschicht musste Jeanne-Marie weiterhin bereits um 06.00 Uhr die Arbeit beginnen. Die Spätschicht konnte bis 22.30 Uhr dauern. Bald darauf erlitt mein Liebling einen gesundheitlichen Zusammenbruch. Der Arzt verordnete für sie vollkommene Ruhe. Da Jeanne-Marie nicht einmal schreiben durfte, diktierte sie ihrer Schwester eine kurze Mitteilung an mich. Natürlich lag es auf der Hand, dass sie in ihrer familiären Situation nicht die nötige Ruhe hatte. Deshalb unternahm ich sofort alles, damit Jeanne-Marie zu meinen Eltern gehen konnte. Selbstverständlich war der Hausarzt einverstanden und erstellte die nötigen Bescheinigungen. Erstaunlicherweise erholte sich Jeanne-Marie innerhalb von drei Wochen so gut, dass sie im Stande war, die Arbeit bei der PTT wieder aufzunehmen; freilich vorerst nur zu 50 %. Doch wurde bald offenkundig, dass eine radikale Lösung erforderlich war. Das hatte nun auch ihre Mutter erkannt. Dank ihren Beziehungen erwirkte sie, dass Jeanne-Marie forthin im Sekretariat und zu normalen Bürozeiten arbeiten konnte. Bereits während des dritten Studienjahres hatte ich einmal monatlich einen Gottesdienst in einer christkatholischen Gemeinde im Kanton Baselland zu halten. Während den letzten Semesterferien absolvierte ich dann ein Praktikum im Jugendheim Aeschi bei Spiez. Auf verschiedenen Aussenposten im Berner Oberland hielt ich Gottesdienste und lernte sehr liebe Leute kennen und bekam so bereits einen Vorgeschmack dessen, was mich nach dem Studienabschluss erwartete. Im Jugendheim war ich zeitweise damit beschäftigt, in einem alten Bauernhaus am Innenausbau zu arbeiten. Diese abwechslungsreiche Zeit ist mir noch heute in lebhafter Erinnerung. Während den Sommerferien fanden hier Kinderlager statt. Da zeigte ich jeweils an einem Abend den genialen Kinderfilm mit dem Titel: «Aschki». 76 P43076_inh_Buch_Staub.indd 76 06.02.15 13:31 Bibelschule für meine zukünftige Frau mit Folgen Nun bahnte sich auch für meine zukünftige Frau eine tiefgreifende Veränderung an. Sie wollte im Herbst 1957 die Bibelschule der Mennoniten, auf dem Bienenberg bei Liestal absolvieren. Nachdem ich mein letztes Studienjahr aufgenommen hatte, begann meine Braut ihrerseits etwas später diese Bibelschule. Es war vorgesehen, dass sie den deutschsprachigen Unterricht besuchen sollte. Und so kam es auch. Doch stellte sich bald heraus, dass dies eine beachtliche Herausforderung war. Besonders in den theologischen Fächern hatte sie zuerst wegen der Sprache Mühe. Nun befanden wir uns nur 30–40 Autominuten von einander entfernt. Trotzdem sahen wir uns nicht öfter als vorher. Jeanne-Marie war stark beansprucht und hatte offensichtlich weniger Zeit, an mich zu denken und mir zu schreiben. Immer wieder zeitigten sich bei mir Probleme mit meinen Mandeln. Oft waren sie entzündet und vereitert. Diesbezüglich war ich bei einem Spezialisten in Behandlung. So auch wieder einmal anfangs November 1957. «Jetzt ist es unumgänglich», sagte der Arzt: «Ich muss die Mandeln operativ entfernen. Ich melde sie gleich im Bethesdaspital in Basel an». Am 20. November wurde ich operiert. Durch die steten Endzündungen waren Verwachsungen entstanden, was den Eingriff erschwerte und es stark blutete. In der folgenden Nacht konnte ich kaum schlafen. Bei der Arztvisite sagte dann der Chirurg: «Das war keine einfache Operation. Zum Glück haben wir vor dem Eingriff gebetet, aber jetzt wird alles gut!» Am Sonntag kam mich Jeanne-Marie besuchen. Da mein «Götti» im Spital arbeitete und ganz in der Nähe wohnte, konnte sie dort einkehren. Hier konnten wir einander auch ungestört treffen. Wie köstlich waren für uns diese Stunden! Oder waren sie dies eventuell nur für mich, frage ich mich hinterher. Zur Wochenmitte konnte ich die Klinik verlassen. Das Bethesda ist eine christliche Klinik. Als Chrischonastudent war für mich der Spital- 77 P43076_inh_Buch_Staub.indd 77 06.02.15 13:31 aufenthalt gratis. Auch der Professor stellte mir keine Rechnung. Das waren wirklich grosszügige und willkommene Geschenke! Am 26. November fuhr ich zur Erholung für einige Tage nach Hause. Am 27. / 28. November schrieb ich meinem Schatz einen sechsseitigen Brief. Hat vielleicht gerade dieser Brief, voller überschwänglicher Zärtlichkeit, gespickt mit Koseworten meine Absicht und meine Erwartungen verfehlt? Ich ahnte nicht, dass bald Schlimmes geschehen würde! Anfangs Dezember kehrte ich gestärkt nach St. Chrischona zurück. Nebst dem Studium warteten auch praktische Einsätze auf mich, vor allem in Biel-Benken. Manchmal war ich hier, nachdem ich den Morgengottesdienst abgehalten hatte, bei einer Familie Bürgin zum Essen eingeladen. Für den ersten Adventssonntag hatte ich eine Adventsfeier organisiert. Auch die Sonnatgsschule wirkte mit, und vor allem war auch meine Braut anwesend. Es war ein wirklich schönes, wertvolles Fest. Auf der Rückfahrt eröffnete mir mein Schatz «wie aus heiterem Himmel», dass sie die Verlobung auflösen möchte. «Was sagst du da, das ist doch nicht dein Ernst!» rief ich. «Doch Ruedi, es ist mir ernst», antwortete meine Braut. Ich war bestürzt, wie vom Donner gerührt. Ich lenkte das Auto auf den Strassenrand hinaus. «Was ist denn los? Liebst du einen anderen?» – «Nein, eigentlich nicht», – »Was heisst das, eigentlich nicht? Bist du in einen eurer Studenten verliebt»? «Nein, aber einige sind so zuvorkommend und unglaublich aufmerksam und liebenswürdig. Da ist vor allem ein Südamerikaner, der trägt mich geradezu auf den Händen!» «Und ich? Trage ich dich nicht in meinem Herzen? Wie oft habe ich dir bezeugt, dass du mein ein und alles bist! Und du, wie oft hast du mir geschrieben, dass du dich so sehr auf unsere Vermählung freust und diesen Tag fast nicht erwarten kannst? Und jetzt das! Unmöglich, das darf doch nicht wahr sein»! «Aber es ist einfach so, es tut mir so leid»! Ich war bestürzt, fassungslos, verletzt und unendlich traurig! Offensichtlich war da ein Südamerikaner, ein amischer Mennonit, der Jeanne-Marie umschwärmte. Sie hatte mir berichtet wie er ihr immer den Stuhl zurechtrückte, bevor sie sich hinsetzte usw. Ich hatte mir darüber keine weiteren Gedanken gemacht. Von Eifersucht keine Spur. Ich war mir unserer gegenseitigen Liebe so sicher gewesen. 78 P43076_inh_Buch_Staub.indd 78 06.02.15 13:31 Es musste doch einfach möglich sein, meine Braut Kraft meiner Liebe und Zuneigung zurückzuholen! Aber nun hatte sie bereits den Ehering abgestreift und hielt diesen in der Hand, um ihn mir zurückzugeben! Ich war unbeschreiblich bekümmert und seelenwund! Ausser mir, sagte ich kurzentschlossen folgendes: « Wenn du jetzt wirklich unsere Verlobung auflösen und mir den Ring zurückgibst und ich dir den meinen ebenfalls geben muss, bitte ich dich auszusteigen. Aber dann musst du selbst schauen, wie du auf den Bienenberg zurückkommst. Ich werde dich nicht hinfahren! Nur wenn wir die Eheringe noch behalten, über unsere Beziehung beten und uns Zeit lassen, zum Nachdenken, fahre ich dich zurück.» Ich stieg aus dem Auto, ging zur Beifahrertür, öffnete diese und sagte: «Wenn das wirklich dein Ernst ist, und du von mir nichts mehr wissen willst, dann komm schon, steig aus!» Und dann verliess sie tatsächlich das Auto. In meiner Frustration und Verzweiflung wolle ich wissen: «Und wie kommst du jetzt auf den Bienenberg zurück?» Kaum hörbar gab sie zur Antwort: «Ich weiss es nicht.» Ich fuhr fort: «Nimm doch mein Angebot an: Lass uns Zeit, zum Beten und uns Beraten». Was war der Grund für Jeanne-Maries anschliessende Reaktion: Die Kälte? Unsicherheit? Schuldgefühle? Doch noch Liebe? Mein Ultimatum? – Vielleicht von allem etwas. Am meisten war es sicher die Gnade Gottes, dass sie sich wieder ins Auto setzte. Fassungslos, aber doch ein wenig hoffend brachte ich meine Braut zurück auf den Bienenberg. Aus dem Geleise geworfen, hatte ich sogar die Sprache verloren! Aber vielleicht war das gut so. Was gab es da noch zu sagen?! Umso erstaunlicher war es, dass meine Braut innerhalb weniger Tage eine totale Kehrtwende und einen Sinneswechsel vollzog. Mein Verhalten hatte sie ebenfalls verletzt, aber wahrscheinlich trotz allem dazu beigetragen, dass sie zur Besinnung und Ernüchterung kam. Mit Datum vom 12.12.1957 erhielt ich einen Brief von ihr, den ich gleich beantwortete. Ich schrieb: «Meine innigstgeliebte Jeanne-Marie! Ganz bestimmt erwartest du von mir einen Brief. Für denjenigen von dir, den ich heute Morgen erhalten habe, danke ich dir vielmals. Zuerst wurde ich dadurch noch verwirrter. Nun ist aber langsam eine bemerkenswerte 79 P43076_inh_Buch_Staub.indd 79 06.02.15 13:31 Ruhe über mich gekommen. Dafür bin ich sehr dankbar! Denn ich hätte es unmöglich mehr ausgehalten. Ich war völlig verzweifelt! Ich sah keinen Ausweg mehr. Beinahe alle Hoffnung hatte mich verlassen. Ich fühlte nur noch Nacht und Kälte». Der Gedanke, dass es dir ähnlich ergehen würde, war furchtbar. Bis vor ein paar Stunden hätte ich noch nicht sagen können: «Ich will dir vergeben und vergessen.» Aber nun kann ich es und zwar von ganzem Herzen. Und ich glaube, auch Gott hat uns vergeben. Nun möchte ich dich, meine liebste Jeanne-Marie, meinerseits um Verzeihung bitten. Ich weiss, dass ich dich verletzt habe. Du bist auch beleidigt, weil ich mein Herz bei meiner Mutter ausgeschüttet habe. Aber ich konnte nicht anders: Ich «war am Ende». Mein Innerstes war völlig zerrüttet. Es ist mir nicht möglich, zu schildern, was für furchterregende Gedanken in meinem Herzen Einlass finden konnten. Am Sonntag hoffte ich so sehnsüchtig auf einen Sinneswandel von dir, bis zu dem Moment wo ich dir auf Wiedersehen gesagt habe... Wie sehr habe ich gehofft, du würdest sagen, dass du bei mir bleiben willst. Doch da war alle Hoffnung weg und ich war allein, allein mit der «eiskalten» Realität. So zumute war es mir noch nie in meinem Leben! Ich schrie nachher im Auto vor Verzweiflung und Einsamkeit... Am Telefon hast du mir dann doch ein wenig Hoffnung gemacht. Aber gell, mein Liebstes, wir wollen jetzt nicht mehr traurig sein. Es ist, als hätte ich dich wiedergefunden. Ich habe vor allem etwas gefunden in dir: Offenheit. Diese Offenheit, die aus deinem Brief strahlt, ist etwas vom Grössten für mich im ganzen Brief. Wie glücklich bin ich, dass du mit mir über alles sprechen willst. Ja, meine liebste Jeanne-Marie, wir werden einander sehr viel zu sagen haben. Hoffentlich ist unsere Liebe durch diese Bekümmernis gewachsen und reifer geworden! Dir, von dieser Liebe die Fülle sendend, umarme ich dich ganz innigst zart und sende dir viele warme Küsse, Dein Ruedi, der dich ganz fest liebt, wieder glücklich ist und viel an dich denkt.» Hier noch ein Text, den ich meiner Braut mit diesem Brief geschickt habe: 80 P43076_inh_Buch_Staub.indd 80 06.02.15 13:31 Ich will den Herrn loben alle Zeit. Sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein. Meine Seele soll sich rühmen des Herrn. Preise mit mir den Herrn. Lasst uns miteinander Seinen Namen erhöhen! Da ich den Herrn suchte, antwortete er mir und errettete mich aus aller meiner Furcht. Welche auf Ihn sehen, die werden erquickt, und ihr Angesicht wird nicht zu Schanden. Der Engel des Herrn lagert sich um die her, so Ihn fürchten, und hilft ihnen aus. Schmecket und sehet wie freundlich der Herr ist. Wohl dem, der auf Ihn traut! Fürchtet den Herrn, ihr Seine Heiligen, denn die Ihn fürchten, haben keinen Mangel an irgendeinem Gut. (Psalm 34,1-11) Vier Tage später schrieb ich noch einmal und legte dem Brief eine Karte bei, auf der betende Hände abgebildet waren mit dem Bibelwort aus Jakobus 1,6, wo stand: Zweifle nicht! Der Brief begann mit: «Meine innigst geliebte Jeanne-Marie, Als ich dieses erste Wort der Anrede – Meine – schrieb, durchströmte mich ein so glückseliges Gefühl; denn ich weiss: Du bist ganz neu MEIN. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was dieses eine Wort für mich bedeutet, mein Liebes ...» Es war ganz einfach erstaunlich und ein Gnadengeschenk Gottes, dass wir uns innerhalb so kurzer Zeit wiederbekommen und unser Verlöbnis erneuern konnten! 81 P43076_inh_Buch_Staub.indd 81 06.02.15 13:31 Die letzten Weihnachtsferien zu Hause und Umzug meiner Familie ins Waadtland Nun vereinbarten wir, die zwei Wochen Weihnachtsferien bei uns zu Hause zu verbringen. Zugleich würden dies die letzten Wochen sein, zusammen mit meinen Eltern, im trauten Heim, im Gürbetal, wo ich meine Kindheit und Jugendzeit zugebracht hatte. Unser Zuhause im Winter mit dem «legendären» Birnbaum Bereits im vergangenen Herbst hatten sich meine Eltern den lang gehegten Wunsch erfüllt und im Waadtland einen Hof gekauft. Damit verwirklichte sich ebenfalls der Traum für meinen Bruder, einmal ein eben gelegenes Heimwesen zu bewirtschaften. So würde unsere Familie nach dreissig Jahren wieder umziehen. Die Weihnachtsferien waren für uns eine gesegnete Zeit. Das sich Mitteilen und Aussprechen tat gut. Sich geistlich neu auszurichten, war ebenfalls segenbringend. Bereits zeichnete sich für unsere Zukunft eine Lösung ab. Im Kanton Bern musste bei der Evangelischen Gesellschaft eine Stelle neu besetzt werden. Der gegenwärtige Amtsinhaber war verwitwet und wurde 82 P43076_inh_Buch_Staub.indd 82 06.02.15 13:31 im Frühjahr pensioniert. Da ich bereits in Aeschi ein Praktikum absolviert hatte, stand meiner künftigen Anstellung nichts im Wege. Bereits vor meiner Einsegnung im Juli 1958, würde ich den vollzeitlichen Dienst als Evangelist in Schwarzenburg aufnehmen. Im März war dann noch der Umzug meiner Eltern auf den neuen Hof im Waadtland anstehend. Da mein Bruder die Rekrutenschule absolvierte, übernahm ich die erste «Züglete». Mit dem bereits angeschafften Traktor sollte ich das Inventar, das heisst, vor allem die landwirtschaftlichen Gerätschaften, nach Cuarnens, unserem neuen Bauerndorf, in der Nähe von Cossonay transportieren. So wurde bei uns zu Hause diesbezüglich alles vorbereitet. Wie abgemacht fuhr ich am entsprechenden Wochenende nach Hause. Am Montagmorgen sollte es losgehen. Dann fielen über Nacht fast zwanzig Zentimeter Schnee. Als ich den vollbeladenen neuen Pneuwagen von der Einfahrt herunterfuhr, kam das Gefährt ins Rutschen. Dabei kippte der Wagen seitlich um. Das war eine Bescherung! Alles musste neu beladen werden! Wir versuchten vergeblich jemanden zu finden, der mich begleiten könnte. Direkt am Traktor war ein vollbepackter Anhänger und hinter diesem der wieder beladene Pneuwagen angehängt. Mit reichlicher Verspätung machte ich mich dann alleine auf den langen Weg. Bereits im Nachbardorf gab es wieder Probleme. Die Räder des Traktors drehten auf der ansteigenden, schneebedeckten Strasse durch. So musste ich den Wagen abhängen und zuerst mit dem Anhänger diese Strasse hinauffahren. Anschliessend galt es den Pneuwagen zu holen, das Ganze wieder zusammenzuhängen, um dann den Weg fortzusetzen. Nachmittags wiederholte sich das Ganze noch einmal auf der Strasse von Moudon nach Sottens. Als ich das zweite Gefährt nachholte, kam der Traktor wieder hoffnungslos ins Schleudern. Zum Glück hielt ein Lastwagen an. Der Chauffeur half mir dann weiter. Im Dorf Sottens koppelte ich alles wieder zusammen und fuhr weiter. Aber oh weh! Beim Dorfausgang schleuderte der Traktor aufs Neue. Nun war ich wirklich beinahe am Ende mit meiner Fassung. Da kam mir ein Bauer zu Hilfe. Mit seinem Traktor half er mein Gefährt auf die Anhöhe hinaufzufahren. Spät abends nach acht Uhr kam ich endlich doch noch wohlbehalten und dankbar in Cuarnens an. Hier pflanzte ich noch eine Trauerweide, welche ich zu Hause – zusammen mit meinem Bruder – im vergangenen Sommer aus 83 P43076_inh_Buch_Staub.indd 83 06.02.15 13:31 dem Fluss gefischt hatte. Diese steht noch heute als stumme Zeugin und als Erinnerungssymbol vor dem Haus. Einige Zeit später vollzog sich dann der endgültige Umzug unserer Familie ins Waadtland. Für die Eltern war diese Umstellung eine grosse Herausforderung. Die französische Sprache war ihnen fremd. Doch fühlten sie sich gut aufgenommen und lebten sich erstaunlich schnell ein. Nie hätte ich gedacht, dass sich mein Vater, mit seinen bald sechzig Jahren, noch so gut auf die neue Situation umstellen könnte. Bald machte ihm das Traktorfahren richtig Spass. Initiativ wie immer, entschied er sich zum Bau einer Optigal Poulethalle. Jahre später wurde sogar eine zweite erstellt. (Pro Halle werden innert ca. 40 Tagen jeweils 2500 Poulets gemästet) 84 P43076_inh_Buch_Staub.indd 84 06.02.15 13:31 Ich werde Evangelist der EGB Nachdem ich im Sommer 1957 in Aeschi ein Praktikum absolviert hatte, war es beschlossene Sache, dass ich nach dem Studienabschluss als Evangelist in diesem Werk angestellt würde. Es war vorgesehen, dass ich das verwaiste Arbeitsfeld im Schwarzenburgerland übernehmen sollte. So zog ich direkt nach dem Studienabschluss in das bereits verlassene alte Vereinshaus meines Vorgängers. Von ihm konnte ich auch eine Anzahl christliche und theologische Literatur übernehmen. Bereits während meiner Ausbildung hatte ich mir eine stattliche theologische Büchersammlung angeschafft. Ich war sogar im Besitz der wertvollen sogenannten «Schatzkammer Davids» von Spurgeon. (das ist eine geschätzte Auslegung der Psalmen). Die neuste Ausgabe der RGG (Religion in Geschichte und Gegenwart) hatte ich zum Subskriptionspreis während dem Studium erstanden. Die letzte Lieferung war noch ausstehend. Die Bücher waren im Moment mein ansehnlichster Besitz. Daneben besass ich nur noch ein Bett, einen Tisch und ein paar Sessel. Das Vereinshaus war wirklich alt und verfügte nicht einmal über ein Badezimmer. Unverzüglich unternahm ich die nötigen Vorkehrungen, um ein solches einzurichten. Nebst der örtlichen Hauptgemeinde hatte ich sechs weitere Versammlungsorte zu betreuen. Im Vereinshaus kam der Kirchenchor jede Woche zur Probe zusammen. Am Sonntagmorgen war jeweils Sonntagsschule. Auf dem Aussenposten in Mittelhäusern dirigierte ich den gemischten Chor, was zu Beginn für mich eine echte Herausforderung war. Im Juli fand dann meine Ordination auf St. Chrischona statt. An dieser nahmen natürlich meine Braut und meine Eltern teil. Jeanne-Marie hatte nach dem Abschluss ihrer Bibelschule in Basel eine Haushalt-Stelle angetreten, um die deutsche Sprache zu vervollkommnen und zusätzlich etwas zu verdienen. Während der letzten Jahre hatte sie nebst der Aussteuer bereits einiges für den Haushalt angeschafft. Nun galt es, die Möblierung unserer Wohnung ins Auge zu fassen. In Thun konnten wir diesbezüglich alles Nötige günstig einkaufen und auch bar bezahlen. Nur für einen Bürotisch 85 P43076_inh_Buch_Staub.indd 85 06.02.15 13:31 reichte es nicht mehr. Als der Firmeninhaber, für den ich bei den Mitstudenten günstige Occasionschreibmaschinen vermittelt hatte, dies erfuhr, sagte er: «Ich stelle ihnen einen Schreibtisch mit beidseitigen, vollausziehbaren Schubladen zur Verfügung. Sie können ihn bezahlen, wann immer es ihnen in der Zukunft möglich ist.» Dieses Möbelstück schätze ich noch heute sehr. Einmal möbliert sah die Wohnung nun viel «heimeliger» aus. Es fehlte nur noch die Hauptsache, das Herzstück: Meine zukünftige Gattin. Die letzten Wochen vor unserer Hochzeit verbrachte meine Braut bei ihr zu Hause. Sie nähte die Vorhänge für unser Heim, liess sich von der Schneiderin den Hochzeitsrock anfertigen und viel anders mehr. Unsere Hochzeit war für Samstag, den sechsten September 1958, in der Kirche Riggisberg geplant. Die Trauung sollte mein Unterweisungspfarrer, Ernst Hoffman, der jetzt Dozent auf Chrischona war, vornehmen. Gemäss meinem Empfinden war er während meiner vierjährigen Ausbildungszeit einer unserer besten Lehrer auf St. Chrischona. 86 P43076_inh_Buch_Staub.indd 86 06.02.15 13:31 Unsere Hochzeit und sogleich unerwartete Schwierigkeiten Endlich war es so weit: Unsere Hochzeit stand unmittelbar bevor, sie rückte jeden Tag näher. Wir wollten unsere gegenseitige Liebe mit unseren Eheversprechen in der Kirche krönen. Damit würde sich die Tür zu einer völlig neuen, gemeinsamen Wanderung öffnen. Uns war bewusst, dass die Zukunft viele Ungewissheiten bereithielt. Wir durften uns jedoch auf Jesus, den Emanuel (Gott mit uns) verlassen. Er würde der Dritte in unserem Ehebund sein! Die letzten paar Tage vor der Hochzeit kam Jeanne-Marie nach Schwarzenburg, um bei den Vorbereitungen mitzuhelfen. Sie brachte die ganze Aussteuer, Hausrat und die genähten Vorhänge mit. Meine Braut hatte sich bei einer lieben Witwe, welche im Nachbarhaus wohnte, einquartiert. Wir als Hochzeitspaar 87 P43076_inh_Buch_Staub.indd 87 06.02.15 13:31 Mit den Trauzeugen Der Hochzeitstag zog frisch und klar ins Land und war von strahlendem Sonnenschein begleitet. Das Wetter war wie gemacht, für diesen denkwürdigen Tag. Die Trauung war um 11 Uhr festgesetzt. In ihrem aus St.gallischer Stickerei gefertigten Hochzeitskleid sah Jeanne-Marie zauberhaft aus! Die festlich geschmückte Kirche war voll besetzt. Nebst unseren Verwandten und Bekannten waren viele Gemeindeglieder anwesend. Nun war das Mädchen, welches ich seit Jahren geliebt habe meine Gattin. Das war einfach wunderbar! Nach der Trauung erwartete uns im Gemeindesaal ein Mittagessen. Mit einem Autocar machten wir dann eine Ausfahrt in die herrliche Bergwelt. Abends wurde der Hochzeitsgesellschaft, während einem ausgiebigen Nachtessen, ein buntes Programm dargeboten. Am folgenden Tag reisten wir in die Hochzeitsferien. Diese verbrachten wir im Unterengadin. In einem kleinen Bergdorf hatten wir eine Ferienwohnung gemietet. Mehr konnten wir uns nicht leisten. Doch genossen wir diese Tage in vollen Zügen. Im Nationalpark beobachteten wir Tiere und erfreuten uns an der schönen Natur. Ausflüge ins Appenzellerland, ins Rheintal und an (oder besser mit einem Mietboot auf) den Bodensee waren Höhepunkte unserer Flitterwochen. Wir genossen unser Glück der Zweisamkeit in vollen Zügen. Nach meiner offiziellen Amtseinsetzung, war ich nun Evangelist der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Bern (EGB). Seit meiner Kindheit war ich in diesem innerkirchlichen Gemeinschaftswerk durch meine Familie 88 P43076_inh_Buch_Staub.indd 88 06.02.15 13:31 integriert. Bereits meine Grosseltern waren engagierte Mitglieder und meine Eltern besuchten regelmässig die Gottesdienste, Bibelstunden und Festanlässe der Evangelischen Gesellschaft. Ein reger Kontakt hatte sie mit den jeweiligen Evangelisten verbunden, welche bei uns ein- und ausgegangen waren. Für meine liebe Frau war der Start in der neuen Gemeinde alles andere als einfach. Einerseits wurde sie als «Welsche» nicht von allen Gemeindegliedern herzlich aufgenommen. Andererseits kamen extreme, gesundheitliche Schwierigkeiten hinzu. Unmittelbar nach unsrer Hochzeit wurde JeanneMarie schon schwanger. Wir hatten uns auf das Beachten der Fieberkurve verlassen, um eine sofortige Schwangerschaft zu verhindern. Leider ohne Erfolg. Da unser Hausarzt in den Ferien weilte, kam seine Intervention fast zu spät. Seit Tagen, ja sogar Wochen hatte Jeanne-Marie sämtliche Nahrung erbrochen. Die Situation wurde so schlimm, dass sie ins Spital eingeliefert werden musste, wo man sie künstlich ernährte. Unmittelbar kam ein weiteres, grosses Problem auf uns zu: Durch den Krankenkassenwechsel ergab sich damals noch eine dreimonatige Karenzzeit. Das hiess, dass die neue Kasse während den ersten drei Monaten keine Kosten übernahm. Da der Schwangerschaftsbeginn während dieser Zeit stattgefunden hatte, mussten wir alle anfallenden Kosten, inklusive derjenigen der Geburt, selber bezahlen. Mein Monatsgehalt betrug gerade 432.- Franken. Allerdings wurden uns für die Wohnung, nebst den Nebenkosten nur 300.– Franken im Jahr belastet. Der selbstlose Einsatz und die Unterstützung unseres Hausarztes waren für uns von unschätzbarem Wert! Er unternahm alles, damit meine Frau möglichst bald wieder zurück nach Hause kommen konnte. Danach wurden die täglichen Infusionen in unserem Schlafzimmer ausgeführt! Manchmal kam der Arzt selber, meistens aber seine Assistentin. Unser Hausarzt kam uns derart entgegen, dass wir zuletzt nur die Medikamente bezahlen mussten! So bewahrheitete sich das Sprichwort für uns, insbesondere für meine liebe Frau: «Aller Anfang ist schwer!» Jedoch durften wir die Liebe und Fürsorge unseres himmlischen Vaters hautnah erfahren. 89 P43076_inh_Buch_Staub.indd 89 06.02.15 13:31 Meine Bemühungen, eine Jugendgruppe zu gründen, waren bald einmal erfolgreich. Sogar Jugendliche ausserhalb unserer Gemeinde machten mit. Am Sonntagmorgen hielt ich jeweils Sonntagsschule, nachmittags und abends Gottesdienste. Insgesamt waren sieben Predigtorte zu bedienen. Ferner wurde natürlich mein Mitwirken im Kirchenchor erwartet. Ein erster, kleiner Höhepunkt war das Erntedankfest. Das Vereinshaus war alt. Es stand auf einer Anhöhe und war nur durch einen Fussweg zugänglich! Trotzdem war die Anteilnahme am erwähnten Anlass gross. Das war für mich sehr ermutigend. Dann rückte bereits die Advents- und Weihnachtszeit heran. Diese war sehr arbeitsintensiv. An allen sieben Predigtorten fanden Feiern statt. Leider wurde dieser besondere Zeitabschnitt infolge des Gesundheitszustandes meiner Gattin überschattet. Nicht nur bei uns in der Gemeinde, sondern auch auswärts, sogar in Schulen und Ferienlagern, veranstaltete ich Filmvorträge. Darunter befanden sich vor allem Billy Graham- sowie Dokumentarfilme vom Moody-Bibelinstitut. Leider verbesserte sich der Zustand von Jeanne-Marie nicht. Der Arzt hatte sich so geäussert, dass die zweite Schwangerschaftshälfte sicher besser verlaufen würde. Stattdessen verschlimmerte sich der Zustand meiner Frau zusehends. Am Samstag, den 8. Januar erklärte der Arzt bei seiner Visite: «Leider muss ich die Patientin ins Spital nach Bern einweisen.» Ich entgegnete: «Aber bitte nicht heute, morgen ist ihr Geburtstag. Das kann doch wohl bis am Montag warten.» Doch er antwortete: «So leid es mir tut, aber ich kann die Verantwortung für ein Zuwarten nicht übernehmen. Ich lasse euch eine Stunde Zeit, dann teilt mir eure Entscheidung mit.» Das war hart, sogar sehr hart! Wir beteten und weinten zusammen. Bald wurde uns klar: Wenn der Arzt die Verantwortung des Zuwartens nicht übernehmen konnte, konnten wir es natürlich auch nicht. Dies teilte ich dann dem Arzt mit. Dieser erwiderte: «Ich werde ihre Frau ins Zieglerspital einweisen. Meines Erachtens leidet sie an einer Gallenblasenentzündung. Ich verfasse einen Bericht, den sie in einer halben Stunde abholen können. Eigentlich müsste ich ihre Gattin ins Frauenspital einweisen. Doch hier würde man sie bis nach der Entbindung behalten.» Unser Hausarzt war wirklich unbezahlbar! Im Spital bestätigte sich dann bald seine Diagnose in Bezug auf die Gallenblasenentzündung. 90 P43076_inh_Buch_Staub.indd 90 06.02.15 13:31 Zu meiner intensiven Arbeit in der Gemeinde kamen nun noch die Besuche im Spital hinzu. Glücklicherweise wurde ich in dieser Zeit öfters von Gemeindegliedern zum Essen eingeladen. Nach langen drei Wochen hatte sich der Zustand meiner lieben Frau so weit stabilisiert, dass sie probeweise nach Hause kommen konnte. Das Spitalärzteteam hatte eine Medikation zusammengestellt, welche dies erlauben sollte. Jeanne-Marie wurde jedoch mit der Auflage entlassen, dass der Hausarzt die weitere Kontrolle und Verantwortung voll übernehmen würde. Dieser war mit dieser vorgeschlagenen Betreuung einverstanden. Erfüllt von Dankbarkeit, holte ich meine Frau nach Hause. Diese beschwerliche Zeit machte aus unserer Ehe eine wirkliche Schicksalsgemeinschaft. Freilich wurde unser Glaube schwer geprüft. Aber wir durften uns an die Bibelstelle aus Römer 8,31-39, welche in unseren Eheringen eingraviert war verlassen. Gottes Wort gilt und trügt nicht! Wichtig ist, dass wir durchhalten und Gott vertrauen würden. Er führt uns auf dem rechten Weg um seines Namens Willen. Hie und da kam uns meine Mutter ein paar Tage zu Hilfe. Im Garten vor dem Haus säte sie bereits anfangs März Karotten aus. Meinerseits war ich gefordert, für Jung und Alt Gottes Wort auszusäen und in der Gemeinde mein Bestes zu geben. Schwer belasteten uns die Spital- und Medikamentenrechnungen. Wir hatten das Geld dafür nicht. Da sagte mir ein Kollege, dass für solche Fälle ein Fond existiere. In einem Schreiben schilderte ich unsere Situation und sandte den Brief nach Bern an die zuständige Behörde. Bald darauf wurde ich vom Präsidenten zu einem Gespräch eingeladen. Dieser erklärte mir, das Hauptkomitee sei der Ansicht, dass mir meine Eltern beistehen sollten. «Diese haben mir schon mein Studium bezahlt und sind nun durch den Kauf des Bauernhofes im Waadtland stark verschuldet», erklärte ich. «Das habe ich mir gedacht», antwortete der Präsident. «Wir können ihnen ein zinsfreies Darlehen gewähren. Ich denke jedoch, dass ihnen ein geschenkter Geldbetrag dienlicher ist.» Dann öffnete er seinen Geldbeutel und überreichte mir drei Hunderternoten. Diese freundliche Geste habe ich nie vergessen! 91 P43076_inh_Buch_Staub.indd 91 06.02.15 13:31 In dieser schwierigen Zeit, in welcher wir nicht wussten, wie wir all die Rechnungen bezahlen sollten, machte ich ein Versprechen: «Wenn ich in der Zukunft einmal Tausend Franken sparen kann, werde ich diese ganz sicher nicht zur Bank bringen. Eher werde ich mir dazu das Zehnfache leihen und damit etwas unternehmen. Davon konnte aber vorerst keine Rede sein: Im Moment hatte ich nicht einmal das Geld, um den Schreibtisch zu bezahlen. Doch ich war überzeugt, dass mir auch diese Schwierigkeiten zum Besten dienen sollten. Umso mehr klammerten wir uns an Gottes Versprechen in der Bibel und waren zuversichtlich, dass Gott uns nicht im Stich lassen würde. Sein Wort ist verlässlich, und was er zusagt, gilt, wie zum Beispiel: «Bemüht euch um das Reich Gottes und lebt nach seinem Willen. Dann wird Gott euch mit allem anderen versorgen.» (Matth.6,33) Und Gott, unser himmlischer Vater, war wirklich treu. Er hat uns versorgt; nicht auf einmal, aber immer und immer wieder. Wir konnten nur staunen… Nach der Heimkehr von Jeanne-Marie besserte sich ihr Zustand ein wenig. Sie konnte sogar den antiken Stubenwagen, welchen sie von zu Hause leihweise erhalten hatte, für das erwartete Bébé vorbereiten. Nebst der intensiven Gemeindearbeit engagierte ich mich bei der Mitarbeit für die vorgesehene Grossevangelisation mit Billy Graham in Bern. Zudem planten wir den Bau eines neuen Gemeindesaales mit Garderobe und Toiletten. Gleichzeitig würde man eine Autozufahrt sowie einen Parkplatz errichten. Herr Architekt Binggeli wurde beauftragt, das ganze Vorhaben auszuarbeiten und uns dann zu unterbreiten. Hinter dem Wohntrakt sollte das alte Gebäude abgerissen und ein neuer Saal mit Garderobe, WC Anlagen und einer Autogarage gebaut werden. Zudem sollte für uns endlich ein richtiges Badezimmer eingebaut werden. Meinerseits war ich gefordert, nebst dem Bauvorhaben für Jung und Alt Gottes Wort auszusäen. In der Gemeinde mein Bestes zu geben, befriedigte mich sehr. 92 P43076_inh_Buch_Staub.indd 92 06.02.15 13:31 Die beschwerliche Geburt unserer Suzanne Aber zuvor würde unser Kind zur Welt kommen. Als sich dann im Sommer 1959 die ersten Wehen einstellten, brachte ich meine Frau zur Entbindung ins örtliche Krankenhaus. Nun begann ein langwieriges Warten. Der Muttermund wollte sich einfach nicht öffnen. Leider hatte unser Hausarzt als Allgemeinpraktiker keinen Einfluss auf diese Situation. Dies war dem Chirurg des Spitals, einem älteren Herrn, vorbehalten. Dass wir weder ihn noch er uns kannte, verschlimmerte die Situation erheblich. Die Hebamme verabreichte Medikamente, welche jedoch nicht wirkten. Nachdem ich zwei Tage und eine Nacht bei meiner Frau ausgeharrt hatte, schickte man mich für die zweite Nacht nach Hause. «Sobald die Geburt ansteht, rufen wir sie an», erklärte man mir. Nur widerwillig verliess ich das Krankenhaus. Nach einer unruhig verbrachten Nacht kam am nächsten Tag endlich der sehnsuchtsvoll erwartete Anruf. Man hatte nun doch den Chirurg konsultiert, um wenn möglich einen Kaiserschnitt vorzunehmen. Es stellte sich jedoch heraus, dass es dafür zu spät war. Der Geburtsvorgang war bereits zu weit fortgeschritten. Als dann die Herztöne des Kindes immer schwächer wurden, unternahm man schnell drastische Massnahmen: Eine sogenannte Zangengeburt. Und endlich erblickte unser Kind nach 52 Stunden am 6. Juni 1959 das Licht der Welt. Oder vielleicht doch nicht?! Sein Hals war mit der Nabelschnur umwickelt und das Neugeborene, ein Mädchen, gab kein Lebenszeichen von sich. Nur ganz kurz konnten wir einen Blick auf unser Neugeborenes werfen, dann brachte man es weg. Noch heute sehe ich unser Bébé vor mir: Es war ganz weiss mit schwarzen Haaren auf seinem runden Köpfchen. Meine liebe Frau und ich hatten sofort realisiert, dass es grosse Schwierigkeiten gab. Wir konnten nur beten. Inständig erflehten wir, im Namen Jesu, um Gottes Gnade und sein herzliches Erbarmen mit uns. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass nach all den Mühsalen, Problemen und Schwierigkeiten der mit Liebe und Hingabe vorbereitete Stubenwagen zu Hause leer bleiben sollte. Das würden wir – vor allem meine liebe Gattin – kaum verkraften können. Gott hatte doch zugesagt, dass er uns mit allem versorgen würde! Und dann geschah das gewaltige Wunder: Das Kind lebte! 93 P43076_inh_Buch_Staub.indd 93 06.02.15 13:31 Unser Glück und unsere Freude waren unbeschreiblich. Voller Dankbarkeit erkannten wir, dass uns unser kleines Mädchen ein zweites Mal geschenkt worden war. Schon lange im Voraus hatten wir den Namen des Kindes festgelegt. Würde es ein Mädchen sein, sollte es Suzanne heissen; ein biblischer Name. Aus dem Hebräischen «shoshan» übersetzt bedeutet er «Lilie». In wunderbarer Weise hatte Gott sich in seiner Liebe unser herzlich erbarmt und uns durch unsere Erstgeborene beschenkt! Dieses kleine Geschöpf, die Veranschaulichung unserer ehelichen Liebe, Fleisch und Blut von uns Eltern ausgegangen, war unbezahlbar kostbar: Wir konnten dies alles kaum fassen. Es war ganz einfach wunderbar! Jeanne-Marie mit der neugeborenen Suzanne auf dem Balkon 94 P43076_inh_Buch_Staub.indd 94 06.02.15 13:31 Wir machten in unserem Bezirkskrankenhaus noch eine zusätzliche, negative Erfahrung: Leider schoss die Muttermilch nicht sofort ein und das Bébé hatte Mühe zu trinken. Anstatt der Mutter und dem Neugeborenen die nötige Hilfe und Unterstützung zu gewähren, wurde der Milchfluss kurzerhand abgestellt. Natürlich beinhaltete das für uns zusätzliche finanzielle Auslagen. Die Rechnungen häuften sich zusehends. Wo sollten wir das Geld hernehmen um alles zu bezahlen? Wir mussten um zusätzliche Zahlungsfristen nachsuchen und Geld borgen. Jedoch wog das Erleben mit unserem Bébé alles Negative bei weitem auf. Mindestens einmal pro Monat fuhren wir ins Waadtland zu meinen Eltern. Der kleinen Suzanne behagten diese Fahrten scheinbar. Insbesondere meine Mutter genoss die Zeit zusammen mit ihrem Grosskind sehr. Suzanne war nicht gerade ein einfaches Baby. Sie weinte viel, besonders nachts. Vom Hof meiner Eltern konnten wir jeweils wertvolle Erzeugnisse, Kartoffeln, Gemüse, Früchte und sogar Fleischprodukte mitnehmen. 95 P43076_inh_Buch_Staub.indd 95 06.02.15 13:31 Bau im Reich Gottes und am Vereinshaus Ein Höhepunkt im Jahr war die Grossevangelisation mit Billy Graham in Bern. Als ich an einem Abend dahin fuhr, war im gegenüber liegenden, benachbarten «Freiburgischen» ein Grossbrand im Gang. Ich hielt das Auto an, stieg aus und schaute dem Spektakel eine Weile zu. Ein grosser, abgelegener Bauernhof stand im Vollbrand. Scheinbar war die Feuerwehr machtlos, weil kein Wasser vorhanden war. In diesem Moment konnte ich bei Weitem nicht erahnen, dass dieses Geschehnis für uns noch weitreichende Folgen haben würde. Ich werde später darauf zurückkommen. Nach der Evangelisation erhielt ich zwei Adressen von Personen aus unserer Umgebung zugeschickt, welche ihr Leben Jesus anvertraut hatten. In der Folge besuchte ich diese. Doch waren diese Folgegespräche leider nicht sehr fruchtbar. Sie wollten sich nicht engagieren und zogen sich zurück. Ich besuchte gerne Gemeindeglieder, sowohl bei ihnen zu Hause als auch im Spital. Damals wurden dem Seelsorger vom Spital noch die Namen der eingewiesenen Patienten aus seinem Einzugsgebiet mitgeteilt. Doch einmal erlebte ich eine böse Enttäuschung. Als ich im Krankenhaus eine freidenkerische Lehrerin besuchte, wurde diese unwillig und wies mir die Tür. Dieses desavouierende, negative Erlebnis habe ich nie vergessen. Nun zur Renovation unseres Vereinshauses: An einer Sitzung stellte der Architekt das ganze Vorhaben vor. Es war sicher von Vorteil, dass Herr Binggeli ein engagierter Mann in der Kirche war. Seine Vorschläge und Konzepte waren gut überlegt und praktisch. Hinter dem Wohnhaustrakt sollte das alte Gebäude abgerissen werden. Ein neuer Predigtsaal mit Eintrittsraum, Garderobe, WC-Anlagen und einer Autogarage wurde projektiert. Gleichzeitig sollte für uns auch ein richtiges Badezimmer eingerichtet werden. Zudem würde von der hinteren Gasse eine Zufahrtsstrasse mit Parkplatz entstehen. Das ganze Vorhaben fand eindeutige Zustimmung. 96 P43076_inh_Buch_Staub.indd 96 06.02.15 13:31 An dieser Sitzung wurde noch ein weiteres Traktandum behandelt: Da die Gemeinde keine Abendmahlsgeräte besass, sollten solche angeschafft werden. Es wurde lange diskutiert, ob man nur einen oder zwei Kelche kaufen wolle. Da legte der Architekt kurzerhand zwei Hundertfrankenscheine auf den Tisch und sagte: «Möge ihnen damit der Kauf von zwei Kelchen ermöglicht werden.» Meinerseits war ich gefordert, für Jung und Alt Gottes Wort zu verkündigen, diesbezüglich in der Gemeinde mein Bestes zu geben. Am Um- und Ausbau beteiligten sich viele Gemeindeglieder, je nach ihren Möglichkeiten. Persönlich setzte ich mich ebenfalls voll ein. Die Saat, welche mein Vater all die Jahre bei den vielen Renovations- und Umbauarbeiten, auf unserem Hof in mein Leben hinein gesät hatte, war nicht umsonst gewesen. Hier konnte ich das Erlernte zum ersten Mal voll einsetzen. Dann ging eines Nachts ein starkes Gewitter nieder. Das Dach war notdürftig mit einer Blache abgedeckt worden und wir erlebten einen starken Wassereinbruch. Die Wohnstube wurde überflutet und unser Teppich und die Polstergruppe stark in Mitleidenschaft gezogen. Das Dach war von Gemeindegliedern provisorisch und unsachgemäss abgedeckt worden. Deshalb gab es keine Versicherung, um den Schaden zu vergüten. Dafür erhielten wir einen neuen Stubenboden. Ein Höhepunkt war dann die Einweihung des umgebauten Vereinshauses und des neuen Saals. Hier ein Auszug aus dem Bericht, der damals in den «Brosamen» erschienen ist: Am 13. September 1959 versammelte sich eine festliche Der Ausbau vom Vereinshaus in Gemeinde zur Feier der EinSchwarzenburg weihung des Um- und Erweiterungsbaues auf dem «Märitplatz». Nach der Begrüssungsrede übergab der Ortsprediger Staub Architekt Binggeli das Wort. Dieser schilderte auf interessante Weise, wie das Ganze begonnen hatte... Er lobte die vorzügliche Zusammenarbeit: «Der ganze Bau hätte niemals in dieser Weise durchgeführt werden können, wenn sich 97 P43076_inh_Buch_Staub.indd 97 06.02.15 13:32 nicht viele Glieder der Gemeinde mit derart selbstlosem Dienst beteiligt hätten... Das meiste Bauholz war geschenkt und -von den Bauern gefällt – zur Säge und dann zum Vereinshaus transportiert worden. Der ganze Aushub, die Kanalisations- und die Dachdeckerarbeiten und anderes mehr, geschahen durch freiwillige Einsatz.» Dann gab Architekt Binggeli noch seiner Hoffnung Ausdruck, dass dieser Saal seiner Bestimmung als Ort der Begegnung mit Gott dienen möge... Alt Inspektor Keller überbrachte die Grüsse des Hauptkomitees und gratulierte herzlich zum neuen Saal: «Wenn man den Zugang und den Saal von vorher kannte, muss man sagen: Siehe es ist alles neu geworden!» Dann gab er der Hoffnung Ausdruck, dass das auch für die Gemeinde zutreffen möge.» Die Feier war umrahmt von den Vorträgen dreier Chöre, des Posaunenchors, der Jugendgruppe, der Sonntagsschule sowie durch Klavierstücke von Haydn und Bach, gespielt von Frau Staub. Nach dem Schlusswort von Evangelist Staub schloss Pfr. Furer die gediegene Feier mit Gebet und Segen ab. . Eine grosse Erleichterung brachte vor allem die neue Zufahrtsstrasse; nicht nur für die Automoblisten sondern auch für die Fussgänger. Selbstverständlich wurde auch der der Parkplatz sehr geschätzt, kamen doch immer mehr Gemeindeglieder mit dem Auto zu den Veranstaltungen. Nach dem Ausbau mit der neuer Anfahrtsstrasse 98 P43076_inh_Buch_Staub.indd 98 06.02.15 13:32 In der Sonntagsschule bereiteten wir eine besondere Weihnachtsfeier mit einem Krippenspiel und viel gesanglichen Einlagen vor. Zwei talentierte Mädchen sangen Solo- und Duettbeiträge. Da viele Kinder die Sonntagsschule besuchten, nutzten wir diese Gelegenheiten, um den Dorfbewohnern die Heilsbotschaft zu verkündigen. Die Bibelstunden in Schwarzenburg und in Mittelhäusern wurden ausschliesslich von den treuen Gemeindegliedern besucht. Leider kamen die Hausbesuche infolge der grossen Arbeitsbelastung insbesondere während den Bauarbeiten zu kurz. Wir waren dankbar, dass Nachbarskinder sich mit grosser Freude und Hingabe um unsere kleine Suzanne kümmerten. Im Familienkreis sprachen wir nur französisch. Doch die Nachbarskinder redeten nur Berndeutsch. Als Suzanne anfing zu sprechen, machte sie interessanterweise nie ein sprachliches Durcheinander. Entweder sprach sie nur deutsch oder dann nur französisch. Begann sie einen Satz auf Deutsch und wusste nicht mehr weiter, begann sie von vorne und sagte alles auf Französisch. Während der Wintermonate führten wir jeweils eine Evangelisationswoche durch. Nachmittags wurden Bibelstunden und abends evangelistische Vorträge gehalten. Mit attraktiven Themen und entsprechenden Einladungszetteln versuchten wir Aussenstehende zu erreichen. Vor allem profitierten die Gemeindeglieder von diesen Veranstaltungen. Deshalb stand meistens die persönliche Glaubensentfaltung und Heiligung im Zentrum dieser Vorträge. Zusätzlich zu diesen Veranstaltungen führte ich persönlich an manchen Orten der Evangelischen Gesellschaft Evangelisationswochen durch, zuweilen auch in Kombination mit evangelistischen Filmvorführungen. Im März 1960 wurde Jeanne-Marie aufs Neue schwanger, was nicht hätte eintreten sollen. Die Therapeuten hatten geraten mindesten während zwei bis drei Jahren auf weiteren Familienzuwachs zu verzichten. Natürlich waren wir zuerst über diese unvorhergesehene Situation nicht erfreut. Prompt gab es aufs neue Komplikationen. Das leidige Erbrechen war wieder heftig. Der Arzt verordnete sofort Infusionen. Diese frühzeitige Massnahme zeitigte gute Resultate, sodass die Schwangerschaft langsam erträglicher wurde. An den freien Tagen fuhren wir immer wieder zu meinen Eltern nach Cuarnens. Die Fahrt dauerte bloss etwas mehr als eine gute Stunde. Wie bereits 99 P43076_inh_Buch_Staub.indd 99 06.02.15 13:32 erwähnt, wurden wir hier richtig verwöhnt. Auch unsere kleine Suzanne genoss diese Besuche und sogar die Reise dorthin. Im Spätherbst 1960 war es dann soweit: Eines Nachts setzten bei meiner Frau die Wehen ein. Schnell machten wir uns auf den Weg nach Bern, wo wir bereits im Frauenspital vorangemeldet waren. Die Schrecken der ersten Geburt waren noch nicht vergessen. Dieses Mal wollten wir nichts riskieren. Deshalb hatten wir in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt beschlossen, zur Entbindung nach Bern ins Frauenspital zu gehen. Noch bei Nacht, frühmorgens betraten wir das Spital. Die Enttäuschung war riesengross, als man mir erklärte, dass ich nicht bei meiner Frau bleiben könne. «Da sie auf der allgemeinen Abteilung angemeldet sind, ist das nicht möglich», erklärte man uns. «Am besten gehen sie nach Hause. Sobald die Geburt stattgefunden hat, werden wir sie benachrichtigen.» Dass im Jahr 1960 im Frauenspital von Bern noch solche Zustände herrschten, hatte folgenden Grund: Die einzelnen Betten im Gebärsaal waren nur durch Trennwände abgeschirmt. Logischerweise konnten deshalb die Väter nicht anwesend sein. Am Abend war es so weit. Unser zweites Kind erblickte das Licht der Welt. Wie ich es mir von ganzem Herzen gewünscht hatte, war es ein Knabe. Er bekam den Namen Philippe. Das bedeutet: der Freund. Es war der Name eines der zwölf Apostel, sowie eines treuen Mitarbeiters von Paulus. Es war unser Herzenswunsch, dass aus dem Knaben ein wirklicher Freund und Gefolgsmann Jesu heranwachsen sollte. Leider setzte man sich auch hier im Frauenspital nicht besonders ein, damit die Mutter ihr Neugeborenes stillen konnte. So bekam auch der kleine Philipp nur Schoppennahrung. Nach zehn Tagen konnte ich meine Lieben nach Hause holen. Nun waren wir schon eine recht grosse Familie. 100 P43076_inh_Buch_Staub.indd 100 06.02.15 13:32 Jeanne-Marie mit dem kleinen Philippe 101 P43076_inh_Buch_Staub.indd 101 06.02.15 13:32 Eine unglaubliche Geschichte und ihre Auswirkungen Im Frühjahr 1960 wurde für uns eine sehr bedeutungsvolle Angelegenheit eingeleitet. Eine Bauernfamilie, welche sich im Waadtland nicht wohl fühlte, war auf der Suche nach einem Bauernhof in der deutschsprachigen Schweiz. Das wurde mir von meinem Bruder mitgeteilt. Kurz davor hatte ich erfahren, dass das Gut mit dem abgebrannten Bauernhaus im Freiburgerland noch immer zum Verkauf ausgeschrieben war. Dies teilte ich sodann meinem Bruder mit. Ich liess ihm die Adresse sowie eine genaue Wegbeschreibung zukommen. Einige Tage später erfuhr ich folgendes: Zusammen mit ihrem Sohn hatte diese Familie dann den Hof besichtigt. Genauer ausgedrückt hatte der Vater zusammen mit dem Sohn diese Besichtigung durchgeführt. Die Mutter blieb im Auto und erklärte: «Niemals werde ich hierherkommen.» Ihr Ehemann und der Sohn waren sehr enttäuscht. Diese hätten den Hof gerne ohne wenn und aber gekauft und auch die etwas speziellen Bedingungen akzeptiert, was bedeutete: dass der Pächter noch ein Jahr verbleiben und die Gebäude sofort erbaut werden mussten. Von meinem Bruder erfuhr ich dann die Details: Der Betrieb wurde von einem Pächter bewirtschaftet. Die Besitzer waren zwei verschwägerte Familien. Die eine wollte ein Bauerhaus nach Bernerart errichten, die andere eine moderne Siedlung. Darüber waren sie so zerstritten, dass ihnen ein Vermittler empfahl, das Gut zu verkaufen. Der Pächter wohnte seit zwei Jahren in einer von der Gemeinde aufgestellten Militärbaracke. Das Vieh wurde in einem Notstall versorgt und das Getreide und die Futtervorräte behelfsweise untergebracht. Der Pächter hatte vor, den Hof nach einem Jahr zu verlassen, weil er auf diesen Termin eine andere Pacht antreten konnte! Die Gemeindebehörden hatten die Besitzer ultimativ aufgefordert, unverzüglich die neuen Gebäude zu errichten; denn die Wohnbaracke würde nur noch bis Ende Jahr zur Verfügung gestellt. 102 P43076_inh_Buch_Staub.indd 102 06.02.15 13:32 Der Betrieb umfasste dreiundzwanzig Hektaren an einem Stück. Davon waren sieben Hektaren Wald. Der Kaufpreis war auf 230 000.– Franken angesetzt. Die Brandversicherung würde an einen Neubau 129 000.– Franken ausbezahlen. Unverzüglich teilte ich diese Sachlage Herrn Architekt Binggeli mit und sagte zu ihm: «Ich denke, Sie sollten diesen Hof kaufen.» Er erwiderte, er würde sich das überlegen. Kurze Zeit später kontaktierte er mich wieder und erklärte: «Ich habe mir die Situation wegen dem abgebrannten Bauernhof überdacht. Ich besitze bereits ein Bauerngut, habe aber nur eine Tochter. – Sie selber müssen dieses Anwesen kaufen!» Darauf erwiderte ich: «Leider ist das mir nicht möglich.» – «Das kann man möglich machen. Ich helfe ihnen dabei», erklärte der Architekt. Das war der Beginn einer unglaublichen Geschichte. Innerhalb zweier Jahre setzten sich da viele Mosaiksteinchen zusammen, und mir wurde das Ergebnis präsentiert! Einfach unglaublich aber doch wahr! Gottes Verheissung erfüllte sich buchstäblich: «Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.» (Lutherübersetzung) Nach zwei Wochen war alles unter Dach und Fach: Wir waren die neuen Besitzer des vor fast zwei Jahren abgebrannten Heimwesens. Zwei Banken im Kanton Freiburg hatten sich darum beworben, die nötigen Geldmittel zur Verfügung zu stellen. Logischerweise habe ich die Reformierte Bank des Sensebezirks berücksichtigt. Unwillkürlich musste ich daran denken, dass ich vor knapp zwei Jahren gesagt habe. «Wenn ich einmal eintausend Franken besitze, werde ich dieses Geld nicht bei einer Bank anlegen. Ich werde eher zehntausend Franken dazu borgen und damit etwas unternehmen.» Nur besass ich noch keine eintausend Franken, hatte aber mehr als zweihunderttausend Franken Schulden. Nach dem Kauf wurde sofort mit den Aufräumarbeiten der Brandruine begonnen. Da lag noch viel Metall und Schutt herum. So auch die Transmission, welche den Brand ausgelöst hatte. 103 P43076_inh_Buch_Staub.indd 103 06.02.15 13:32 Jugendliche unserer JG trugen Mauerreste ab und reinigten, gegen Entgelt, Backsteine, zur Wiederverwertung. Gelegentlich legte auch der Pächter Hand an. Drei verschiedene Bewerber wollten unbedingt die Projektierung des Neubaus übernehmen. Innert kurzer Zeit wurden mir diverse Vorschläge unterbreitet. Einer vom landwirtschaftlichen Fachkreis in Brugg, ein zweiter von Architekt Binggeli und einer von dessen gleichnamigen Neffen, einem Hoch- und Tiefbauingenieur. Dieser letzte Vorschlag war der bestgeplante und weitaus Interessanteste. In vorzüglicher Weise wurde die topographische Beschaffenheit des Geländes ausgenutzt. Zugleich war die Raumplanung hervorragend. Da wo vorher das grosse Bauernhaus stand, sollte jetzt die neue, sechsunddreissig Meter lange, Scheune erstellt werden. So berücksichtigte ich diese Pläne von Ingenieur Binggeli. Sein Onkel, ein bewährter Architekt, entwarf das Wohnhaus. Dieses sollte auf einer kleinen Anhöhe oberhalb des Oekonomiegebäudes gebaut werden. In einer Sägerei im benachbarten Dorf wurde das gesamte Bauholz zugerüstet. Der Bruder meines Vaters, der zugleich mein Pate war, übernahm alle Zimmereiarbeiten. Beim Ökonomiegebäude betrugen diese ungefähr 75% des Bauwerkes. Es würde zu weit führen, Details niederzuschreiben oder die vielen Führungen, Segnungen und Bewahrungen Gottes zu erwähnen. Ein Erlebnis muss jedoch berücksichtigt werden. Umständehalber sollte ich selber den voll beladenen Holzwagen der Sägerei mit dem Traktor des Pächters zur Baustelle transportieren. Ein Junge aus der Jugendgruppe begleitet mich, um die Bremsen am Holzwagen zu betätigen. Auf der abschüssigen Strasse gegen die Sense hinunter, rief ich dem Jungen zu: «Du musst stärker bremsen!» Doch schon kam das ganze Gefährt ins Rutschen. Dabei überquerte der Traktor die Strasse und überschlug sich am gegenüberliegenden Strassenbord waldeinwärts. Ich wurde weggeschleudert, und dann kam, Gott sei Dank! alles zum Stehen. Kurz darauf erschien die Holzermannschaft von der landwirtschaftlichen Genossenschaft mit ihrem grossen Traktor. Dank ihrem selbstlosen Einsatz, 104 P43076_inh_Buch_Staub.indd 104 06.02.15 13:32 konnte der Schaden schnell behoben werden. Nachdem der Traktor wieder auf den Rädern stand, wurde das Ganze zurück auf die Strasse gezogen. Dann begleiteten sie den Transport, hinten mit ihrem Traktor als Bremskraft, bis zur Sensebrücke hinunter. Hätte der Transport zwanzig Meter später zu rutschen begonnen, wären wir etwa hundert Meter in die Tiefe gestürzt. Diese wundervolle, ja geradezu himmlische Bewahrung werde ich niemals vergessen! Der Neubau, besonders derjenige des Ökonomiegebäudes, kam unglaublich schnell voran, und im August konnte das getrocknete Futter und Stroh bereits in die neue Scheune eingelagert werden! Diese ganze, abenteuerlich Angelegenheit blieb natürlich nicht verborgen. Manche Bauern bereuten es, dass nicht sie selbst den Kauf getätigt hatten. Auch in unserer Gemeinde gab es natürlich viel Gerede, Kritik und Neider. Gerade diejenigen, welche sich nie Gedanken darüber gemacht hatten, wie wir wohl mit den ausserordentlichen Auslagen zurechtkämen, erregten sich am meisten. Vor Anbruch des Winters fällte dann ein Team im zugehörigen Wald unseres Bauernhofes überfällige Tannen, sodass wir noch vor Weihnachten 115 m3 Holz verkaufen konnten 105 P43076_inh_Buch_Staub.indd 105 06.02.15 13:32 Unerwartete Probleme und Schwierigkeiten Unmittelbar nach dem Jahreswechsel 1961/1962 vollzog sich eine wetterbedingte Katastrophe. In der Nacht auf den zweiten Januar regnete es stark. Da die Temperaturen in den Niederungen stark fielen, gefror der Regen. Besonders im Tannenwald bildeten sich auf den Ästen starke Vereisungen. Die Eiszapfen wurden bis zu dreissig Zentimeter lang. Dann ging der Regen in Schnee über. Durch diese zentnerschweren Lasten fingen vor allem die grössten Tannen an zu ächzen und hielten dem Druck nicht mehr stand. Bei etwa der Hälfte der jüngeren Tannen brachen die Wipfel weg. Fast zwei Drittel des Waldes wurden schwer in Mitleidenschaft gezogen oder zerstört. Diese verheerende Verwüstung unseres Waldes hatte zur Folge, dass wir «über die Bücher mussten», wie man so schön sagt. Es war vorgesehen gewesen, dass der Wald jährliche Einnahmen einbringen würde. Nun aber mussten wir, was die Situation des Waldes betrifft, mit massiven Unkosten rechnen. Wieder kam die Verheissung Gottes zum Tragen, welche mir mein Schatz vor Jahren auf den Briefkopf geschrieben hatte: «Ich bin der Herr euer Gott. Ich lehre euch, was gut für euch ist, und zeige euch den Weg, den ihr gehen sollt.» Damals befanden wir uns wirklich in einer heiklen und schwierigen Situation! Doch wir nahmen diese misslichen Umstände als gottgegeben an. Das Sprichwort erfüllte sich auch gerade in dieser heiklen Situation: «Der Mensch denkt und Gott lenkt»! Nach reiflichem Abwägen und Gebet entschlossen wir uns, den Bauernhof zu verkaufen. Dank meinem Götti und der Firma Binggeli konnten wir die abgebrannten Gebäude sehr günstig neu erbauen. Der Verkauf, sogar mit Gewinn, sollte ohne weiteres möglich sein. So machten wir ein kleines Inserat im «Schweizer Bauer». Plötzlich gab es noch andere zusätzliche Schwierigkeiten: Nun wurden die Neider aktiv und intervenierten beim Komitee in Bern. Unerwartet bekam 106 P43076_inh_Buch_Staub.indd 106 06.02.15 13:32 ich eine Vorladung vom Präsidenten der Evangelischen Gesellschaft des Kt. Bern. Auch da wurde der Wunsch geäussert, dass ich den Hof wieder verkaufen soll: «Aber das sei ausdrücklich vermerkt nur unter dem Beistand des Präsidenten der EGB!» Im selben Schreiben wurde auch erwähnt, dass ich damit rechnen müsse, von Schwarzenburg versetzt zu werden. Des weitern wurde beanstandet, dass ich vor dem Kauf nicht das Komitee informiert hatte. Ich habe mich dann in einem Brief dafür entschuldigt und erwähnt, dass ich eine Versetzung ohne weiteres akzeptieren würde; denn unter den Mitgliedern der Gemeinde gab es ebenfalls Missgunst. Das hat uns echt Mühe bereitet, weil man sich wenig Gedanken gemacht und darum bekümmert hat, wie wir wohl finanziell zurechtkamen. Beim Gespräch mit dem Präsidenten wurde mir eröffnet, dass es nicht angebracht sei, wenn ich beim Verkauf einen grösseren Gewinn erzielen würde; denn das könnte als Spekulation gewertet werden. Man hatte auch schon einen Interessenten für den Hof zur Hand. Ich war verblüfft, ja vor den Kopf gestossen. Vor knapp zwei Jahren war man nicht einmal bereit gewesen, uns aus dem Spezialfond eine Unterstützung zu gewähren, und jetzt das...! Ich war nicht bereit, sofort auf diesen «Kuhhandel» einzuwilligen. Ungern gewährte man mir ein paar Tage Bedenkzeit. Kaum zu Hause angekommen, erkannte meine liebe Frau sofort, dass ich enttäuscht und niedergeschlagen war. Kaum hatte ich ihr alles erzählt, erging es ihr noch schlimmer als mir. Zudem hatte sie Angst um unsere Zukunft. Es machte uns jedoch getrost, dass wir alles Gott, unserem Herrn, der weiss, was gut für uns ist und uns den Weg zeigt, den wir gehen sollen, anbefehlen durften. Ich besprach mich auch mit meinen Eltern und meinem Paten. Sie befanden, dass ich infolge Einwirkung höherer Gewalt den Bauernhof verkaufen müsse. Wenn ich dabei einen Gewinn erzielen sollte, wäre dies sicher nicht sündhaft. Dies teilte ich dem Präsidenten in Bern mit und wies darauf hin, dass die Baukosten dank meinem Götti und der Firma Binggeli sehr niedrig gewesen waren. 107 P43076_inh_Buch_Staub.indd 107 06.02.15 13:32 Der Präsident war über meine Entscheidung nicht erfreut. Wir hatten zuletzt jedoch ein recht gutes Gespräch. Er akzeptierte unsere Entscheidung und meine diesbezüglichen Anmerkungen. Er empfahl uns allerdings, den Hof zu einem angemessenen Preis zu veräussern. Daraufhin erhielten wir noch folgende schriftliche Bestätigung: «Betrifft: Verkauf ihres landw. Heimwesens... Das Komitee wurde durch den Präsidenten über den Verlauf der Verhandlungen in Kenntnis gesetzt. Wir geben Ihnen nun Freiheit, so weiter zu handeln, wie Sie es vor Gott und Menschen verantworten können. Nach dem Verkauf erwarten wir einen entsprechenden, schriftlichen Bericht. Mit freundlichen Grüssen zeichnen Namens des Komitees ...» Und das geschah dann auch so. Wir hatten einen potentiellen Käufer, welcher seinen am Zürichsee gelegen Hof verkauft hatte. Bei der ersten Besichtigung war das Land noch schneebedeckt. Der Interessent war mit dem Kaufpreis von 420 000.– Franken sofort einverstanden. Angesichts des neuen, modernen und weiträumigen Oekonomiegebäudes sowie dem schönen Zweifamilienhaus, vor welchem sogar ein Teich mit Springbrunnen angelegt worden war, konnte dieser Preis als sehr günstig eingestuft werden. Es würde zu weit führen, all die Details zu erwähnen, weshalb wir trotzdem einen, für unsere Verhältnisse, beträchtlichen Gewinn erzielen konnten. Nachdem der Schnee weggeschmolzen war, kamen die Käufer ein zweites Mal zu einer weiteren Besichtigung. Sie waren begeistert. Noch gleichentags wurde bei einem Notar der Verkauf stipuliert. Wir waren dankbar und überglücklich! Und wir erkannten in diesem ganzen Geschehen einmal mehr die Gnade und gütige Führung Gottes. Unser Herr wusste wirklich, was gut für uns war und er hatte uns den Weg gewiesen, den wir gehen sollten. 108 P43076_inh_Buch_Staub.indd 108 06.02.15 13:32 Wir durften auch erleben, dass es in der Gemeinde nicht wenige gab, welche sich mit und für uns freuten. Interessanterweise waren dies vor allem die ganz einfachen und anspruchslosen Mitchristen. Vor allem die jüngere Generation war diesbezüglich recht loyal. Dank der intensiven Arbeit in den Jugendgruppen hatte sich die Gemeinde wesentlich verjüngt. Ein weiterer Grund dafür war, dass ich mich für den Aus- und Umbau des Vereinshauses voll eingesetzt und dabei viel Herzblut investiert hatte. 109 P43076_inh_Buch_Staub.indd 109 06.02.15 13:32 Unsere Versetzung ins Emmental Im Frühjahr 1962 wurde uns mitgeteilt, dass das Komitee beschlossen habe, uns nach Sumiswald zu versetzen. Was uns bereits andeutungsweise mitgeteilt worden war, kam nun zum Vollzug. Obschon wir viele, uns liebgewordene Mitchristen verlassen mussten, waren wir andererseits über diese Lösung dankbar und erfreut. Was wir zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht wussten, war der Umstand, dass in Sumiswald bauliche Veränderungen am Vereinshaus anstanden. Wahrscheinlich waren meine diesbezüglichen Erfahrungen und Kenntnisse für den Entscheid dieser Versetzung ausschlaggebend gewesen. Am wenigsten angetan war meine liebe Frau von dieser Sachlage. Sie hatte bereits zur Genüge erlebt, was es bedeutet, wenn ein Haus um- und ausgebaut wird. Glücklicherweise wussten wir zu diesem Zeitpunkt nicht, dass wir diesbezüglich vom «Regen in die Traufe» geraten würden. Beim Umzug halfen uns treue Gemeindeglieder, sowohl in Schwarzenburg wie in Sumiswald. Hier im Emmental war die Wohnung viel geräumiger und umfangreicher. Die neue Gemeinde in Sumiswald und Umgebung war bedeutend grösser als die vorige. Wir wurden herzlich aufgenommen. Das Engagement vieler Mitglieder war bemerkenswert. Sechs Predigtorte waren hier zu bedienen. Ebenfalls wurde erwartet, dass ich den gemischten Chor dirigiere. Auch eine lebendige Jugendgruppe existierte bereits. Die Gemeindearbeit bereitete mir grosse Genugtuung. Es gab viele treue und engagierte Gemeindeglieder. Im Sommer leiteten wir zusammen mit einem in diesem Bereich bereits erfahrenen Evangelistenehepaar ein Kindersommerlager in Aeschi. Das war für uns ein neues, bereicherndes Erlebnis. In der Folge leitete ich gemeinsam mit meiner Frau mehrere solche Ferienlager in Aeschi und Wengen. Einmal hatten wir in Wengen fast nur Stadtkinder in einem solchen La- 110 P43076_inh_Buch_Staub.indd 110 06.02.15 13:32 ger. Es war uns nicht möglich, diese am ersten Abend einigermassen zu beruhigen. So ordnete ich an, dass alle wieder aufstehen und angekleidet vor dem Ferienheim erscheinen mussten. Anschliessend machten wir einen Schnell-Lauf bergab und bergauf, um die Kinder müde zu machen. Tags darauf gingen wir zu Fuss nach Lauterbrunnen zum Staubbachfall. Anschliessend bis hinauf auf die Wengernalp. Dabei trafen wir sogar auf ein Rudel Gämsen. Da fragte ein Kind: «Ist das immer noch ein Strafmarsch?» Zurück in Wengen waren wir Leiter wirklich erschlagen, wahrscheinlich mehr als die Kinder! 111 P43076_inh_Buch_Staub.indd 111 06.02.15 13:32 Gottes Wege sind einfach wundervoll Wieder einmal musste ich den Coiffeur aufsuchen. Da bereits ein Kunde bedient wurde, nahm ich eine Zeitung und blätterte diese durch. Da fiel mein Augenmerk auf ein kleines Inserat. In Yvonand, am Neuenburgersee, war ein Haus zu verkaufen. Da meine Eltern vor Jahren daselbst fast einen Bauernhof gekauft hätten, war mir der Ort nicht unbekannt. Ich erkundigte mich beim Friseur, ob ich das Inserat mitnehmen dürfte. Er sah sich die Zeitung an und sagte dann: «Die ist ja bereits drei Tag alt, sie können das ganze Blatt haben.» Zu Hause angekommen, nahm ich sofort Kontakt mit der angegebenen Anschrift auf. Kurzerhand vereinbarten wir eine Besichtigung des Objektes. Und das war ja nun wirklich ein Ding! Es handelte sich um ein etwas verwahrlostes Fischerhaus direkt am See. Von diesem war das Objekt nur durch einen öffentlichen Weg getrennt. Zum Haus gehörte ein ebenfalls etwas vernachlässigter Garten von 1‘300 m2. Wir waren total begeistert. Etwas später teilte uns der Vermittler mit, dass der Besitzer des Fischerhauses beim Verkauf seiner Liegenschaft noch seine Geschwister ausbezahlen muss und deshalb der Verkaufspreis nun um zwanzig tausend Franken erhöht worden sei. Trotz dieser Sachlage erklärten wir uns bereit, den Kauf zu tätigen. Wie sehr Gott bereits zu diesem Zeitpunkt alles in die Hand genommen hatte, konnten wir später nur voller Dankbarkeit erkennen und seine Treue rühmen. Der Herr ist wirklich zuverlässig und hoch erhaben. Mit Paulus kann ich nur rühmen und bekennen: «Wie gross ist doch Gott! Wie unendlich sein Reichtum, seine Weisheit, wie tief seine Gedanken! Wie unbegreiflich für uns seine Entscheidungen und seine Pläne,» Römer 11,33. Nicht lange danach wurden wir noch Besitzer von zwei Rusticostadel im Tessin. So blieb ich meinem einmal gefassten Grundsatz treu, eher Geld zu borgen, als dieses bei einer Bank anzulegen. 112 P43076_inh_Buch_Staub.indd 112 06.02.15 13:32 In Yvonand ergaben sich interessanterweise Parallelen zu Schwarzenburg. Wie bei der Firma Binggeli waren auch hier zwei Brüder liiert. Der eine war Architekt, der andere hatte das Baugeschäft. Das heruntergekommene Fischerhaus bestand aus dem Parterre und dem ersten Stock. Als uns der Architekt die ersten Planskizzen und die entsprechende Kostenberechnung vorlegte, beunruhigte uns der Kostenpunkt. Uns wurde sofort bewusst, dass dieser Betrag ausserhalb unserer Möglichkeiten lag. Von unserem geringen Lohn konnten wir unmöglich etwas für Bankzinsen erübrigen. Das Fischerhaus in Yvonand beim Kauf 1962 Das Haus ist ausgebaut 113 P43076_inh_Buch_Staub.indd 113 06.02.15 13:32 Darauf reagierte der Architekt mit einem interessanten Vorschlag: «Wenn es so ist, dass das Ganze nach einem Ausbau selbsttragend sein muss, kann man aus diesem Gebäude mit etwas Mehraufwand ein Dreifamilienhaus machen.» Nach diesem Vorschlag wurde sodann das Ganze Unternehmen geplant und ausgeführt. Da der Erdboden im Garten sehr sandig war, konnten von Baugruben in der Nähe insgesamt achtzig Lastwagen vollbeladen mit guter Erde auf unser Gelände transportiert werden. 114 P43076_inh_Buch_Staub.indd 114 06.02.15 13:32 Wieder am Bauen Das Vereinshaus in Sumiswald war 1920 stattlich und solide erbaut worden. Nun aber drängte sich eine Totalrenovation geradezu auf. Man konnte wohl mit dem Auto zum Haus fahren. Es gab aber keinen Parkplatz und keine Garage. Hinter dem Haus war ein hölzerner Anbau mit Treppenaufgang zur Wohnung. Hier befanden sich auch die Toiletten. Dieser Bereich war nicht beheizbar. Ansonsten wurden die diversen Öfen mit Holz und Kohle beheizt. Bereits gab es Planskizzen betreffs einer vorgesehenen Sanierung des Anwesens. Nach wie vor waren das Zufahrts- Parkplatz- und Garageproblem ungelöst. Die Ausfahrt direkt auf die Hauptstrasse war unübersichtlich und gefahrvoll. Deshalb musste beim Anlegen eines Parkplatzes zugleich die Errichtung einer anderen Zufahrt ins Auge gefasst werden. Nebenan war eine unbebaute Parzelle. Deren Besitzer wollten davon nichts veräussern. Anders verhielt es sich mit zwei Nachbarn hinter dem Vereinshaus. Diese hatten ein offenes Ohr für unser Anliegen. So konnte für Zufahrtsstrasse und Parkplatz das nötige Land gekauft werden. Das war nicht bloss ein Glücksfall, sondern eine gnädige Führung Gottes! Der Predigtsaal war in zwei Hälften geteilt. In der Mitte ruhte der obere Stock auf zwei massiven Eichensäulen. Diese wollte ich unbedingt weghaben. Als ich dieses Anliegen bei der nächsten Sitzung vorbrachte, war der Architekt nicht glücklich darüber. «Das wird sie aber sehr teuer zu stehen kommen. Das Gewicht auf diesen Säulen ist gewaltig. Ich kann mich dazu nicht äussern. Das ist Sache eines spezialisierten Ingenieurs», erklärte er. In dieser heiklen Angelegenheit kam uns ein gläubiger Mechaniker zu Hilfe, welcher in der Nachbargemeinde eine Werkstätte betrieb. Was danach geschah, ist so aussergewöhnlich, dass einiges davon nicht unerwähnt bleiben soll: Der erwähnte Mechaniker demontierte den Zylinder einer grossen hydraulischen Presse. Mit dieser einfachen Lösung konnte das beträchtliche Gewicht auf diesen Säulen genau festgestellt werden. Die ermittelte Last erforderte zwei Doppel-T-Dynträger von 30 cm Durchmesser. Von dem Werkstattbesit- 115 P43076_inh_Buch_Staub.indd 115 06.02.15 13:32 zer erhielt ich die Adresse von einer Alteisenfirma in Rothrist. Hier fand ich zwei Dynbalken, wie wir sie benötigten. Und sie hatten genau die richtige Länge. Dies war sicher kein Zufall, sondern wieder ein Geschenk unseres treuen Herrn. Und das ist noch nicht alles. Auf den gewünschten Termin lieferte die Firma aus Rothrist die Dynträger. Wir hatten alles vorbereitet: Nachdem das Gesamtgewicht, welches auf den beiden Säulen ruhte, genügend abgestützt war, entfernten wir diese Eichenstützen. Mit dem mobilen Kran auf dem Lastwagen wurden die Tragbalken durch ein Loch in der Aussenwand des Hauses auf dem vorbereiteten Stützgestell quer durch den Saal gerollt. Als alles definitiv eingesetzt war, und die Dynbalken voll belastet waren, funktionierten sogar alle Türen oben in der Wohnung wieder einwandfrei. Als die neue Zufahrtsstrasse errichtet war, wurde der aus Holz bestehende Anbau hinter dem Haus abgerissen. Die Treppe wurde vor dem Haus provisorisch am Balkon angebracht. Nun konnte man den Wohnbereich nur noch über diese Treppe und danach durch das Wohnzimmer erreichen. Hinter dem Haus wurde ein massiver Anbau erstellt. Im Parterre mit Eingang zum Saal entstanden eine Garderobe, WC-Anlage, Garage und Treppenhaus. Im ersten und zweiten Stock wurden Toiletten, Badezimmer und drei Gästezimmer eingerichtet. Fast gleichzeitig wurde unser Haus am Neuenburgersee ausgebaut. So konnten wir uns öfters dorthin zurückziehen, wenn wir ein bis zwei Tage frei hatten. Während der Sommerzeit genossen wir das Baden im See. Da das Haus einem Berufsfischer gehört hatte, konnten wir den kleinen Privathafen nun unsererseits mieten und benutzen. Wir kauften sodann ein Ruder- und ein Motorboot. Es wurde uns so richtig bewusst, wie getreulich Gott für uns gesorgt hatte. Seine Weisheit und Pläne sind unerforschlich, aber wunderbar! Wir konnten nur dankbar darüber staunen, wie sich seine Zusagen genau erfüllten. Nachdem das Haus fertig ausgebaut war, fanden wir für die zwei Wohnungen im ersten Stock Dauermieter. Dadurch wurde dieser Besitz finanziell selbsttragend. Die Gemeindearbeit bereitete mir viel Freude und Genugtuung. Die Leute 116 P43076_inh_Buch_Staub.indd 116 06.02.15 13:32 im Emmental waren überaus liebenswürdige und treue Gottesdienstbesucher. Ein Wermutstropfen gab es leider dennoch. Ein Mitglied vom Hauptkomitee, welches hier in der Nähe von Sumiswald wohnte, machte mir zunehmend das Leben schwer. Doch standen fast alle Gemeindeglieder treu hinter mir und unterstützten mich. Ein verlässlicher Bruder, welcher ein Verantwortungsträger war, intervenierte in Bern. Leider bewirkte dies keine erkennbaren, positiven Auswirkungen. Wir erlebten viel Akzeptanz und Unterstützung in der Gemeinde, und es entstanden nette Freundschaften. Der massive Einsatz meinerseits während der langen Aus- und Umbauphase hat sicher viel dazu beigetragen. Andererseits löste dieser Erfolg scheinbar bei meinem Widersacher Neid und Eifersucht aus. Schmerzhaft sollte ich die Realität des geflügelten Wortes noch bitter erfahren: «Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.» Glücklicherweise profitierten wir als Familie von den jeweils freien Tagen. Wir machten Ausflüge im schönen, hügelreichen Emmental und manchmal auch an den Neuenburgersee. Unsere beiden Kinder genossen dies in vollen Zügen. Insbesondere Suzanne, die vor Lebensfreude und Unternehmungslust nur so strotzte. Als grosse Herausforderung erlebte ich als junger Seelsorger die Betreuung eines an Krebs erkrankten Mannes. Dem unheilbar Leidenden, von Schmerzen gekennzeichneten Bauer beizustehen, ging fast über mein Vermögen. Ich musste erleben, dass wir trotz dem Fach «Seelsorge» diesbezüglich nur mangelhaft vorbereitet wurden. Die Begleitung des Kranken war das Eine, andererseits benötigte die schwer geprüfte Gattin mit ihren Kindern ebenfalls dringend Unterstützung. In unserem Chor hatte es talentierte Sänger. Deshalb entschlossen wir uns, die Kantate von Emil Ruh: «Die Gotteskinder» einzuüben, um diese dann an einem besonderen Gesanggottesdienst vorzutragen. Das beinhaltete freilich eine beachtliche Herausforderung, besonders für mich als Dirigent. 117 P43076_inh_Buch_Staub.indd 117 06.02.15 13:32 In diese Zeit fiel die dritte Schwangerschaft meiner lieben Gattin. Diese hatten wir bewusst geplant. Eine Frau aus unserer Gemeinde war Hebamme und begleitete Jeanne-Marie während dieser Zeit. Zu Beginn mussten wieder Infusionen verabreicht werden. Am 17. März 1964 kam im Bezirksspital Sumiswald unser drittes Kind zur Welt. Hier konnte ich natürlich bei der Geburt dabei sein. Welch ein gewaltiges Wunder ist es doch, wenn so ein kleines, gesundes Menschlein das Licht der Welt erblickt und sogleich den ersten Schrei von sich gibt! Ich hatte mir ein zweites Mädchen gewünscht, und es war ein Mädchen! Es bekam den Namen Annelise. Abgeleitet von den beiden biblischen Namen Anne und Elisabeth. Nach hebräischer Überlieferung war Anne die Mutter von Maria und kann mit Anmut und Gnade umschrieben werden. Elisabeth war die Mutter Johannes des Täufers und bedeutet: Die von Gott Gesandte. Die kleine, schwarzhaarige Annelise war wirklich anmutig ein Gnadengeschenk unseres himmlischen Vaters. Dank der Güte Gottes bekamen wir dieses dritte Wunschkind. Infolge unserer Finanzlage war es uns möglich, Mitchristen unter die Arme zu greifen. Einem Mitevangelisten lieh ich auf dessen Anfrage ein kurzfristiges, zinsfreies Darlehen. Für ein treues Versammlungsmitglied übernahm ich eine Bürgschaft für ihr Wohnhaus, welches sie zum Kauf angeboten hatten. Da der Kauf nur so getätigt werden konnte, ging ich dieses Risiko ein. Und es hat sich gelohnt. Diese Leute waren so liebenswürdig und unendlich dankbar. Unsere Familie anlässlich der Taufe von Annelise Nach fast zwei Jahren Um-, Renovations- und Erweiterungsbauzeit, fand am Sonntag, den 12. April 1964 die Gedenk- und Renovationsfeier unseres Vereinshauses statt. Dieses war überaus praktisch eingerichtete worden und präsentierte sich in neuem Schmuck. 118 P43076_inh_Buch_Staub.indd 118 06.02.15 13:32 Das ausgebaute und renovierte Vereinshaus Sumiswald Hier ein paar Auszüge aus dem entsprechenden Bericht in den Brosamen: «Es brauchte viel Hoffnung und Glaubensmut, als die «Sumiswaldner» vor zwei Jahren das Erneuerungswerk an die Hand nahmen. Unter der tüchtigen, umsichtigen Bauleitung unseres Ortsevangelisten R. Staub wiederholte sich, was in Haggai 1,14 steht: «Und der Herr erweckte den Geist des ganzen Volkes, dass sie kamen und arbeiteten am Hause des Herrn Zebaoth, ihres Gottes.» Das sei gleich vorweg mit freudigem und dankbarem Herzen bezeugt: Dieses Werk hätte niemals auf solch gründliche und vielseitige Weise durchgeführt werden können, wenn nicht die Leute vom Arbeitsfeld Sumiswald und darüber hinaus sich mit so viel selbstlosem Dienst beteiligt hätten... Nebst der Wohnung wurde auch der Saal einer gründlichen Renovation unterzogen. Die starken Eichensäulen hat man entfernt und zwei Eisenbalken eingezogen. Dadurch wurde der Saal stützenfrei. Die alte Trennwand hat einer Harmonikawand weichen müssen... Der neuen Ölzentralheizung sind ausser dem Saal 17 weitere Räume angeschlossen... Die gesamten Auslagen, inklusive Landkäufe belaufen sich auf fast 100 000 Fr. Zirka die Hälfte ist durch Spenden, der Rest durch private Darlehen gedeckt. Fast 40 000 Fr. konnten durch freiwillige Mitarbeit eingespart werden. 119 P43076_inh_Buch_Staub.indd 119 06.02.15 13:32 Dankbar bezeugen wir mit dem Psalmsänger: «Das ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen.» Unsere Gemeindeglieder besuchten treu die Gottesdienste und Bibelstunden. Immer mehr Jugendliche kamen in die Jugendgruppe. Einige übernahmen diesbezüglich Verantwortung und halfen in der Leitung mit. Ich wurde sogar eingeladen in der Kirche von Lützelflüh einen Gottesdienst zu halten. Von der Kanzel aus zu predigen, wo einst der landesweit bekannte Pfarrer Jeremias Gotthelf gewirkt hatte, war schon etwas ganz Besonderes! Leider gefielen meinen Widersachern meine Beliebtheit und der Erfolg nicht. Sie versuchten meine Position zu untergraben und mich in Misskredit zu bringen. Zuerst ward ich dessen nicht inne. Doch im Hauptkomitee wurde ich scheinbar zusehends diskreditiert. Das führte dazu, dass mich unser Inspektor Pfarrer Lutz, ein verantwortliches Vorstandsmitglied unserer Gemeinde aufsuchte. Davon wusste ich vorerst nichts. Ich verzichte darauf hier Näheres festzuhalten. Doch meinem himmlischen Vater, der ins Verborgene sieht, entging all das nicht. Ich kann nur mit Paulus bezeugen: «Wie gross ist doch Gott! Wie unendlich sein Reichtum, seine Weisheit, wie tief seine Gedanken! Wie unbegreiflich für uns seine Entscheidungen und seine Pläne! Denn wer könnte jemals Gottes Absichten erkennen?» (Römer 11,33f) 120 P43076_inh_Buch_Staub.indd 120 06.02.15 13:32 Unser Umzug ins Welschland nach Moudon Als ich ganz unerwartet aus dem Welschland einen Telefonanruf erhielt, war ich total überrascht. Ein mir bekannter Kollege, welcher in Moudon Pfarrer war, ersuchte mich, sein Nachfolger zu werden. Weil seine Kinder das Schulalter erreicht hatten, wollte er in die Deutschschweiz zurückkehren. Darauf war ich wirklich nicht vorbereitet. Deshalb benötigte ich unbedingt eine Bedenkzeit. Das Wichtigste für uns war, Gottes Willen zu erfahren und von ihm geleitet zu werden. So prüften wir diese Frage eingehend und beteten darüber. Was war Gottes Wille und Absicht betreffs dieser Anfrage? Für meine liebe Jeanne-Marie bedeutete eine Rückkehr in die französischsprachige Schweiz eine Erleichterung. Da meine eigene Familie seit sieben Jahren im Waadtland lebte, wäre es auch für mich in gewisser Hinsicht eine Heimkehr. Ferner ist Moudon keine dreissig Autominuten vom Neuenburgersee entfernt. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, wie stark ich hier in Sumiswald angefeindet wurde. Aber Gott wusste es! Inzwischen war die Pfarrei in Moudon bereits verwaist. Nun ging es recht schnell. Das erste Zusammentreffen mit dem Kirchgemeinderat liess mich aufhorchen. Es hatte mit der vorherigen Pfarrfamilie Probleme gegeben. Weil das Gemeindegebiet 57 politische Gemeinden umfasst, gab es drei Kirchenkreise. Jeder Kreis hatte seinen eigenen Kirchenrat. Der Rat vom Kreis Oron hatte sich mit demjenigen von Moudon überworfen. Ich erklärte. «Bevor ich eine Zusage erteile, muss dieses Problem gelöst werden.» Daraufhin trafen wir uns mit Vertretern von Moudon und dem Kreisrat von Oron. Letztendlich geschah Versöhnung und ich erklärte mich bereit, die Berufung anzunehmen. Doch nun machte der Synodalrat Schwierigkeiten. Weil ich nicht ein akademisches Studium einer kantonalen theologischen Fakultät absolviert hatte, machte nun der Synodalrat besondere Auflagen. Zuerst sollte ich ein Praktikumsjahr ableisten und erst dann wählbar sein. Ich gab zur Antwort: 121 P43076_inh_Buch_Staub.indd 121 06.02.15 13:32 «Ich befinde mich in ungekündigter Anstellung. Sie haben mich berufen. Wenn ich nach sieben Jahren Gemeindearbeit nicht wählbar bin, ziehe ich meine Kandidatur zurück.» Das hatte zur Folge, dass ich im Broyetal einen Gottesdienst halten musste, an welchem eine Delegation der kantonalen Behörden anwesend war. Danach erklärte man dem Kirchgemeinderat: «Wählt ihn so bald als möglich.» Und das geschah dann auch: Anfangs1965 wurde ich im Broyetal mit 155 Stimmen ohne jeglichen Vorbehalt als neuer Pfarrer gewählt Am 25. Januar reichte ich dem Hauptkomitee in Bern meine Kündigung auf den 1. Mai 1965 ein. Kurz darauf wurde mir bewusst, wie unendlich dankbar ich über diese wunderbare Führung Gottes sein durfte. Inspektor Pfr. Lutz machte mir einen Besuch. Er bedauerte meinen Schritt, sagte aber zugleich: «Für Dich ist das die beste Lösung, ich bin froh für Dich!» Er gratulierte mir und gab mir seinen Segen für die Zukunft. Ganz anders sahen das die meisten Gemeindeglieder. Vielen war bewusst geworden, was sich hinter den Kulissen abgespielt hatte. Unser Bezirkspräsident war über meine Kündigung betroffen und traurig. «Nun haben deine Gegenspieler und dir feindlich gesinnte Menschen ihr Ziel erreicht. Ich weiss, dass ein Mitglied des Hauptkomitees bereits mit deiner Anstellung als Evangelist nicht einverstanden war», erklärte er mir. Mehr möchte ich darüber nicht schreiben, obschon ich einige diesbezüglich Briefe und Dokumente besitze. Letztlich hatte Gott den Überblick. Er hat uns wunderbar geführt und alles wohl gemacht! Darüber waren wir froh und sehr dankbar. In dieser Dimension zu erleben, wie aussergewöhnlich es ist, wenn Gott beruft und segnet war einfach einzigartig! Im Broyetal wurden wir auf das sehnlichste erwartet. Die Gemeinde befand sich nun bereits seit Monaten ohne Pfarrer. Infolge akuten Pfarrmangels hatten die deutschsprachigen Gemeinden grösste Mühe Seelsorger zu finden. Das hing damit zusammen, dass die Pfarreien ausgedehnte Gebiete zu betreuen hatten. Zur Kirchgemeinde des Oberen Broyetales gehörten mehr als 60 politische Gemeinden, und es waren total neun Predigtorte zu bedienen. 122 P43076_inh_Buch_Staub.indd 122 06.02.15 13:32 Obschon das Pfarrhaus sechs Zimmer hatte, konnten wir unseren Bechstein-Flügel nicht platzieren. Besonders die Zimmer im Parterre waren sehr klein. So stellten wir das Klavier vorerst bei meinen Eltern ein. Für unsere Kinder war der Umzug recht herausfordernd. Suzanne fand im Kindergarten schnell Anschluss. Philipp dagegen tat sich schwer. Vorher hatte er in der Nachbarschaft liebe Spielgefährten gehabt. Diese vermisste er nun. Unsere Familie 1965 in Moudon 123 P43076_inh_Buch_Staub.indd 123 06.02.15 13:32 Eine aussergewöhnliche Jugendarbeit Nur ungern hatte ich die blühende Jugendarbeit im Emmental verlassen. Aber hier im Broyetal war die Arbeit unter den Jugendlichen noch viel umfangreicher. Allein in unsere Gegend kamen jährlich über hundert Jugendliche, um die Sprache zu erlernen. Diese Welschlandgänger, wie wir sie nannten, zu sammeln und zu begleiten war eine der Hauptaufgaben unserer Kirchgemeinde. Zum Glück waren bereits junge Leute da, welche mir in dieser Arbeit zur Seite standen. Bei besonderen Gelegenheiten betonte ich: «Jedes Jahr legt Gott mir ein Missionsfeld vor die Füsse, sodass ich nicht nach Afrika oder Asien ausreisen muss, um zu missionieren.» Nach der Gründung einer weiteren regionalen JK-Gruppe hatten wir nun insgesamt vier JK’s, (JK.= Abkürzung für Junge Kirche). Je eine in Moudon, Oron, Mézières und Thierrens. Ein Handicap war der Umstand, dass die Kirchgemeinde keine eigenen Räumlichkeiten besass. Dieser Zustand war auf die Länge unhaltbar. Dann wurde uns im Stadtzentrum ein Gebäude zum Kauf angeboten. Kurzentschlossen erwarb die Gemeinde dieses grosse Gebäude. Darin wurde in der Folge ein Predigtsaal eingerichtet. Im Untergeschoss wurden die schönen, gewölbten Keller für die Jugendarbeit ausgestaltet. Bei diesen Arbeiten halfen die Gemeindeglieder tüchtig mit und ich selbstverständlich ebenfalls. Von den Hauptleitungen neben dem Haus erneuerte ich die Wasser- und Gasleitungen ins Gebäude hinein und von da weg durch das ganze Haus. Dreimal pro Woche war ich abends in der JK engagiert. Einmal im Monat versammelten sich alle Jugendlichen im Predigtsaal der Kirchgemeinde. Meistens zeigte ich dann einen evangelistischen Film. Danach wurden die Anwesenden eingeladen, ihr Leben Jesus Christus anzuvertrauen. Nach der Vorführung des Filmes: «Das Kreuz und die Messerhelden» vertrauten damals über zwanzig Jugendliche ihr Leben Jesus an. Das war überwältigend! Besonders wenn junge Menschen von der Sinnlosigkeit des Lebens zur Gotteskindschaft finden, beginnt für sie ein ganz neues Leben. 124 P43076_inh_Buch_Staub.indd 124 06.02.15 13:32 Als ich eines Tages in die Drogerie ging, wurde ich von einer Mitarbeiterin bedient, welche augenscheinlich Deutschschweizerin war. Wir kamen ins Gespräch, und ich lud sie in unsere Jugendgruppe ein. Kurz darauf erlebte sie eine glasklare Bekehrung. Sie war katholisch aufgewachsen. Einmal mehr erlebte ich, dass Menschen aus dem Katholizismus eine offensichtlichere Erkenntnis darüber haben, was Busse beinhaltet. Gabi tat nicht nur Busse, sondern fing gleich an, ihr Leben grundlegend in Ordnung zu bringen. Hier ihr Zeugnis: Zeugnis von Gaby Carrasco-Lenz Mit 21 Jahren zog ich in die Westschweiz nach Moudon, wo ich als Drogistin arbeitete. Pfarrer Ruedi Staub tätigte seinen Einkauf in der Drogerie und lud mich in die Jugendgruppe ein. Als ich das erste Mal hinging, erzählte ein ehemaliger Drogenabhängiger, wie Jesus ihn von Abhängigkeit befreite und sein Leben veränderte. Ich bin katholisch aufgewachsen und hörte in der Kirche jeweils die Geschichten von Jesu Geburt bis zur Kreuzigung, und dies alle Jahre wieder. Das Kreuz, mit dem gekreuzigten Heiland, welches vorne hing, festigte meinen Eindruck, es mit einem toten Gott zu tun zu haben. Auch eine spätere Suche (während den Teenager-Jahren), den Sinn des Lebens in Religiosität zu finden, brachte nicht ein befriedigendes Resultat. So versuchte ich Liebe und Sinn in einer Freundschaft zu finden. Das in der Jugendgruppe gehörte Zeugnis berührte mich stark, und ich begann etwas davon zu spüren, dass wir es mit einem lebendigen Gott zu tun haben. Von diesem Zeitpunkt an durfte ich regelmässig zu Jeanne-Marie gehen, wo ich das erste Mal von meinen schwierigen Kindheitserlebnissen erzählen konnte. Sie hörte mir ruhig zu, und am Schluss betete sie jeweils. An einem Montagmorgen im Juni 1987 erzählte mir Ruedi von Adam und Eva und der Ursünde und fragte mich, ob ich Jesus in mein Leben einladen möchte. Mir wurde bewusst, dass ich ein Sünder bin und Gottes Vergebung benötige. In einem Gebet übergab ich sogleich Jesus mein Leben. Ich fühlte mich, als ob eine riesige Last von mir weggenommen wurde und hätte vor Freude tanzen und jubeln können. 125 P43076_inh_Buch_Staub.indd 125 06.02.15 13:32 Nachdem ich meinem damaligen Freund von meinen Erlebnissen mit Jesus erzählt hatte, dieser es jedoch nicht nachvollziehen konnte, wusste ich in meinem Herzen, dass ich diese Beziehung beenden musste. In der Deutschschweizer Kirchgemeinde wurde ich herzlich aufgenommen und fand somit eine Familie. Dankbar bin ich für die Zeit, die Jeanne-Marie in mich investiert hat. Ich erlebte Seelsorge, sprach Vergebung aus und erlebte Heilung von Verletzungen aus meiner Kindheit. Öfters durfte ich bei Staubs essen und auch mal mitfahren zu einem Ausflug auf den Neuenburgersee mit dem Segelschiff. Ich freute mich in der Jugendgruppe mithelfen zu dürfen, indem ich Jugendliche aus den umliegenden Dörfern abholte und sich dann neue Freundschaften mit Kolleginnen entwickelten. Durch all die wertvollen Menschen, die in der Kirchgemeinde mitarbeiteten, durfte ich Jüngerschaft erleben und freute mich u. a. auf die Bibelabende. Zusätzlich besuchte ich ab und zu Veranstaltungen von «Jugend mit einer Mission» und hörte von der Jüngerschaftsschule. Ruedi und Jeanne-Marie ermutigten mich, eine solche Schule zu besuchen. Nach mehr als zwei Jahren verabschiedete ich mich von den mir liebgewordenen Menschen aus Moudon. Ich hatte mich für eine halbjährige Haushaltsschule angemeldet. Zuvor jedoch flog ich nach Portugal für einen dreimonatigen Missionseinsatz, zu dem ich durch Ruedi’s Anfrage bei der Christlichen Ostmission, kam. An meinem 24. Geburtstag reiste ich zu einem neuen Abenteuer nach Togo, wo ich eine Jüngerschaftsschule von Jugend mit einer Mission besuchte. Den anschliessenden dreimonatigen Einsatz machte ich im Nachbarland Benin. Ich erlebte eine sehr gesegnete Zeit und immer wieder Gottes Bewahrung. Mein Vertrauen in Gott ist durch viele Erlebnisse stark gewachsen. Was mich besonders berührte, war Gottes Fürsorge und sein Vaterherz näher kennenzulernen. Zurück in meiner Heimat fand ich bald eine Arbeitsstelle. Mein Ziel war es, Geld zu verdienen, um eine Bibelschule zu besuchen. Da mein Herz weiter 126 P43076_inh_Buch_Staub.indd 126 06.02.15 13:32 für Afrika schlug, entschloss ich mich, diese in französischer Sprache zu absolvieren. Familie Staub empfahl mir zwei Adressen, worauf ich mich für die Schule von IBETO entschied. Gleich zu Beginn der Bibelschule hat mich Gott von einer Erschöpfungsdepression geheilt, die ich sechs Monate zuvor erlitten hatte durch Überforderung an der damaligen Arbeitsstelle. Als mir der Prediger die Hände auf die Stirn hielt, spürte ich, wie Wärme mich durchflutete, Kraft und Freude wieder in mein Leben zurückkamen. Nach dem ersten Schuljahr erhielt ich die Anfrage einer Familie, für einen einmonatigen Missionseinsatz nach Indien zu fliegen, und sie bezahlten mir die Reise. Zwischendurch arbeitete ich auch, und bevor das nächste Schuljahr losging, erlebte ich das Wunder, dass das Stipendium ausbezahlt wurde, das ich Monate zuvor beantragt hatte. Wieder erlebte ich, wie mein himmlischer Daddy für mich sorgte. Gottes Wort wurde mir in dieser Zeit lieb, und wir erlebten, wie Gottes Geist uns berührte. Wir hatten eine gute Gemeinschaft mit allen Studenten; besonders wertvoll war die Zeit mit meiner afrikanischen Freundin. Nachdem ich vier Tage vor Schulschluss eine Absage bekommen hatte von einer Projektarbeit in Westafrika, war es naheliegend, wieder in den Kanton Thurgau zurückzukehren. Traurigen Herzens nahm ich Abschied, jedoch getröstet mit einem Liedtext: mein Gott sorgt für alle meine Bedürfnisse. Und so war es in der Tat. Im Gottesdienst am Pfingstsonntag fragte mich eine Kollegin, ob ich mit ihr die Wohnung teilen möchte, und am darauffolgenden Tag hatte ich eine Arbeitsstelle im Altersheim. An einem Missionskongress in Holland lernte ich meinen jetzigen Mann César kennen. Nachdem Gott unsere Beziehung immer wieder bestätigte, heirateten wir nach eineinhalb Jahren. Gott schenkte uns drei Wunschkinder. Zuerst dachten wir nach Italien zu gehen, um dort Gott zu dienen. Die Türen waren jedoch «verschlossen». Gott hat César viel Gunst geschenkt an den jeweiligen Arbeitsstellen und dazu auch Ideen im technischen Bereich. Vor vier Jahren gründeten wir unsere erste kleine Firma und machten gemeinsame Erfahrungen im Bereich der Geschäftswelt. Seither sind andere Firmen dazugekommen, und wir haben uns entschlossen, das Abenteuer in die selbständige Arbeit mit Gottes Hilfe zu wagen. Unser Wunsch ist, Gott zu dienen gemeinsam als Familie und in den für uns vorbereiteten Wegen zu gehen. Wir sehen unsere Berufung in der Wirtschaft /Business, wo immer möglich wir Menschen mit Gottes Liebe erreichen möchten. 127 P43076_inh_Buch_Staub.indd 127 06.02.15 13:32 Zuletzt möchte ich hinzufügen, liebe Jeanne-Marie, lieber Ruedi, dass ich von Herzen dankbar bin, für all die Zeit und Gebete, die Ihr in mich investiert habt. Ihr habt mir zu einer guten Wiedergeburt verholfen und mir den Raum gegeben, im Glauben zu wachsen. Ich freue mich, die gute Frucht zu sehen, die Ihr beide und Menschen der Deutschschweizer Kirchgemeinde in Moudon hervorgebracht haben, in vielen Menschen, die die Jugendgruppe besucht haben. Eine 20-jährige Mitarbeiterin war wesentlich daran beteiligt, dass ich als Pfarrer anfing die Jugendlichen aufzurufen sich persönlich für Jesus zu entscheiden. Diese junge Frau teilte mir in einem Brief, nachdem sie in die Deutschschweiz zurückgekehrt war, folgendes mit: «Sie haben uns den Weg in die Nachfolge Jesu klar beschrieben, aber wie man auf diesen Weg kommt, zu wenig fassbar gemacht. Erst hier zu Hause erhielt ich klare Antwort, wie ich mich für Jesus entscheiden kann.» Ich dachte: «So etwas darf sich nicht wiederholen! Fortan sollen die jungen Leute mehrmals im Jahr die Möglichkeit erhalten, sich für Jesus zu entscheiden.» – Nur der Himmel kennt all diejenigen beim Namen, welche diesen Schritt in all den Jahren vollzogen haben. Dank Gottes Gnade sind es viele! Einige haben in der Folge Bibelschulen besucht und wirken in der Mission und ihren Gemeinden mit. Dann gab es eine kleine Erweckung unter Jugendlichen aus unserer Gemeinde. Als dann ein junger Mann eine klare Wiedergeburt erlebte und von da weg nicht mehr an den Wochenenden an Festivitäten mit Tanz u.a.m. teilnahm, war das Aufsehen gross. Einem anderen Jungen, der in die JK kam, erklärte der Vater: «Wenn du weiterhin zu diesem «Stündelipfarrer» gehst, werde ich dafür sorgen, dass du einmal unseren Hof nicht bewirtschaften kannst. Derselbe Vater kam sogar, um seine Tochter, welche nach einem Gottesdienst mit mir ein Gespräch führte, aus dieser Seelsorge nach Hause zu holen. Bei diesen Kindern wirkte sich diese Handlungsweise ihres Vaters in der Folge negativ aus. Die oben erwähnten Väter gaben ihre Mitgliedschaft im Kirchenchor auf in der Hoffnung, dass dieser dadurch nicht weiter bestehen würde. Dank der Fürsorge Gottes wurden jedoch die Austritte durch Eintritte wettgemacht. 128 P43076_inh_Buch_Staub.indd 128 06.02.15 13:32 Jedes Jahr machten wir einen Gemeindeausflug. Eine besondere Reise war diejenige mit dem «roten Pfeil» der SBB. Diese Zugkomposition war einen ganzen Tag nur mit uns unterwegs. Das war ein besonderer Höhepunkt im Gemeindealltag. Im Nachbarort Lucens befand sich ein grosses Töchter-Institut. Hier unterrichtete ich jeweils eine Konfirmandenklasse. Diese 15jährigen Mädchen waren manchmal sehr schwierige Teenager. Oft hatten sie bereits zu Hause und in der Schule Probleme bereitet. Deshalb wurden sie für das letzte, neunte Schuljahr ins Institut geschickt. Da diese 15jährigen noch nicht konfirmiert waren, hatte ich sie zu unterrichten. Das war meistens ein mühevolles Unterfangen. Dank des guten Einvernehmens mit der Institutdirektion konnten wir jeweils den Konfirmandenunterricht mit einem einwöchigen Konfirmandenlager in unserm Haus am Neuenburgersee beginnen. Das ergab stets einen guten Einstieg ins Unterrichtsjahr. Da haben meine Frau und ich so manches erlebt. Zum Beispiel wollte sich die Tochter eines Architekten nicht konfirmieren lassen. Nachdem ich ihr und dem Vater klar gemacht hatte, dass die Tochter autonom entscheiden dürfe, wurde ihr die Entscheidung freigestellt. Nun wollte sie doch konfirmiert werden und war wirklich bereit diesen Schritt zu vollziehen. Jährlich organisierten wir Konzerte mit zum Teil bekannten Singgruppen und Bands, wie den «Stars of figth», den «International Singers», den «Shelomith» und anderen mehr. Diese Konzerte fanden in grossen öffentlichen Sälen statt, meistens in Lucens. Hier füllten schon die 150 Mädchen aus dem Institut den halben Saal. Wir veranstalteten Evangelisationswochen mit den «Janz Ambassadors» und später mit dem bekannten «Event-Pfarrer» Fredy Staub. Das waren immer Höhepunkte in unserer Gemeindearbeit. Zusammen mit einigen Gemeindegliedern war uns klar geworden, dass wir unbedingt einen Gebetskreis benötigten. Das Problem war nur, dass es keinen freien Abend mehr gab, an welchen alle Interessierten teilnehmen konnten. So kamen wir morgens früh vor Arbeitsbeginn zusammen, und zwar um 05.30 Uhr. Sonntags hatte ich meistens drei Gottesdienste zu halten, einmal im Monat sogar deren vier. Für die Vorbereitungen mussten oft auch die Nachtstunden herbeigezogen werden. In der Folge erlitt ich einen Herzanfall mit einem Zirkulationskolaps. Die Auswirkung war ein Gehörverlust von 27 % 129 P43076_inh_Buch_Staub.indd 129 06.02.15 13:32 auf beiden Ohren. Fazit: Einige Wochen Urlaub und Erholungskur in den Bergen. Dankbar war ich, dass nicht eintraf, was der Spezialist befürchtete: Eine zunehmende Schädigung des Gehörs. Dann verdeutlichte mir der Arzt: «Wenn Sie Ihre Lebensweise nicht ändern, werden die Folgen verheerend sein. Sie sollten sich mindestens als Ausgleich mit einem Hobby beschäftigen.» Nachdem ich das Patent erworben hatte, ging ich zum Fischfang an unseren Fluss: Die Broye. Da ich mich langweilte, ergab ich mich dann zugleich dem Lesen. Der Arzt billigte das nicht. Da riet mir ein Kirchgemeinderat, Bienen zu halten. In der Nähe konnte ich ein Bienenhaus kaufen und dieses auf einem Grundstück des erwähnten Ratsmitgliedes aufstellen. Dieser Ausgleich wurde tatsächlich segensreich. Die Beschäftigung mit den Immen war eine heilbringende Ablenkung. Ein Kirchgänger meinte dann: «Vielleicht heilen die Bienenstiche diejenigen der Leute.» Und das tat wirklich Not: Denn ich wurde wieder angefeindet, und wie! Es kam soweit, dass ich in einem anonymen Brief aufgefordert wurde, die Kirchgemeinde zu verlassen. Mit dem Brief wurde mir sogar das Inserat einer Stellenausschreibung zugeschickt, wo ich mich bewerben sollte. Dann bekam ich eine Anfrage von einem Pfarrkollegen aus Lausanne. Da er selber in die Deutschschweiz zurückkehrte, hätte ich seine Stelle in Lausanne einnehmen können. Wir waren bereit, dies zu prüfen. Da unsere Suzanne im kommenden Jahr in Lausanne in die Handelsschule, und Philippe ein Jahr später ins Gymnasium gehen würden, war dies schon deshalb naheliegend. Wir legten dann folgendes fest: Wenn ich mit meiner Ausbildung ohne weiteres wählbar bin, soll das unser Weg sein. Als ich dies meinem direkt vorgesetzten Pfarrkollegen unterbreitete, sagte er: «Dieses Kriterium wird kein Hindernis sein. Das heisst, sie können ihre Koffer packen.» Er hatte jedoch die Rechnung «ohne den Wirt gemacht». Die kirchlichen Behörden stellten fest, dass ich nicht Mitglied des «Waadtländer-Pfarrkollegiums» bin und deshalb auch nicht wählbar sei. Das hat meinen vorgesetzten Pfarrkollegen sehr enttäuscht. Er sagte: «Aber jetzt unternehmen wir alles, damit sie offiziell in unser Pfarrerkollegium integriert werden.» 130 P43076_inh_Buch_Staub.indd 130 06.02.15 13:32 So wurden Schritte eingeleitet, damit ich die nötigen Prüfungen ablegen und die «Aggregation» absolvieren konnte. Das kam mir dann später zugute, worüber ich sehr dankbar war. So blieben wir in Moudon, was mir dann auch die Mitarbeit in der Christlichen Ostmission ermöglicht hat. Ab dem nächsten Kapitel folgt als Zwischenstück diese Schilderung. 131 P43076_inh_Buch_Staub.indd 131 06.02.15 13:32 Mein Engagement in der Christlichen Ostmission Da ich genau die Hälfte meines Lebens, 40 Jahre in der Christlichen Ostmission (COM), auch als Vizepräsident im Vorstand mitwirken durfte, möchte ich hier einiges vom Erleben in dieser speziellen Missionsarbeit festhalten; denn auch hier wird offensichtlich, dass Gott berufen und gesegnet hat! Als sich mein Mitwirken in der COM ausweitete, reduzierte ich meine Arbeit in der Kirchgemeinde einige Zeit um 20 %. Es war 1972, als ich eines Tages von einem Missionsbeauftragten aus Holland Besuch bekam. Die amerikanische Missionsgesellschaft «Underground Evangelism» wollte in der Schweiz Fuss fassen und suchte Mitglieder, um einen Vorstand zu bilden. Mein Engagement für die verfolgten Christen in Ostdeutschland im Besonderen und «hinter dem Eisernen Vorhang» im Allgemeinen bewirkte diese Anfrage. Nach Absprache mit dem Kirchgemeinderat erteilte ich meine Zusage. So kam es, dass ich Mitbegründer der Christlichen Ostmission (COM) in der Schweiz wurde. In der Folge entfaltete sich mein persönlicher Einsatz in dieser Missionsarbeit zusehends. Im Vorstand versah ich den Posten des Vizepräsidenten und wirkte in verschiedenen Projekten mit. Aus diesem Engagement entstanden in der Kirchgemeinde Probleme. Es wurde sogar gemunkelt: «Der Pfarrer verdient wahrscheinlich in der Ostmission mehr als bei uns.» Dabei gab es nicht einmal ein Sitzungsgeld, und ich bezahlte auch alle Reisen selber. Rückhalt erfuhr ich vor allem vom Präsidenten des Kirchgemeinderates. Dieser erklärte: «Seit dem Mitwirken unseres Pfarrers in der Ostmission sind auch seine Predigten gehaltvoller geworden. Das heisst, nicht nur er, sondern auch wir profitieren davon.» Um die Gemüter etwas zu beruhigen, wurde dann mein Arbeitspensum in der Kirchgemeinde auf 80% reduziert, das heisst: Ich verzichtete auf 20 % meines Gehaltes. So hatte ich mehr Freiraum, mich in der Christlichen Ostmission voll und mit Nachdruck einzusetzen. 132 P43076_inh_Buch_Staub.indd 132 06.02.15 13:32 Als die COM im Jahre 1973 in der Schweiz ihre Arbeit begann, wurden Hunderttausende von Mitchristen hinter dem Eisernen Vorhang verfolgt. Unzählige waren bereits umgekommen, eine Vielzahl wurde grausam tyrannisiert und gefoltert. Zahlreiche schmachteten in Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken und Zwangslagern. Durch den bereits erwähnten, mehrtägigen Aufenthalt in Ostberlin und Ostdeutschland war ich für die Anliegen der verfolgten Christen hinter dem Eisernen Vorhang sensibilisiert worden. Drei Studienkollegen von mir dienten in der DDR als Pfarrer. Ferner wirkte ich damals in der evangelischen Filmmission mit und präsentierte den Film «Frage 7», welcher die Lage der verfolgten Christen authentisch schildert. Wie intensiv sich allerdings in Zukunft zeitweise mein persönlicher Einsatz in dieser «Ostmission» gestalten würde, vermochte ich zu diesem Zeitpunkt freilich nicht einzuschätzen. In der Folge führten mich verschiedene Reisen nach Jugoslawien, Rumänien, Ungarn, Thailand und Kambodscha, wo die Roten Khmer Furchtbares angerichtet hatten. Später musste ich mehrmals nach Somalia und Portugal reisen. Aber bevor ich über diese, zum Teil dramatischen Erlebnisse berichte, will ich ganz von vorne beginnen. Vorerst ging es darum, die Christen bei uns in der Schweiz darüber zu informieren, was unsere Glaubensgeschwister hinter dem Eisernen Vorhang erleiden mussten. Zahlreiche Zeugnisse erreichten uns fortwährend. Den Christen in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten war es ein wichtiges Anliegen, ihre Mitchristen im Westen darüber zu informieren, was ihnen widerfuhr. Unsere Aufgabe war es, diese Berichte den Gläubigen in der Schweiz weiterzugeben und ihr Mitempfinden zu wecken. Diese Anteilnahme sollte sie zur Fürbitte und Solidarität durch tätige Hilfe bewegen. Durch diese brüderliche Verbindung sollten die verfolgten Gläubigen in den kommunistisch regierten Ländern ermutigt werden und erleben, dass im Geist eine Verbundenheit über Grenzen hinweg möglich ist, welche weder durch psychische noch leibliche Gewalt unterbunden werden kann. So sollten sie den Wirklichkeitssinn der Paulusworte erfahren: «Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit!» (1.Kor.12,26) Kirchen und Mitchristen für diese Solidarität empfänglich zu machen und zur Unterstützung dieser Bedürftigen aufzurufen, war schon in der Anfangszeit der COM unser Bestreben und ist es bis heute geblieben. 133 P43076_inh_Buch_Staub.indd 133 06.02.15 13:32 Bereits seit 1960 wurde die Aufmerksamkeit der westlichen Welt öfters auf Aïda Skripnikova, eine junge Russin, aus Leningrad gelenkt. Diese war wegen ihres Glaubens grossen Leiden ausgesetzt. Sie musste Spott, Belästigungen, Benachteiligungen bei der Ausbildung, Verlust des Arbeitsplatzes, gesellschaftlichen Druck durch Freunde oder Nachbarn und schliesslich sogar Gefängnisstrafen erdulden; einmal 2 Jahre von 1965 bis 1966 und dann wieder drei Jahre von 1968 bis 1971. Das erste Mal wurde Aïda verhaftet, weil sie als junges Mädchen das nachstehende, von ihr selbst verfasste Gedicht verteilt hatte: EIN GLÜCKLICHES NEUES JAHR! Ein Neujahrswunsch Unsere Jahre fliegen vorüber Eins nach dem anderen, unbeachtet. Kummer und Traurigkeit verschwinden, sie werden vom Leben mit fortgetragen. Diese Welt, diese Erde ist so flüchtig, alles kommt zu einem Ende. Das Leben ist wichtig. Seid nicht sorglos! Welche Antwort könnt ihr unserem Schöpfer geben? Was erwartet dich, mein Freund, jenseits des Grabes? Beantworte diese Frage, solange das Licht da ist. Morgen vielleicht schon wirst du vor Gott stehen und ihm Antwort geben müssen auf alles. Denke gut darüber nach, denn du bist nicht für alle Ewigkeit auf dieser Erde. Morgen vielleicht schon wirst du für immer alle deine Verbindungen mit dieser Welt abbrechen! SUCHE DEN HERRN, SOLANGE ER ZU FINDEN IST! Zu ihrer Verteidigung sagte Aïda vor Gericht: «Gläubige können nicht versprechen, ein Gesetz zu erfüllen, das ihnen verbietet, von Gott zu sprechen; ein Gesetz, das Eltern verbietet, ihre Kinder gläubig zu erziehen; ein Gesetz, das ihnen befiehlt, ihre Kinder Atheisten werden zu lassen.» Als Aida gefragt wurde: «Erkennen Sie nicht, dass diejenigen, die Bibeln in die Sowjetunion 134 P43076_inh_Buch_Staub.indd 134 06.02.15 13:32 bringen, nur versuchen uns zu schaden?» antwortete sie: «Ich wäre als erste bereit, Bibeln beispielsweise nach Schweden zu bringen, sofern es in Russland Bibeln gäbe, in Schweden jedoch nicht.» – Bevor Aïda ihre Rede vor Gericht beendet hatte, sprach sie von Freiheit: «Ich bin keine Heldin. Ich liebe die Freiheit und wäre jetzt nur zu gerne frei, zusammen mit meiner Familie und meinen Freunden. Aber ich kann Freiheit nicht um jeden Preis kaufen... Was könnte mir Freiheit bedeuten, wenn ich Gott nicht meinen Vater nennen darf?» Auf die spätere Frage, was für sie im Gefängnis am schwersten gewesen war, antwortete Aïda: «Zunächst war es für mich sehr hart, von meinen Freunden getrennt zu sein. Zweitens war es für mich schwer, von der Welt abgeschnitten zu sein, nirgends hingehen zu können. Jedoch das Schlimmste war, ohne das Evangelium leben zu müssen. Ich hatte um eine Bibel gebeten, aber man gab mir keine. Eine christliche Schwester brachte mir eines Tages das Markusevangelium mit... Wärter entdeckten dieses bei mir... Ich erhielt dafür zehn Tage Einzelhaft in der kalten Arrestzelle des Gefängnisses ...» «Obwohl die Verhältnisse im Gefängnis sehr hart waren», erklärte Aïda ein anderes Mal, «bewahrte ich mir die Hoffnung. Ich fühlte keinen Kummer, mein Geist war nicht durch Angst niedergedrückt. Es gelang mir, diese drei Jahre durchzustehen, indem ich mir die Worte aus Matthäus 11,30 vor Augen hielt: Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Obwohl ich diese Worte aus der Bibel schon vor meiner Verhaftung kannte, ist mir erst jetzt klar geworden, wie wahr und wichtig sie sind. Die Last Christi ist wahrlich leicht zu tragen. Ich habe dies im wahrsten Sinn des Wortes oft im Gefängnis erlebt. Während dieser ganzen Zeit hatte ich einen treuen Freund – den auferstandenen Herrn Jesus Christus, welcher das Joch an meiner Seite mittrug.» Aida drückte ihre Dankbarkeit für Pakete und Grüsse, die ihr ins Gefängnis geschickt wurden, so aus: «All diese Anteilnahme... Ich habe sie nicht nur auf mich, sondern auf uns alle bezogen. Das Schönste an der Sache ist, dass Gläubige nicht voneinander getrennt werden können. Alle, die dem Herrn angehören, sind ein Leib, wo immer sie sind und in jeder Lage.» In einer Antwort an den atheistischen Journalisten V.I. Kuzin, kommt Aïdas Anteilnahme für die Verlorenen klar zum Ausdruck: «Die Ankunft Christi steht sicher bald bevor, aber viele werden in das ewige Leben hinüberwech- 135 P43076_inh_Buch_Staub.indd 135 06.02.15 13:32 seln, bevor Jesus wiederkommt. Wir dürfen nicht ruhig mit ansehen, wie Menschen einen Weg wählen, der in die Vernichtung führt. Es ist unsere Pflicht, diesen Menschen den rechten Weg aufzuzeigen.» Bereits im Herbst 1974 war die Christliche Ostmission im Besitz eines ausgezeichneten 35 Minuten dauernden, farbigen Dokumentarfilmes mit dem Titel: «Nach Russland mit Liebe». Dieses kostbare Hilfsmittel kam in vielen christlichen Kirchen, Institutionen, ja sogar in Schulen, zum Einsatz. In der Folge solcher Veranstaltungen konnten wir unseren Freundeskreis fortwährend ausbauen. Ab 1977 stand uns ein weiterer Film mit dem Titel «Christus für China» zur Verfügung. Rückblickend grenzt es fast an ein Wunder, dass wir damals, in relativ kurzer Zeit, einige tausend Freunde gewinnen konnten, welche grosses Interesse für die Anliegen der verfolgten Christen bekundeten. Viele zu Herzen gehende Berichte aus der Sowjetunion und anderen Ostblockstaaten bewegten sowohl Gemeinden, wie auch einzelne Christen, für das Anliegen der verfolgten Mitchristen zu spenden, ja sogar Opfer zu bringen, aber vor allem für sie zu beten. Der Unterschied zwischen Kollekte und Opfer Bei speziellen Gelegenheiten, darunter auch in einer Predigt, habe ich mir erlaubt, folgende Anekdote zu erwähnen: «Kennen sie den Unterschied zwischen einer Kollekte und einem Opfer? Es war an einem Sonntag, am Mittagstisch. Hansli liess sein Kotelett unberührt im Teller liegen. Als sein Vater dies bemerkte, ermahnte er seinen Bub: «Hansli, iss das Fleisch zusammen mit dem Gemüse und den Kartoffeln.» Als diese Ermahnung nichts bewirkte und das Kotelett weiter in Hansli’s Teller verblieb, sagte der Vater: «Gut, wenn du es nicht essen willst, nehme ich es dir weg.» Nach dieser Androhung verzehrte der Knabe sein Fleisch. Nach dem Essen nahm er den übriggebliebenen Knochen, begab sich in den Hinterhof hinaus, rief den Hund, warf diesem den Knochen zu und sagte betrübt: «Schau Barri, ich hatte dir für heute ein Opfer versprochen, aber leider ist es jetzt wieder nur eine Kollekte!» Viele Familien, deren Väter in Gefängnissen und Zwangslagern festgehalten wurden, waren auf Unterstützung angewiesen, um überleben zu können. Oft wurden die Kinder den Eltern weggenommen und in staatliche Heime 136 P43076_inh_Buch_Staub.indd 136 06.02.15 13:32 gebracht. Unvorstellbar, das Herzeleid und die Seelennot dieser völlig entrechteten Christen nachzuempfinden! Am 1.September 1973 schrieb eine solche leidgeprüfte Mutter folgenden Brief an L. I. Breschnew: «Durch den Beschluss des atheistischen Gerichts wurden mir, als einer christlichen Mutter, die Elternrechte entzogen. Diese ungesetzliche Handlung wurde am 8. Juni 1973 von den gerichtlichen Organen in Perm gutgeheissen. Zur gleichen Zeit versicherten Sie, Lenoid Iljitsch Breschnev, der Öffentlichkeit, besonders der USA und Westeuropa, Ihre friedliebende Politik und humane Einstellung, gegenüber gläubigen Christen. Und doch werden in unserem Land die weinenden Kinder ihren Eltern weggenommen, weil sie religiös erzogen werden. Die Kinder strecken ihre Hände aus, klammern sich an ihren Eltern fest und wollen nicht von ihnen getrennt werden. Aber die herzlosen, gottlosen Menschen ergreifen sie, trennen sie von den Eltern, werfen sie in die Polizeiwagen und bringen sie in unbekannte Richtung weg. Am 1. August um zwölf Uhr fuhr vor unserem Haus ein Wagen mit Polizisten und zwei Frauen aus dem Volksgericht vor. Diese betraten unsere Wohnung und erklärten: «Man hat ihnen die Elternrechte entzogen; wir sind gekommen, ihre Kinder wegzunehmen.» Die Kinder liefen weinend zu mir und klammerten sich an mir fest, wobei sie wiederholten: «Unsere Mami ist lieb, wir wollen bei ihr bleiben!» Die Polizisten und die Frauen überlegten, ob sie zuerst mich festnehmen und fortbringen sollten und erst nachher die Kinder. Sie versuchten die Kinder zu überreden, indem sie ihnen alles versprachen, was ein Kinderherz begehrt. Doch alles nützte nichts; die Kinder fuhren fort zu weinen und hielten mich fest. Also wandte man physische Gewalt an... Man packte uns alle zusammen in den Polizeiwagen und brachte uns zur Polizeiwache. Dort nahm man mir die Kinder weg und erklärte mir, ich brauche sie nicht zu suchen, niemand würde mir sagen, wo sie untergebracht seien. Das alles dauerte bis 15.30 Uhr. 137 P43076_inh_Buch_Staub.indd 137 06.02.15 13:32 Auf diese Weise wurde ich von meinen Kindern dem 8jährigen Sascha und dem 6jährigen Wassja, getrennt. Meine Tochter Tamara befand sich noch in der Schule und wurde mir nicht fortgenommen. Durch die oben erwähnten ungesetzlichen Handlungen ist jedoch dann auch meiner Tochter die Möglichkeit, zu Hause zu leben und die Schule zu besuchen, genommen worden. Da die KpdSU in unserem Land die leitende Partei ist, der alle staatlichen, öffentlichen und gerichtlichen Organe untergeordnet sind, hängt auch die Fortnahme meiner Kinder wegen ihres Gottesglaubens, direkt vom ZK der UpdSU und persönlich von Ihnen ab. Ich bitte Sie, der Staatsanwaltschaft in Perm die Weisung zu erteilen, ihren Entscheid zu widerrufen.» Hochachtungsvoll Z. P. Radygina Dieser Bericht ist ein Beispiel für das, was damals unzählbare Christen hinter dem Eisernen Vorhang erlebt und durchgemacht haben. 138 P43076_inh_Buch_Staub.indd 138 06.02.15 13:32 Eine Bücherlawine ohne Bibel und Geistliches In der damaligen Sowjetunion herrschte ein grosser Mangel an Bibeln, Gesangbüchern und christlicher Literatur. In China und den Ostblockstaaten war die diesbezügliche Situation nicht besser. 1972 wurden in der Sowjetunion 1 458 885 000 Bücher gedruckt. Diese astronomische Zahl beinhaltete 80 531 Titel. Doch darunter befanden sich weder Bibeln, noch christliche Bücher, obschon ein grosser Bedarf vorhanden war. Deshalb schrieben Christen Bibelteile, Traktate, Bücher und Lieder von Hand, oder mit Schreibmaschinen ab. So entstand in der Sowjetunion der Begriff: «Samisdat», was übersetzt bedeutet: «Es verlegt sich selbst.» Die Christliche Ostmission beteiligte sich an Ort und Stelle, am Erwerb von Schreib- und Kohlepapier. Um nicht aufzufallen, musste dieses Material meist in kleinen Mengen mühsam zusammengekauft werden, was oft durch Gemeindeglieder geschah. Das Angebot des «Samisdat» schwoll mächtig an. Werke berühmter Schriftsteller – zum Beispiel von Solschenizyn – tauchten als Manuskripte auf und wurden teuer erworben, entweder durch Tausch oder mit Geld. Immer mehr Menschen beteiligten sich am Abschreiben von Manuskripten, für die sich kein Verleger fand, um sie zu veröffentlichen. Manche wurden handschriftlich abgeschrieben. Aber zumeist geschah dies mittels Schreibmaschinen, was 6-8 Kopien auf einmal ergab. Ein Heft von 150 Seiten mit dem Titel «Wetsche» (Deutsch, Volksversammlung) kam ebenfalls so zur Veröffentlichung. Ganze Ketten von Schriften entstanden so und breiteten sich mehr und mehr über die ganze Sowjetunion aus. Auf diese Weise wurden auch biblische Bücher, das Neue Testament, ja ganze Bibeln und viel christliche Literatur in Umlauf gebracht. Für eine Bibel, gewisse theologische Werke oder Bücher von Solschenizyn wurden umgerechnet Beträge zwischen Fr. 500.– und 1200.– bezahlt. Deshalb unterstützten wir das Vervielfältigen dieser begehrten Schriften so gut dies möglich war. Es wurden auch immer mehr sogenannte «Untergrunddru- 139 P43076_inh_Buch_Staub.indd 139 06.02.15 13:32 ckereien» eingerichtet. Leider wurden solche mehrmals entdeckt, was jeweils für die Beteiligten furchtbare Konsequenzen zur Folge hatte. Nachdem einer unserer Kuriere in einer Kirche hinter dem Eisernen Vorhang neue schöne Taschenbibeln verteilt hatte, kam dann ein ganz einfach gekleidetes Mütterchen auf ihn zu und streckte ihm ein völlig abgegriffenes Buch entgegen. Bevor sie es ihm übergab küsste sie dieses ein letztes Mal ehrfurchtsvoll. Es handelte sich um diese hier abgebildete Bibel Diese Bibel war jahrelang das einzige Exemplar der Gemeinde Diese wertvolle Bibel wurde immer wieder von Hand zu Hand weitergereicht. Völlig verschlissen und abgegriffen wurde sie durch mehrmaliges, neues Binden, den Gläubigen erhalten. Das überwältigende Glück dieser Christen, welche die neuen Bibeln an ihre Herzen drückten, war jeweils unbeschreiblich. Diese glaubensstarken Menschen, denen das Wort Gottes jahrelang vorenthalten wurde, lieben dieses Buch, wie man es hierzulande kaum antrifft. Von diesem akuten Mangel an Bibeln war mehr und mehr der ganze Ostblock betroffen. Das hatte zur Folge, dass wir inständig gebeten wurden, Bibeln und christliche Literatur zu drucken. Immer wieder erreichten uns Zeugnisse von Gläubigen, welche Bibelteile, manchmal sogar die ganze Bibel und Gesangbücher von Hand abschrieben. Das Drucken, der gewünschten Bibeln und Literatur, war hierzulande einfach zu bewerkstel- 140 P43076_inh_Buch_Staub.indd 140 06.02.15 13:32 ligen. Die Kostendeckung und vor allem der Transport stellten jedoch eine gewaltige Herausforderung dar. Durch vertrauenswürdige Spezialisten wurden für die Ostmission grosse Autos und Campingbusse umgebaut. Hohlräume wurden zugänglich gemacht und im ganzen unteren Teil jeweils ein Doppelboden eingebaut. Und so begann ein ausgedehnter, langjähriger Kurierdienst. Die Autos waren auf Privatadressen im Westen immatrikuliert. So fuhr zum Beispiel auch ein Bus, welcher auf den Namen einer Familie aus meiner Kirchgemeinde angemeldet war, jahrelang in den Osten. In diesen ersten Jahren gab es kaum eine Vorstandssitzung, an welcher nicht über die Finanzierung von Literaturdruck und den Transport dieser Bibeln und Bücher hinter den Eisernen Vorhang diskutiert wurde. Wir erhielten sehr viele gezielte Anfragen. Nebst Neuen Testamenten, Bibeln und Kinderbibeln, waren auch Singbücher gefragt oder Buchtitel von Watchmen Nee, Billy Graham und Wilhelm Busch. 141 P43076_inh_Buch_Staub.indd 141 06.02.15 13:32 Der Fall von Pastor Vasile Raskol Während des Jahres 1976 legten unsere Bibelkuriere 800 000 km zurück, um Gottes Wort und christliche Literatur in die kommunistischen Länder zu transportieren. Dort streckten Tausende ihre Hände verlangend nach dieser geistlichen Nahrung aus und waren überglücklich, diese zu erhalten. Einer der Pastoren, welcher von uns viel Literatur, vor allem Bibeln, empfangen hatte, war der Rumäne Vasile Raskol. Eines Tages stellte man ihm eine hinterhältige Falle. Ein speziell ausgebildeter Spitzel brachte es fertig, die Hürden der Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen. Als Vasilie Raskol ihm beim Zusammentreffen die gewünschte Bibel übergab, kamen aus dem Hinterhalt Polizisten und verhafteten ihn. Sein Verbrechen: Besitz und Weitergabe von Bibeln. Am 23. Juli 1974 fand in Bukarest sein Prozess statt. Ob man das, was sich da ereignete, als Gerichtsverfahren bezeichnen kann, sei dahingestellt. Pastor Raskol wurde angeklagt, das Gesetz nach §3, Art. 90 und 94 – Verbreitung von Schriften ausländischer Druckereien ohne Genehmigung – übertreten zu haben. Während des Verfahrens, das nicht länger als 30 Minuten dauerte, wiederholte Raskol, der einen vom Staat bestellten Verteidiger ablehnte, dass es sich hierbei nur um Bibeln gehandelt habe. Aber man ging darauf überhaupt nicht ein. Der Gerichtsvorsitzende wollte seine Aussagen nicht schreiben lassen und erlaubte auch sonst kein Gespräch über das Thema «Religion». Der Angeklagte hatte keine Erlaubnis zum Sprechen. Ausser einer direkten Antwort auf die gestellten Fragen waren keine Äusserungen erlaubt. Über 30 Gläubige warteten stundenlang im Gerichtssaal auf eine öffentliche Urteilsverkündung. Diese Gemeindeglieder hatten sich vorher wie folgt abgesprochen: Bei einer Schuldspruch ihres Pastors würden sie sich gemeinsam des gleichen Vergehens schuldig bekennen! Es fand jedoch keine öffentliche Urteilsverkündigung statt. Die Strafzuerkennung lautete: Zwei Jahre Gefängnis für Vasile Raskol und die Beschlagnahmung des Autos. Der Verurteilte wurde direkt in die Haftanstalt überführt. Ein Vertrauensmann konnte für uns folgende Details in Erfahrung 142 P43076_inh_Buch_Staub.indd 142 06.02.15 13:32 bringen, die sich mit unseren eigenen Informationen deckten: Einige Zeit vor der Verhaftung rief jemand bei Raskol zu Hause an und identifizierte sich arglistig als ein geistlicher Bruder, dessen Name dem Pastor bekannt war. Dieser fragte nach «Material» (versteckte Wortbedeutung für Bibeln). Etwas später wurde dann auch noch der Kodename «Brot» als spezielles Kennwort verwendet. Darauf vereinbarte der Pastor einen Treffpunkt zur Übergabe des Gewünschten. Am vereinbarten Ort tauchte jedoch die Polizei auf und verhaftete Vasile. Das Auto und die darin gefundenen Bibeln wurden beschlagnahmt. Das war das erste ganz grosse Fiasko für unser Missionswerk. Wir mussten diesbezüglich auch viel Kritik – auch kirchlicherseits – hinnehmen. Man machte uns indirekt für diese Verhaftung verantwortlich. Vor allem wurde immer wieder der Vorwurf erhoben, unsere Aktivitäten seien zum Teil illegal. 1975 Massenprotestaktion in Bern Natürlich belastete uns nicht nur das Schicksal von Vasile Raskol, sondern auch die umfassende Not seiner Brüder und Schwestern im Glauben. Diese Sachlage hatte zur Folge, dass wir uns entschlossen, in Bern, unserer Bundeshauptstadt, eine Massenkundgebung, verbunden mit einem Schweigemarsch, zu organisieren. Zu diesem Zweck wurde ein Organisationskomitee Namens «Osthilfe Schweiz» ins Leben gerufen. Die Solidaritätskundgebung für den inhaftierten Pastor Raskol wurde auf Samstag, den 18. Januar 1975 geplant. Das Programm beinhaltete: Besammlung auf dem Münsterplatz mit Gedenkgottesdienst, anschliessend ein Schweigemarsch zur rumänischen Botschaft, wo eine Bittschrift überreichen werden sollte. 143 P43076_inh_Buch_Staub.indd 143 06.02.15 13:32 1975 Gedenkgottesdienst auf dem Münsterplatz in Bern 1975 Schweigemarsch zur rumänischen Botschaft Persönlich erhielt ich den Auftrag, auf dem Münsterplatz eine Ansprache zu halten, welche simultan ins Französische übersetzt werden sollte. Für diese Aufgabe konnte ich einen jungen, zweisprachigen Mann gewinnen, welcher an der Fakultät in Lausanne Theologie studierte. Die Vorbereitungen für diesen Grossanlass liefen auf Hochtouren. 144 P43076_inh_Buch_Staub.indd 144 06.02.15 13:32 In der Woche vor dem 18. Januar musste ich feststellen, dass mein Telefon abgehört wurde. Als ich mich deswegen an unseren Stadtpräsidenten wandte, meinte dieser sarkastisch: «Wenn man sich dermassen exponiert, wie Sie das tun, müssen Sie sich über solche Konsequenzen nicht verwundern.» Ich traute meinen Ohren nicht, als ich dies in unserer demokratischfreiheitsliebenden Schweiz als Antwort entgegen nehmen musste. Darauf tätigte ich alle wichtigen Telefonate, diesen Anlass betreffend, von einer öffentlichen Telefonkabine aus. Am Freitagabend, den 17. Januar, war die örtliche Telefonzentrale bis tief in die Nacht hinein hell erleuchtet, was sehr ungewöhnlich war. Von meiner Telefonkabine aus konnte ich feststellen, dass mehrere Personen im angrenzenden Gebäude hektisch beschäftigt waren. Ich kann nicht beweisen, dass da Abhör-Agenten am Werk waren. Die Aussage des Stadtpräsidenten ist jedenfalls bedeutungsvoll! Die Geschichte von Vasile Raskol verdeutlicht uns, wie gut wir es hier in der Schweiz haben. Bibeln, christliche Gesangbücher und Literatur stehen uns massenweise zur Verfügung. Profitieren wir von dieser Situation? Wird unser Glaube dadurch gestärkt und unser Christsein auferbaut? Sind wir dank der völligen Religionsfreiheit schon zu reifen Christen herangewachsen? Oder erliegen wir der Behaglichkeit? Führt diese Freiheit zu einer Vernachlässigung des persönlichen Wachstums im Glauben und unserer Heiligung? Wie steht es um unser persönliches Christsein in Tat und Wahrheit? Ähneln wir eher dem Leviten oder dem Samariter (siehe Lukas 10)? Das sind sehr ernste Fragen! Der Auftrag Jesu, hinauszugehen in die ganze Welt, wird durch keinen Eisernen Vorhang aufgehoben! Unendlich viele unserer Glaubensgeschwister sind verwundet und verlassen wie der überfallene Pilger im Gleichnis des Samariters. Sie sind auf unser entschiedenes, solidarisches Handeln angewiesen! 145 P43076_inh_Buch_Staub.indd 145 06.02.15 13:32 Wir reisen als Familie mit einem VW-Bus voll Literatur hinter den eisernen Vorhang Eine fortwährende, grosse Herausforderung für unsere Mission war der Kurierdienst. Einige Privatpersonen stellten sich immer wieder für diesen heiklen Dienst zur Verfügung. Neben der gedruckten Literatur waren die verfolgten Christen noch auf viel anderes angewiesen. Dazu gehörten lebenswichtige Medikamente, Nahrungsmittel, Bargeld und anderes mehr. Bargeld konnte einfach versteckt werden, war aber eine sehr riskante Sache. Ein bewährter Weg führte via Jugoslawien hinter den eisernen Vorhang. Die Grenzkontrollen waren hier weniger streng als in anderen Balkanstaaten. Durch Vertrauenspersonen gelangte «das Material» zum Teil mit Lastwagen und internationalen Transporten in die angrenzenden Länder und die Sowjetunion. Schliesslich entschlossen wir uns als Familie, ebenfalls einen solchen Transport durchzuführen. Zudem sollten wir in Rumänien einen Sonderauftrag erledigen: Wir wollten abklären, ob an der rumänischen Grenze nach den Ereignissen des Schweigemarsches, meine Identität sofort erkannt würde. So planten wir unsere Ostreise, welche in den Sommerferien stattfinden sollte. Ich war für diese Aufgabe von einem Sachverständigen eingeführt und vorbereitet worden. Ein wichtiger Bestandteil dieses speziellen Unternehmens war das Gebet. Nur durch Gottes Schutz und Bewahrung konnte diese riskante Aufgabe gelingen. Mit unseren drei Kindern, Suzanne, Philippe und Annelise fuhren wir in das Zentrum der Ostmission nach Deutschland. Von hier aus starteten wir mit dem voll beladenen Campingbus Richtung Jugoslawien. Wir wählten für die Einreise einen Grenzposten auf einer Passhöhe. Im Schneckentempo krochen wir mit dem schwer beladenen Camper auf der österreichischen Seite den Berg hinauf. Hinten im Bus, über den Dutzenden Bibeln und Büchern, lagen als Tarnung nur unsere Schlafsäcke, Koffer und Nahrungsmittel. Am Zollposten gebärdeten wir uns als aufgestellte Familie, welche sich riesig auf die Ferienzeit freut. Zu unser aller Erleichterung passierten wir den Grenzposten problemlos. Im Landesinnern wurden die Strassen zusehends schlechter. Die Schlaglöcher setzten nicht nur dem überladenen Fahrzeug, sondern auch uns zu. 146 P43076_inh_Buch_Staub.indd 146 06.02.15 13:32 Unterwegs übernachteten wir in einer Herberge; denn im Bus hatten wir zu wenig Platz dazu. Anderntags erreichten wir gegen Abend unser Ziel: Die Kreisstadt Subotica im damaligen Jugoslawien. Nun galt es – gemäss unseren Aufzeichnungen – die Kontaktperson Pastor Stefan aufzusuchen. Als wir uns in seinem Stadtviertel befanden, stellten wir das Fahrzeug – gemäss den erhaltenen Instruktionen – auf einem öffentlichen Parkplatz ab. Zu Fuss begab ich mich auf die Suche nach dem erwähnten Pastor. Ohne grosse Schwierigkeiten konnte ich sein Haus finden. Die Begrüssung war überaus herzlich. Nun konnte ich die übrigen Familienmitglieder nachholen. Anschliessend wurde unser Campingbus an einem sicheren Ort parkiert. Nach Mitternacht sollte dann die Übergabe der Bibeln und Bücher irgendwo draussen auf dem Land stattfinden. Das Wetter war uns gewogen: Es war stark bewölkt, die Nacht pechschwarz. So fuhr ich spät nachts unter der Leitung des Pastors den Camper zur Stadt hinaus. Zuletzt ging es durch einen Feldweg an den vorgesehenen Ort, wo das ganze Material umgeladen wurde. Wie erleichtert und dankbar waren wir, dass alles so problemlos erledigt werden konnte! Bruder Stefan hatte verschiedene Möglichkeiten, die Bibeln in der jeweiligen Landessprache und andere christliche Literatur nach Rumänien und bis nach Russland weiterzuleiten. Er hatte Freunde unter Bus- und Lastwagenlenkern, welche bereit waren, die Literatur zu transportieren. Er selber brachte viele Güter vor allem nach Rumänien. Unter dem Boden seines Autos versteckte er die Literatur und brachte diese so über die Grenze. Einmal, so erzählte uns der Pastor, kniete ein Grenzpolizist neben dem Auto nieder, um dieses von unten zu inspizieren. Bruder Stefan klatschte mit den Händen und rief ganz erregt: «Oh, das ist beschämend, das ist wirklich beschämend!» Der Polizist blickte hoch und fragte: «Warum, was ist los?» – «Das ist doch wirklich beschämend für unsere Nation, dass Sie ihre schöne Uniform beschmutzen, indem sie in dieser dreckigen Strasse niederknien.» Ruckartig erhob sich der Getadelte, wischte mit den Händen den Schmutz von seiner Hose und forderte Bruder Stefan auf: «Fahren Sie weiter!» Öfters erlebte Bruder Stefan solche Bewahrungen. Er war ein Mann des Gebets. Immer bevor er mit dem Auto losfuhr, betet er. Er liess sich vom Geist Gottes leiten, besonders im Blick auf die Frage, welchen Grenzübergang er 147 P43076_inh_Buch_Staub.indd 147 06.02.15 13:32 benutzen sollte. Eines Nachts, als wieder ein Grenzpolizist neben dem Auto niederkniete, erfasste ein Windstoss dessen Mütze. Der Beamte erhob sich, rannte seiner Kopfbedeckung nach und rief: «Fahren sie los!» Am Sonntag erlebten wir in Subotica in der Gemeinde von Pfarrer Stefan einen ergreifenden Gottesdienst. Es waren erstaunlich viel Jugendliche anwesend. Die drei älteren der vier Kinder von Familie Stefan wirkten aktiv in der Musik- und Gesangsgruppe mit. Am Abend fand noch ein Gottesdienst in einem Vorort statt. Hier waren überwiegend ältere Leute anwesend. Anfangs Woche nahmen wir in einem kleinen Dorf auf dem Lande ausserhalb Subotica an einer Bibelstunde teil. Dieser Anlass fand in einer Wohnstube statt. Dicht zusammengedrängt erlebte die Gemeinde Auferbauung und Gemeinschaft. Der Grossteil der Anwesenden waren auch hier ältere Leute. Bevor wir uns von der Pfarrfamilie von Bruder Stefan verabschiedeten, beteten wir zusammen um Gottes Schutz und Bewahrung im Hinblick auf unseren weiteren Auftrag. Dann machten wir uns in Richtung Rumänien auf den Weg. Im Campingbus befand sich nun nur noch unser Reisegepäck, Proviant und einige Geschenkartikel. Von diesem Gesichtspunkt gesehen sollte der Grenzübertritt eigentlich keine Schwierigkeiten bereiten. Die Weiterreise nach Rumänien würde unserer Mission Aufschluss auf die Frage geben, ob ich bei den dortigen Behörden registriert bin und wie man sich in diesem Fall uns gegenüber als Familie verhalten würde. Ich war diesbezüglich so gut wie nur möglich vorbereitet worden. Aber oh weh! Es sollte schlimmer werden, als wir angenommen hatten. Bei der Grenzkontrolle in Rumänien dauerte es bloss ein paar Minuten bis man mich erkannt, beziehungsweise identifiziert hatte. In der Folge wurde unser Campingbus genau, bis ins Kleinste, von einer Grenzpolizistin untersucht. Ihr Verhalten war frostig geworden. Als im Gepäck Schokolade zum Vorschein kam, sagte ich zu ihr: «Gerne geben wir Ihnen eine Tafel.» – «Legen Sie diese dort auf den Tisch!» Plötzlich hielt sie eine Bibel in der Hand. «Was ist das für ein Buch?» – «Das ist eine Bibel.» Gab ich zur Antwort. «Haben sie noch andere dabei?» wollte sie nun wissen. «Ja, wir alle haben eine Bibel. Das Lesen darin ist in unserer Familie Brauchtum.» Als die Kontrolle zu Ende war, konnten wir endlich alles wieder einpacken. Danach wurden wir aufgefordert, mit dem Bus unter den Wachtturm zu fahren. Da standen über uns Polizisten mit ihren Maschinenpistolen im Anschlag. Plötzlich kam eine Limousine angefahren, aus welcher offensicht- 148 P43076_inh_Buch_Staub.indd 148 06.02.15 13:32 lich hohe Polizeibeamte ausstiegen. Nun galt es ruhig Blut zu bewahren. Langsam verstrich die Zeit. Diese füllten wir im Campingbus mit Familienspielen aus. Zum Glück waren wir gut vorbereitet worden. Es galt jetzt Gelassenheit an den Tag zu legen und vor allem, keine Fragen zu stellen. Denn Letzteres hätte Ihnen Anlass gegeben, ihrerseits Fragen an uns zu richten. Es wurde ganz offensichtlich, dass sie sich nicht blossstellen wollten. Es sollte nicht offenbar werden, dass sie ganz genau wussten, wer ich war. Spätestens nach unserer Grossdemonstration auf dem Bundesplatz in Bern und dem Umzug von über 2000 Personen zur rumänischen Botschaft, wo wir uns für die Freilassung von Pastor Vasile Raskol eingesetzt hatten, war ich also bei ihnen bekannt und registriert. Doch endlich, nach Stunden des Wartens, konnten wir weiterfahren. Doch mussten wir eine Wegbeschreibung inklusive der gebuchten Hotels angeben. Auch diesbezüglich hatte man mich vorbereitet. Tatsächlich fuhr hinter uns ein neutral aussehendes Auto. Als wir dann Benzin tankten, merkten wir, dass ebenfalls ein Auto der Sicherheitspolizei vor uns fuhr. Das Ganze wirkte irgendwie tragisch komisch, denn wir wurden ja nicht beschützt, sondern bespitzelt! Als wir in der Stadt Oradea ankamen, ging das Schauspiel weiter. Wir parkten den Bus auf dem Hotelplatz, in welchem wir übernachten wollten. Nach dem Einchecken begaben wir uns in ein Restaurant zum Nachtessen; im Hotel waren uns die angegebenen Preise zu teuer. Offensichtlich waren wir auch hier von privat gekleideten Polizeispitzeln umgeben, was das Personal sofort bemerkte. Entsprechend reserviert war die Bedienung, ja sogar kühl und ablehnend. Zusammen mit meiner Frau verbrachten wir die Nacht im Hotel. Die Kinder schliefen im Bus auf dem Hotelparkplatz im Bus. Dieser wurde sicher bestens bewacht ... Nach dem gemeinsamen Frühstück verliessen wir die Stadt. Ich hatte den Kindern jedoch gesagt: «Wenn ihr euren Freunden und Kameraden Karten schicken wollt, müsst ihr dies von hier aus tun, damit diese vor unserer Rückkehr zu Hause ankommen. Bereits am Vorabend hatte ich bei der Einfahrt in die Stadt ein grosses Postgebäude entdeckt. Nun befanden wir uns auf der gegenüberliegenden Strassenseite, wo wir gut parkieren konnten. Ich nahm die Karten in Empfang, um sie zur Post zu tragen. Etwa hundert 149 P43076_inh_Buch_Staub.indd 149 06.02.15 13:32 Meter vor unserem Parkplatz konnte ich die baumbepflanzte Strasse überqueren. Zwischen den Baumreihen befanden sich zwei Tramgeleise. Auf dem Rückweg vom Postamt erkannte ich weiter vorne ebenfalls einen Zebrastreifen. Als ich auf diesen zuging, nahte sich plötzlich auf der Anlage der Tramgeleise ein mir bereits gut bekanntes Fahrzeug, das in meiner Nähe anhielt. Er war wohl enttäuscht, als er erkennen musste, dass wir auch hier keine Kontakte zu Einheimischen pflegten. In der Folge wurden wir wieder eskortiert. Wie lange konnten wir nicht erkennen. Gegen Mittag verliessen wir die Landstrasse und machten auf einem Hügel Mittagsrast. Während des Mittagessens konnten wir jedenfalls nichts mehr von unseren Verfolgern wahrnehmen. Als wir uns jedoch spät nachmittags, unserem nächsten Übernachtungsort, Cluj, näherten, erkannten wir einen Beobachtungsposten, welcher mit einem Feldstecher ausgerüstet, unsere Ankunft registrierte. Auch hier fanden wir das gebuchte Hotel mühelos und bezogen zwei grosse Zimmer. Wir scherzten darüber, dass unsere Gespräche sicher abgehört wurden und fragten uns, ob sie wohl unser französisch verstehen konnten und ob wir uns deshalb besser auf Berndeutsch unterhalten sollten. Anderntags nahmen wir den Weg Richtung Ungarn unter die Räder. In Budapest wollten wir Christen besuchen und Ostern verbringen. Kaum waren wir an der Grenze angekommen, wurde uns klar, dass man über unsere Identität informiert war. Nachdem man uns die Pässe abgenommen hatte, hiess es wieder Geduld haben und warten! Endlich konnten wir weiter fahren. Jemand heftete uns ein ziemlich grosses Dokument auf die Windschutzscheibe und sagte: «Sie fahren jetzt im Schritttempo zur ungarischen Grenzkontrolle. Dort bekommen Sie dann auch ihre Reisepässe zurück.» Noch nie haben wir so etwas erlebt! Auch haben wir von niemandem gehört, dass ihnen so etwas widerfahren war. Aber was soll’s: Wir waren ja darauf vorbereitet worden, dass wir uns einfach immer ruhig verhalten und keine Fragen stellen sollten. Der Weg, bis zur ungarischen Grenzkontrolle, war erstaunlich weit. Endlich angekommen, merkten wir sofort, dass man uns mit Misstrauen empfing und dass wir unerwünscht waren. Suzanne, welche einen eigenen Pass hatte, musste mit uns das Gebäude betreten. Die beiden jüngeren Kinder durften den Campingbus nicht verlassen. Hier wurde das Warten dann rich- 150 P43076_inh_Buch_Staub.indd 150 06.02.15 13:32 tig zur Nervenprobe. Ohne Erklärung oder irgendwelche Auskunft wurden wir stundenlang aufgehalten. Als der Tag bereits zur Neige ging, erhielten wir unsere Pässe zurück und konnten endlich weiterfahren. Philippe und Annelise fanden wir verzweifelt und in Tränen aufgelöst im Bus vor. Es wurde offensichtlich, dass wir unseren nächsten Übernachtungsort nicht mehr erreichen konnten. So hielten wir bei einem Restaurant an, um etwas zu essen. Freundlicherweise gab man uns dann hier ein Hotel zum Übernachten an. Dankbar machten wir uns auf den Weg. Aber oh weh! Das Hotel war schon ausgebucht. Doch auch da half man uns weiter und wirklich: Wir fanden dann ein Gasthaus, wo noch freie Zimmer vorhanden waren. Anderntags fanden wir nach viel Fragen und Suchen endlich unsere Gastfamilie. Ich hatte die Tochter bei uns in der Schweiz bei einem Missionskongress kennengelernt. Hier wurden wir herzlich aufgenommen. Offensichtlich lebte die Familie mit vielen Einschränkungen, obschon die Situation in Ungarn etwas besser zu sein schien als in Jugoslawien und Rumänien. Wie schon bei der Familie von Pastor Stefan, brachten wir auch hier Geschenke mit: Kaffee, Lebensmittel und Schokolade. Am Ostersonntag erlebten wir in einer grossen Kirche von Budapest einen eindrucksvollen Gottesdienst mit viel Musik und Gesang. Das darauf folgende Mittagessen bei unserer Gastfamilie werden wir nie vergessen. Sie hatten sich alle erdenkliche Mühe gemacht, uns zu verwöhnen. Was sich da jedoch im Fleischtopf befand, befremdete uns. Nebst etwas Pouletfleisch, hatte es vor allem Pouletfüsse und ganze Köpfe von dem Federvieh darin. Da wurde uns so recht bewusst, was im sogenannten «kommunistischen Paradies» alltäglich war. Wie unendlich gut hatten wir es doch bei uns in der lieben Schweiz! Wir konnten jetzt auch besser verstehen, was es für diese Leute bedeutete, einen Garten zu unterhalten, wo alles nur Erdenkliche angepflanzt wurde. Erfüllt von Dankbarkeit, mit vielen verschiedenen Eindrücken, kamen wir schliesslich wieder in der Schweiz an. Dank dem Einsatz einer grossen Anzahl von Leuten diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs konnten Tausende Bibeln weit hinter die verschlossenen Grenzen gebracht werden, wo der Mangel am grössten war. Dass wir als Familie ein Rädchen in diesem «Getriebe» sein durften, erfüllt uns mit Dank und Freude! Jedes Jahr reisten Millionen Touristen aus dem Westen in die kommunistischen Länder. Dank dieser Sachlage war es uns möglich, 151 P43076_inh_Buch_Staub.indd 151 06.02.15 13:32 unseren Glaubensgeschwistern grosse Mengen christlicher Literatur, Gesangbücher und Bibeln zu bringen. Das Druckprogramm der Ostmission weltweit beinhaltete 1971, als das Werk in der Schweiz Fuss fasste: 145 000 Bibeln, 305 000 Neue Testamente, 730 000 Evangelien, 35 000 Gesangbücher und 20 000 Konkordanzen. Dadurch erhielten jährlich Hunderttausende diese ersehnte, geistliche Nahrung. 152 P43076_inh_Buch_Staub.indd 152 06.02.15 13:32 Die COM wird selbstständig In den ersten Jahren wuchs unser Missionswerk zusehends. Dank verschiedener Werbeaktionen wurde unser Freundeskreis immer grösser. Bereits 1974 konnten wir, im Vergleich mit dem Vorjahr, die Hilfe fast verdoppeln. Darüber war auch unser Partner «Underground Evangelism International» erfreut. Durch diese Organisation war ja die Ostmission in der Schweiz gegründet worden. Fast an allen Sitzungen nahmen ein bis zwei verantwortliche Führungskräfte aus Amerika teil. Damit verbunden entstanden auch erhebliche Spesen. Allerdings wurden diese hauptsächlich von den Amerikanern getragen. Alle Sitzungen mussten zweisprachig deutsch/englisch durchgeführt werden, was mühsam und viel Zeit in Anspruch nahm. Als dann unser internationaler Missionsdirektor sich mit der HMK, insbesondere deren Begründer namens Wurmbrand, zerstritt, nahm unser Unbehagen zu. Der Versuch der Amerikaner, unseren Missionsleiter zu bestechen, machte das Mass endgültig voll. So beschlossen wir, uns als Missionswerk zu verselbständigen, beziehungsweise uns vom Mutterwerk «Underground Evangelism International» zu trennen. Da hatten wir aber «die Rechnung ohne den Wirt gemacht»! Wie das in Amerika so üblich ist, machte unser Partner vom Vetorecht Gebrauch. Und tatsächlich war dieses in den Statuten so verankert. Doch hatten wir Schweizer, zum Glück noch eine «Joker-Karte». Das war die Generalversammlung! In den Statuten dieses Gremiums hiess es in einem Paragraphen: «Die Generalversammlung wählt die Mitglieder des Vorstandes. Sie ist ebenfalls befugt, ein Mitglied vom Vorstand der COM auszuschliessen.» An einer ausserordentlichen Generalversammlung wurde dann von dieser Regelung Gebrauch gemacht. In der Folge wurde die COM auch rechtlich ein rein schweizerisches Missionswerk. Darüber waren wir überaus froh und dankbar! In keinem anderen Land konnte eine solch unkomplizierte Trennung vom amerikanischen Mutterwerk erfolgen. 153 P43076_inh_Buch_Staub.indd 153 06.02.15 13:32 Menschen ergreifen massenweise die Flucht 1975 wurden wir unversehens mit der Tatsache konfrontiert, dass die «Roten Khmer» in Kambodscha an die Macht gelangten. Sie errichteten ein Horrorregime ohnegleichen. Leute mit einer guten Ausbildung, zum Beispiel Ärzte, Lehrer, usw. wurden prinzipiell als Regimegegner eingestuft. Viele wurden umgebracht, andere als Landarbeiter in den Kolchosen eingesetzt. Hunderttausende flohen, vor allem nach Thailand. Bald stellten wir uns der grossen Herausforderung, diesen Menschen vor Ort zu helfen. Wir erachteten diese Lösung als die Beste. Wenn diese Menschen als Flüchtlinge bis in den Westen gekommen wären, hätte das viele zusätzliche Schwierigkeiten und Probleme zur Folge gehabt. Das Erstellen von Zeltlagern so wie das Versorgen der Flüchtlinge an Ort und Stelle gestalteten sich viel kostengünstiger als hierzulande. Khao Idang mit im Lager gefertigtem Wasserkrug So engagierten wir uns vor allem in einem der grössten je erbauten Flüchtlingslager «Khao Idang». 300 000 Flüchtlinge lebten in diesem riesigen Lager in Thailand, unweit der kambodschanischen Grenze. Nie habe ich ein Flüchtlingslager angetroffen, das nur annähernd so gut organisiert war wie dieses. Dank unserer Hilfe funktionierte ein Postservice für Lagerinsassen. Wir unterstützten eine grosse, im Lager errichtete, Seifenfabrik sowie eine 154 P43076_inh_Buch_Staub.indd 154 06.02.15 13:32 Fischfarm und anderes mehr. Wir verteilten christliche Literatur und beteiligten uns an der Übersetzung der Bibel in die Khmersprache. Die einheimischen Christen hatten uns ans Herz gelegt, wie wichtig gerade die Übersetzung des Alten Testamentes sei, damit das Neue Testament verständlicher werde. Nachdem die ersten Bibeln gedruckt waren, hatte ich das grosse Vorrecht, diese Exemplare persönlich nach Khao Idang zu bringen. Nie werde ich die Freude und Dankbarkeit der Christen im Lager vergessen, als sie diese Bibeln in den Händen hielten. Kein Fotoapparat hätte die tiefen Empfindungen dieses Augenblicks einfangen können! Ein anderer Höhepunkt dieses Besuches war ein Zusammentreffen mit Prinz Sihanuk in Kambodscha selber. Dies war nur unter strengem, militärischem Schutz möglich. Es war dem Prinzen wichtig, sich ganz persönlich für unsere wertvolle Hilfe zu bedanken. 1979 hatten bloss 150 Christen und drei Pastoren das Horrorregime von Pol Pot überlebt. Dieser hatte es fertig gebracht während des Krieges zwischen 1975 und 1979 drei Millionen Landsleute umzubringen und alles Christliche zu eliminieren. Dieser Völkermord war einer der Schlimmsten, den es je gab. Zum Beispiel wurden Menschen auf Lastwagen verfrachtet und dann einfach in Flüsse gekippt. Andere wurden in Talmulden zusammen getrieben und anschliessend mit Maschinengewehrsalven niedergemäht. Doch bewahrheitet sich hier einmal mehr der Denkspruch: «Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche.» Heute, im Jahr 2014, gibt es in Kambodscha mehr als 7000 Kirchen. Im ganzen Land kann man frei evangelisieren. Die Menschen dürsten geradezu nach der Heilsbotschaft. 155 P43076_inh_Buch_Staub.indd 155 06.02.15 13:32 Die Flüchtlingshilfe der COM Die Drachensaat des Kommunismus erfasste leider immer mehr Staaten. Leider breitete sich dieser Flächenbrand auch auf Afrika aus: Mozambique, der Kongo und Angola wurden zuerst betroffen. Mehr als zwei Millionen Menschen flohen vor allem nach Portugal. Damit das Hauptaugenmerk der COM, nämlich den verfolgten Christen in Liebe zu dienen und sie mit Bibeln uam. zu versorgen, nicht beeinträchtigt würde, gründeten wir den Bereich «Flüchtlingshilfe». So entstand neben der bewährten Zeitschrift «Christus dem Osten» diejenige der «Flüchtlingshilfe». Das Flüchtlingselend in Portugal liess uns nicht gleichgültig. Zuerst half der Staat diesen Menschen, doch bald fehlten diesem die finanziellen Mittel. Durch unsere Patenschaften profitierten bald einmal mehrere hundert Familien von einer monatlichen Unterstützung. Was der Prophet Jesaja dem alttestamentlichen Gottesvolk im Auftrag Gottes verkündete, galt es nun unsererseits als Christen umzusetzen: «Gebt den Hungrigen zu essen, nehmt Obdachlose auf. Wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, so gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschliesst eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen!» (Jesaja 58,7) Als die Patenkinder ins Erwachsenenalter kamen, halfen wir ihnen, im Erwerbsleben Fuss zu fassen. Für Mädchen gründeten wir eine Haushaltungsschule. Dabei war uns die geistliche Betreuung ebenso wichtig wie die Ausbildung! In der Nähe von Lissabon, in Mafra und in der Algarve befanden sich unsere Zentren. Vor Ort arbeiteten wir mit lokalen, christlichen Gemeinden zusammen. Jedes Mal, wenn sich Menschen für ein Leben in der Nachfolge Jesu entschieden, freuten wir uns zusammen mit den Engeln von ganzem Herzen! (Siehe Lukas 15,10) Ein weiteres Flüchtlingsdrama wurde dann in Äthiopien ausgelöst, als hier die Kommunisten an die Macht kamen. Ähnlich wie in Kambodscha wurden vor allem die intellektuellen Kreise in Mitleidenschaft gezogen. Weil 156 P43076_inh_Buch_Staub.indd 156 06.02.15 13:32 sich die Studenten erhoben und demonstrierten, wurden sie besonders ins Visier genommen. Sie flüchteten zu Tausenden ins benachbarte Hargeisa in Somalia. Bald war dieses arme afrikanische Land überfordert, und die Flüchtlinge litten sehr. So griffen wir möglichst schnell ein und errichteten in Hargeisa – in Zusammenarbeit mit «Jugend mit einer Mission, (JMEM)» – ein Zentrum für Nothilfe. Es wurde uns gestattet, in Hargeisa, der zweitgrössten Stadt des Landes, die verlassene anglikanische Kirche zu benutzen, wo fortan jeden Sonntag Gottesdienst gefeiert wurde. Mit dem Kinderarzt Dr. Toni Grosshauser und seiner Frau Annemie als Leiter, hatten wir «das grosse Los gezogen». Ihre hervorragende, fachliche Kompetenz ihr Glaube und ihre Weisheit kamen der ganzen Arbeit zugute. In dieser Kirche fanden jeden Sonntag unsere Gottesdienste statt. Doch es gab auch Schwierigkeiten. Manchmal wurden unsere Fahrzeuge und Häuser mit Steinen beworfen. Einmal wurde ich Zeuge, wie in einer Koranschule die Knaben systematisch zu aggressivem Handeln erzogen wurden. Nachdem ich ein fortwährendes Wehklagen vernommen hatte, stieg ich auf einen Baum. Im Innenhof bildeten die Knaben einen Kreis. Einer hatte die Augen verbunden. Der Reihe nach schlugen seine Kollegen ihn mit Ruten und Stecken auf den nackten Rücken. Wer am stärksten zuschlug, war der Held. Damit der Gepeinigte diesen nicht identifizieren konnte, hatte man ihm die Augen verbunden. Nach diesem Erleben konnte ich die Aggressivität der Buben besser nachvollziehen. 157 P43076_inh_Buch_Staub.indd 157 06.02.15 13:32 Das Hauptgewicht unseres Einsatzes war auf das Betreuen der Waisen ausgerichtet. Wir engagierten uns im Knabenwaisenhaus der Stadt Hargeisa. Hier lebten 150 Waisen! Unser Augenmerk richtete sich zunehmend auf das gravierende Problem der Säuglingswaisen. Oft wurden Neugeborene einfach «ausgesetzt». Bevor wir uns dieser hilflosen Geschöpfe annahmen, wurden diese «Findlinge» jeweils ins städtische Spital gebracht, wo leider die meisten starben. Das beschäftigte unseren Pädiater, Dr. Grosshauser, sehr. Als dieser dort einmal einen Säugling antraf, der bereits vom Tod gekennzeichnet war, nahm er dieses Mädchen kurzerhand zu sich nach Hause, wo es schnell genas und anschliessend in seiner Familie blieb. Später konnten sie dieses Kind adoptieren. Im nahen Flüchtlingslager wurden Kranke behandelt und versorgt. Die Situation war sehr prekär. Vor allem fehlte es an hygienischen Einrichtungen. Toiletten waren kaum vorhanden. Als dann die Regenzeit einsetzte, kam es zur Katastrophe: Eine Cholera-Epidemie brach aus! Dank unserem Arzt besassen wir als einzige Hilfsorganisation entsprechende Medikamente. Bald waren alle unsere Mitarbeiter/Innen im Einsatz. Im Schnellverfahren wurden sie angeleitet, die nötigen Impfungen zu tätigen. Die JMEM-Leute, unsere verantwortlichen Farmer, sowie die Handwerker waren von früh bis spät im Einsatz. Tausenden konnte geholfen werden. Sehr wichtig war auch das Verabreichen von Flüssigkeit, denn die Opfer waren schnell dehydriert. Leider starben an der Seuche trotzdem viele Menschen. Säuglingswaisen werden total vernachlässigt Bei einem meiner Missionsbesuche in Hargeisa nahm mich Dr. Grosshauser mit ins Spital. Es war ihm wichtig, mir die trostlose Situation der Säuglingswaisen vor Ort zu zeigen. Was ich da bei unserem unerwarteten Besuch antraf, war haarsträubend: Die Bébés lagen zum Teil in kistenähnlichen Behältern, in ihren Exkrementen. Ganze Fliegenschwärme wurden dadurch angezogen. Nun eilten schnell zwei Frauen herbei. Diese nahmen die Säuglinge, badeten sie kurzerhand in einer Metallwanne gefüllt mit Wasser, welches jedoch offensichtlich seit längerer Zeit nicht durch frisches ersetzt worden war... «Jetzt kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn ein Säugling eine ansteckende Krankheit hat...», sagte Dr. Grosshauser zu mir. 158 P43076_inh_Buch_Staub.indd 158 06.02.15 13:32 Er erklärte mir auch, dass für eine Somalierin das Versorgen eines fremden Kindes unter ihrer Würde steht. Offensichtlich war dieses Traditionsdenken leider sogar bei den Krankenschwestern stärker als ihr berufliches Ethos! Wie dem auch sei, Toni Grosshauser hatte erreicht, dass ich diese unhaltbare Situation zu Hause im Vorstand der Mission thematisieren würde. Tatsächlich beschlossen daraufhin die Verantwortlichen der COM, in Hargeisa ein Säuglingswaisenheim einzurichten. Dank JMEM hatten wir diesbezüglich genügend gut ausgebildetes Personal. In einem gemieteten Haus wurde diese Arbeit unverzüglich aufgenommen. In der Folge wurden dann in diesem Arbeitsbereich somalische Krankenschwestern zusätzlich als Säuglingsschwestern ausgebildet. Diese sollten vor allem erkennen, wie wertvoll jedes Menschenleben ist. Auch wurde ihnen erklärt, welche Auswirkungen Zuneigung und Liebe auf diese SäuglinVon uns betreute Waisenkinder in Hargeisa ge haben. Letztendlich war ein weiteres Ergebnis dieser Arbeit die Tatsache, dass somalische Familien ein Waisenkind adoptieren wollten. Deshalb schufen die Behörden dazu die Gesetzgebung. Hier noch die herzergreifende Geschichte eines Säuglings: Das Neugeborene wurde am Stadtrand ausgesetzt und mit Steinen zugedeckt. Als unsere Leute da vorbeikamen, vernahmen sie ein Wimmern. Kurzerhand entfernten sie die Steine und brachten das kleine Wesen ins Waisenhaus. Noch einige Zeit blieb das Köpfchen des kleinen Mädchens, welches den Namen Lül bekam, leider verformt. Doch es erholte sich gut und gedieh in der Folge prächtig. Eines Tages, als ich mich wieder in Somalia befand, erkrankten mehrere Kinder im Waisenhaus an Hirnhautentzündung. Das war ein grosses Problem! Eindringlich beteten wir um Heilung. Durch das wunderbare Eingreifen Gottes wurden fünf sofort geheilt. Nur die kleine Lül blieb krank. «Diese ist bereits vom Tod gekennzeichnet», erklärte Annemie. «Nein, ganz sicher 159 P43076_inh_Buch_Staub.indd 159 06.02.15 13:32 nicht!», gab ich zur Antwort. «Sie wurde doch nicht unter dem Steinhaufen gefunden, um jetzt zu sterben.» Zu zweit begaben wir uns noch einmal ins Waisenhaus und beteten speziell mit Lül. Anderntags war auch sie wohlauf. Die FH der COM legt in Hargeisa ein Farmgelände an und bildet junge Männer aus Wir legten am Flussufer ein Farmgelände an, auf welchem Gemüse und Fruchtbäume angepflanzt wurden. Der Wassermangel war für uns eine grosse Herausforderung. In den Trockenzeiten war dieses Problem am grössten. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse wurden dann sehr teuer. Im Anfang behalfen wir uns, indem wir im Flussbett Wasserlöcher gruben. Während der Trockenzeit versiegten mit der Zeit auch diese. Dann erstellten wir quer durch den Flusslauf einen recht tiefen Kanal und errichteten eine Sickerleitung, durch welche das Grundwasser neben den Flusslauf geleitet wurde. Hier floss dieses in ein Becken und wurde anschliessend in ein Reservoir auf dem Dach des Farmhauses gepumpt. Einmal erwärmt, leitete man dieses wertvolle Nass auf das Gelände. Nebst Gemüse, Tomaten, Maniok, Kartoffeln, Melonen u.a.m. wurden vor allem Papayas und Orangen sowie weitere Früchte angebaut. Nebst der Selbstversorgung kamen diese wertvollen Esswaren dem Waisenhaus zugute. Unser Augenmerk richtete sich mehr und mehr auf die Knaben im Waisenhaus. Manche legten auf der Farm und in unseren Werkstätten Hand an. Ein besonders aufgeweckter Jüngling half in der Ambulanz mit. Nachdem er sein Leben bewusst Jesus anvertraut hatte, kam er auch zu den Gottesdiensten. Später wurde er in Kenia zum Pfarrer ausgebildet und dient heute in Äthiopien als Seelsorger. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass die jungen Männer nicht bloss Hilfsarbeiter sein wollten. Sie verlangten nach mehr. Deshalb beschlossen wir, Ausbildungsprogramme anzubieten. Es stellte sich heraus, dass nur die Regierung, beziehungsweise das entsprechende Ministerium in Mogadishu dafür zuständig war. Am wichtigsten schien uns die Ausbildung von Farmern. Das war jedoch problematisch: Sich an der Erde die Hände zu beschmutzen, war den Leuten, vor allem den Männern zuwider. Offensichtlich waren es vor allem die Frauen, welche die Garten und Feldarbeit zu verrichten hatten. 160 P43076_inh_Buch_Staub.indd 160 06.02.15 13:32 Beim nächsten Besuch in Mogadishu waren wir beim Innenminister angemeldet. Dieser hatte jedoch keine Zeit für uns. An seiner Stelle sollten wir vom ranghöchsten General namens Ismail, welcher für den Norden Somalias zuständig war, empfangen werden. Nachdem wir alle Sicherheitskontrollen hinter uns hatten, warteten wir in einem Empfangszimmer auf diesen General. Endlich teilte man uns mit, dass er uns erst nachmittags empfangen könne. Nach einigen Besorgungen in der Hauptstadt und einem Mittagessen in einem Zweitklasshotel, wo es im Reis sogar Mäusekot hatte, kehrten wir zum Büro des Generals zurück. Er war wieder nicht da. Nun erteilte Dr. Grosshauser mir eine interessante Lektion: «Damit musst du leben können. Früher waren hier die Kolonialisten die Herren. Heute haben die Einheimischen das Sagen. Das demonstrieren sie uns auf ihre Weise. Wenn alles gut geht, können wir damit rechnen, dass es morgen klappt!» Unangenehm berührt sagte ich: «Hör mal, Toni, das lasse ich mir nicht gefallen! Ich reise so weit aus der Schweiz hierher, um dann meine Zeit so zu vergeuden. Das kann es doch nicht sein!» – «Du wirst es lernen müssen», entgegnete er. Dazu hatte ich keine Zeit! «Bitte Toni, erklär jetzt dem Adjutanten des Generals, dass ich den weiten Weg aus der Schweiz angereist bin und dass wir den General unbedingt noch heute sprechen wollen.» Er tat dies und siehe da: Der General lenkte ein. Er war bereit, uns in seiner Villa zu empfangen. Als wir dort ankamen, hiess es, der General sei gerade am Nachmittagsgebet. «Aua, das trifft sich aber schlecht», meinte Dr. Grosshauser. Was mir mehr und mehr auffiel, ist folgendes: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit bezeugen die Muslime uns Christen gegenüber demonstrativ ihren Glauben. In dieser Hinsicht können wir Christen wirklich von ihnen lernen; denn wir neigen eher dazu, unseren Glauben zu verstecken. In der Folge hatten wir schliesslich ein sehr gutes Gespräch mit dem General. Die Regierung hatte jedoch ganz andere Pläne als wir. Sie wollte ihrerseits unbedingt Ausbildungsprogramme im Bereich Mechaniker, Elektriker, Metallbearbeitung, Schweisser, Spengler, und Automechaniker. Der Farmbereich interessierte sie kaum. Die Erde bearbeiten und zu pflanzen, obliegt hier zu Lande den Frauen. Jedoch zeigte der General wenig Verständnis dafür, dass ich als Delegierter und Vizepräsident unserer Missionsleitung nicht befugt war, diesbezüglich eigenmächtige Entscheidungen zu treffen. 161 P43076_inh_Buch_Staub.indd 161 06.02.15 13:32 Er hatte jedoch ein gewisses Verständnis für die Tatsache, dass wir nicht ohne weiteres in all diesen von ihm erwähnten Bereichen, Ausbildner zur Verfügung haben. Er beharrte darauf, dass wir mit der Schweiz Rücksprache nehmen und uns dann wieder treffen sollten. Nachdem das geschehen war, kam es zu einer weiteren, diesmal unproblematischen Zusammenkunft mit General. Wir einigten uns dann darauf, im Farmbereich 7 und als Automechaniker und Mechaniker-Schweisser je 5 Jünglinge aus dem Waisenhaus auszubilden. Am kommenden Morgen sollte es in aller Frühe mit dem alten Fokkerflugzeug zurück in den Norden gehen. Da wir bei einem Missionar logiert hatten, war dieser bereit, uns zum Flughafen zu fahren. Als wir da ankamen sagte dieser: «Da stimmt etwas nicht! Warum brennen keine Lichter?» Am ersten Kontrollposten erklärte man uns, dass die Fokkermaschine in Hargeisa mit zerbrochener Frontscheibe auf die Reparatur warte und dass eine Boeing startklar sei, in welcher Monteure aus Deutschland nach Berbera geflogen werden sollten, um diese Reparatur auszuführen. Von dort aus musste diese Maschine einen Ersatzflug in den Jemen erledigen. «Das trifft sich gut. So können wir wenigstens bis nach Berbera mitfliegen», erklärte ich. «Das ist leider nicht möglich», erwiderte ein Offizier. Mir war sofort klar geworden, dass dies die einzige Möglichkeit war, um selber, wie vorgesehen, in die Schweiz zurückkehren zu können. Nach einigem Hin und Her wurde von «oben herab» grünes Licht gegeben, und wir konnten als einzige Passagiere in der Boeing nach Berbera mitfliegen. Von dort ging es dann mit dem Linienbus weiter nach Hargeisa, wo wir abgekämpft und ermattet, jedoch erfüllt mit Dankbarkeit, ankamen. Einige Wochen später wurde Dr. Grosshauser in einen Unfall verwickelt. In einer Kleinstadt hatte am Strassenrand ein Bus angehalten. Als unser Missionsleiter diesen überholte sprang ein Mann vor dem Bus über die Strasse direkt vor sein Auto. Der Zusammenprall war unausweichlich und folgenschwer. Unser Arzt wurde der fahrlässigen Körperverletzung angeklagt und riskierte sogar eine Gefängnisstrafe. Das hat ihn schwer bekümmert. Um der Gerichtsverhandlung beizuwohnen und Dr. Grosshauser zu unterstützen, musste ich «Hals über Kopf» nach Somalia reisen. Das Gerichtsverfahren war mühsam und langwierig. Letztlich lautete das Verdikt: 2 Jahre 162 P43076_inh_Buch_Staub.indd 162 06.02.15 13:32 Gefängnis! Jedoch in Anbetracht unserer karitativen Arbeit wurde die Strafe auf Bewährung ausgesetzt. Das war für unseren Missionsleiter hart. Er war zutiefst verunsichert und gab zu Bedenken: «Wenn mir noch einmal etwas zustösst, komme ich ins Gefängnis.» Deshalb mussten wir einen neuen Missionsleiter suchen, was nicht einfach war. Doch unerwartet schnell fanden wir einen qualifizierten Fachmann in der Person von Paul Stähli. Für seine Frau bedeutete dies eine gewaltige Umstellung und eine grosse Herausforderung, hatten sie doch bereits drei Kinder, und sie erwarteten das Vierte. 163 P43076_inh_Buch_Staub.indd 163 06.02.15 13:32 Die Familie unseres Schwiegersohnes geht nach Somalia Einige Zeit später reisten dann unsere Tochter Suzanne, zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden, kleinen Kindern Christelle und Fabien nach Somalia. Unser Schwiegersohn sollte hier als diplomierter Lehrmeister das Ausbildungsprogramm im Bereich Automechanik leiten. In England hatten sie sich während Monaten auf diesen Einsatz vorbereitet. Zwei junge Bauern befanden sich bereits vor Ort und bildeten schon Farmer aus. Weitere Mitarbeiter hatten damit begonnen, Burschen im Bereich Metallbearbeitung, Schweissen und Elektroinstallation auszubilden. Die Familie unseres Schwiegersohnes lebte sich schnell und mühelos ein. Sie bewohnten ein schönes Haus, am Hang, mit Aussicht auf die Stadt. Trotz des heissen Klimas gefiel es ihnen ausgezeichnet. Für eine ausländische Familie ist es üblich, eine Haushalthilfe zu haben. Dies erlaubte unserer Tochter sich in der Administration zu engagieren. Ihre Angestellte verstand sich sehr gut mit den beiden Kindern. Doch gab es Probleme, wenn in gewissen Nahrungsmitteln Schweinefleisch vorhanden war. Dann versagte sich die Angestellte etwas anzufassen, was damit in Berührung gekommen war und verweigerte auch das Abwaschen dieser Gegenstände. Unsere Missionsstation wurde zum Teil von der Schweiz aus versorgt. Besonders das technische Material, die benötigten Maschinen und Werkzeuge wurden per Container über Djibouti nach Hargeisa geschickt. Bei diesen Gelegenheiten versorgten wir unsere Leute vor Ort gleichzeitig mit Lebensmitteln, welche im Land nicht erzeugt wurden oder erhältlich waren. 164 P43076_inh_Buch_Staub.indd 164 06.02.15 13:32 Hilfsgüter aus der Schweiz kommen in Hargeisa an Ich selber und all unsere Leute reisten ebenfalls immer über Djibouti nach Somalia. Einige Zeit machte uns die Air France einen Missionsrabatt. Dann folgte die Swissair ebenfalls diesem Beispiel. Das hatte jedoch zur Folge, dass wir in Dschidda, (Saudi – Arabien) zwischenlanden und von hier aus mit der Aethiopischen Fluggesellschaft weiterfliegen mussten. In Djibouti konnten wir dann immer bei der Rotmeermission übernachten. Zweimal wöchentlich flog die Djibouti-Air nach Hargeisa. Ganz unerwartet brach in Somalia ein blutiger Bürgerkrieg aus. Da sich der Norden selbständig machen wollte, war die Stadt Hargeisa mit einer Million Einwohnern bald hart umkämpft. Hinter dem Haus, welches die Familie unserer Tochter bewohnte, hatten sich die Aufständischen verschanzt, sodass sie im Haus eingeschlossen waren. Zusammengepfercht hielten sie sich Tag und Nacht im Vorratsraum auf, wo es noch am sichersten war. Dann konnten sie endlich ins Missionszentrum flüchten. Doch war hier die Situation vor allem für die Kinder eher schlechter. Immer wieder kam es vor, dass Frauen während der Bombardierungen ausrasteten und schrien. Logischerweise fingen dann die Kinder ebenfalls an zu schreien. Leider konnten wir keinen direkten Kontakt mehr zu unseren Lieben herstellen. Dann endlich nach tagelangem Warten konnten wir über UNHCR und das Rote Kreuz in Genf einiges erfahren. Tatsächlich war die Lage sehr ernst. Später wurde uns mitgeteilt, dass man alle Vorkehrungen traf um die Ausländer zu evakuieren. 165 P43076_inh_Buch_Staub.indd 165 06.02.15 13:32 Nach zehn Tagen erreichte uns dann die Nachricht, dass alle Mitarbeiter/ Innen unsere Mission durch das Rote Kreuz mit Kleinflugzeugen auf einen Militärflugplatz in den Süden evakuiert worden seien. Wie gefährlich sich diese Operation gestaltet hatte, verdeutlicht die Tatsache, dass die Flugzeuge beschossen wurden, obschon sie als Rotkreuzflugzeuge gekennzeichnet waren. Aus diesem Grund flogen sie dann knapp über dem Erdboden, um ein möglichst kleines Ziel abzugeben. Unsere Dankbarkeit und Freude über die erfolgreiche Rettungsaktion war gross! Ausser einem kleinen Koffer mit den nötigsten Sachen, besonders für die Kinder, mussten sie alles zurücklassen. Das war sehr schmerzlich. Vor allem die vielen Fotos und Andenken werden sie immer vermissen. Unsere Angehörigen entschieden sich dann, nicht direkt in die Schweiz zurückzukehren. Sie flogen zur Erholung nach Kenia in eine Missionsbasis von JMEM. Besonders Christelle, meine Enkelin war traumatisiert. Es war ihnen wichtig, dass die Kinder noch auf dem afrikanischen Kontinent einigermassen zur Normalität zurückfinden konnten. Wohlbehalten zurück in der Schweiz, hatte besonders unser Schwiegersohn Mühe, diese unglücklichen Erlebnisse einzustufen und zu verkraften. Glücklicherweise konnte die Familie ein Einfamilienhaus beziehen. Dank Gottes Gnade fand unser Sohn Philipp für seinen Schwager eine geeignete Stelle bei Edi-Press. Mit viel Herzblut und Fleiss arbeitete sich Bernard sodann in dieser Firma bis ins Kader hoch. Als Ausgleich zu der übergrossen beruflichen Herausforderung ergab er sich dem Bergsteigen. Im Sommer 2000 wurde ihm dies zum Verhängnis. Bernard verunglückte im Wallis beim Bergsteigen sehr schwer. Per Helikopter wurde er ins Kantonsspital von Sitten eingeliefert und sogleich ins künstliche Koma versetzt. Nebst Knochenbrüchen hatte er eine gravierende Kopfverletzung erlitten. Diese stellte das grösste Problem dar. Ging man doch davon aus, dass dadurch das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen war. Sobald sein Zustand es zuliess, wurde er ins CHUV nach Lausanne geflogen, da man hier für seine spezielle Behandlung besser ausgerüstet war. Während die Knochenbrüche langsam heilten, erlitt das Gehirn einen bleibenden Schaden. Das war wie ein «Schlag in die Magengrube»! Dieses Unglück traf die ganze Familie in grossem Mass. Es war wie wenn unsere 166 P43076_inh_Buch_Staub.indd 166 06.02.15 13:32 Tochter Suzanne ihren wohlbekannten Mann und die Kinder ihren vertrauten Vater verloren hätten. Während die älteren Grosskinder bereits in einem persönlich erstarkten Glauben standen, geriet der Jüngste in eine Krise. Er verstand Gott und die Welt nicht mehr, fing an zu rebellieren und entwickelte ein nervöses Muskelzucken. Natürlich belastete das die Familie zusätzlich. Glücklicherweise erfuhr unsere Tochter durch uns, sowie in ihrer Gemeinde fachkundige Seelsorge, Hilfe und wertvolle Unterstützung, so dass sie unter der schweren Last nicht zusammenbrach. Letztendlich wendete sich all das Schwere in Segen. Heute stehen alle, auch der Jüngste, in einer intensiven Beziehung zu Jesus Christus. Sogar der Schwiegersohn fand durch diese Prüfungszeit zu einem engeren Kontakt mit Gott. Obschon er nur noch zu 50% arbeitsfähig ist und seine Kaderstellung im Betrieb verloren hat, hat er sich geistlich entfaltet. So werden schwere Zeiten oft zu Segenszeiten! Mit dem nächsten Kapitel nehme ich die Erzählung meiner Familiengeschichte wieder auf. 167 P43076_inh_Buch_Staub.indd 167 06.02.15 13:32 Der Gesundheitszustand meiner lieben Frau verschlechtert sich Leider vermehrten sich bei meiner Gattin die gesundheitlichen Schwierigkeiten. Als erstes stellte Jeanne-Marie in der Brust einen Knoten fest. Nach den Untersuchungen beim Gynäkologen stellte sich heraus, dass der Tumor krebsartig war. Natürlich sollte sie möglichst bald operiert werden. JeanneMarie wollte jedoch bis zum Ende jener Woche eine Bedenkzeit haben, welche sie mit viel Gebet verbrachte. Die Gebete wurden erhört: am Sonntag war der Knoten verschwunden. Der Gynäkologe bestätigte dies kommentarlos! Aber immer wieder musste sie sich wegen anderen Gebrechen Operationen unterziehen. Nach einem sehr schwierigen Eingriff wegen eines Zwerchfelldurchbruches erklärte uns ein Arzt: «Wir haben es hier wahrscheinlich mit problematischen Verkettungen zu tun, welche durch Operationen nicht behoben werden können. Wir beseitigen die Auswirkungen, jedoch nicht die Ursache. Ich rate Ihnen deshalb zu einer Psychotherapie.» Das schockierte uns doch ein wenig. Aber was sollten wir sonst machen. All unsere jetzigen Gebete um Heilung blieben unerhört. Und so willigten wir ein. Nachdem der Arzt gleich einen Psychiater in Lausanne vorgeschlagen hatte, begab sich Jeanne-Marie zu einer wöchentlichen «Sitzung» dorthin. Es wurde nun offensichtlich, dass meine Frau mit einer schwerwiegenden Lebenshypothek belastet war. Hie und da gingen wir zu zweit und manchmal auch ich alleine zu diesem Arzt. Er war Katholik und verstand sein Handwerk ausgezeichnet. Doch war dies für uns eine sehr schwierige Zeit. Meine Frau durchlief eine Zeitspanne der Selbst- und Identitätsfindung. Unser Ehe- und Familienleben wurde einer harten Prüfungszeit unterzogen. Als der Psychiater meiner Frau nach sieben Jahren Behandlung sagte: «Nun kommen wir ans Ende der Therapie», war sie wie «vor den Kopf gestossen». Sie war der Ansicht, dass ihr Wohlbefinden alles andere als wunschgemäss war. Daraufhin besuchten wir zusammen ein Seminar von dem Psychiater Dr. Margies über «Innere Heilung». Eines seiner bemerkenswerten Bücher trägt den Titel: «Inneres Heilwerden an Stelle von Psychotherapie». Das war 168 P43076_inh_Buch_Staub.indd 168 06.02.15 13:32 Seelsorge erster Güte! Nach der Lektion über «Das Vergeben» zog JeanneMarie sich zum Gebet in die Einsamkeit eines Waldes zurück. Unter Tränen erlitt sie einen Schmerzensausbruch und vergab ihrer Familie, besonders ihrer Mutter alles, worunter sie gelitten hatte. Das war vor allem ein Willensakt. Die Gefühlswallungen waren so heftig, dass sie manches richtig aus sich herausschrie. Doch war das für sie unendlich befreiend und heilbringend! Einige Tage später kam ein Telefonanruf ihrer Mutter, den ich entgegen nahm. Sie war wie verwandelt, ganz anders als üblich. Sonst lautete ihre jeweilige knappe Frage: «Ist Jeanne-Marie da?» Diesmal plauderte sie vorerst ein wenig mit mir, um erst danach nach meiner Frau zu fragen. Zusammen hatten sie dann ein tiefgreifendes Gespräch. In dieser Aussprache bat Jeanne-Marie die Mutter um Verzeihung für alles, was sie nicht richtig gemacht hatte. Von da weg entwickelte sich zwischen den beiden eine harmonische Beziehung, sodass ihre Stiefmutter mit Jeanne-Marie eine herzlichere Beziehung aufbauen konnte als mit ihren eigenen Töchtern. Ein Glück und grosser Gewinn war für uns das Haus am Neuenburgersee. Wir genossen den grossen Park und den nahen See in vollen Zügen! Nie können wir unserem himmlischen Vater genug dafür danken, dass er im Blick auf dieses Haus am See alles so wunderbar geführt und uns demzufolge so reich gesegnet hat! Unser Haus am Neuenburgersee mit dem Park 169 P43076_inh_Buch_Staub.indd 169 06.02.15 13:32 Im Winter fuhren wir oft zusammen in das nahe gelegene Skigebiet «Les Paccots», später auch nach Pay d’Enhaut nach Rougemont oder ins Wallis nach Les Croset. Diese Ausflüge genossen unsere Kinder in vollen Zügen. Wenn ich schon relativ wenig Zeit für sie zu Verfügung hatte, erlebten wir diese Stunden umso intensiver. Da hatten die Kinder mich ganz für sich und ich war bewusst und voll für sie da. Bis heute sind ihnen diese kostbaren Zeiten in bester Erinnerung. Unsere drei Sprösslinge bereiteten uns immer wieder viel Freude! Als fünfzehnjährige verliebte sich unsere Älteste recht heftig in einen Klassenkollegen. Sie sprach ganz offen mit uns über diese Situation. Doch waren weder er noch seine Familie gläubig. Um ihn kennen zu lernen, sollte er mit uns zusammen einen Samstag in Yvonand verbringen. Unser vorbehaltloses Einverständnis erstaunte die Beiden offensichtlich. Der Unterschied unserer Familienverhältnisse und die Art und Weise, wie wir miteinander umgingen, trugen wesentlich dazu bei, dass unsere Suzanne diese Freundschaft in den folgenden Tagen beendete. Hätten wir den Besuch des Burschen nicht akzeptiert, wäre diese Episode anders abgelaufen. An Suzannes Konfirmation mit den Paten 170 P43076_inh_Buch_Staub.indd 170 06.02.15 13:32 Einen Sommer lang wurden die Rusticos im Tessin umgebaut. Meine Eltern waren damals zeitweise vor Ort. Ein Cousin und ein ehemaliger Bursche aus der Jugendgruppe von Schwarzenburg führten zusammen mit dem örtlichen Maurergeschäft die Arbeiten aus. So entstand ein wirkliches Bijou von Ferienhaus. Auf der Doppelgarage erstellten wir ein Schwimmbad mit 40 m3 Fassungsvermögen. Als in den 1980iger Jahren die massiven Zinsaufschläge kamen, verkauften wir dieses Haus, was wir dann in der Folge immer bereut haben. Doch sagte ich mir damals: Wir wollen wachsam sein und vor allem niemals bankrott gehen. Lieber später eine Veräusserung beklagen als eine Zwangsversteigerung erleiden! 171 P43076_inh_Buch_Staub.indd 171 06.02.15 13:32 Meine Arbeit in der Gemeinde und der Jungen Kirche Schweiz Unsere Gottesdienste und auch die Bibelstunden wurden zunehmend gut besucht. Vor allem die Folge mit dem Thema: «Die Wirkungen des Heiligen Geistes» erlebte ein erfreuliches Echo. Die Gemeinde- und Jugendarbeit bereitete mir grosse Befriedigung. Bei einem Coiffeur, welcher Deutschweizer war, liess ich mir die Haare schneiden. Er war bereits ein älterer Herr. Sodann lud ich ihn zum Gottesdienst ein. Und tatsächlich kam er. Daraufhin erklärte er: «Es hat mir ausgezeichnet gefallen. Insbesondere weil ihr für Jesus die Bezeichnung «Heiland» verwendet habt. Diese Benennung habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört und das hat mir so gefallen und gut getan!» Bis zu seinem Tod, welcher bald darauf erfolgte, kam er nun in die Gemeinde. Öfters kamen Welschlandgänger früher am Sonntag aus der Deutschschweiz zurück, um am Abendgottesdienst teilnehmen zu können. Sie wurden danach jeweils von anderen Gottesdienstbesuchern zu ihren Familien gefahren. Mein grosser Einsatz in der Jugendarbeit blieb nicht verborgen. Man ernannte mich zum Bundesobmann der «JK-Westschweiz». Durch diese Funktion wurde ich automatisch Mitglied im «Vorstand der Jungen Kirche Schweiz». Diese kirchliche Jugendorganisation machte eine schwerwiegende Krise durch. Grundlegende evangelische Glaubenselemente wurden über Bord geworfen. Der Titel des gedruckten Monatsblattes der «JK Schweiz» wurde von «Junge Kirche» in «Kontakt» umbenannt. Substanziell erlitt die Zeitschrift eine markante Einbusse und verlor zusehends Abonnenten. Der Leitspruch der «JK-Schweiz»: «Es ist in keinem andern Heil und kein anderer Name ist den Menschen gegeben darin sie sollen selig werden» (Apgesch.4,12) wurde gestrichen und meine Bedenken und Einwände übergangen. 172 P43076_inh_Buch_Staub.indd 172 06.02.15 13:32 Doch konnten meine Frau und ich zusammen, während dreizehn Jahren jedes Jahr für die «JK-Schweiz» ein «Provencelager» in Südfrankreich mit dem Thema «Wir im Land der Hugenotten» durchführen. Sogar in Kenia leiteten wir ein Jugendlager mit über zwanzig Teilnehmenden. Da fanden immer wieder Jugendliche zum lebendigen Glauben an ihren Erlöser, Jesus Christus. Als sich dann zwei Mädchen einer angesehenen Professorenfamilie aus Zürich in einem unserer Lager bekehrten, kam es zum Eklat: Ich wurde ins JK-Sekretariat nach Zürich zitiert, wo man mir klar machte, dass ein solch «extremes Auftreten» mit einer «offenen JK-Arbeit» nicht vereinbar sei. Das nächste Lager, welches schon angekündigt war, wurde gestrichen und wir als Leiter für immer suspendiert. Leider ging es dann ziemlich schnell bergab mit der Organisation «JK Schweiz» und dann wurde die totale Auflösung beschlossen. Seither gibt es in der Landeskirche bedauerlicherweise keine offizielle Jugendarbeit mehr. Dafür erlebten wir in unserer Kirchgemeinde viel Rückhalt. Der Kirchgemeinderat unterstützte uns, und auch die Gemeinde stand hinter unserer evangelistisch ausgerichteten Arbeit. Jedes Jahr übergaben mehrere Mädchen und Jünglinge ihr Leben bewusst Jesus Christus. Mehrmals wurden gefährdete Jugendliche aufgenommen, sowohl von Familien aus der Gemeinde, wie von uns selber. Ein 15-jähriges Mädchen, welches noch den Konfirmandenunterricht besuchte, fand bei uns Unterschlupf. Wegen schlechten Betragens musste es seine Stelle verlassen. Bis zu seiner Konfirmation lebte sie dann bei uns. Leider hatte sie auf unsere Suzanne einen schlechten Einfluss. Negativ dazu beigetragen hat die «Bravo Zeitschrift», welche dieses Mädchen abonniert hatte. Einmal klingelte morgens nach fünf Uhr inständig die Hausglocke. Als ich öffnete, stand ein junger Mann da. Es war ein ehemaliger Teilnehmer aus einem Provencelager. Abends zuvor war er aus der psychiatrischen Klinik in Münsingen davongelaufen. In seinem Kopf hatte sich der Gedanke fixiert: «Jetzt gehe ich nach Moudon zu Staubs.» Fast die halbe Strecke hatte er in der sternklaren, kalten Nacht zu Fuss zurückgelegt. Dann schilderte er seine Geschichte: «Mein Vater ist Tierarzt. Er wollte mich zwingen in seine Fußstapfen zu treten. Ich sträubte mich vehement dagegen. Bereits als Jugendlicher musste ich ihm manchmal assistieren, 173 P43076_inh_Buch_Staub.indd 173 06.02.15 13:32 wenn Tiere eingeschläfert wurden. Das war einer der Gründe für meine Abneigung, diesen Beruf zu erlernen. Ich wollte Käser werden, was meinem Vater gar nicht zusagte. Als der Druck immer grösser wurde, bekam ich Depressionen und wurde in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort gab man mir sehr viele Medikamente. Wenn ich Schwierigkeiten machte, verabreichte man mir eine Spritze. Dann war ich zwei bis drei Tage KO. Ich gehe auf keinen Fall in die Klinik nach Münsingen zurück, lieber sterbe ich.» Uns wurde klar, dass wir diesem jungen Mann unbedingt helfen mussten. Aber wie? Er wollte auf keinen Fall, dass seine Eltern benachrichtigt wurden. Doch genau das musste geschehen. Wir versuchten ihm dies klar zu machen. Dann schlugen wir ihm vor, dass wir zuvor für ihn einen sicheren Platz suchen, wo er gut aufgehoben und von uns betreut werden könnte. Damit war er einverstanden. Die Familie eines Kirchgemeinderates war bereit, ihn bei sich aufzunehmen. Nun konnten wir seine Angehörigen informieren. Die Eltern kamen ihn umgehend besuchen. Bei einer eingehenden Aussprache sahen diese ein, dass ihr Sohn vorerst wieder zu sich selber finden musste und in der Gastfamilie sehr gut aufgehoben war. Er sollte auch den von ihm gewünschten Beruf erlernen können. So nahm diese Angelegenheit einen guten Ausgang. Eine 20jährige Tochter erlitt als Haushaltlehrtochter gravierende Probleme. Sie sollte ins Spital eingewiesen werden. Wir entschlossen uns diese gefährdete Person in unsere Familie aufzunehmen. Die intensive, seelsorgerliche Betreuung führte letztlich dazu, dass sie nach einem Jahr wieder eine Stelle annehmen konnte. Hier ihr Zeugnis: 174 P43076_inh_Buch_Staub.indd 174 06.02.15 13:32 Bericht von Esther über ihre Zeit in Moudon Im Herbst 1988, ich war damals knapp 20 Jahre alt, stiess ich in einer christlichen Zeitschrift auf ein Inserat der Deutschsprachigen Kirchgemeinde des Oberen Broyetales. Gesucht wurden junge Erwachsene, die bereit wären, nebenberuflich in der Arbeit unter den jungen Welschlandgängern mitzuwirken. Voll guten Willens, Gott zur Verfügung zu stehen, reiste ich tatsächlich bald darauf in die Westschweiz nach Moudon. Meine ersten Eindrücke kann ich nur mit «Erstaunen» umschreiben. Das Studio im ersten Stock des Kirchgemeindehauses an der rue Grenade 14 war nur sehr spärlich möbliert. Kein Problem – Pfarrer Staub verschwand und schleppte kurze Zeit später höchstpersönlich Möbel herbei, die er irgendwo aufgetrieben hatte. Dass mir auch kurzerhand das «Du» angeboten wurde, war für mich ebenfalls neu, kam ich doch aus landeskirchlichen Kreisen, in denen das gar nicht üblich war. Wenig später, Ruedi war wegen einer bevorstehenden Zeltevangelisation sehr beschäftigt, drückte er mir die Schlüssel seines Kombis in die Hand und bat mich, etwas für ihn zu erledigen. Zwar mit Führerschein, aber ohne jegliche Fahrpraxis, kam ich doch sehr ins Schwitzen, wollte ihn jedoch nicht enttäuschen. Gott sei Dank ging alles gut. Wie oft habe ich in den darauffolgenden Jahren beim Autofahren gebetet – oft mit drei bis vier Teenagern in nicht unbedingt zuverlässigen Autos… Doch Gott hat mich nie im Stich gelassen. An zwei bis drei Abenden pro Woche trafen sich Jugendgruppen an verschiedenen Orten. Immer wieder staunte ich, wie gut der doch schon etwas ergraute Pfarrer Staub bei den Jugendlichen ankam. Seine Begeisterung für Jesus und sein Engagement waren spürbar echt und mitreissend. Die kleine Kirchgemeinde war sehr offen und sympathisch. Am wöchentlichen Chorabend wurden schöne Lieder gesungen, und die Atmosphäre war herzlich und familiär. Auch die wöchentliche Bibelstunde im Pfarrhaus war interessant, und ich habe viel gelernt. Es war für mich selbstverständlich, an allen Aktivitäten teilzunehmen. Dass ich mich damit kräftemässig völlig überforderte, wurde mir erst Jahre später richtig klar. 175 P43076_inh_Buch_Staub.indd 175 06.02.15 13:32 Abends oft spät ins Bett und morgens jeweils früh aus den Federn, um den Arbeiterbus nach Henniez an meine Arbeitsstelle zu nehmen. Ich war als Praktikantin im Vertriebssekretariat einer Maschinenfabrik angestellt. Weil ich viel zu wenig Arbeit bekam, waren die Tage zermürbend und zogen sich unendlich lange hin. Ich traute mich nicht, für mich selber aufzukommen. Die Flinte einfach ins Korn zu werfen, kam auch nicht in Frage. Meine Familie wohnte am andern Ende der Schweiz, und so sahen wir uns nicht sehr oft. Als die acht Monate Praktikum vorbei waren, dachte ich, nun würde es besser werden. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Kaum hatte ich meine neue Stelle in einem bäuerlichen Haushalt angetreten, ging gar nichts mehr. Die junge Bäuerin war hell entsetzt, weil ich nur noch weinen konnte. In dieser Situation nahmen mich Ruedi und Jeanne-Marie ohne Zögern bei sich auf. Die beiden Eheleute, vor allem die zarte Jeanne-Marie, waren mit viel Liebe, Geduld und Gebet für mich da. Sie integrierten mich auch herzlich in ihre eigene Familie mit den erwachsenen Kindern, Schwiegerkindern und Grosskindern. Sehr langsam besserte sich meine Verfassung. Ein Jahr später stieg ich mit Zittern und Zagen wieder ins Berufsleben ein, als Sekretärin in einer Maschinenfabrik in Moudon. Die guten Patrons, Monsieur und Madame Thonney, haben mir von Anfang an grosses Vertrauen entgegengebracht. Dadurch konnte auch mein Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten wieder wachsen. Das war ein Geschenk von Gott, der genau wusste, was ich brauchte, um beruflich wieder Fuss fassen zu können. Auch als ich später erneut ins Kirchgemeindehaus zog, diesmal in ein schönes Studio oben im Haus, blieben Ruedi und Jeanne-Marie meine engen Vertrauten in den verschiedenen Fragen und den Aufs uns Abs im Leben eines jungen Erwachsenen. Im Kirchgemeindehaus wohnten nun mehrere junge Christen, die alle in der Gemeindearbeit mithalfen. Wir erlebten viele schöne und gesegnete Stunden in Jugendgruppen, Hauskreis u.a. Als sich dann Anfang 1995 beruflich für mich eine Türe bei der Schweizer Allianz Mission in Winterthur öffnete, haben mir Ruedi und Jeanne-Marie Mut gemacht und mich ziehen lassen. Trotz der räumlichen Distanz ist die innere Verbundenheit geblieben und umschliesst inzwischen auch meinen Mann und unsere beiden Kinder. Mit grosser Dankbarkeit denke ich an diese beiden besonderen Menschen zurück und danke Gott von Herzen! Esther Esenwein-Sommer 176 P43076_inh_Buch_Staub.indd 176 06.02.15 13:32 Trauung von Esther und Andreas Esenwein. Das waren immer Höhepunkte im kirchlichen Alltag. 177 P43076_inh_Buch_Staub.indd 177 06.02.15 13:32 Zeugnis von Johannes Koch Hier ein weiterer Erlebnisbericht von einem jungen Mann. Bei der Kontaktaufnahme mit mir befand er sich in einem desolaten Zustand, war drogenabhängig gewesen und hoch verschuldet. Die beste Lösung für ihn war, möglichst weit weg von seinen unguten Kollegen zu kommen. Lassen wir ihn darüber selber berichten: Meine Zeiten, die ich in und um Moudon verbracht habe, waren immer auch im näheren, Zusammenhang zu Ruedi Staub und seiner Frau Jeanne-Marie. Das erste Mal begegnete ich Ruedi, als ich zu einem Informations- und Vorbereitungsgespräch nach Moudon reiste. Es handelte sich dabei um einen Einsatz bei der Christlichen Ostmission in Somalia. Gerade hatte ich mein Landwirtschaftslehrjahr abgeschlossen. Zuvor hatte ich einige turbulente Jahre erlebt. Durch Drogenkonsum und damit verbundener Kriminalität hatte ich als Jugendlicher keine realen Ziele mehr vor Augen – kam ins Gefängnis und in die Psychiatrie, wo ich eine zweijährige Therapie durchmachen musste. Während dieser Zeit erlebte ich eine persönliche Begegnung mit Jesus. Es wurde mir gleichsam ein zweites, neues Leben geschenkt! Durch die erste Begegnung mit Ruedi Staub, welcher auch im Leitungsteam der COM tätig war, wurde ich sehr ermutigt, mich auf das «Abenteuer Somalia» einzulassen. Mein Bruder Siegfried war bereits seit zwei Jahren dort tätig. Und so kam es, dass ich ein halbes Jahr in Somalia mit ihm zusammen arbeiten und viele wertvolle Erfahrungen machen durfte. Zurück in der Schweiz vollendete ich meine Ausbildung als Landwirt. Nach Abschluss der Fähigkeitsprüfung kam ich wieder ins Broyetal, wo mir Ruedi Staub eine gute Stelle in Villars-le-Comte vermittelte. Regelmässig besuchte ich die Gottesdienste in Moudon und erlebte im «Zentrum» der Kirchgemeinde eine herzliche Gemeinschaft. Die lebensnahen und praktischen Botschaften von Pfarrer Staub ermutigten mich, in meinem Glaubensleben weitere Schritte zu tun. Beim Mitwirken in der Jugendarbeit hatte ich Gelegenheit, über mein Erleben in der Jesusnachfolge Zeugnis zu geben. 178 P43076_inh_Buch_Staub.indd 178 06.02.15 13:32 Staubs hatten immer ein offenes Herz für die Jugendlichen. Sie schenkten uns Jungen viel Zeit, sei es zu Hause an ihrem Mittagtisch, an Vorträgen, Jugendstunden, Filmabenden, Segelbootsfahrten auf dem Neuenburgersee usw. Viel «Action» und Humor war bei Ruedi selbstverständlich. Seine direkte aber doch respektvolle Art machte uns offen, uns unsererseits mitzuteilen. Durch seelsorgerliche Gespräche und Gebet erfuhr ich tiefgreifende Veränderung. Dazu schenkte mir Gott viel Freude und neue Kraft. Heute, viele Jahre später, bin ich immer noch voller Dankbarkeit über die wertvollen Zeiten die ich in Moudon und Umgebung verbringen durfte. Der Kontakt ist nie abgebrochen. So war Pfarrer Staub Jahre später bereit, unsere Trauung vorzunehmen. Zusammen mit meiner lieben Frau Margrit haben wir fünf Kinder und wohnen in meinem Elternhaus in Mastrils (Kt. Graubünden). Vor kurzem haben uns Ruedi und Jeanne-Marie besucht. Sie lernten unsere Kinder kennen, und wir haben Erinnerungen ausgetauscht. Es war ein wirkliches Vergnügen! Als ehemaliger Welschlandgänger bin ich voller Dankbarkeit Johannes Koch 179 P43076_inh_Buch_Staub.indd 179 06.02.15 13:32 Schwierige Situationen in der Gemeindearbeit Nebst solch individuellen Geschichten gab es in der Gemeindearbeit ebenfalls Ereignisse, welche mir viel abverlangten. Zum Beispiel unverständliche, schwierige Todesfälle welche mich manchmal an den Rand des Belastbaren brachten. Einmal war es der Sohn einer Bauernfamilie, welcher tödlich verunglückte. Am Sonntag zuvor hatte er uns zusammen mit seiner Braut besucht. Diese kam aus Deutschland und hatte sich in unserer Gemeinde bekehrt. Zusammen sprachen wir über ihre bevorstehende Hochzeit. Die beiden engagierten, jungen Christen waren so glücklich und freudestrahlend. Zuversichtlich und hoffnungsvoll blickten sie in ihre verheissungsvolle Zukunft. Nun hatte ich die zentnerschwere Aufgabe, der Braut den Tod ihres Verlobten mitzuteilen. Wie ich an ihrem Arbeitsplatz erschien, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Kreidebleich geworden, befielen sie sogleich die schlimmsten Vorahnungen. Sicher war mir die Bürde des Unfassbaren ins Gesicht geschrieben. Sodann brach sie unter der Wucht der Unglücksbotschaft zusammen. Natürlich wirft ein solches Drama Fragen auf: Wo war Gott? Warum hat er diesen Schicksalsschlag nicht verhindert? Ich weiss es nicht. Doch eines ist sicher: Jesus leidet mit. Er selber ist beim Tod seines Freundes, Lazarus in Tränen ausgebrochen. Nie werde ich die Trauerfeier dieses jungen Mannes vergessen. Da er zusammen mit seiner Braut in der Jungen Kirche mitgewirkt hatte, wirkte die Jugendgruppe bei der Bestattungsfeier in der Kirche und am Grab mit. Sogar die leidgeprüfte Braut sang die Lieder der JK-Gruppe mit. Für die vielen Jugendlichen war das Geschehen eine Herausforderung sich zu hinterfragen: Wo stehe ich? Wäre ich bereit gewesen zu sterben? Im Hinblick auf den festen Glauben des Verstorbenen durfte ich eine Botschaft voller Hoffnung und Zuversicht verkündigen: Das Leben von Ueli ist nicht einfach ausgelöscht worden. Er ist freilich unerwartet früh ins ewige Leben hinüber gegangen. Denn Jesus ist die Auferstehung und das Leben. Wer an ihn glaubt wird ewig leben. Ergreifend war der Moment, als sie dann als letzte Geste einen Brief in die Grabesgruft fallen liess. 180 P43076_inh_Buch_Staub.indd 180 06.02.15 13:32 Der Vater des Verstorbenen, der damals Kirchgemeinderatspräsident war, -sagte später zu mir: «Getrost macht mich das Wissen, dass unser Ueli bereit war zu sterben!» – «Kannst du mir das etwas näher ausdeuten?» fragte ich nach. – «Ueli stand als überzeugtes Kind Gottes fest im Glauben, deshalb weiss ich das! Niemand in unserer Familie war wie er vorbereitet zu sterben», war seine Antwort. Eine andere Bauernfamile, welche ihren einzigen Sohn durch einen tragischen Traktorunfall verloren hatte, begleitete ich ebenfalls während und nach diesem Schicksalsschlag. Wirksam konnte ich eine junge Bäuerin begleiten, deren Mann ebenfalls sehr tragisch mit dem Traktor tödlich verunglückte. Vom Bauernhaus aus war sie Zeugin des Unfallgeschehens gewesen. Sie war hochschwanger, was das leidvolle Ereignis noch viel schwieriger machte. Da die junge Witwe die Pacht nicht fortführen konnte, gab es Leute, welche ihre Situation schamlos ausnützen wollten. Es war mir vergönnt hilfreich einzugreifen, sodass letztlich eine gute Lösung zustande kam. Diese und weitere Begebenheiten führten dazu, dass bei uns der Wunsch nach einem Sabbatjahr aufkam. 1985, nach zwanzig Jahren Tätigkeit in der gleichen Kirchgemeinde wurde dieses Begehren vom Kirchgemeinderat wohlwollend aufgenommen. Wie wunderbar gross und gnädig ist doch unser himmlischer Vater. Er hatte in seiner weisen Vorsehung schon alles eingeplant. 181 P43076_inh_Buch_Staub.indd 181 06.02.15 13:32 Wir streben ein Sabbatjahr an Ein Studentenpaar an der FETA in Basel wollte sich vermählen und war bereit, danach bei uns ein Praktikumsjahr zu absolvieren. Genau inmitten dieser Zeit konnten meine Frau und ich in Lausanne bei JMEM eine Seelsorgeschule von Bruce und Barbara Thompson besuchen. Da stand vorab das Erleben der persönlichen Seelsorge im Vordergrund. Das Thema: Das Senkblei Gottes, war vielversprechend. Selber Seelsorge zu erfahren und bis ins tiefste Menschsein Heilwerdung zu erleben, ist aussergewöhnlich heilsam. Es wurde gelehrt, die Bitte im «Unser Vater», «Vergib uns unsere Schulden, wie wir unseren Schuldigern vergeben» richtig zu erfassen und umzusetzen. Schade, dass wir diese Schulung nicht am Anfang unserer Tätigkeit erfahren haben. In der Folge konnte ich oft, zusammen mit meiner Frau viel zielgerichteter Seelsorge anbieten. Da Suzanne im Kirchgemeindezentrum wohnte, Annelise einen Auslandaufenthalt machte und Philippe auch ausgezogen war, konnte das junge Studentenehepaar bei uns im Pfarrhaus wohnen. In dieser Zeit waren wir durch einen komplexen und überaus schwierigen Seelsorgefall in Beschlag genommen. Eine Familie aus unserer Gemeinde hatte eine junge Frau aus ihrer Bekanntschaft bei sich aufgenommen. Da diese psychische Schwierigkeiten hatte, wurde ich zu Hilfe gerufen. Während unserem Gespräch vertraute diese Frau ihr Leben ganz bewusst Jesus Christus an. Innerhalb erstaunlich kurzer Zeit las sie die ganze Bibel durch. Jedoch nahmen die seelischen Probleme ein Ausmass an, welches die Gastfamilie total überforderte. Deshalb entschlossen wir uns, diese Frau im Pfarrhaus aufzunehmen. Was sich dann in der Folge zugetragen hat, will ich hier, wenn überhaupt, nur bruchstückweise festhalten. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Frau direkt aus einem internationalen Satanistenzentrum zu unserer befreundeten Familie in die Schweiz zurückgekommen war. Sie war nicht nur unvorstellbar belastet, sondern zeitweise besessen. Wenn das der Fall war, hatte sie keine Kontrolle mehr über 182 P43076_inh_Buch_Staub.indd 182 06.02.15 13:32 sich, wusste jeweils im Nachhinein überhaupt nicht, was sich zugetragen hatte. Gelinde gesagt, waren wir total überfordert. Es ereigneten sich unvorstellbare Dinge. Zum Glück hatten wir unseren Gebetskreis. Dieser war öfters fast Tag und Nacht involviert. Dann standen uns bekannte Seelsorger als «Spezialisten» bei. Ein Gebetskreis aus der welschen Nachbargemeinde unterstützte uns ebenfalls. Ich musste mich für diesen krassen Fall informieren, orientieren und zurechtfinden. Die Bücher von Doreen Irvin: «Die Königin der schwarzen Hexe», von Mikel Warnke: «Der Agent Satans» und von Blumhart: «Der Befreiungskampf in Möttlingen» waren mir eine grosse Hilfe. Wer sich über das, was sich in der Finsterniswelt zuträgt, informieren will, sei auf diese Literatur verwiesen. Dass wir es mit den schlimmsten Finsternismächten zu tun bekamen, wie Paulus es schon vor fast zweitausend Jahren den Epheserchristen geschrieben hat, erlebten wir hautnah: «Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.» (Epheser 6,12, Luther) Was wir bis zu diesem Zeitpunkt nicht wussten, war die Tatsache, dass sich sogar in unserem kleinen Provinzstädtchen, jeweils Freitagnacht ein Satanistenkreis versammelte. Ein Pfarrerkollege fragte mich eines Tages: «Weißt Du etwas davon, dass es in Moudon einen Satanistenkreis gibt.» Nachdem ich bejaht hatte, wollte ich wissen, warum er mir diese Frage stellte. Da sagte er: «Zwei Konfirmanden haben mich gefragt: «Herr Pfarrer wenn wir zu Gott beten passiert nichts, aber wenn wir zum Satan beten, dann schon!» Beim persönlichen Gespräch mit den Betroffenen stellte sich heraus, dass die beiden diesen Satanistenkreis besucht hatten. Im Nachhinein wurde uns bewusst, dass wir auf diesem Gebiet, unerfahren wie wir waren, viel zu wenig beschirmt und geschützt waren. Das heisst, wir hatten zu wenig Fürbitter hinter, vor und neben uns. Dankbar dürfen wir jedoch bekennen, dass Gott unendlich gnädig und treu mit uns war. Er hat uns von allen Seiten umgeben und seine schützende Hand über uns gehalten. (siehe Psalm 139,5). 183 P43076_inh_Buch_Staub.indd 183 06.02.15 13:32 Hier zwei, drei Beispiele: Punkt für Punkt kam alles zum Tragen, was sich im Satanistenzentrum, in den «Schwarzen Messen» im Beisein der «Luminatis» und oft auch «Luzifers» zugetragen hatte. Diese monströsen, spiritistischen Sitzungen hatten es wirklich in sich. Diese Frau besass unglaubliche übernatürliche Fähigkeiten. Sie konnte zum Beispiel Gespräche, von unseren Gebetskreispartner geführt, gleichsam «abhören». Das galt auch für das, was wir im Pfarrhaus redeten. So hatten wir keine wirkliche Privatsphäre mehr. Bis sie bereit war, sich von diesen «Bevollmächtigungen» bewusst loszusagen, brauchte es viel Gebet. In einer «Schwarzen Messe» tranken die Beteiligten «hochgiftiges Zeug», ohne dass es für sie Konsequenzen hatte. Eines Nachts wurde dieses Gift in ihrem Körper plötzlich aktiv. Wir beteten inständig zu Gott. Undefinierbare Substanzen und Gegenstände kamen aus ihrem Körper. Dann brach ihr Kreislauf zusammen: Kein Puls und keine Atmung mehr! Obwohl es weit über Mitternacht war, telefonierte ich dem Verantwortlichen, des schon erwähnten welschen Gebetskreises. Auf meine Schilderung meinte er: «Und du hast nicht den Notfallarzt angerufen?» – Natürlich nicht! Deshalb rufe ich ja dich an!» gab ich zur Antwort. – «Hast du noch alle Sinnen beieinander» fragte er zurück. Aber auch in dieser Hinsicht hatte Gott vorausgesorgt. Im schon erwähnten Buch von Blumhart, hatte ich gelesen, dass sich damals in Möttlingen genau das Gleiche zugetragen hatte. Der erfahrene Blumhart machte dann in Anlehnung an Epheser 6 geltend, dass vor allem in solch Extremsituationen nur Jesus zuständig sein kann und nicht «Fleisch und Blut»! Und so harrten wir im Gebet über eine lange Stunde aus und dann setzte die Atmung und Herztätigkeit wieder ein. Ein Loben und Danken folgte auf dieses Wunder. Dann wurden wir von einem Arzt, in dessen Behandlung die Frau gewesen war, eingeklagt. Der Anklagepunkt war happig: «Entzug der ärztlichen Betreuung.» Wir mussten vor dem Friedensrichter erscheinen. Die Anhörung verlief zu unseren Gunsten. Doch wurde die Klage weitergezogen. Vor dem Bezirksgericht wurde die Sachlage komplizierter. Unsere Betreute musste persönlich und alleine Red und Antwort stehen. Dank Diakonissinnen in St. Loup, welche uns unterstützten, konnten wir mit einem Psychiater in Neuenburg Kontakt aufnehmen. Die Hilfe dieses Arztes war genau das, was wir benötigten. Dass mich die zuständigen Richter in Moudon persönlich kannten, war ebenfalls hilfreich. 184 P43076_inh_Buch_Staub.indd 184 06.02.15 13:32 Dank viel Gebet, Gottes Treue und Fürsorge nahm auch dieser schwerwiegende Angriff ein gutes Ende! Über drei Jahre war diese Frau mit Ausnahme von zwei kurzen Unterbrüchen, damit wir uns etwas erholen konnten, bei uns im Pfarrhaus. Wir haben in dieser Zeit auch Fehler gemacht, aber daraus viel gelernt. Ich hatte einmal in einem Buch gelesen, wie Dr. Tournier einen Hilfesuchenden, welcher in Satanismus verstrickt gewesen war, abgewiesen hat, mit der Begründung: «Ich bin im Moment nicht in der Lage, mich den unausweichlichen, damit verbundenen Attacken Satans auszusetzen.» Damals hatte ich mit diesem Verhalten ehrlich gesagt Mühe. Heute würde ich, zusammen mit Gebetspartnern, ebenfalls ernsthaft prüfen, ob ein diesbezügliches Engagement Gottes Willen entspricht: «Durch Erfahrung wird man klug!» Später nahmen die Eltern meines Pfarrvertreters diese Frau zu sich. Dann hat ein Sohn dieser Familie, welcher Jus studierte Monique geheiratet. Während unserem Sabbatjahr besuchten wir verschiedene Missionsarbeiten und unsere Verwandten in Tansania. Das waren bereichernde Erlebnisse. Die Missionare waren sogenannte Werkmissionare. Das heisst, dass sie für ihre Bedürfnisse weitgehend selber aufkamen. Die Einen unterhielten eine Auto- und Schreinerwerkstatt sowie eine einfache Herberge. Sonntags evangelisierten sie in ihrer Umgebung. Mit einer Musikgruppe wurde jeweils auf dem Dorfplatz aufgespielt, damit sich die Leute versammelten. Nach der Wortverkündigung wurde eine Person mit einem Bücherstand zurückgelassen. Gegen einen symbolischen Betrag konnten die Besucher Bücher und Bibeln kaufen. Abends wurden diese Leute wieder «eingesammelt». Eine Woche nach diesem Erlebnis brach bei mir die Malaria aus, sodass ich einige schlimme Tage erlebte. Eine andere Missionsarbeit bestand darin, den Einheimischen in Landwirtschaft und Gemüseanbau beizustehen. Diese Leute wurden ebenfalls darin unterwiesen, wie sie für die Trockenzeit Vorräte anlegen konnten. Die Resultate waren sehr bemerkenswert! Bei unseren Verwandten war die Kaffeeernte in vollem Gang. Jeden Morgen stellten sich zwei- bis dreihundert Personen, vor allem Frauen ein. Viele dieser Frauen trugen ein Kind auf dem Rücken. Manche waren über drei Stunden gelaufen um hier Kaffee zu ernten. Der höchstmögliche Tagesverdienst betrug fünf bis zehn Franken. Für diese Leute war das viel Geld! 185 P43076_inh_Buch_Staub.indd 185 06.02.15 13:32 Ein anderer Missionar, ein Engländer, importierte Kühe von Europa, welche richtig viel Milch gaben und lernte die Leute Gemüse und Fruchtbäume anpflanzen. Er zeigte den Einheimischen, wie man in guten Zeiten Vorräte anlegen kann, um diese dann in den mageren Epochen zur Verfügung zu haben. Nach sieben Wochen kehrten wir mit vielen Eindrücken und Erlebnissen reich beschenkt in unsere wohlbehütete und schöne Schweiz zurück. 186 P43076_inh_Buch_Staub.indd 186 06.02.15 13:32 Unsere Kinder werden flügge Wie schnell die Zeit vergeht konnten wir an unseren heranwachsenden Kindern erkennen. Nach der Konfirmation ging Suzanne in die Handelsschule und half in der Jugendarbeit mit. Ein Jahr später begann Philippe seine Ausbildung. Alsdann waren die beiden ausschlaggebend an der Gründung einer französischsprachigen Jugendarbeit beteiligt. Im Untergeschoss unseres Kirchgemeindezentrums richteten sie eine Kaffeebar ein. Sie nannten sich Bethelgruppe. Der Name Bethel = Gotteshaus war sinngebend. Hier fanden in der Folge viele Jugendliche zum lebendigen Glauben an Jesus Christus. Unsere beiden Töchter lernten durch diese Gruppe ihre Ehemänner kennen, welche hier zum Glauben gefunden hatten. Doch beim Freund unserer Jüngsten gab es Schwierigkeiten. Seine Eltern taten sich schwer mit der Tatsache, dass seine Freundin eine Gläubige und erst noch die Tochter eines Pfarrers war. Der Druck auf ihn nahm stets zu. Dann erklärte er seinen Eltern: «Von Annelise könnt ihr mich nicht wegbringen! Eher verzichte ich auf Hof und meine Familie, aber niemals auf meinen Schatz!» Als unsere Tochter dann die landwirtschaftliche Haushaltungsschule absolvierte und anschliessend die Lehrmeisterinnenprüfung absolvierte, wurde sie akzeptiert und hatte in der Folge ein sehr gutes Verhältnis zu ihren Schwiegereltern. Übrigens fand ihre Diplomarbeit zum damals zeitgemässen Thema: «Die aktuellen Schweinepreise sind eine Schweinerei» grosse Beachtung. Unsere Suzanne arbeitete einige Zeit in Worb im Büro der Ostmission. Da reifte bei ihr der Entschluss, eines Tages in die Mission zu gehen. Ihr Verlobter hegte denselben Wunsch. Als diplomierter Automechaniker machte er die Meisterprüfung. Dann heirateten sie. Vorerst blieben sie noch in der Schweiz, um etwas Geld zu verdienen. Dann bereiteten sie sich für den Missionsdienst vor, worüber ich bereits berichtet habe. Unsere Familie vergrösserte sich zusehends. Nachdem sich unser Sohn Philipp verheiratet hatte, erblickten bei ihnen zwei Knaben, Sébastien 1989 und David 1991 das Licht der Welt. Später kam dann noch ein Mädchen, 187 P43076_inh_Buch_Staub.indd 187 06.02.15 13:32 welches Carolline genannt wurde, hinzu. Auch bei unserer Jüngsten Annelise wurden zwei Kinder, Audric 1991 und Coraline 1992, geboren, dann noch Malika und Antonin. Vor allem die Familien unserer Töchter wirken zusammen mit ihren Kindern aktiv in ihren Kirchen mit. Darüber sind wir glücklich und dankbar! In unserem Haus in Yvonand kamen wir oft zusammen und genossen als Grossfamilie die Gemeinschaft mit- und untereinander! Unsere Familie am Neuenburgersee in Yvonand 188 P43076_inh_Buch_Staub.indd 188 06.02.15 13:32 Wir dürfen ernten Es war uns vergönnt, nicht nur zu säen und zu erleben wie das Saatgut gedieh, wir durften sogar ernten. Das ist eine ganz besondere Gnade für einen Diener Gottes. Durch die Seelsorgeschule erhielt mein Dienst neue Impulse. Die Themen der persönlichen Heiligung, des geistlichen Wachstums und des Glaubensgehorsams wurden thematisiert. Dabei wurde das Wirken des Heiligen Geistes in den Vordergrund gestellt. Die Gottesdienste gestalteten sich lebendiger und publikumsnaher. Die Laienmitarbeit wurde auch in den Gottesdiensten praktiziert. Nachdem der bekannte Theologieprofessor Keller aus Le Mont mit einer Schar Jugendlicher bei uns einen Lobpreisgottesdienst gestaltet hatte, begannen wir in der Folge die Gottesdienste in Moudon mit einer Anbetungsund Lobpreiszeit. Diese neuen Lieder kamen besonders bei den Jugendlichen gut an. In der Folge machten diese oft die Hälfte der ungefähr dreissig bis vierzig Gottesdienstbesucher aus. Jedoch sangen wir immer auch Lieder aus dem Kirchengesangbuch. Ganz unerwartet erreichte mich eine Berufung aus der Kirchgemeinde Nyon. Von der Kantonsgrenze Genf bis Nyon hatte die Bevölkerung stark zugenommen. Deshalb wurde dort eine zusätzliche Pfarrerstelle beschlossen. Wir waren bereit, diese Anfrage zu prüfen. Schon über fünfundzwanzig Jahre befanden wir uns hier im Broyetal. Es war offensichtlich: Wenn wir noch in eine andere Kirchgemeinde wechseln wollten, war dies der richtige Zeitpunkt. Andernfalls würden wir bis zu unserer Pensionierung in Moudon verbleiben. Nachdem wir uns mit dem Kirchgemeinderat und den Pfarrern in Nyon getroffen hatten, erhofften diese unsere Zusage. Obschon unsere Kinder längst ausgeflogen waren, besprachen wir diese Angelegenheit auch mit ihnen. Suzanne sagte: «Papa, Du hast Zeit Deines Lebens die deutsche Sprache gepflegt und Deinen Sprachschatz erweitert. Überlege es Dir gut, bevor Du in eine französischsprachige Kirchgemeinde wechselst.» Natürlich mussten wir jetzt auch unseren Kirchgemeinderat über unsere Absicht informieren. Dieser zeigte sich sehr betroffen. «Warum wollt ihr 189 P43076_inh_Buch_Staub.indd 189 06.02.15 13:32 uns verlassen? Gefällt es euch nicht mehr bei uns?» – «Doch, doch! Wir haben es so gut wie nie zuvor und sind hier sehr glücklich!» – «Weshalb wollt ihr dann weggehen?» – «Es ist so: Entweder wechseln wir jetzt noch in eine andere Kirchgemeinde, oder wir verbleiben endgültig hier in Moudon.» Dass sie sich Letzteres von ganzem Herzen wünschten, berührte uns zutiefst. Da war jedoch noch ein weiteres Argument zu berücksichtigen. Ich ging bereits auf die Sechzig zu. Die ausgeprägte und grosse Jugendarbeit sollte vielleicht doch von einem jüngeren Seelsorger wahrgenommen werden. Dieses Argument konnte nicht banalisiert werden. «Wenn ich hier in Moudon bleiben soll, schlage ich vor, dass die Kirchgemeinde einen Jugendarbeiter/in anstellt. Da gab ein Ratsmitglied zu bedenken: «Unser Pfarrer hat diese Arbeit so lange eigenständig gemacht. Wird er es verkraften, diese Verantwortung zu teilen, beziehungsweise abzugeben?» Letztendlich erklärte ich mich bereit, unter der Bedingung in der Kirchgemeinde zu bleiben, dass für die Jugendarbeit eine Halbzeitstelle ins Leben gerufen wird. Sofort wurde dieses Anliegen aufgenommen. Innert erstaunlich kurzer Zeit fanden wir in Beatrice Käufeler eine reife Persönlichkeit für diese Arbeit. Leider sagte sie nur für ein Jahr zu, weil sie danach in die Mission gehen wollte. Sie war ein Geschenk des Himmels, eine wirkliche Perle. Die Zusammenarbeit mit ihr war fantastisch! Der Gewinn für die Jugendlichen war vielumfassend. Beatrice wohnte in unserem Kirchgemeindezentrum, und dieses wurde nun ein richtiges Jugend- und Seelsorgezentrum, wo die jungen Leute, besonders an den Wochenenden, aus- und eingingen. Letztlich blieb Beatrice drei Jahre bei uns. Als erste (entlöhnte) Jugendarbeiterin hat sie sich mit viel Herzblut für die Welschlandgänger engagiert. Hier ein Bericht von Bea, wie sie liebevoll von vielen genannt wurde: «Ich habe die Zeit in Moudon unter den Jugendlichen sehr genossen. Viele Gespräche und bewegende, aber auch lustige Momente sind mir noch in Erinnerung. Die Abhängigkeit von Gott in dieser Arbeit war mir oft bewusst und hat meine Beziehung zu ihm geprägt. Ich habe sicher viel gelernt. Auch die Zentrumsgemeinschaft hat Spuren in meinem Leben hinterlassen. Ich fühlte mich dort wohlig eingebettet. Hier fand ich Freunde, welche schon ein paar Jahre vor mir im Zentrum in Moudon wohnten. 190 P43076_inh_Buch_Staub.indd 190 06.02.15 13:32 Die Welschlandgänger stehen oft in einer entscheidenden Phase ihres Lebens. Für sie ist ein Treffpunkt mit anderen Jugendlichen, die im gleichen Boot sitzen, sehr wichtig. Lebensfragen wie «wer bin ich, warum lebe ich, wo ist mein Platz auf dieser Welt, Freundschaften leben etc» sind Themen, die in Jugendgruppen thematisiert und diskutiert werden. Sie bleiben mit ihren Fragen nicht allein, finden Begleitung und ein kleines Daheim. Auch ihre Welschlandprobleme können dort besprochen werden. Viele hören zum ersten Mal von Jesus und entscheiden sich für ein Leben mit ihm. Auch die vielen spassigen Momente an Sonntagen oder Ausflügen sind nicht zu vergessen. Eine gute Ergänzung zu ihrem manchmal nicht einfachen Alltag. Würde die Jugendarbeit dort fehlen, würden sich viele Jugendliche im Welschland verloren fühlen, und etliche würden nie von Jesus hören, der ihnen echtes Leben schenken will.» Dieser Bericht macht offensichtlich, dass ich durch die Schaffung einer Halbzeitstelle für unsere Jugendarbeit entlastet wurde. Abwechslungsweise begab ich mich zur Kontaktpflege monatlich in eine der drei Gruppen. Mit der Zeit vergrösserte sich unsere Familie mehr und mehr, bis wir elf Grosskinder hatten. Bei den beiden Töchtern gab es je vier und beim Sohn drei Nachkommen. Das elfte Grosskind war im Oktober bei unserer Jüngsten zur Welt gekommen, und bei ihr feierten wir im selben Jahr 1996 gemeinsam Weihnachten. Da hier vor ein paar Jahren der Dachstock ausgebaut worden war, gab es reichlich Platz für die dreiundzwanzig Anwesenden. Für alle, besonders jedoch für uns Grosseltern war diese Feier ein Freuden- und Dankesfest. Im Vergleich, wie Joseph und Maria vor fast zweitausend Jahren das Geburtstagsfest Jesu, des Sohnes Gottes, erfahren haben, hatten wir es so unendlich gut! Sie erlebten entsetzlich bange Tage und Stunden. Kaum hatten sich die Ereignisse durch den Besuch der Hirten und der Weisen etwas begütigt, mussten sie nach Ägypten fliehen. Unvorstellbar, was diese junge Familie durchgemacht hat. Geächtet und verfolgt mussten Joseph und Maria mit dem Säugling Jesus die unvorstellbar beschwerliche Reise durch die judäasche Wüste und das Sinaigebiet unter die Füsse nehmen, um sich in Ägypten in Sicherheit zu bringen. 191 P43076_inh_Buch_Staub.indd 191 06.02.15 13:32 Eisiger Winter am Neuenburgersee. Jeanne-Marie mit den zwei älteren Kindern von unserer Tochter Annelise. Glücklicherweise konnten wir zu diesem Zeitpunkt des Freudenerlebens und der Beseligung nicht ahnen, dass uns Allerschwierigstes und Bedrängendes unmittelbar bevorstand. 192 P43076_inh_Buch_Staub.indd 192 06.02.15 13:32 Wird unsere Annelis sterben? Am Stephanstag 1996 fühlte sich Annelise zuerst unwohl, dann ging es ihr rapide schlechter, und sie bekam unausstehliche Schmerzen im Bauchbereich. Bereits war sie nicht mehr in der Lage, sich in eine Arztpraxis zu begeben. Unglücklicherweise war der Hausarzt in den Ferien. So kam schliesslich ein Stellvertreter zu ihr. Im Familienkreis ihres Ehemannes hatten sie am Vorabend Weihnachten gefeiert. Der Schwager von Anneliese, welcher im angrenzenden Frankreich ein Speiserestaurant betrieb, hatte ein köstliches Essen zubereitet. Als Vorspeise hatte es Austern gegeben. Waren wohl diese Schalentiere der Grund der heftigen Unterleibschmerzen? Auf jeden Fall verabreichte der Arzt unserer Tochter eine krampflösende und schmerzlindernde Spritze. Doch ihr Zustand verschlimmerte sich zusehends. So kam der Arzt abends noch einmal, um ihr eine weitere Injektion zu machen. Die nachfolgende Nacht wurde zum Albtraum. Erstaunlicherweise hatte Annelise bis dahin kein Fieber. Das war sicher auch der Grund dafür, dass der Hausarzt, der jetzt erreicht werden konnte, vorerst seine Patienten in der Arztpraxis versorgte und erst mittags zu unserer Tochter kam. Beunruhigt durch den Zustand der Patientin, ordnete er die sofortige Einlieferung per Ambulanz ins Kantonsspital Lausanne (CHUV) an. Es sei dem geneigten Leser an dieser Stelle geraten, diese Abkürzung, CHUV, für das örtliche Kantonsspital zu verinnerlichen, da es bis zum Schluss meines Berichtes eine bedeutsame Rolle im eigenen Leben (und dem meiner Angehörigen) einnehmen wird. Zu diesem Zeitpunkt wurden wir Eltern von unserem Schwiegersohn über die dramatischen Ereignisse informiert. Die Mitteilung, dass sie beim Weihnachtsessen als Vorspeise ein Austerngericht serviert hatten, machte es naheliegend anzunehmen, dass es sich bei Anneliese um eine Lebensmittelvergiftung handeln musste. Aber wir hätten es eigentlich besser wissen müssen. Einem profilierten Gastwirt, wie ihr Schwager es war, konnte ein solcher Fehler nun wirklich nicht passieren! Sofort holten wir die zwei älteren Enkelkinder Audric (fünfeinhalb Jahre), und Coraline (viereinhalb Jahre), und begaben uns zusammen ins CHUV 193 P43076_inh_Buch_Staub.indd 193 06.02.15 13:32 nach Lausanne. Vor vier Monaten hatte die Familie ihr viertes Kind bekommen. Wie glücklich war Audric, dass er nach den beiden Schwestern nun noch ein Brüderchen hatte. Seine Mama und das Bébé im Spital zu besuchen, war damals für ihn ein überwältigendes Erlebnis gewesen. Voller Enthusiasmus berichtete er im Auto über diese Erinnerungen: «Ich freue mich, dass wir Mama im Spital besuchen können. Wie schade, dass wir nicht dran gedacht haben, ihr etwas zu bringen.» In diesem Moment hatten wir noch keine Ahnung, dass er seine Mutter nicht würde sehen können. Im Spital erklärt man uns: «Frau Delessert wird im Moment noch immer operiert. In einem uns zugewiesenen Aufenthaltsraum warteten wir. Bei einer Nachfrage nach etwa einer Stunde hiess es, sie würde noch immer operiert. Die Ungewissheit und das zermürbende Warten machen uns zu schaffen. Immer wieder schickten wir Stossgebete zum Himmel empor. Die Kinder wurden zusehends ungeduldig. Endlich konnte ich den Arzt sprechen, welcher die Spitalaufnahme unserer Tochter vorgenommen hatte. Er erklärte: «Ihre Tochter wurde bei uns in einem katastrophalen Zustand eingeliefert. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich die Operation in die Länge zieht. Aber der Chirurg wird, sobald es ihm möglich ist, mit Ihnen sprechen.» So ging ich mit den Grosskindern für einige Zeit nach unten in die Cafeteria, wo wir uns etwas stärkten. Spätnachmittags konnte ich mich endlich kurz mit dem Chirurg unterhalten, welcher Anneliese operiert hatte. Seine Ausführungen waren knapp: «Die weitere Behandlung hat jetzt ein Gynäkologe übernommen. Wir können im Moment nicht sagen, wie lange dies noch dauern wird. Haben Sie bitte noch etwas Geduld.» Um diese Jahreszeit ist es nach 17 Uhr dunkel. Endlich konnte meine Frau unsere Tochter kurz besuchen. Auf das, was sie antraf, war sie überhaupt nicht vorbereitet. Anneliese befand sich bereits auf der Intensivstation in einem sogenannten Glaskomplex. Das heisst, ausser der Rückwand waren die Wände aus Glas. Meine liebe Frau hatte bereits zu diesem Zeitpunkt Mühe, unsere Annelise wiederzuerkennen. Man hatte sie in ein künstliches Koma versetzt. Der ganze Körper war stark aufgedunsen. Überall befanden sich Apparate, welche mit dem Körper der Patientin durch Schläuche, Kanülen und Kabel verbunden waren. Die ganze Situation brach Jeanne-Marie fast das Herz. Was war da eigentlich los? 194 P43076_inh_Buch_Staub.indd 194 06.02.15 13:32 Bevor wir das Spital verliessen, kam der Anästhesist und fragte mich, ob es uns möglich wäre, uns am darauffolgenden Tag um 9 Uhr zusammen mit dem Mann von Frau Delessert zu einem Gespräch einzufinden, was wir natürlich bejahten. Wir wussten nicht, was das zu bedeuten hatte und erhielten auch keine nähere Auskunft. Das war es also: Abwarten, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir brachten die Grosskinder zum Schwiegersohn zurück und berichteten kurz, was wir erlebt hatten. Zum Glück wohnten die Eltern von Serge nebenan. So kümmerten sie sich nun vor allem um die Grosskinder. Anneliese hatte den drei Monate alten Antonin bis zum Spitaleintritt gestillt. So vieles war plötzlich auf den Kopf gestellt und erforderte ein Umdisponieren. Wir umarmten unseren Schwiegersohn und verabredeten uns auf den kommenden Morgen. Zu Hause angekommen, benachrichtigten wir Verwandte und Bekannte, die Mitglieder des Gebetskreises und von JMEM über die Ereignisse und ersuchten diese, für Anneliese zu beten. Am folgenden Tag traf ich zusammen mit dem Schwiegersohn pünktlich um neun Uhr im CHUV ein. Eine Dame begleitete uns in ein Sprechzimmer. Nach einiger Zeit erschienen der Chirurg und der Anästhesist. «Die Patientin befindet sich im Moment in einem stabilen Zustand», begann der Chirurg seine Erläuterungen. «Aber leider müssen wir einräumen, dass sie sich in einer kritischen Situation befindet. Unser Team hat alles unternommen, was ihm möglich war.» Diese Nachricht war für mich und meinen Schwiegersohn schmerzlich und hart. Wir wollten wissen, was Annelies hatte; an was sie litt. «Das können wir noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Dazu benötigen wir die Resultate der Analysen. Vor allem warten wir auf diese Ergebnisse, um eine genaue Diagnose zu erstellen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Septisemie, eine akute Blutvergiftung. Als die Patientin bei uns ankam, funktionierte nur noch ihr Herz. Die Atmung war bereits eingeschränkt, der Bauchraum stark vereitert. Um die Patientin optimal betreuen zu können, haben wir sie in ein künstliches Koma versetzt. Zum Glück ist sie jung und kräftig.» Dann wandte sich der Anästhesist an uns: «Am besten ist es, wenn Sie im engen Familienkreis die Besuche organisieren: Höchstens eine bis zwei Personen aufs Mal. Wenn möglich in regelmässigen Abständen, ungefähr alle drei bis vier Stunden. Die Besuche können rund um die Uhr stattfinden.» – Natürlich waren wir bereit, diesen Rotationsplan zu organisieren. – «Die Besucher sollten sich möglichst positiv mit 195 P43076_inh_Buch_Staub.indd 195 06.02.15 13:32 der Patientin unterhalten und ihr Mut zusprechen», erklärte der Chirurg. «Es ist wichtig mit ihr zu sprechen. Erwarten Sie jedoch nicht, dass sie sich später daran erinnert. Von Bedeutung ist, dass sie ihre Anwesenheit wahrnimmt und hilfreichen Zuspruch erfährt. Haben Sie noch Fragen?» Hatte ich: «Was wurde eigentlich operiert?» – «Wir fanden im Bauchraum viel Eiter, zirka einen Deziliter. Das wies auf eine starke Infektion hin. Trotz aller Bemühungen fand ich den Infektionsherd nicht. Deshalb übernahm dann der Gynäkologe die weitere Operation.» Erst viel später wurde dann folgendes offenkundig: Bereits der Chirurg ahnte, dass die Eileiter die Verursacher der Beschwerden sein könnten. Und so war es tatsächlich auch. Für ihn war das weitere Vorgehen offensichtlich: «Diese müssen entfernt werden»! sagte er zum Gynäkologen. Dieser entgegnete: «Dazu haben wir aber keine Befugnis», und weigerte sich dies zu tun. «Sie wissen genau so gut wie ich, dass dies dringend ist, wenn wir die Patientin retten wollen. Deshalb entscheide ich, dass dies geschehen muss und übernehme die Verantwortung», erklärte der Arzt. Noch heute sind wir diesem Chirurgen sehr dankbar für seine dezidierte und weise Entschlossenheit. Dann wandte sich der Anästhesist uns zu und sprach «Ich gebe Ihnen hier meine Karte mit meiner Handy-Nummer. Sie können mich Tag und Nacht erreichen. Erschrecken sie nicht darüber, dass der Körper der Patientin stark aufgedunsen ist. Das rührt daher, dass ihre Nieren nicht funktionieren. Wir müssen der Patientin hohe Dosen Adrenalin und andere Medikamente verabreichen. Die Dialyse vermag im Moment das Ausscheiden der Flüssigkeit nicht voll zu bewältigen.» Mit bestem Dank für alles verabschiedeten wir uns. Auf der Intensivstation begegneten wir zum ersten Mal Anneliese. Allein ihr Anblick verschlug uns die Sprache. Ihr Aussehen war furchtbar. Automatisch kamen mir die Tränen. War das wirklich meine Tochter, die Frau von Serge, in diesem Bett? Ich konnte es fast nicht glauben. Sie war dermassen entstellt! Reglos, mit geschlossenen Augen lag sie im Bett. Das Gesicht, zur Unkenntlichkeit defiguriert, hatte die Form des Mondes. Auch ihr Körper war kugelrund. Das Spitalbett war umgeben von Monitoren, Geräten, Flaschen und Drähten. Überall hatte es Schläuche, Kanülen und medizinische Utensilien. Ein Beatmungsgerät pumpte unentwegt Luft in ihre Lungen. Es war einfach herzzerreissend! Serge erlitt einen Schock. Wie versteinert blieb er vor dem Bett 196 P43076_inh_Buch_Staub.indd 196 06.02.15 13:32 stehen. Schmerz und Kummer zerbrachen ihn innerlich und blockierten sogar das Fliessen der Tränen. Eisige Angst wollte auch mein Herz umklammern. Anneliese erschien mir so ausgestorben. Trotzdem kam tief in mir die Gewissheit auf, dass meine Tochter durchkommen würde. Von diesem Moment an war diese Glaubenszuversicht fast unerschütterlich. Es war wie wenn Jesus mich umarmte und mit diesem Vertrauen beschenkte. In diesem Moment erahnte ich nicht, was da noch alles auf uns zukommen und uns schwer zusetzen würde. Langsam erholte ich mich etwas vom ersten Erschrecken. Was hatte der Arzt gesagt? Redet mit der Patientin, sprecht ihr Mut zu. So gut es mir möglich war, fasste ich mich, legte meine Hand auf den Oberarm meiner Tochter und sprach sie an: «Anneliese, wir sind hier, Serge und dein Papa. Wir sind so dankbar, dass man dir hier im CHUV hilft. Du bist in guten Händen. Du bist stark und wirst kämpfen. Diesmal nicht wie im Kunstturnen, aber hier zusammen mit dem Spitalpersonal. Viele Menschen, die dich kennen und lieb haben, beten für dich. Vor allem sollst du wissen, dass es dem kleinen Antonin gut geht. Es wird alles gut werden. Mach dir nur keine Sorgen. Viele Menschen beten für dich. Und das wollen wir jetzt auch tun: «Lieber, himmlischer Vater, wir bitten Dich, im Namen Jesu, für Anneliese. Jesus, du hast am Kreuz auch für ihre Krankheit bezahlt. Durch deine Wunden erfahren wir Heilung. Bitte, Jesus, mach unsere Anneliese wieder ganz gesund! Amen.» Nun lag auch die Hand von Serge auf seiner Gattin. Er war schmerzbewegt. Trotzdem versuchte er nun seinerseits, so gut wie es ihm möglich war, seine liebe Frau zu ermuntern. Er versicherte ihr, dass sie zu Hause gut zu Ranke kämen, dass es den Kindern und vor allem dem kleinen Antonin gut ginge. – Oder war das schon zu viel Zusage? Wer konnte schon erahnen, was der Säugling wirklich durchmachte? Musste er nicht die zärtlichen Liebkosungen und die wohltuende Stimme seiner Mama vermissen? Und erst recht die Mutterbrust. Der Schnuller war sicher ein kläglicher Ersatz, um zu seiner Nahrung zu kommen. Mit letzten Liebkosungen und beschwerten Herzen verabschiedeten wir uns… Darauf wurde Annelies von ihrem Bruder besucht. Philipp war schon immer sehr sensibel gewesen. Der Anblick seiner Schwester und die ganze Situation setzten ihm derart zu, dass er fassungslos in Tränen ausbrach. Das Ganze war einfach zu viel für ihn. Er war total überfordert. Das von Maschi- 197 P43076_inh_Buch_Staub.indd 197 06.02.15 13:32 nen und Monitoren umstellte Bett trug dazu bei, dass er ausser Stande war, seine zur Unkenntlichkeit entstellte Schwester aufzumuntern. Vorderhand mussten wir ihn also aus dem Terminplan der Besucher streichen. Gleichentags um 15 Uhr wurde unsere Tochter Suzanne als Besucherin erwartet. Obschon auf die Situation vorbereitet, war auch sie beim Anblick ihrer Schwester bestürzt. Doch ihr gelang es sichtlich gut, ihre Schwester aufzumuntern und zu ermutigen. Leider hatte der Chefarzt keine ermutigenden Neuigkeiten für Suzanne. Trotz aller Bemühungen hatte sich der Zustand der Patientin deutlich verschlechtert. Nun war auch das Herz betroffen. Die definitive Diagnose lautete: Séptisémie, Streptocoque, categorie virulente, Bacterie mortelle. (Blutvergiftung, Bakterien, Kategorie ansteckend, übertragend, tödlich) Deshalb durften wir Besucher fortan das Krankenzimmer nur mit Plastikmantel und Gesichtsmaske betreten. Bestürzt durch diesen negativen Bericht benachrichtigte uns Susanne sofort. Diese schlechten Nachrichten erschreckten uns zutiefst. Nun wussten wir, dass das Leben unserer lieben Anneliese an einem seidenen Faden hing. Grosse Sorge und Angst machten sich breit. Meiner lieben Frau zerriss es fast das Herz. Sie fühlte sich an, wie wenn man ihr ein Schwert durch ihr Herz gestossen hatte. Brandungen von Schmerz und Kummer überrollten uns. Wir benachrichtigten alle Gebetsverantwortlichen, welche ihrerseits diese Informationen an weitere Gebetsfreunde und –kreise weiterleiteten. Zudem wurde die Gebetsunterstützung erweitert, sodass bereits in den USA und Asien für Annelise gebetet wurde. Wir waren uns bewusst, dass nur noch Jesus, unser göttlicher Arzt, helfen konnte. Inständig flehten wir um sein herzliches Erbarmen, Retten, Helfen und Heilen! Unser Schwiegersohn befand sich nun zeitweise bei uns im Pfarrhaus und nahm auch verschiedentlich die Mahlzeiten bei uns ein. Die vier Kinder waren bei seinen Eltern gut aufgehoben und betreut. Später erfuhren wir, dass sehr viele Ärzte und Pflegende des CHUV über diesen Fall auf der Intensivstation informiert waren. Der Chefchirurg hatte über die Weihnachtstage Pikettdienst und hätte seinen Angehörigen über Neujahr in die Ferien nachfolgen sollen. Wegen unserer Tochter blieb er jedoch die ganze Zeit im Spital. Desgleichen war der verantwortliche An- 198 P43076_inh_Buch_Staub.indd 198 06.02.15 13:32 ästhesist rund um die Uhr anwesend. Die aufopfernde Hingabe dieser Ärzte und Pflegenden werden wir nie vergessen! Wir erfuhren, dass das Ärzteteam zur Erkenntnis gelangt war, dass sie auch die Gebärmutter entfernen mussten. Doch der Zustand der Patientin verschlechterte sich so schnell, dass man nur eine Auskratzung durchführen konnte. Am selben Abend wollte der Kirchgemeindepfarrer noch sein Gemeindeglied besuchen. Doch er wurde mit der schonungslosen Tatsache konfrontiert, dass die Patientin im Sterben liege und sich bereits der interne Spitalpfarrer bei ihr befände. Mit den Worten: «In der gegenwärtigen Phase ist ein Besuch ihrerseits leider nicht möglich», wurde er verabschiedet. Zu guter Letzt traf an diesem 28. Dezember um 22 Uhr die Schwiegermutter zusammen mit einem Onkel von Annelise bei der Anmeldung auf der Intensivstation ein. Die Stationsschwester durfte ihr jedoch kein Besuchsrecht einräumen, sondern erkundigte sich mit folgenden schockierenden Worten nach dem Ehemann der Patientin: «Wenn er seine Frau noch lebend antreffen will, muss er sofort kommen. Benachrichtigen sie ihn umgehend. Im Moment können sie selber die Patientin sowieso nicht sehen.» Diese glasharte Eröffnung traf die Besucher völlig unvorbereitet. Serge hatte durch den erfahrenen Schock seine Angehörigen nicht wirklich über die ganze Tragik der komplexen Situation informieren können. So erwiderte seine Mutter: «Was ist denn hier los? Sie können doch meine Schwiegertochter nicht einfach sterben lassen. Wissen sie nicht, dass zu Hause vier Kinder sie mehr als nötig haben?» «Doch das wissen wir sehr wohl! Wir haben unser Möglichstes getan. Holen sie jetzt den Mann der Patientin.» Bei uns im Pfarrhaus läutete zirka um 23 Uhr das Telefon. Da wir einen Apparat im Schlafzimmer haben, konnte ich den Anruf sofort entgegen nehmen. Mit schluchzender Stimme meldet sich die Schwiegermutter unser Tochter: «Ruedi, wir befinden uns im CHUV. Es ist unglaublich, die lassen uns nicht zu Annelise. Sie sagen sie können nichts mehr für sie tun. Sie liege im Sterben, und ihr Mann müsse sofort kommen. Kannst Du Serge bitte sofort holen?» Das war es also: Weder unsere Tochter noch die Ärzte haben es geschafft. Sollte das wirklich das Ende sein? Abschiednehmen war doch gleich zu set- 199 P43076_inh_Buch_Staub.indd 199 06.02.15 13:32 zen mit Ende. Vor allem wollten die Ärzte die Erlaubnis erlangen, die HerzLungenmaschine abzustellen und das bedeutete unwiederbringlich den Tod. Ich konnte einfach nicht glauben, dass dies der Schlusspunkt sein sollte. Ich wollte vielmehr ein Komma setzen und dann weiter beten: «Herr, du Allmächtiger erbarme dich unser, greif ein, rette unsere Annelise!» Erstaunlicherweise brachte mich diese «Hiobsbotschaft» nicht total aus der Fassung, aber innerlich drohte meine Seele in Flammen aufzugehen. Trotzdem gelang es mir merklich gefasst zu sagen: «Nein, ich werde Serge nicht holen!» – «Doch, du musst! Oder glaubst du etwa nicht was die hier sagen?» Das glaubte ich eigentlich schon, nur wollte ich nicht akzeptieren, dass es aus sein sollte und Anneliese endgültig verloren war! Deshalb gab ich zur Antwort: «Ich werde auf der Intensivstation anrufen. Bist du in einer Telefonkabine, dann gib mir bitte die Nummer. Ich rufe dich nachher wieder an.» Ich musste mich innerlich fassen, um nicht zu zerbrechen. Natürlich war meine liebe Frau ebenfalls aufgewacht. Sofort hatte sie realisiert, dass dieser Anruf sehr schlechte Nachrichten beinhaltete. Wir nahmen uns in die Arme. Einen Moment lang wurden unsere Körper vom Schluchzen nur so geschüttelt. Sie hatten es also nicht geschafft, Annelies zu retten... Doch unser Entschluss stand fest: Wir würden nicht aufgeben und klammerten uns an unseren göttlichen Retter, welcher zur Rechten der Majestät Gottes thront und für uns eintritt! Ich konnte und wollte einfach nicht glauben, dass dies der Schlusspunkt sein sollte. Ich wollte vielmehr glauben und weiter beten: «Herr, du Allmächtiger erbarme dich unser, greif ein, rette unsere Annelise»! Es klappte auf Anhieb, mit der direkten Telefonnummer und ich konnte den Anästhesisten sogleich erreichen. Das Telefongespräch verlief wie folgt: «Hier spricht der Vater von Annelise. Ich habe soeben einen Anruf von Frau Delessert erhalten. Steht es wirklich so schlimm um unsere Tochter?» – «Leider ja, wir haben alles nur Denkbare unternommen; bedauerlicherweise ohne den erhofften Erfolg. Unsere Möglichkeiten sind ausgeschöpft. Es tut mir sehr leid, das sagen zu müssen.» – «Man hat der Schwiegermutter meiner Tochter gesagt, wenn der Mann der Patientin seine Frau noch lebend sehen wolle, müsse er sofort kommen. Sie will, dass ich ihn hole. Das werde ich aber nicht tun. Vielmehr werden wir, und viele mit uns weiter beten.» – «Machen sie das, und beten sie auch für uns», antwortete der Arzt. «Ja, das werden wir gerne tun.» Ich war nicht bereit, meinen Schwiegersohn zu holen, nur um endgültig von Annelise Abschied zu nehmen. Das durfte doch einfach nicht Wirklichkeit werden! 200 P43076_inh_Buch_Staub.indd 200 06.02.15 13:32 Sogleich nahm ich wieder Kontakt mit der Schwiegermutter unserer Tochter auf, welche in einer Telefonkabine des Spitals gewartet hatte: «Hier bin ich wieder, ich habe mit dem Arzt gesprochen. Er hat mir die unheilvolle Situation bestätigt.» – «Siehst du, holst du jetzt Serge?» – «Nein, werde ich nicht, und das habe ich ebenfalls dem Arzt gesagt. Wir sind nicht bereit dem Tod diese Ehre zu erweisen. Vielmehr beten wir weiter. Ich komme dann Morgen zu euch, um alles zu besprechen» Mit diesen Worten beende ich das Telefongespräch. Ohne Annelise gesehen zu haben, mussten die späten Besucher nach Hause zurückkehren. Noch heute erstaunt mich mein damaliges, spontanes Verhalten. Ich wurde ganz eindeutig so geführt. Trotz des scheinbar ausweglosen Sachverhalts erfüllten mich eine erstaunliche Ruhe und ein tiefer Friede. Ich hatte einfach die Überzeugung: Annelise wird nicht sterben. Jesus hat uns zugesagt: «Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.» (Lukas 18,27) Mir war sofort bewusst: Wenn ich Serge, den Mann unserer Tochter hole, ist der letzte Hoffnungsanker weg. Dann ist kein Lichtblick mehr, nur noch Dunkelheit… In dieser Situation war Glaube der zweiten Reichweite gefragt. Der Glaube der ersten Dimension betet um vorbeugende Massnahmen: Um Schutz, Bewahrung, Heilung usw. Aber es gibt noch eine zweite Dimension: Der Glaube, dass Gott Dinge rückgängig machen, Wunder wirken kann. Der Glaube, dass Gott Unmögliches möglich macht, Unwiderrufliches widerrufen kann. Die Überzeugung, dass es mit Annelise nicht aus und vorbei ist, war für mich wie ein himmlisches Geschenk. Gott ist viel grösser als unsere grössten Probleme! Sofort telefonierte ich unseren Kindern und einigen Freunden. Kurz informierte ich sie über die dramatische Sachlage. Ich rief alle auf, mehr denn je zuversichtlich – im Namen Jesu – für Anneliese zu beten. Ein befreundetes Ehepaar hat in der Folge die ganze Nacht durchgebetet. Um 4 Uhr morgens sagte die Frau zu ihrem Mann: «Jetzt ist Annelise gerettet!» Und so war es tatsächlich auch. Solche Glaubensgeschwister zu haben ist von unschätzbarem Wert und mit Gold nicht aufzuwiegen! 201 P43076_inh_Buch_Staub.indd 201 06.02.15 13:32 In einer solchen Situationen kommt die biblische Definition des Glaubens, wie sie im Hebräerbrief steht voll zum tragen: «Der Glaube ist eine gewisse Zuversicht des, das man hofft und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht», (Kap.11,1). Später hatten wir von einem uns bekannten Arzt erfahren, dass das Ärzteteam an diesem verhängnisvollen Abend des 28. Dezembers die Patientin als unrettbar verloren erachtet hatte und die Lungen- Herzmaschine abstellen wollte. Das war mit ein Grund, weshalb Serge unbedingt herkommen sollte; denn ohne seine Einwilligung durfte dies nicht geschehen. Am frühen Morgen des darauffolgenden Tages begaben wir Eltern uns ins CHUV. Der Körper von Anneliese war noch mehr aufgebläht. Das war die Folge der Überdosen Medikamente, welche man ihr verabreicht hatte. Mit zärtlichen Worten begrüssten wir sie. Dann übernahm mich ein Weinkrampf und ich musste den Raum verlassen, um mich wieder zu fassen. Das Ärzte- und Pflegeteam war sichtlich überrascht, dass die Patientin die Nacht überlebt hatte. Sie machten jedoch kein Hehl daraus, dass der Zustand der Patientin nach wie vor mehr als besorgniserregend war. Für uns war ganz einfach wesentlich, dass Annelies noch lebte, gleichsam «auferstanden». Darüber gaben wir Gott die Ehre und dankten ihm von ganzem Herzen. Anschliessend kam Serge zu seiner Frau. Es war offensichtlich, dass er immer noch unter Schockeinwirkung stand. Fassungslosigkeit und Entsetzen hatten sich seiner bemächtigt. Noch vor Wochenfrist waren sie eine überglückliche, reich gesegnete Familie gewesen und jetzt dieser Schicksalsschlag. Warum? War Gott plötzlich unerkennbar, weit weg … oder doch vielmehr ganz nahe? Zu Hause angekommen, begab ich mich zu den Schwiegereltern von Anneliese. Ich erklärte ihnen, wie bereits oben geschildert, warum ich Serge nicht geholt habe: «Hätte ich das getan, wäre Annelies jetzt nicht mehr am Leben», sagte ich unvermittelt. «Es hätte bedeutet, dass wir sie aufgegeben haben und gekommen sind, um endgültig von ihr Abschied zu nehmen. Das Ärzteteam war zur Erkenntnis gelangt, dass die Patientin unrettbar verloren ist. Deshalb wollten sie die Einwilligung haben, die Herz- Lungenmaschine abstellen zu können.» Natürlich waren auch sie überglücklich, dass ihre Schwiegertochter noch am Leben war. Bis auf weiteres durften nur die nächsten Angehörigen Annelise besuchen. Langsam stabilisierte sich ihr Zustand etwas. Als am 30. Dezember wieder 202 P43076_inh_Buch_Staub.indd 202 06.02.15 13:32 unsere Susanne bei ihr war, nahm sie eine Ärztin beiseite und erklärte ihr: «Leider gibt es neue Schwierigkeiten: Die Extremitäten der Patientin nekrotisieren sich zusehends. Das heisst, ihre Finger und Zehen sterben ab. Dadurch entsteht eine erneute Infektionsgefahr. Dieses Risiko können wir nicht eingehen und müssen deshalb eine Amputation ins Auge fassen». Umgehend wurden wir durch unsere Tochter über diese erneute, fatale Entwicklung benachrichtigt. Unverzüglich informierten wir alle Mitbeter über diese prekäre Situation. Ein Schwager, welcher Jurist war, rief mich an und sagte: «Wisst ihr, dass eine solche Amputation nur mit dem Einverständnis der Angehörigen vorgenommen werden darf?» Wir waren dankbar für diese Information und begaben uns sofort ins Spital. Hier wurde uns der Sachverhalt noch einmal dargelegt. Dann konnten wir die Hände und Füsse unserer Tochter ansehen. Tatsächlich waren die Finger und Zehen ganz blauschwarz und aufgeschwollen. Die Ärztin erläuterte uns die Situation: «Im Moment haben wir die Infektionsgefahr unter Kontrolle. Aber diese neurotisierten Glieder sind tatsächlich bedrohlich. Eine neuerliche Infektion würde die Patientin nicht verkraften. Sie erhält schon das Maximum an Antibiotika und Medikamenten. Eine Auswirkung davon ist der Umstand, dass die Extremitäten zu wenig durchblutet werden.» Wir bekamen Zeit zum Nachdenken und beurteilten diese Situation. Ich sagte zu meiner Frau: «Anneliese hat überlebt. Soll sie nun ohne Finger und Zehen weiter leben müssen? Wenn es nicht anders geht, ist es jedenfalls besser, dass sie ihrer Familie so erhalten bleibt als gar nicht.» Darauf erwiderte meine Frau: «Aber stell dir das vor, ohne Finger und ohne Zehen! Sie, die so aktiv ist, mit verstümmelten Händen und ohne Zehen an den Füssen kann sie auch nie mehr richtig laufen.» Dann fragten wir die Ärztin: «Ist es nicht möglich, noch zuzuwarten?» – «Also gut, bis morgen früh, wenn sich der Zustand nicht verschlechtert, dann sehen wir weiter.» Wir waren vorerst erleichtert. In der Gewissheit, dass viele Beter auch dieses zusätzliche Anliegen flehend vor Gott bringen würden, gingen wir nach Hause. Sodann orientierten wir das weit gefächerte Gebetsnetz über die neue Situation unserer lieben Tochter. Das geschah, indem die Hauptverantwortlichen Mitbeteiligte orientierten und diese wiederum weitere Mitbetende. 203 P43076_inh_Buch_Staub.indd 203 06.02.15 13:32 Am kommenden Morgen begaben wir uns wieder ins CHUV. Als wir unser Auto im Parkhaus des Spitals abstellten, kamen wir durch die hintere Halle ins Innere des Spitalkomplexes. Hier stand in altfranzösisch der Denkspruch an der Wand: «J’ai penser, mais Dieu garrit!» (Ich habe verbunden, aber Gott heilt) Dieser bedenkenswerte Text tröstete uns jedes Mal, wenn wir hier eintraten. Der nekrotische Zustand der Finger und Zehen war stabil geblieben, und so sah man vorläufig von einer Amputation ab. Gott sei Dank! Immer wieder sprachen wir Annelies Mut zu, beteten mit ihr und versuchten durch Streicheleinheiten unsere Anwesenheit anzuzeigen. Da sie ihrerseits nicht die geringste Reaktion zeigte, war dies gar nicht so einfach. Das Ärzteteam und das Pflegepersonal waren unglaublich zuvorkommend und in jeder Hinsicht mitfühlend! Das linderte ein wenig unseren Schmerz. Am meisten halfen uns jedoch der Glaube und das Gottvertrauen. Bibeltexte wie: Psalm 23 oder Römer 8 und andere mehr stärken uns. – Wie kommen eigentlich Menschen in ähnlichen Situationen über die Runden, welche keine Beziehung zum Himmel haben? Ich war überzeugt, dass nach Psalm 91 nebst uns auch Engel bei Annelise anwesend waren. Dieser Sachverhalt wird im Neuen Testament bestätigt: «Engel sind Wesen, die Gott dienen, und er sendet sie aus, damit sie allen helfen, denen er Rettung schenken will.» (Hebräer 1,14) Der Zustand der Patientin blieb weiterhin stabil. Inzwischen war es bereits Sylvester geworden. Wie jedes Jahr begaben wir uns an diesem Tag in mein ehemaliges Elternhaus, wo wir jeweils – zusammen mit den Angehörigen meines Bruders – den Jahreswechsel feierlich begingen. Diesmal benützten wir diese Gelegenheit auch, um gemeinsam für unsere Annelise zu beten. Eine kleine Kontroverse entstand dadurch, dass ich Gott nicht nur für das Überleben unserer Tochter dankte, sondern auch die Überzeugung ausdrückte, dass Jesus sie völlig heilen würde. Nach jener schicksalhaften Nacht war ich in diesem unerschütterlichen Glauben bestärkt worden. An diesem ganz speziellen Sylvester begab ich mich um elf Uhr nachts zusammen mit meiner Frau ins CHUV. Als es gegen Mitternacht zuging, sagte das Pflegepersonal: «Wir lassen sie jetzt mit ihrer Tochter allein. Wenn nötig können sie uns jederzeit herbeirufen». Diese Zuvorkommenheit schätzten wir sehr und nutzten diese Zeit zum Singen, Beten und Bibellesen. Gottes Wort vermittelt uns so viel Zuspruch und Trost. Zum Beispiel die 204 P43076_inh_Buch_Staub.indd 204 06.02.15 13:32 Verheissungsworte aus Jesaja 43: «So spricht der Herr: Hab keine Angst, denn ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir. Wenn du durch tiefes Wasser oder reissende Ströme gehen musst, so bin ich bei dir: Du wirst nicht ertrinken. Und wenn du ins Feuer gerätst, bleibst du unversehrt. Keine Flamme wird dich verbrennen. Denn ich, der Herr, bin dein Gott. Ich bin dein Retter. Habt keine Angst, denn ich der Herr, bin bei euch! Bleibt nicht bei der Vergangenheit stehen. Schaut nach vorne, denn ich will etwas Neues tun! Es hat schon begonnen, habt ihr es noch nicht gemerkt?» Eine knappe Stunde lang war das Krankenzimmer zum Andachtsraum geworden. Wir lobpriesen Gott und dankten ihm, dass Anneliese dank seiner gnadenreichen Fürsorge lebte! Das war keineswegs unser Verdienst, sondern vollumfänglich Gottes Gnadengeschenk. Ich möchte hier ausdrücklich festhalten, dass Gott nicht heilen muss und man ihn dazu auch nicht zwingen kann. Zu Beginn des neuen Jahres beschlossen die Ärzte, Anneliese nicht länger im künstlichen Koma zu belassen. Doch nach dem Absetzen der diesbezüglichen Medikamente, wollte die Patientin nicht aufwachen. Erst durch das Verabreichen besonderer Arzneimittel wurde sie langsam wach. Wie sie das erste Mal die Augen öffnete, war gerade ihr Mann bei ihr. Unverzüglich benachrichtigte er uns über dieses freudige Ereignis. Schnell begaben wir uns ins CHUV. Dieses Erlebnis, unsere liebe Annelise nach zwei Wochen wieder im Dasein zu erleben, werden wir nie vergessen. Freilich war sie noch immer fast zur Unkenntlichkeit entstellt. Schon kurz nach der herzlichen Begrüssung richtete sie folgende Frage an mich: «Papa, was hat ein Schäfchen für eine Bedeutung?» Nach meiner Rückfrage, warum sie mir diese Frage stellte erklärt sie: «Während dieser ganzen Zeit lag immer ein weisses Schäfchen bei mir. Oft kamen Schlangen, – nein es waren Drachen. Sie sperrten ihr Maul weit auf, und aus ihrem Rachen kam furchterregendes Gebrüll. Aber sie konnten sich mir nicht nähern, weil das Schäfchen da war und mich beschützte.» «Das ist ganz offensichtlich», antwortete ich, «das Schäfchen ist das Sinnbild für Jesus. Er hat als Lamm Gottes am Kreuz auf Golgatha, für uns sein wunderbares Erlösungswerk vollbracht. Die Anwesenheit dieses Schäfchens hat dich vor den Angriffen dieser Bestien beschützt und bewahrt.» 205 P43076_inh_Buch_Staub.indd 205 06.02.15 13:32 Obschon der Körper von Anneliese noch immer aufgebläht war und ihr Kopf dem Vollmond glich, strahlte ihr Angesicht Frieden aus. Dann sagte sie: «Ich habe noch andere Sachen erlebt, das erzähle ich euch später. Und ich werde dann auch in der Kirche darüber berichten.» Nach dieser Erklärung versank sie wieder, für einen Moment, in die Bewusstlosigkeit. Wir aber waren von einer riesigen Freude und tiefen Dankbarkeit erfüllt. Ich dachte an die Worte im Foyer das CHUV: «Ich habe verbunden, aber Gott hat geheilt!» Vor allem hatte Jesus Anneliese unter seinen Schirm und Schutz genommen. Ihm sei Lob, Ehre und Dank für seine Gnade und Treue! Für uns war es ganz eindeutig ein gnadenreiches Wunder Gottes, dass unsere Tochter noch am Leben war. Freilich gab es noch weitere Schwierigkeiten und Probleme. Die Folgen der Unmengen verabreichter Medikamente wurden augenfällig. Sie verlor alle Zehennägel und Teile der Zehen. Dass sich die Finger erstaunlich gut erholten, machte uns dankbar. Am Hinterkopf musste sie im wahrsten Sinne des Wortes Haare lassen, sie verlor ein Stück der Kopfhaut mitsamt den Haaren. Etwas später bahnte sich ein grösseres Problem an: ihr Augenlicht war nicht mehr in Ordnung. Ein zugezogener Spezialist der Augenklinik war alarmiert und sie bekam teure Medikamente verschrieben. Nachdem wir die erfreulichen Nachrichten voller Dankbarkeit dem grossen Beterkreis mitgeteilt hatten, war dies ein neuerlicher Anlass, um Fürbitte nachzufragen. Und unser himmlischer Vater hat im Namen Jesu auch in dieser Sache gnädig eingegriffen. – Denn, als sie später bereits wieder zu Hause war, wurde bei einer Nachuntersuchung festgestellt, dass die Augen wieder vollkommen in Ordnung waren, und sie konnte die Medikamente zurück in die Apotheke bringen. Bei einem weiteren Besuch im Spital sprach ich Annelies darauf an, dass sie mir zugesagt hat, über weitere Sachen, welche sie im komatösen Zustand erlebt hatte, zu berichten. «Ah ja, als ich im Koma lag, haben die Schwestern plötzlich diese schwarze Decke über mich gelegt. Es war genau diese Decke, die jeweils in der Kirche über den Sarg gebreitet wird. Aber ich war nicht tot! Ich war wirklich nicht tot! Ich lebte noch und trotzdem haben sie mich mit dieser Decke zugedeckt.» Einerseits machte mich diese Enthüllung betroffen, andererseits faszinierte sie mich! Da war sie nun: Die Bestätigung dessen, was sich an jenem schick- 206 P43076_inh_Buch_Staub.indd 206 06.02.15 13:32 salhaften Abend abgespielte hatte, als das Ärzteteam die Patientin aufgegeben hatten! Dabei ist es überaus interessant, dass Anneliese diese Tatsache voll registriert hatte: Man hatte sie mit dem schwarzen Sargtuch bedeckt. Im Klartext: Das Pflegepersonal hatte sich am Bett der Patientin darüber besprochen, dass sie nichts mehr tun konnten… Für mich steht es eindeutig fest: Hätte ich an jenem verhängnisvollen Abend unseren Schwiegersohn geholt, um Abschied zu nehmen, wäre Anneliese definitiv zugedeckt worden und läge heute begraben auf dem Friedhof. Wir können nur mit David dankbar bekennen: «Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln... Er führt mich auf rechter Strasse um seines Namens willen. Und geht es auch durch dunkle Täler, fürchte ich mich nicht, denn du, Herr, bist bei mir.» (Psalm 23, 1+3-4) Wir waren dazu aufgefordert worden, bei unseren Besuchen die Patientin zu ermutigen und sie mit unserem Sprechen aufbauend zu unterstützen. Scheinbar haben die Ärzte, nachdem sie die Kranke aufgegeben hatten, dieses Prinzip ihrerseits missachtet. Auf jeden Fall wird hier offenbar, wie viele Schwerkranke auch im Unterbewusstsein Dinge wahrnehmen, sogar wenn sie in tiefer Bewusstlosigkeit, im Koma, liegen! Ganz langsam erholte sich Anneliese. Und dann war es endlich soweit, dass sie nach zehn Tagen von der Intensivstation auf die Überwachungsstation verlegt werden konnte. Nun durften die Kinder endlich ihre Mutter besuchen. Nur mit knapper Not vermochte diese ihre Freuden- und Glückstränen zu unterdrücken. War das ein denkwürdiges Wiedersehen! «Kommst du jetzt bald nach Hause? Hast du immer noch Schmerzen?» und noch vieles mehr wollten die Kinder wissen. Nach einem Monat, am 27. Januar, war es endlich so weit, dass unsere Tochter das Spital verlassen konnte. Das Ärzteteam empfahl ihr eindringlich, umgehend psychologische Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Das war jedoch nicht nötig. Anneliese hatte während dieser schweren Krankheit in geistlicher Hinsicht so Wunderbares erlebt, dass sie aus dieser sehr schwierigen Zeit im Glauben gestärkt hervorging. So kam sie, Dank der Gnade Gottes, mit der jetzigen Situation gut zurecht. Allerdings stellte sich bald einmal heraus, dass sie beim Gehen Probleme hatte. So musste sie deshalb während längerer Zeit therapeutisch betreut 207 P43076_inh_Buch_Staub.indd 207 06.02.15 13:32 werden und eine Physiotherapie in Anspruch nehmen. Leider zeitigte dies keine merklichen Fortschritte. Dann stellten Spezialisten fest, dass in beiden Fersenbeinen fast die Hälfte des Knochens nekrotisiert, das heisst abgestorben war. Als Folge davon litt sie unter anhaltenden Schmerzen. Aber sie war eine Kämpferin und liess sich nicht leicht unterkriegen. Es wurde auch der Verdacht geäussert, dass sie damit rechnen müsse, eines Tages ihr Leben im Rollstuhl zu verbringen. Stattdessen fuhr sie sogar bald wieder Fahrrad und sogar Ski. Das ist ein weiteres Wunder der Gnade und Fürsorge Gottes! Ihm sei Lob, Ehre und Dank für diesen unaussprechlichen Gnadenerweis! Die Schmerzen werden sie wahrscheinlich ihr Leben lang begleiten. Sie sind gleichzeitig ein steter Appell, niemals zu vergessen, wie viel Gutes und herzliches Erbarmen der Allmächtige ihr im Namen Jesu erwiesen hat. So bedarf sie weiterhin des Schutzes und der steten Anwesenheit des Lammes Gottes! Übrigens hat Annelise ihr Versprechen eingelöst, indem sie in unserer Kirchgemeinde ein ergreifendes Zeugnis gegeben hat. Viele Gemeindeglieder waren einerseits tief bewegt und andererseits hocherfreut und dankbar, dass ihre Gebete an diesem wunderbaren Geschehen mit beteiligt waren. Der bekannte Liederdichter und Sänger Adrien Snell, mit dem Annelise befreundet ist, machte mit ihr ein Interview über ihre Krankheit und ihre übernatürliche Heilung. Diese Reportage wurde dann im holländischen Fernsehen ausgestrahlt. In der Folge war es interessant mitzuerleben, wie eindrücklich unsere Annelise zusammen mit ihrem Mann ihr Ehe- und Familienleben fortan gestalteten. Bis in den Alltag hinein hat ihr Dasein eine ganz neue, ausgeprägte und vertiefte Dimension erfahren. Froh, schlicht und dankbar bezeugt sie und lebt in Wort und Handlung das Wunder ihrer übernatürlichen Heilung. Und ihr Leben sieht entsprechend aus. 208 P43076_inh_Buch_Staub.indd 208 06.02.15 13:32 Unsere letzten Jahre in der Kirchgemeinde Viel Freude und Beglückung erlebten wir mit unseren 11 Grosskindern. Mit dieser strahlenden Kinderschar waren wir wirklich reich gesegnete Grosseltern. Unsere 11 Grosskinder, welch ein Gottessegen! Wie gut war es doch, dass wir im Broyetal geblieben waren. Wir wurden während der schwierigen Zeit mit Annelise massiv unterstützt und begleitet. Besonders wertvoll war für uns der Gebetskreis. Wir erlebten wahre Gemeinschaft, mitfühlende Liebe, wurden getröstet und erfuhren herzliche Verbundenheit. (siehe Philipper 2,1-5) Nachdem unsere Jugendmitarbeiterin Beatrice Käufeler nach drei Jahren ihren Wunsch in die Mission zu gehen, verwirklichte, fanden wir sogleich einen Ersatz. Kathrin Hiltbrunner, welche aus der Mission in Übersee zurück in die Schweiz kam, wurde unsere neue Jugendmitarbeiterin. Im Gegensatz zu ihrer eher stillen Vorgängerin war sie eine überaus dynamische, temperamentvolle Person. Etwas später begann sie dann an der Bibelschule «Emmaus» ihre theologische Ausbildung. An dieser Ausbildungsstätte kann man ein Studienjahr 209 P43076_inh_Buch_Staub.indd 209 06.02.15 13:32 aufsplitten und zu je fünfzig Prozent in zwei Jahren absolvieren. Diese Lösung war für sie und uns optimal. In Zusammenarbeit mit der Ostmission organisierte sie ein jährliches Arbeitseinsatzlager für Jugendliche in Portugal. Das Interesse war erstaunlich gross. Meistens nahmen vierzig oder sogar mehr junge Leute daran teil. Lorianne, die zweitjüngste Tochter von Suzanne und Bernard, verspürte den Ruf Gottes, sich für den Missionsdienst vorzubereiten. Zuerst nahm sie sich vor Ärztin zu werden. Die Ausbildung schien ihr jedoch zu lang. So ging sie nach dem Maturitätsabschluss nach Mexiko City und erlernte bei einer Pfarrerfamilie die spanische Sprache. In dieser grossen Gemeinde ist sie geistlich reifer geworden und hat mit Gott viel erlebt. Dann entschied sie sich für die Krankenschwesterlehre und schloss im Herbst 2013 in Genf die Ausbildung als Hebamme ab. Wir waren wirklich froh und dankbar, dass wir in Moudon geblieben sind. Einmal mehr erfuhren wir durch die Gemeinde viel Rückhalt und Unterstützung und noch einige segensreiche Jahre! Im wahrsten Sinne des Wortes durfte ich erleben, dass die ausgesäte Saat viel Frucht hervorbrachte. Säuglinge die ich getauft oder eingesegnet habe sowie Konfirmanden sind herangewachsen und heute wertvolle Pfeiler und Mitarbeiter, nicht nur in unserer Kirchgemeinde, sondern auch in anderen, zum Teil französischsprachigen Gemeinden. Sogenannte Welschlandgänger, welche bei im Glauben gewachsen sind oder sich bekehrt haben, leben heute verstreut in der ganzen Schweiz. 210 P43076_inh_Buch_Staub.indd 210 06.02.15 13:32 Eine Herzoperation wird unumgänglich Dann, 1997, während eines Ferienaufenthaltes am Meer, erlebte ich eine ganz spezielle Bewahrung. Beim Schwimmen hatte ich einen Schwächeanfall. Ich konnte gerade noch um Hilfe schreien. Ein Rettungsschwimmer kam mir noch rechtzeitig zu Hilfe. Wieder zu Hause, stellte der Arzt ein Herzproblem fest und schickte mich zu einer Spezialuntersuchung ins CHUV. Man stellte fest, dass meine Aortaherzklappe schadhaft war. Ich sollte so schnell wie möglich operiert werden. Und so befand ich mich meinerseits ganz unerwartet im Kantonsspital. Die lädierte Herzklappe musste durch eine künstliche aus Karbon ersetzt werden. Um dies zu bewerkstelligen wurde das Brustbein entzwei gesägt, damit die Auswechslung vorgenommen werden konnte. Die Operation verlief zufriedenstellend, doch hatte ich danach furchtbare Schmerzen. Erst in der zweiten Nacht erkundigte sich die Nachtschwester: «Hat Ihnen niemand gesagt, dass Sie Anspruch haben auf zusätzliche Morphiumabgabe?» Das hatte man leider nicht! Als ich dann diese erhielt, ging es bedeutend besser. Durch diesen Spitalaufenthalt war ich nun plötzlich selbst der Patient und erhielt Besuche. Bislang war ich immer derjenige gewesen, welcher Besuche machte. Diese Lektion erweiterte meinen Horizont. Immer wenn an der Krankenzimmertür Klopfzeichen ertönten, schaute ich erwartungsvoll hin. Wenn dann keine mir bekannte Person auftauchte, war ich enttäuscht. Das CHUV hat eigene Spitalseelsorger angestellt. So kam auch ein mir bekannter Pfarrerkollege und besuchte mich. Es war derselbe, welcher vor Jahren bei Annelise weilte, als die Ärzte nichts mehr für sie tun konnten. Sofort kam der Kollege «zur Sache»: «Wie geht es Dir? Ihr habt ja wirklich viel durchgemacht! Zuerst Deine Tochter, dann Dein Schwiegersohn und nun Du persönlich. Wie kommst Du damit zurecht? Wie verkraftest Du das alles? Wenn Du Dich darüber mit mir austauschen möchtest, lass es mich wissen. Dann vereinbaren wir einen Termin.» Ich war doch etwas überrumpelt und antwortete: «Danke vielmals für Dein Feingefühl. Eigentlich 211 P43076_inh_Buch_Staub.indd 211 06.02.15 13:32 geht es mir erstaunlich gut:» Beim Abschiednehmen hakte mein Besucher nochmals nach: «Auf jeden Fall nehme ich mir gerne Zeit für ein Gespräch mit Dir.» Nun war ich tatsächlich herausgefordert. Ich wurde nachdenklich, hörte in mich hinein und musste letztlich eingestehen, dass mein Innerstes, meine Seele, emotional angeschlagen war. Bislang hatte ich ganz einfach negative Gefühle nicht zugelassen. Beim «in-mich-gehen» musste ich eingestehen, dass bei mir durchaus negative Empfindungen und eine in Mitleidenschaft geratene Sensibilität vorhanden waren. Doch hatte ich diese verdrängt. Der Spitalseelsorger hat mich genau da «abgeholt» wo ich festgefahren war. Nicht umsonst hat der sprichwörtlich weise König Salomo gesagt: «Wie goldene Äpfel auf einer silbernen Schale, so ist ein rechtes Wort zur rechten Zeit. Auf die Ermahnung eines weisen Menschen zu hören, ist so wertvoll wie der schönste Schmuck aus Gold.» (Sprüche 25,11f) Dieser Sachverhalt führte dazu, dass ich dankbar auf das Angebot des Spitalseelsorgers einging. Daraufhin hatten wir zusammen ein wertvolles Gespräch, welches für mich befreiend und heilend wirkte. Das war wirkungsvolle Seelsorge! Am Sonntag kam mich unser Sohn, zusammen mit seiner Gattin und ihrer dreijährigen Caroline, besuchen. Nach meinem Versuch, anschaulich zu schildern, was die Ärzte bei mir gemacht hatten, wurde meine Enkelin ganz nachdenklich und fragte unmittelbar: «Grandpapa, als der Doktor dein Herz aufmachte; hat er da auch Jesus darin gefunden?» Die Plötzlichkeit dieser kindlichen Frage hat mich doch etwas überrascht! Dann versuchte ich zu erklären, dass Jesus zwar schon in meinem Herzen ist: dass man ihn aber nicht sehen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Antwort meine Enkelin zufriedengestellt hat. Bestimmt meinte Jesus gerade auch dieses kindliche Erfassen wesentlicher Dinge, als er seine Jünger mit den Worten zurechtwies: «Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen. Wer sich selbst so klein macht wie ein Kind, der wird im Himmelreich der Grösste sein.» (Matth.18,4) Der kindliche Glaube hat keine Hemmungen. Es liegt im kindlichen Naturell, ungetrübte Herzensfröhlichkeit zu empfinden. 212 P43076_inh_Buch_Staub.indd 212 06.02.15 13:32 Unwillkürlich musste ich da an den Coiffeur denken, welcher durch meine Formulierung «Heiland» tief berührt worden war. So wie es für unsere Erde nur eine Sonne gibt, so gibt es für uns Menschen nur einen Heiland und Erlöser: Jesus Christus! Meine persönliche Spitalerfahrung hatte zur Folge, dass meine Krankenbesuche mehr Tiefgang bekamen. So kann ein kurzes, persönliches Erleben sogar mehr bewirken als ein Studium mit reiner Theorie! Wir zwei sind wirklich gesegnet und glücklich Die letzten Jahre vor meiner Pensionierung waren in jeder Hinsicht segensreich. Dankbar darüber, dass wir das Broyetal nicht verlassen hatten, genossen wir diese friedliche Zeit in vollen Zügen. Nun galt es, sich auf den sogenannten Ruhestand vorzubreiten. Der Kanton Waadt organisierte in diesem Zusammenhang ein vorbereitendes Seminar, welches ich zusammen mit meiner Frau mit grossem Gewinn besuchte. Sodann begannen die Vorkehrungen für unsere Verabschiedung. Nach einundvierzig Jahren Reichgottesarbeit, davon vierunddreissig Jahre im Oberen Broyetal, hiess es nun, vom vollzeitlichen Dienst Abschied zu nehmen. 213 P43076_inh_Buch_Staub.indd 213 06.02.15 13:32 Abschiedsgottesdienst 1999 in der Kirche St. Etienne Meine Abschiedspredigt in Moudon Die lobpreisende Gemeinde Abschiedsworte vom Gemeinderat Mit der Bläsergruppe 214 P43076_inh_Buch_Staub.indd 214 06.02.15 13:32 Jugendgruppe In der Stadtkirche St. Etienne fand unter der Mitwirkung einer Musikgruppe, des Kirchenchores, der Jugendgruppe, einer ad hoc gebildeten Bläsergruppe, sowie mehrerer Redner ein feierlicher Abschiedsgottesdienst statt. Sodann war jedermann zu einem Festmahl eingeladen, welches im grossen Saal des Hotels «La Douane» stattfand. Hier gingen die Feierlichkeiten den ganzen Nachmittag über weiter. Das unvergessliche Geschehen dieses Ehrentages wurde durch eine Videokamera festgehalten. 215 P43076_inh_Buch_Staub.indd 215 06.02.15 13:32 Gott hat unseren «Alterssitz» vorausgeplant Bereits 1987 konnten wir durch Gottes wunderbare Führung in JouxtensMézery, einem Vorort von Lausanne, ein altes Haus kaufen. Gott hatte uns diesen Besitz tatsächlich «reserviert»! Gottes Wege sind einfach wunderbar! Einmal mehr durften wir seine Gnade und Treue erleben. Die Besitzer mochten sich nicht länger mit ihrem Mieter abmühen, welcher den Mietzins nicht mehr bezahlte. Sie hatten Kenntnis, dass wir an einem Kauf ihres Besitztums interessiert waren. Sie kannten nur meinen Namen und wussten, dass ich Pfarrer bin. Über Bekannte konnten sie unsere Adresse ausfindig machen und nahmen Kontakt mit uns auf. Wir waren hoch erfreut und dankbar für diese Fügung! Dieses Wohnhaus liegt auf einer Anhöhe mit Ausblick auf den Genfersee, die Savoyeralpen und den Jura. Nach Konsultation auf dem Grundbuchamt und der Gemeindekanzlei vollzogen wir den Kauf und die notarielle Überschreibung, ohne das Haus je besichtigt zu haben. Wir wollten damit vermeiden, dass der Verkauf der Liegenschaft publik wurde und sich automatisch weitere Käufer für das Objekt interessieren könnten. Wir wussten, dass das Haus alt war und deshalb eine Totalrenovation anstehen würde. Von grösserer Tragweite war das Problem mit dem Mieter, einem alleinstehenden, etwa dreissigjährigen Mann. Er weigerte sich, die Wohnung zu verlassen. Uns hat er nur die erste Monatsmiete bezahlt. Nach einem Jahr wollten wir unbedingt mit der Renovation beginnen. Doch die zuständigen Instanzen machten uns wenig Hoffnung, trotz der unhaltbaren Umstände, den Mieter loszuwerden. – «Versuchen Sie, sich irgendwie mit ihm zu arrangieren», rieten sie uns. Diesem Rat folgend verfasste ich ein Schreiben und sprach bei diesem Mann vor: «Wir möchten das Haus unbedingt renovieren. Deshalb schlage ich Ihnen folgendes vor: Wenn sie dieses Dokument unterschreiben und die Wohnung auf den 1. Mai verlassen, verzichten wir auf den ausstehenden Zins von 13 Monaten.» – «Das muss ich mir überlegen» antwortete er. – «Gut ich gebe Ihnen eine Stunde Bedenkzeit. Um elf Uhr bin ich wieder da und Sie auch!» Und welch ein Wunder: Der junge Mann hat dann tatsächlich unterschrieben! Doch Ende April liess nichts erkennen, dass er den Auszug vorbereitete. Als ich ihn darauf ansprach, erklärte er: «Ich habe mich bei meinem Anwalt erkundigt: 216 P43076_inh_Buch_Staub.indd 216 06.02.15 13:32 Ich bleibe»! – «Das sollten Sie nicht tun, sonst wird eine Zwangsräumung vorgenommen», gab ich zur Antwort. Am 1. Mai war er spurlos verschwunden und hinterliess eine Menge Unrat im Haus. Was soll’s; wir waren froh und dankbar, dass er weg war! Speziell war der Umstand, dass uns drei Wochen später die Polizei kontaktierte und wissen wollte, wo dieser Mann nun wohne. Selbstverständlich hatten wir keine Ahnung! In der Folge konnten wir das Haus endlich aus- und umbauen. Einige Zeit wohnte unser Annelies im Parterre. Dann residierte die Familie unseres Sohnes darin. Nachdem sie Berufs wegen in die Ostschweiz gezogen waren, logierte noch eine Missionarsfamilie darinnen, bis wir dann selber im Frühjahr 1999 einzogen. Das war unser Zuhause von 1999- 2015 in Jouxtens Leider litt meine liebe Frau immer mehr an den Folgen einer Fibromyalgie, einer Muskelkrankheit. Wir beteten viel um Heilung, auch im Gebetskreis. Doch die Schmerzen wurden immer schlimmer, zuletzt fast unerträglich – trotz der Medikamente. Mitchristen gaben uns zu verstehen, dass es auch Gottes Wille sein könnte, dass wir die Situation akzeptieren sollten, anstatt weiter um Heilung zu beten. Wir hatten jedoch die Überzeugung, dass wir auf Grund von Lukas 18,1-8 im Gebet ausharren und nicht müde werden sollten. Oft betete ich: «Herr Jesus, nur dank dem Beispiel, welches du uns im Evangelium (Lukas 18) vor Augen geführt hast, schöpfe ich immer wieder Mut und flehe um Heilung für Jeanne-Marie.» Dann liessen seit dem Herbst 2012 die extremen Schmerzen langsam nach. Trotzdem fühlte sich meine Frau oft unwohl und hatte Probleme mit ihrem Herzen. Dennoch 217 P43076_inh_Buch_Staub.indd 217 06.02.15 13:32 möchte ich allen Kranken und Leidenden die Worte Jesu in Erinnerung rufen: «Sollte Gott nicht auch retten seine Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen?» Daraufhin sagte unser Herr weiter: «Die Frage ist: Wird der Menschensohn, wenn er wiederkommt auf der Erde überhaupt noch Menschen finden, die diesen Glauben haben?» (Lukas 18,7–8). Wir jedenfalls möchten zu diesen Menschen gehören, die diesen Glauben haben, bewahren und verfechten! Auch nach meiner Pensionierung im Frühjahr 1999 war ich weiterhin sehr aktiv. Mich einfach zur Ruhe zu setzen, widerstrebte meinem Charakter. Natürlich genoss ich es sehr, nicht mehr unter Zeitdruck zu stehen und etwas mehr Musse zu haben. Das Motto galt nun: Was ich heute nicht erledigen kann, wartet bis morgen. Ich habe gelesen, dass im Alter die meisten Menschen aufhören in der Gegenwart zu leben, um ausschliesslich aus der Erinnerung zu leben. Das möchte ich jedoch nicht. Wir hatten vor einigen Jahren in der Raiffeisenbank fünfzigtausend Franken Geld angelegt. Diese Summe hatte sich mehr als verdoppelt und wurde nun ausbezahlt. Die Frage war: «Was sollen wir damit machen? Verschenken, damit das Reich Gottes gefördert wird?» Ich sagte mir: «Du bist noch munter, kräftig und gesund, also kannst Du Deine Gaben weiter einsetzen und noch etwas unternehmen.» Letztlich verschenkten wir den dritten Teil und den Rest investierten wir in den Kauf eines alten Chalets in Rossinière. In der Folge haben wir dieses Haus während fünf Jahren total restauriert. In dieser Zeit hatte ich also eine ausgiebige Beschäftigung. Hier konnte ich meine diesbezüglichen Kenntnisse und Erfahrungen voll einsetzen. Dann beschlossen wir dieses Haus zu verkaufen. Eine Immobilienfirma unternahm alles Mögliche um den Verkauf zu tätigen. Obschon der Preis mehrmals ermässigt wurde fand sich kein Käufer. Ganz offensichtlich hatte Gott andere Pläne und wir beteten, dass uns diese offenbart würden. Tatsächlich kamen dann unser Schwiegersohn, der Mann unserer Tochter, Annelies, und erklärte, dass sie das Chalet gerne übernehmen würden. Diese Lösung war wirklich ideal, denn so blieb das Haus im Familienbesitz. 218 P43076_inh_Buch_Staub.indd 218 06.02.15 13:32 Ich werde auch immer wieder für Vertretungsdienste angefragt. Dankerfüllt halte ich im Durchschnitt einmal monatlich irgendwo im Kanton Waadt einen Gottesdienst. Regelmässig in Montreux, Vevey, Aigle, Apples, der Stadtmission Lausanne und meiner ehemaligen Gemeinde in Moudon, ganz nach dem Motto von König David: «Vor der ganzen Gemeinde erzähle ich voll Freude, dass auf deine Zusagen Verlass ist. Nichts kann mich abhalten, davon zu reden – das weißt du, Herr! Deine Gerechtigkeit verberge ich nicht in meinem Herzen. Vor der ganzen Gemeinde rede ich von deiner Treue und Hilfe; ich erzähle, wie ich deine Liebe und Zuverlässigkeit erfahren habe», Psalm 40,10f. Im vergangen Frühjahr 2013 haben wir die Kirchgemeinde gewechselt. In Jouxtens fühlten wir uns nie wirklich heimisch. Wir wollten jedoch an unserem Wohnort mit den Gemeindegliedern zusammenhalten. Oft waren wir kaum ein Dutzend Anwesende und der Gesang mühselig, ausgenommen wenn die Lieder bekannt waren. Als sich dann unser Pfarrerehepaar für die Segnung von Homosexuellen entschied, gaben wir den Austritt und schlossen uns der evangelisch geprägten Kirchgemeinde in Le Mont an. Wie seinerzeit in Moudon beginnen hier die Gottesdienste mit Lobpreis- und Anbetungsliedern. Jeden Sonntag können die Gottesdienstbesucher das Fürbittegebet in Anspruch nehmen. Mit Freude wirke ich bis heute auch noch aktiv in der Christlichen Ostmission mit. Jedoch hatte ich mich entschlossen nach vierzigjähriger Mitarbeit auf den 1. Januar 2014 als Mitglied des Stiftungsrates zurückzutreten. Im Herbst 2013 fand in Worb eine eindrückliche Jubiläumsfeier: «40 Jahre Christliche Ostmission» statt. Als Einziger im Vorstand Verbliebener, der bereits bei der Gründung dabei war, durfte ich die Festansprache halten. Gott, der Vater aller Gnade hat dieses Werk all die Jahre reich gesegnet. Unzählige bedrängte Christen und um des Glaubens Willen Verfolgte erfuhren in diesen 40 Jahren Solidarität der Gläubigen aus der Schweiz. Beispielsweise konnten auch in diesem Jahr wieder gegen 90 000 Weihnachtspakete in Ost-Europa verteilt werden. 60 000 Familien wurden regelmässig mit Lebensmitteln versorgt. Zwei signifikante Beispiele für viele! Wir konnten auch immer wieder als Ehepaar schöne Ferien verbringen, jeweils im Frühjahr im Walliser Bade- und Kurort Ovronnaz. Eine ganz besonders gesegnete Zeit erlebten wir im Herbst 2011 in Israel. Nach ei- 219 P43076_inh_Buch_Staub.indd 219 06.02.15 13:32 ner eindrücklichen Bibelfreizeit am Toten Meer mit Barbara Schneider und ihrem Team fuhren wir per Bus nach Eilat ans Rote Meer und verbrachten hier noch wunderschöne Badeferien. Seit meiner Pensionierung spiele ich jeweils vom September bis März zweimal wöchentlich Curling. Dieser Sport bereichert während des Winterhalbjahres meinen Alltag nachhaltig und bereitet mir grosse Genugtuung. Im Moment kann ich in zwei Kirchen meine langjährigen Erfahrungen einbringen. Die eine sucht dringend grössere Gebäude, um ihre Gottesdienste und Veranstaltungen abhalten zu können. Die andere Gemeinde benötigt Räumlichkeiten für die Kinder- und Jugendarbeit. Die Jugendlichen möchten eine Kaffeebar betreiben, um so zu evangelisieren. Ich vertraue Gott, dass er alles in seiner Hand hält und dass sich die richtigen Türen öffnen werden. So glücklich auch noch im Alter! 220 P43076_inh_Buch_Staub.indd 220 06.02.15 13:32 Ich stürze noch einmal von einem Baum Hier wollte ich eigentlich meine Geschichte abschliessen. Doch die nachfolgenden Ereignisse sollen nicht unerwähnt bleiben. Sie runden meine Lebensgeschichte in einzigartiger Weise ab. Am Montag, den 2. September 2013, unmittelbar nach der Jubiläumsfeier der Ostmission, erlitt ich einen schwerwiegenden Unfall. Es geschah beim Apfelpflücken: Vergleichbar wie vor sechzig Jahren, wollte ich eine letzte Frucht pflücken. Diese befand sich am Ast hinter mir. Ich ergriff den Apfel und zugleich machte die Leiter einen kleinen Ruck in den Baum hinein, sodass ich rückwärts hinunterfiel. Nach dem Aufprall auf dem Boden war mir sofort klar, dass etwas gebrochen sein musste. Diesmal hatten mich keine Engel aufgefangen. Wie sich später herausstellen sollte, war jedoch bei Gott alles eingeplant. Ich konnte mich kaum bewegen. Einen Moment blieb ich ruhig liegen. So schrie ich um Hilfe. Nach einiger Zeit kam eine Frau auf mich zu, etwas später auch meine Gattin. Per Natel wurde der Unfalldienst benachrichtigt. Mit der Ambulanz transportierte man mich ins CHUV (Universitätsspital) nach Lausanne. Hier wurde ein doppelter Beckenbruch diagnostiziert. Nun war die Situation eingetreten, auf die hin mich unsere Kinder bereits vor zwei Jahren angesprochen hatten: « Papa, du solltest dir Gedanken darüber machen, wie schwierig es für unsere Mutter wäre, wenn dir etwas zustossen würde. Wie sollte sie mit dem grossen Haus, jetzt wo ihr Gesundheitszustand zu wünschen übrig lässt, zurechtkommen. Denke rechtzeitig darüber nach, eine Lösung zu finden, indem ihr euch entscheidet in eine Wohnung mit «betreutem Wohnen» umzuziehen.» Damals konnte ich mich mit diesem Vorschlag nicht anfreunden. Allein der Gedanke, unseren Wohnsitz, mit der herrlichen Aussicht auf den Genfersee, die Alpen und den Jura zu verlassen befremdete mich. Jetzt musste ich an die biblische Belehrung denken, dass es auf dieser Erde keine Stadt gibt, wo wir für immer zu Hause sein können. Deshalb sollen wir uns auf die Stadt ausrichten, die im Himmel für uns erbaut ist. (Siehe Hebr. 13,14) 221 P43076_inh_Buch_Staub.indd 221 06.02.15 13:32 Nun hatte ich Gelegenheit mir diesbezüglich Gedanken zu machen. Bald einmal wurde mir klar: Nun ist dieser Zeitpult da, wo wir uns für das «betreute Wohnen» entscheiden müssen. Nach Absprache im Familienkreis kontaktieren unsere Kinder verschiedene diesbezügliche Institutionen. Am zweiten Tag meines Spitalaufenthaltes wurde festgestellt, dass ich sehr viel Blut verloren habe, und ich bekam innert 15 Stunden drei Liter Blut verabreicht. In der Folge verursachten mir die Blutergüsse starke Schmerzen. Mit Morphium versuchte man diese zu lindern. Telefonisch informierte ich verwandte und befreundete Personen über meine Lage und erbat ihre Gebetsunterstützung. Die Gebetskette unserer Kirche wurde ebenfalls aktiv. In den kommenden Wochen rief mich mein Freund und Glaubensbruder Fredy Staub fast täglich an, um mich zu unterstützen und zu ermutigen. Diese Anteilnahme bedeutete mir viel und war eine wertvolle Hilfe! 222 P43076_inh_Buch_Staub.indd 222 06.02.15 13:32 Unvermittelt steht Krebsverdacht im Raum Ganz unerwartet wurde bei der ersten Blutanalyse festgestellt, dass im Bereich meiner Bauchspeicheldrüse und der Leber ein Problem vorhanden sein musste. Eine Untersuchung jagte die nächste. Das Ultraschallgerät liess erkennen, dass die Flüssigkeit der beiden Organe zurückgestaut wurde. Weder der Scanner, das MRI noch das Ergebnis der Minikameras ergaben einen schlüssigen Befund und erlaubten eine eindeutige Diagnose. Meiner lieben Jeanne-Marie, welche schon einige Zeit unter ausgeprägter Vergesslichkeit litt, konnte abwechslungsweise bei unseren Kindern unterkommen. Täglich brachte eines der Kinder meine Gattin ins CHUV. Uns beiden machte diese unerwartete Situation schwer zu schaffen. Ich wurde überaus feinnervig und verletzlich. Nachdem ich mit Krückstöcken einigermassen laufen konnte, wollte ich nach Hause. Diesem Wunsch wurde entsprochen, obschon ich eine Woche später zu einer weiteren Untersuchung ins CHUV zurück musste. Per Biopsie wollte man dem verborgenen Problem auf die Spur kommen. Diese Untersuchung war ambulant und fand am 2. Dezember statt. In der darauffolgenden Nacht stellten sich starke Schmerzen ein, und ich musste wieder notfallmässig ins CHUV eingeliefert werden, wo eine Bankeratitis festgestellt wurde, (als Folge der Biopsie hatte sich die Bauchspeicheldrüse entzündet). Die Schmerzen steigerten sich ins Unerträgliche, und ich litt auch psychisch. Doch viele liebe Menschen beteten für mich. Ich war kaum mehr in der Lage richtig zu beten, deshalb waren für mich die Gebete der Mitchristen besonders wertvoll! Ich pflegte die Gewohnheit in schlaflosen Stunden im Stillen geistliche Lieder zu singen. Das tat ich auch jetzt. Zum Beispiel: Sollt ich meinem Gott nicht singen? Sollt ich ihm nicht dankbar sein? Denn ich seh in allen Dingen, wie so gut er’s mit mir meint. 223 P43076_inh_Buch_Staub.indd 223 06.02.15 13:32 Ist doch nichts als lauter Lieben, das sein treues Herz bewegt, das ohne Ende hebt und trägt, die in seinem Dienst sich üben. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit. Weil denn weder Ziel noch Ende Sich in Gottes Liebe findt, ei so heb ich meine Hände zu dir, Vater, als dein Kind; bitte wollst mir Gnade geben, dich aus aller meiner Macht zu umfangen Tag und Nacht hier in meinem ganzen Leben, bis ich dich nach dieser Zeit lob und lieb in Ewigkeit (Erste und letzte Strophe vom Lied 724 KGB) Dies zu praktizieren tut so gut und ist heilsam! Leider hat mir im Spital niemand erklärt, dass eine Bankeratitis solch heftige Schmerzen verursacht. Erst meine Schwiegertochter sagte mir dann, dass sie im Internet bestätigt fand, dass diese Körperqualen mit denjenigen einer Geburt vergleichbar seien. Ich erwiderte darauf: «Aber eine Geburt dauert nicht so lang und man hat als Ergebnis ein Kindlein.» Nach einer Woche resultierte endlich das Ergebnis der Biopsien. Alle Befunde waren negativ. Der zuständige Arzt erklärte: «Nach meiner Erkenntnis muss ein Tumor vorhanden sein. Da dieser noch klein ist, haben wir ihn nicht orten können. Das heisst, wir sind mit der Biopsie nicht auf ihn gestossen. Nachdem ihre Pankreatitis ausgeheilt ist, was ungefähr nach einem Monat der Fall sein wird, machen wir mit einem Ultraschallgerät eine Spezialuntersuchung. Da wir im Innern der Organe mit der Minikamera nicht fündig geworden sind, wollen wir versuchen, mit diesem Gerät den Tumor an der Aussenseite der Organe zu entdecken.» 224 P43076_inh_Buch_Staub.indd 224 06.02.15 13:32 Nach zehn Tagen konnte ich das Spital verlassen, litt aber immer noch unter sehr starken Schmerzen und musste auch zu Hause Morphiumtabletten einnehmen. Am 10. Dezember sollte dann die Ultraschalluntersuchung gemacht und am 17. Dezember ein Gespräch mit dem zuständigen Chirurg stattfinden. Glücklicherweise hatten unsere Kinder vereinbart, dass mich eines von ihnen zu dieser wichtigen Konsultation begleiten soll. So war Philipp am 17. Dezember dann mit von der Partie. Bezug nehmend auf die Ultraschalluntersuchung erklärte der Chirurg, dass sich auf dem Kopf meiner Bauchspeicheldrüse ein Tumor befände. «Dieser muss so bald wie möglich entfernt werden: Das erfordert eine grosse Operation», sagte er. Anhand einer Grafik zeigte er, was dies bedeutete: «Wir müssen den Tumor mit 2/3 der Bauchspeicheldrüse, die Gallenblase, je 1/3 der Leber und des Magens sowie einen Teil des Dünndarmes entfernen. Sodann wird mit einem Stück Darm die Verbindung zur Leber und der Bauchspeicheldrüse wieder hergestellt und der Magen mit dem Dünndarm verbunden. Diese Intervention dauert 6 bis 8 Stunden. Spitalaufenthalt , wenn alles normal verläuft, 10 bis 14 Tage. Die Operation ist für den kommenden 8. Januar 2014 vorgesehen. Bereits am Vortag müssen sie sich ins CHUV begeben. Vorgängig findet am 19. Dezember um 10.45 Uhr eine vorbereitende Besprechung statt.» Vorerst sprachlos, wollte ich dann wissen, warum eine solch gravierende Operation notwendig sei und es keine Alternative gäbe. Ich machte geltend, dass es nicht erwiesen sei, dass ich Krebs habe. «In ihrem Alter ist das jedoch meistens der Fall. Deshalb ist dieser Eingriff die logische Konsequenz, damit Sie noch einige Jahre möglichst unbeschwert weiterleben können.» Der Chirurg erkannte, dass meine Skepsis nicht vom Tisch war und sagte dann: «Gut, ich werde das Ganze noch einmal mit Spezialisten besprechen und auch das MRI noch einmal durchgehen. Ich gebe Ihnen heute Abend definitiven Bescheid.» Ich war am Boden zerstört. Als nach meinem Unfall bei der Routineanalyse das Problem aufgetaucht war, sagte ich mir: «Ich kann nur dankbar sein, dass sich dieser Unfall ereignet hat! Dass etwas mit der Bauchspeicheldrüse nicht in Ordnung ist, konnte nur deshalb erkannt werden. Eine diesbezügliche Früherkennung ist das Beste was mir widerfahren konnte!» Letztlich sollte dies nun keinen Vorteil bringen! 225 P43076_inh_Buch_Staub.indd 225 06.02.15 13:32 Zu Hause angekommen informierte ich per E-Mail Verwandte, Bekannte und Freunde über diese Situation und erbat ihre Gebetsunterstützung. Natürlich besprach ich diese komplexe Situation ebenfalls mit meinen Angehörigen und meinem Freund, Fredy Staub. Dieser war bestürzt und sagte: «Da kann nur das Gebet weiterhelfen!» Ich besprach mich auch mit meinen Hausarzt. Dieser war über die Vorgehensweise des CHUV sehr erstaunt. Bereits hatten mir mehrere Personen nahegelegt eine zweite Meinung einzuholen. Mein Arzt war sofort damit einverstanden und gab mir sogleich eine Adresse. Er meinte auch: «Auf jeden Fall wird bei einer Operation eine Gewebeentnahme gemacht und unmittelbar analisiert um festzustellen ob der Tumor krebsartig ist.» Am Abend erklärte mir der Chirurg vom CHUV am Telefon, dass die vorgeschlagene Operation unumgänglich sei. Bezug nehmend auf die Äusserung meines Hausarztes, wollte ich wissen, ob bei einem solchen Eingriff zuallererst eine Gewebeanalyse vorgenommen werde? «Nein, das wäre viel zu riskant! Den Tumor dürfen wir auf keinen Fall antasten!» – «Aber mein Hausarzt hat gesagt das würde so gemacht», erwiderte ich. «Ihr Hausarzt ist Allgemeinpraktiker, ich bin Chirurg!» entgegnete dieser und verabschiedet sich mit dem Hinweis: «Wir sehen uns also am kommenden Donnerstag!» Da konnte wirklich nur noch das Gebet weiter helfen, wie Fredy Staub gesagt hatte. So begab ich mich am 19. Dezember mit gemischten Gefühlen ins Kantonsspital. Nebst dem Chirurgen, Dr. Halkic, war auch sein Assistent, Dr. Melloul anwesend. Zuerst erläuterte Dr. Halkic im Detail, was diese Intervention bedeutet und welche Risiken sie beinhaltet. Dann ergriff Dr. Melloul das Wort und sagte: «Diese Operation ist vergleichbar mit dem Mount Everest…» – Was sollte das heissen? Dass sie gigantisch, furchterregend sei!? Natürlich hat mich dieser Vergleich zusätzlich verunsichert und beunruhigt. So entgegnete ich: «Und sie wollen diese grosse Operation unbedingt durchführen, obwohl nicht wirklich feststeht, dass dieser Tumor krebsartig ist?» – «Also gut», erwiderte der Arzt, dann machen wir noch einen letzten, zusätzlichen Test. Dabei wird ihnen Nuklearsubstanz in die Blutbahn verabreicht. Das ermöglicht in der Folge festzustellen ob der Tumor krebsartig ist oder nicht. Da die Zeit drängt, werden wir versuchen noch vor Weihnachten einen diesbezüglichen Termin zu vereinbaren.» Ich war erleichtert und überaus dankbar! 226 P43076_inh_Buch_Staub.indd 226 06.02.15 13:32 Dann bekam ich zwei Termine: Am 23. Dezember sollte der Test stattfinden und am 24. dann eine beratende Besprechung. Das von unserer neuen Kirchgemeinde angebotene Fürbittegebet nahm ich am Sonntag, den 15. Dezember nun dankend in Anspruch. Es wurde unter Handauflegung und einer Ölsalbung mit mir gebetet und eine Woche später für die beiden anstehenden Konsultationen Gottes gnädiges Wirken erfleht. Am Samstag, den 21. Dezember feierten wir im Familienkreis mit unseren Kindern, Schwieger- und Grosskindern die Weihnachtsfeier. Zusammen mit den Ehepartnern und Freunden der Grosskinder waren wir 27 Personen. Familienzusammenkünfte sind immer Höhepunkte für uns! Wir freuten uns über das Zusammensein und feierten die Geburt unseres Erlösers und Heilandes mit dankbarem Herzen. Das Gedenken an die prophetischen Zusagen, dass Jesus unsere Krankheiten mit ans Kreuz genommen hat und wir durch seine Wunden Heilung erfahren dürfen, war besonders Mut machend. Als ich am 23. Dezember im CHUV ankam, verspürte ich ein wenig Weihnachtsstimmung. Man empfing mich sehr freundlich, ja geradezu liebevoll. Liebenswürdig wies man mich an: «sie können sich hier umziehen und dieses Hemd anlegen. Die Socken und Schuhe können sie für den Test anbehalten. Vorgängig kommt ein Arzt und erklärt ihnen die Behandlung.» Nach einiger Zeit erschien ein relativ junger Arzt und erläuterte mir das Verfahren. Mit den Worten: «Ich sehe sie nach dem Test noch einmal», begleitete er mich in den Untersuchungsraum. Nach der Injektion der Nuklearsubstanz musste ich eine Stunde warten: Dann wurde die komplizierte Maschine aktiviert. Immer wieder wurde sie über den Bauchraum gefahren. . Als alles vorüber war, sagte man mir: «Sie können sich jetzt in dem Raum, wo sich ihre Kleider befindet wieder anziehen und dort auf den Arzt warten.» Dieser kam dann und erklärte freudig: « Nach meiner Erkenntnis ist der Tumor nicht krebsartig. Weiteres erfahren Sie Morgen bei der vorgesehenen Konsultation.» Mit den Worten: «Ich wünsche ihnen eine frohe Weihnachten!» verabschiedete er sich. 227 P43076_inh_Buch_Staub.indd 227 06.02.15 13:32 Dankerfüllt trat ich den Heimweg an, wo ich sogleich alle Mitbeter benachrichtigte. Den diesbezüglichen E-Mail betitelte ich mit dem Slogan: «Das schönste Weihnachtsgeschenk meines Lebens!» Am 24. Dezember erschien dann Dr. Halkic zur Konsultation: Er kam direkt zur Sache und sagte: «Bei der gestrigen Untersuchung wurde kein Krebs diagnostiziert. Deshalb wird die Operation vorläufig nicht stattfinden. Auch die Konsultation mit dem Anästhesisten am 27. Dezember ist annulliert. Am 6. Februar machen wir dann ein MRI um festzustellen, wie sich der Tumor verhält. Am 11. Februar findet dann eine diesbezügliche Konsultation statt. Unsere Administration wird Ihnen diese Termine schriftlich bestätigen.» Ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, verabschiedete sich der Arzt, und ich trat frohgemut, mit dankerfülltem Herzen den Heimweg an. Zusammen mit Jeanne-Marie und unseren Kindern dankten wir unserm himmlischen Vater und priesen den Namen Jesu, unseres göttlichen Arztes! Dieses ganze Erleben liess unsere Ehe neu erblühen. Wir waren unendlich dankbar einander zu haben. Fast täglich bezeugte meine liebe JeanneMarie, wie unendlich dankbar sie sei, dass ich jetzt zu Hause sein darf statt im Spital. Immer wieder hatte ich Gelegenheit, Mitmenschen über mein Erleben Zeugnis abzulegen. Gewohnheitsmässig und dankerfüllt verbrachten wir die Jahreswende in meinem ehemaligen Elternhaus in Cuarnens mit der Familie meines Bruders. Am Sonntag, den 5. Januar konnte ich im Gottesdienst der Stadtmission, zur Ehre Gottes, kurz über meine Erlebnisse berichten. Bereits am Sonntag den 29. Dezember durfte ich in unserer Kirchgemeinde in Le Mont ein diesbezügliches Zeugnis geben. Ich fühlte mich auch wieder fit genug um das Curlingspiel aufzunehmen. Diese mir liebgewordene Abwechslung hatte ich vermisst. Die Freudenbezeugungen meiner Kollegen über mein Erscheinen waren ergreifend. Am 21. Januar war ein Termin bei meinem Hausarzt angesagt. Er hatte von Dr. Halkic einen ausführlichen Rapport erhalten, den er mir vorlas. Wesentliches wusste ich bereits. Mein Arzt hob dann vor allem die Wichtigkeit der MRI Untersuchung vom 8. Februar hervor: «Es ist so: Wenn das MRI zeigt, 228 P43076_inh_Buch_Staub.indd 228 06.02.15 13:32 dass sich der Tumor verändert oder vergrössert hat, ist diese grosse Operation unumgänglich. Es gibt leider dazu keine Alternative, und ich muss zugestehen, dass in ihrem Alter dies bedauerlicherweise so abläuft.» Somit war dieses angsteinflössende Szenario vom «Mt. Everest» wieder auf dem Tisch! Zu Hause angekommen informierte ich sogleich alle Mitbeter. Nach der Schilderung der neusten Situation schrieb ich abschliessend: «Nach der MRI-Untersuchung vom 6. Februar wird am 11. Februar in der vorgesehenen Konsultation verhandelt und entschieden, ob die grosse Operation doch gemacht werden muss. Ich bin guter Zuversicht, dass Jesus mich heilt und dieser Eingriff, welcher mit vielen Risiken verbunden ist, nicht gemacht werden muss. Habt ganz herzlichen Dank, dass ihr mit uns vor dem Thron Gottes dafür einsteht, dass ich übernatürlich geheilt werde. Mit ganz herzlichen Grüssen und Segenwünschen, Ruedi Staub.» Die Rückmeldungen auf diesen Appell waren sehr ermutigend. Wie trostund wertvoll es doch ist, wenn Glaubensgeschwister hinter uns stehen! Nebst der «Gebetskette» in der Kirchgemeinde, beteten vor allem meine Angehörigen, Verwandten und Bekannten, mit und für uns. Am 6. Februar wurde das MRI gemacht. Eine gute Stunde lang fuhr diese lärmerzeugende Maschine immer und immer wieder über meinen Bauch. Da kein Arzt anwesend war, erhielt ich keine Informationen. Man sagte mir: «Unser Chirurg, welcher die Untersuchung veranlasst hat, wird sie am Donnerstag, den 11. Februar über die Ergebnisse informieren. Also wieder warten, aber «nicht Tee trinken», sondern vertrauen und weiter beten! Bereits in den vergangnen Tagen hatte mich die Begriffsbestimmung des Glaubens aus Hebräer 11 Vers 1 begleitet: «Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht.» Bezüglich des Nichtzweifelns wurde ich zusehends angefochten. Ich machte die Erfahrung, dass es einfacher ist, die Glaubenszuversicht zu bewahren, als sich gegen das «Nichtzweifeln» zu erwehren. Wie bereits erwähnt, sang ich in schlaflosen Nachtstunden im Geist immer wieder Glaubenslieder, rezitierte Bibelworte und betete. Vielmals auch das «Unser Vatergebet». 229 P43076_inh_Buch_Staub.indd 229 06.02.15 13:32 Dann war endlich der 11. Februar 2014 da. Jeanne-Marie kam mit ins CHUV zu dieser wichtigen Konsultation. Sie konnte unmöglich zu Hause bleiben und den Bescheid abwarten. Bei der Anmeldung im Spital begab sich die erste, kleine Überraschung: Nicht einer der involvierten Chirurgen würde mich über die Resultate informieren, sondern ein Dr. Petermann. Ich sagte zu meiner Frau: «Das ist schon ein günstiges Zeichen.» – «Warum sagst du das»? wollte sie wissen. «Bei einem negativen Bescheid wäre bestimmt einer der Chirurgen persönlich gekommen», antwortete ich. Nach der Begrüssung begeleitet uns Dr. Petermann in sein Sprechzimmer und setzte sich vor den Bildschirm. « Da ich nicht direkt mit ihrem Fall zu tun hatte, muss ich mich noch ein wenig zurechtfinden.» Dann brachte man ihm ein A4 Blatt, welches er nun studierte. Zögerlich fing er an zu erklären: «Irgendwie scheint bei ihnen alles in Ordnung zu sein. Auf jeden Fall ist nichts Bösartiges mehr zu erkennen. Freilich müssen das die Sachverständigen noch ansehen und begutachten. Morgen haben wir ein Kolloquium, da wird ihr Fall eingehend besprochen. Sie erhalten dann anschliessend Bericht. Ganz bestimmt dürfen sie erleichtert sein. Wir werden ihnen für eine Analyse jetzt noch Blut entnehmen und später ein weiteres MRI oder einen Test mit der Minikamera und dem Ultraschallgerät machen.» Dankbar und voll freudiger Zuversicht erklärte ich: «Sehen sie, Herr Doktor, was der berühmte Chirurg Ambroise vor 500 Jahren bezeugt hat: Ich habe verbunden, Gott heilt! Bewahrheitet sich heute noch!» Nach einer kurzen Zeit des Wartens kam eine Krankenschwester und holte mich zur Blutentnahme. Kaum waren wir im Labor, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln: «Sie haben ja wirklich gute Nachrichten erhalten!» – «Und wie»! erwiderte ich. «Sogar überwältigend guten Bescheid!» – «Also dann erzählen sie uns, was geschehen ist? Den ganzen Tag wurden wir mit lauter schlechten Nachrichten konfrontiert. Nur zu gerne hören wir einmal Erfreuliches!» So hatte ich, ohne mein Dazutun, Gelegenheit, den beiden anwesenden Damen meine Erlebnisse zu schildern. Mit dem Hinweis auf das Zitat vom Chirurg Ambrosie, sagte ich abschliessend: «Sehen sie, das passiert tatsächlich, ich habe es soeben bestätigt bekommen, Gott hat mich geheilt!» Sichtlich bewegt stimmten die Damen mir freudig zu. Begreiflicherweise war Jeanne-Marie überglücklich und endlich beruhigt in Bezug auf die Situation ihres Mannes. Freudentränen perlten aus ihren 230 P43076_inh_Buch_Staub.indd 230 06.02.15 13:32 strahlenden Augen. Dankerfüllt begaben wir uns nach Hause, wo ich sofort unsere Kinder und alle Mitbeter benachrichtigte. Umgehend antworteten meine drei Kinder voller Jubel und Dankbarkeit. Hier die Rückäusserung von Susanne: «Oh danke Herr für dieses erfreuliche Wunder. Ich bin so dankbar für Euch zwei! Gestern, während meiner stillen Zeit erfüllte im Blick auf Papa ein tiefer Friede mein Herz. Die Bestätigung der Heilung ermutigt mich. Herzliche Grüsse Suzanne». Die folgende Antwort kommentiert viele weitere treffend: Lieber Ruedi, das ist ja ganz wunderbar!! Wir freuen uns von Herzen für und mit euch und loben und danken Gott. Das ist ein grosses Wunder von Gott, und wir sind so dankbar, dass dir die riesige Operation erspart bleibt! Alles Liebe für euch beide und herzliche Grüsse, Esther und Familie. Dann erhielt ich noch folgende telefonische Nachricht von Dr. Petermann: Ihr Fall wurde im Kolloquium besprochen und analisiert. Das MRI zeitigt nach unserer jetzigen Erkenntnis nichts Verdächtiges. Das heisst, dass vom Tumor nichts zu erkennen ist. Wir werden jedoch im März eine weitere Untersuchung mit Minikamera und Ultraschallgerät veranlassen. Sie erhalten eine diesbezügliche, schriftliche Order. Diese traf etwas später ein. Am 25. März soll die Endoskopie-Untersuchung stattfinden und am 1. April dann ein Gespräch mit den Spezialisten folgen. Dank Vermittlung meines Hausarztes erhielt ich eine Kopie des Rapportes vom CHUV betreffs der letzten Untersuchungsergebnisse. Erstaunlicherweise war jetzt die Rede von einer Läsion, das heisst: einer Beschädigung. Weiter hiess es wörtlich: «Am 06.02.2014 profitierte Herr Staub von einem neuerlichen MRI. Dieses zeigte, dass die Gefässerweiterungen «intraund extra-hépatiques» verschwunden sind und keine Anomalie weder am Wirsung-Kanal noch am Kopf der Bauchspeicheldrüse zu erkennen sind... Tatsächlich stimmt das MRI beruhigend. Aber die Läsion (wieder diese Formulierung) wurde durch die Ultraschall-Endoskopie besser erkannt. Die Durchführung der PET-CT liess erkennen, dass der Tumor verschwunden ist. Nach eingehender Diskussion haben wir uns entschieden am 25. 3. 2014 eine Endoskopie inklusive Ultraschall zu machen. Nachfolgend haben wir am 1. 4. 2014 eine Konsultation mit Herrn Staub.» In den letzten Tagen hatte ich wieder Tag und Nacht Bauchschmerzen. Dieser Umstand wollte mich beängstigen. Sollte der Tumor diese Schmerzen 231 P43076_inh_Buch_Staub.indd 231 06.02.15 13:32 verursachen? Also weg mit allen Befürchtungen. Wenn Jesus heilt, macht er ganze Sache. Daran hielt ich mich fest. Ruedi und Jean-Marie im Amphitheater in Rom 232 P43076_inh_Buch_Staub.indd 232 06.02.15 13:32 Mein 80. Geburtstag Moses, der Mann Gottes, bezeugt im 90. Psalm: «Unser Leben dauert siebzig, vielleicht sogar achtzig Jahre … Wie schnell eilen die Jahre vorüber! Wie rasch fliegen sie davon»! Moses wurde sogar 120 Jahr alt. So alt werde ich bestimmt nicht. Wenn mir jedoch, nach allem, was ich in den letzten Monaten erlebt habe, noch einige zusätzlichen Jahre geschenkt werden, möchte ich diese zu seiner Ehre nutzen. Zum Beispiel für unsere Kinder und Grosskinder sowie Mitmenschen segenbringend aktiv sein. Bezeugen, dass die Lebenszeit so schön und bereichernd ist, wenn Jesus im Zentrum steht. Zudem möchte ich mich der Zweisamkeit mit meiner lieben Jeanne-Marie weiterhin erfreuen und zusammen mit ihr noch eine erfüllende Zeit verbringen. Das Mädchen, welches ich vor 55 Jahren geheiratet habe, liebe ich immer noch von ganzem Herzen. Das habe ich Jeanne-Marie heute Morgen nach dem Erwachen auch gesagt. Welch ein Geschenk, zusammen mit ihr den wunderschönen Frühling des Jahres 2014, die Schöpfung Gottes, zu geniessen. Uns gemeinsam zu freuen, dass die Sonne jeden Tag aufgeht. Gott schenke, dass uns je länger je mehr klein das Kleine und das Grosse gross erscheinen! Zum Beispiel, dass auf Karfreitag der Ostersonntag folgt. Ins Auge fassen, dass unser ganz grosses Ostern näher gerückt ist. Uns ganz bewusst auf den Himmel ausrichten. Wie die Bibel es ausdrückt: «Sehnsüchtig auf die Stadt warten, die im Himmel für uns erbaut ist.» (Hebräer 13,14) In diesem Sinn möchte ich den 80. Geburtstag feiern. Der Lehrtext aus den Losungen ist selbstredend: «Jesus sprach zu dem Blinden: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott», Lukas 18,42f. Und die Losung bekräftigt: «Die dein Heil lieben, lass allewege sagen: Hoch gelobt sei Gott!» Psalm 70,5. Bereits heute habe ich «Geburtstagspost» erhalten. Eine Cousine schrieb mir, indem sie Bezug nahm auf diese Texte: «Mit deiner Geburtstagslosung grüsse ich dich ganz besonders, da sie zu dir passt.» So bete ich: «Gott schenke mir in deiner Güte und Gnade, dass dem so sein darf»! 233 P43076_inh_Buch_Staub.indd 233 06.02.15 13:32 Der gestrige 80. Geburtstag bereitete mir grosse Freude und Genugtuung. Ich erhielt viel Korrespondenz, elektronische und schriftliche, sowie Telefonate. Meine Schwester Rosalie schrieb unter anderem: «In unserem Alter zerbrechen immer mehr bisherige Möglichkeiten, aber in stillen Wassern lässt es sich auch leben. Es wird eben ruhiger, tiefgründiger und wohl auch friedlicher, besonders im Blick auf die näher kommende Ewigkeit und Herrlichkeit! Die gesundheitlichen Schwierigkeiten nehmen freilich zu, aber Jesus ist ja bei uns.» Der Tag selber war ausgefüllt: Vormittags beim Curling lief es zuerst schlecht. Nach zwei Ends führte die gegnerische Partei mit 7 zu 0. Danach konnten wir aufholen, sodass die Partie mit einem 8 zu 8 unentschieden endete. Das Curlingspiel bereitet mir viel Freude und grosse Befriedigung! Nachmittags genossen wir als Ehepaar die Zweisamkeit und machten auf den Jurahöhen einen ausgiebigen Spaziergang im Schnee. Zuletzt beschlossen wir den Tag zusammen mit unseren Kindern bei einem auserlesenen Nachtessen in einem idyllischen Restaurant. Je länger je mehr geniessen wir das Zusammensein und die Gemeinschaft mit unseren Lieben! Die eigentliche grosse Feier mit Angehörigen, Verwandten und Bekannten findet, so Gott will, am Sonntag, den 4. Mai, im Gemeindesaal hier in Jouxtens statt. Mein Freund, Fredy Staub, wird die Andacht, welche simultan ins französische übersetzt wird, halten. Wir erwarten ungefähr 45 Personen. Zwei Berufsmusiker werden uns mit ihren Darbietungen entzücken. Auf der Einladung habe ich den vierten Vers aus Jesaja 46 vorangestellt: «Ich will euch tragen bis ins Alter und bis ihr grau werdet. Ich der Herr, habe es bisher getan, und ich werde euch auch in Zukunft tragen und retten.» Diesen Ausweis der Fürsorge und Gnade Gottes durfte ich in all den Jahren in reichem Mass erfahren. Gott hat es bisher getan, und wie! Er wird es auch in Zukunft tun. Seine Verheissung gilt! Gestern wurde im CHUV die «Endoskopie haute» inklusive Ultraschalluntersuchung durchgeführt. Als diese beendet war, sagte man mir, dass der Arzt mich noch sprechen möchte. Das war ein positives Zeichen, hatte ich doch bereits zur Genüge folgende Erfahrung gemacht: War der Bericht eher negativ, hiess es jeweils: «Ihr Hausarzt bekommt von uns die Resultate und wird sie informieren». Waren die Befunde positiv, teilte man diese bereitwillig direkt mit. Und genau das bestätigte sich einmal mehr. Als der für die 234 P43076_inh_Buch_Staub.indd 234 06.02.15 13:32 Untersuchung zuständige Spezialarzt kam, erklärte er, dass sich alles zum Besten gewendet hatte: «Die Entzündung ist zurückgegangen; vom Tumor ist nichts mehr zu erkennen». Welch ein Geschenk der Gnade und Liebe Gottes, meines himmlischen Vaters! Zusammen mit Jeanne-Marie können wir nur jubeln und Jesus lobpreisen, der noch heute Wunder vollbringt! Am kommenden 1. April fand noch die Konsultation mit Dr. Petermann im CHUV statt. Dieser durfte ich gelassen entgegensehen. Heute fand diese Konsultation statt. Erstaunlicherweise erschien der Chirurg, Dr. Melloul, persönlich. Offensichtlich war er beeindruckt und erfreut, mir die positiven Ergebnisse der Endoskopie zu bestätigen. Meinerseits nutzte ich die Gelegenheit, dem Arzt dafür zu danken, dass er am 17. Dezember auf meine Vorbehalte eingegangen war. Dank der von ihm angeordneten, zusätzlichen Untersuchung, wurde die grosse Operation nicht wie vorgesehen am 8. Januar ausgeführt. Erstaunlicherweise räumte er dann ein: «Es kommt hie und da vor, dass nach einem solchen Eingriff festgestellt wird, dass keine Krebszellen vorhanden sind.» Dann entschied er, dass in zwei Monaten eine weitere Kontrolluntersuchung stattfinden soll. Beglückt und dankerfüllt begab ich mich nach Hause, um sogleich den Mitbetern die guten Nachrichten zu übermitteln. Bereits durfte ich in verschiedenen Kirchen, bis in den Kanton Graubünden, von meinem Erleben mit Gott und vor allem der wundervollen Heilung Zeugnis geben. Sogar zweimal auch in unserer Kirchgemeinde in Le Mont. Es ist wunderbar zu erleben, wie Gott beruft und gnadenreich segnet! Ich möchte vor allem meinem Herrn und Erlöser, Jesus Christus, alle Ehre geben. Hat er doch Unvorstellbares auf sich genommen und erniedrigende Folterqualen erduldet und damit unsere Schmerzen mit ans Kreuz genommen, so dass wir durch seine Verwundungen Erlösung und Heilung erfahren. So hatte es der Prophet Jesaja mehr als 600 Jahre zuvor prophezeit: «Es waren unsere Krankheit, die er auf sich nahm; er erlitt die Schmerzen, die wir hätten ertragen müssen… Doch er wurde blutig geschlagen, weil wir Gott die Treue gebrochen hatten; wegen unserer Sünden wurde er durchbohrt. Er wurde für uns bestraft – und wir? Wir haben nun Frieden mit Gott! Durch seine Wunden sind wir geheilt», (Jesaja 53,4+5b). 235 P43076_inh_Buch_Staub.indd 235 06.02.15 13:32 Auf die Frage, warum bei uns in der westlichen Welt relativ wenig aussergewöhnliche Wunder geschehen, habe ich die Antwort nicht. Ich möchte jedoch anführen, dass dank der Medizin Gott noch und noch Wunder wirkt. Es tut mir jedoch sehr leid um die Vielen, welche enttäuscht sind, weil ihre Gebete nicht, oder nicht so erhört wurden, wie sie erhofft haben. Nichts desto weniger möchte ich allen Lesern Mut machen, es dem Fallbeispiel, wie Jesus es in Lukas 18 schildert, nachzutun: Ja nicht ablassen und aufgeben! Vielmehr wie die Witwe: Bitten, rufen, flehen, bis Gott antwortet. In diesem Sinne beten Jeanne-Marie und ich täglich, morgens und abends, namentlich für mehrere Personen. Mit einigen von ihnen pflegen wir auch regen Kontakt. Natürlich anerkennen wir die Souveränität Gottes. Er kann auch anders antworten als wir hoffen und erwarten. Sein Wille soll geschehen: Wie im Himmel so auch bei uns auf Erden! Zuletzt möchte ich festhalten, dass es, wie die Bibel ausdrücklich bezeugt: Hier auf dieser Erde keine Stadt gibt, in der wir für immer zu Hause sein können, deshalb sollen wir sehnsüchtig auf die Stadt warten, die im Himmel für uns erbaut ist. (Siehe Hebräer 13,14). Deshalb wollen wir in diesem Sinn die uns verbleibende Zeit nutzen, im Reich Gottes nach unseren Möglichkeiten wirken und uns von ganzem Herzen auf den Himmel freuen! Dort warten unvorstellbare Herrlichkeiten auf alle Erlösten. (Offenb. 21+22). 236 P43076_inh_Buch_Staub.indd 236 06.02.15 13:32 Jeanne-Marie und Ruedi 237 P43076_inh_Buch_Staub.indd 237 06.02.15 13:32 Grossfamilie Staub anlässlich der Weihnachtsfeier 2014 238 P43076_inh_Buch_Staub.indd 238 06.02.15 13:32 239 P43076_inh_Buch_Staub.indd 239 06.02.15 13:32 So viele Menschen sind enttäuscht, entmutigt und wissen nicht mehr weiter. Dafür gibt es eine Lösung: Jesus Christus! Er ruft: «Kommet her zu mir, die ihr unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben.» (Matthäus 11,28) Das hat Saulus von Tarsus hautnah erfahren und später als Apostel Paulus bezeugt: «Nur Jesus kann den Menschen Rettung bringen! Nichts und niemand sonst auf der ganzen Welt rettet sie!» (Apgesch. 4,12) Kommen Sie zu Jesus. Setzen Sie Ihre ganze Hoffnung auf ihn. Er ruft auch Ihnen zu: Komm! Folgen Sie seinem Ruf und Sie werden reich gesegnet werden. Es ist ganz unkomplizert das Geschenk der Erlösung anzunehmen. Vertrauen Sie einfach Ihr Leben Gott an. Er wird Ihnen Frieden und Glückseligkeit schenken! Mehr auf: www.die4punkte.com Die Biographie von Hanspeter Nüesch über Ruth und Billy Graham «Das Vermächtnis eines Ehepaars» kann bei www.bibelpanorama.ch für Fr. 29.90 bestellt werden. 240 P43076_inh_Buch_Staub.indd 240 06.02.15 13:32