Eine _ Leerstelle
Transcription
Eine _ Leerstelle
Tarek Naguib Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine _ Leerstelle Tarek Naguib* Abstract Discrimination is often multidimensional. It is therefore surprising that Swiss legislation, court rulings and literature barely deal with the matter. The author explains this partly in terms of the hierarchising in existing law, strategic and political considerations, and blindspots of those actors who bear responsibility for the mobilisation of law. Moreover, multidimensional discrimination is not explicitly referenced in the legal norms in force. Nevertheless, multidimensional discrimination may partially be subsumed among existing anti-discrimination provisions. It is argued that this discussion is not just theoretical but leads to substantial improvements in antidiscrimination protection. »Bring neglected issues to mind.« (Susanne B. Goldberg) Problemstellung Diskriminierung ist oft mehrdimensional.1 Daher erstaunt es, dass sich die schweizerische Gesetzgebung, Rechtsprechung und rechtswissenschaftli- * 1 Ich bedanke mich herzlich bei meiner Kollegin Dr. Sabine Steiger-Sackmann für ihre bereichernden und zahlreichen kritischen Anmerkungen. Sabine SteigerSackmann ist Expertin in Arbeits-, Sozialversicherungs- und Gleichstellungsrecht sowie stellvertretende Leiterin des Zentrums für Sozialrecht (ZSR) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Im Grundsatz gleicher Meinung: BAER, Susanne / BITTNER, Melanie / GÖTTSCHE, Anna Lena (2010): Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, Expertise im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes; verfügbar unter: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikatio nen/mehrdimensionale_diskriminierung_theorien.pdf?__blob=publicationFile. 1 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle che Literatur kaum mit dem Thema befassen.2 Auch in Rechtsschriften und ausserprozessualen Interventionen wird mehrdimensionale Diskriminierung wenig thematisiert.3 Dies führt zu problematischen Lücken im Diskriminierungsschutz. In den Teilen 1 und 2 des vorliegenden Beitrages wird gezeigt, wie sich die Rechtslage in den einschlägigen Erlassen4 und in der Rechtsprechung abbildet. Teil 3 skizziert die rechtspraktische Relevanz von »Mehrdimensionalität«. Teil 4 formuliert Vorschläge zu Anwendung und Anpassung des Schweizer Rechts. 1. Verbote mehrdimensionaler Diskriminierung Das schweizerische Antidiskriminierungsrecht ist hierarchisch strukturiert.5 Es besteht aus den völker- und verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverboten, den strafrechtlichen Verboten der Rassendiskriminierung, dem Gleichstellungsgesetz und dem Behindertengleichstellungsgesetz. Keiner dieser Erlasse beinhaltet ein ausdrückliches Verbot von mehrdimensionaler Diskriminierung. Hingegen weisen sie Interpretationsspielräume auf, die für den Schutz vor mehrdimensionaler Diskriminierung ge2 3 4 5 2 Grundsätzlich in NAGUIB, Tarek (2010): Mehrfachdiskriminierung: Analysekategorie im Diskriminierungsschutzrecht, SJZ 106. Gespannt sein darf man auf die Doktorarbeit von Eleonor Kleber, die sich dem Thema der mehrdimensionalen Diskriminierung widmet. EIDGENÖSSISCHE KOMMISSION GEGEN RASSISMUS EKR / HUMANRIGHTS.CH (Hg.) (2008-2011): jährliche Berichte zu »Rassismusvorfälle in der Beratungspraxis«, Bern 2008-2011; DOK / GLEICHSTELLUNGSRAT ÉGALITÉ HANDICAP / FACHSTELLE ÉGALITÉ HANDICAP (Hg.) (2009): Behindertengleichstellungsgesetz. Wirkungsanalyse & Forderungen; BUNDESRAT (1996): Bericht des Bundesrats vom 15. Februar 2006 über die Evaluation der Wirksamkeit des Gleichstellungsgesetzes in Erfüllung der Motion Vreni Hubmann 02.3142, die der Nationalrat am 21. Juni 2002 als Postulat überwiesen hat. Beschränkt auf die vier zentralen Bundeserlasse: Art. 8 Abs. 2, 3 BV (SR 101), Strafnorm zur Rassendiskriminierung (Art. 261bis StGB, SR 311.0), eingefügt durch Art. 1 des Bundesgesetzes vom 18.06.1993, Inkrafttreten am 01.01.1995; Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (GlG, SR 151.1), Inkrafttreten am 01.07.1996; Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG, SR 151.3), Inkrafttreten am 01.01.2004. WALDMANN, Bernhard (2003): Das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV als besonderer Gleichheitssatz, Stämpfli Verlag, Bern, 391ff. Tarek Naguib nutzt werden können. Wie folgende Ausführungen zeigen, kann die Auslegung entweder an eine genannte Diskriminierungsdimension ansetzen (1.1 »Mehrdimensionalität« als »qualifizierte Eindimensionalität«) oder »mehrdimensionale Diskriminierung« als eigenständigen Stigmatisierungsprozess im Rahmen einer offenen Liste von Diskriminierungsverboten bezeichnen (1.2 »Mehrdimensionalität« als implizite »eigenständige Dimension«). 1.1 »Mehrdimensionalität« als »qualifizierte Eindimensionalität« 1.1.1 Qualifizierte Eindimensionalität »Mehrdimensionalität« kann rechtsdogmatisch als qualifizierte »eindimensionale Diskriminierung« bezeichnet werden. »Qualifiziert« markiert mehrdimensionale Diskriminierung als eine Diskriminierung, in welcher eine (oder mehrere) Diskriminierungsdimension(en) auf weitere, klar abgrenzbare Diskriminierungsdimension(en) zusätzlich einwirken und die Diskriminierung in ihrer Wirkung qualitativ verändern. Während die eine(n) als »Hauptdimension(en)« fungiert (bzw. fungieren), agiert (bzw. agieren) die andere(n) assoziiert als »Nebendimension(en)«, welche die Hauptdimension(en) beeinflusst (bzw. beeinflussen). Beispielsweise kann die Aussage »muslimische Schlampe«6 als eine sexistische Diskriminierung (» [...] Schlampe«) mit einer zusätzlichen (qualifizierenden) antimuslimisch-rassistischen Komponente (»muslimische [...] ») dargestellt werden. Oder umgekehrt, sie gilt als eine antimuslimisch-rassistische Diskriminierung mit sexistischer Dimension. Das Beispiel zeigt, dass eine Trennung in explizit im Diskriminierungsverbot genannte Haupt- und nicht genannte Nebendimensionen analytisch problematisch ist. Denn mehrdimensionale Diskriminierung lässt sich in der Regel (auf faktischer und/oder methodologischer Ebene) wohl nicht als ein Prozess fassen, wo sich der Einfluss der verschiedenen Diskriminierungsdimensionen qualitativ und quantitativ klar fassen und voneinander trennen lässt, und schon gar nicht als einen Prozess, bei dem gewisse Dimensionen stärker und andere weniger stark zu gewichten sind. So ist etwa unklar, ob bei der Aussage »muslimische Schlampe« das Geschlecht oder der muslimische Hintergrund Hauptdimension ist. Viel eher manifestiert sich mehrdimensionale Diskriminierung als komplexe interdependen6 Siehe hierzu hinten, Teil 3.2.1 (EKR-Entscheid-Nr. 2010-31). 3 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle te Verwebung verschiedener Machtkategorien. Zudem unterstützt die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebendimensionen die Hierarchisierung im Antidiskriminierungsrecht. Dennoch ergibt die analytische Figur der als »Mehrdimensionalität qualifizierten Eindimensionalität« aus rechtspraktischer Perspektive7 Sinn, so lange Antidiskriminierungsrecht hierarchisch wirkt. Denn nur durch die fingierte Unterscheidung zwischen expliziten »Haupt-« und impliziten Nebendimensionen kann in der Äusserung »muslimische Schlampe« die Dimension »Geschlecht« auf der Grundlage des strafrechtlichen Verbotes der Rassendiskriminierung wirksam mobilisiert werden.8 1.1.2 Beschränkung auf »verstärkende Diskriminierung« »Mehrdimensionalität« als (assoziierte) »qualifizierte Eindimensionalität« beschränkt sich auf den Typus der »verstärkenden Diskriminierung«.9 Nicht davon erfasst ist die »intersektionale Diskriminierung«, weil zwischen Hauptdimension(en) und Benachteiligungseffekt keine eindeutige Kausalität besteht.10 Ebenso wenig lässt sich die »additive Diskriminierung«11 unter die Figur der Mehrdimensionalität als qualifizierte Eindimensionalität subsumieren, da sowohl die Hauptdimension(en) als auch die Nebendimension(en) unabhängig voneinander zu einer Diskriminierung führen, ohne den diskriminierenden Effekt qualitativ oder quantitativ zu verändern.12 Diese augenscheinliche Schwächung des Diskriminierungsschutzes erweist sich um so problematischer, als es vielfach schwierig ist, eindeutig zwischen »verstärkender Diskriminierung« einerseits und 7 8 9 10 11 12 4 Im Sinne einer strategischen Essentialisierung. Ausführlich dazu hinten, Teil 3.2.1. Zum Begriff siehe MAKKONEN, Timo (2002): Multiple, Compound and Intersectional Discrimination: Bringing the Experiences of the Most Marginalized to the Force, Institute For Human Rights Åbo Akademi University, 9ff. Für eine Übersicht der verschiedenen Begrifflichkeiten und ihre Einordnung in die rechtswissenschaftliche Sprache bzw. Konzeption siehe BAER et al. (2010). Sondern einzig das Zusammenwirken der Haupt- und Nebendimension(en) als »unique combination« die benachteiligende Wirkung erzielt. Siehe hierzu CRENSHAW, Kimberlé (1991): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, U. Chi. Legal F. 1989, 139ff. Soweit es sie überhaupt gibt. Zur Unterscheidung zwischen »verstärkender« und »additiver« Mehrdimensionalität NAGUIB (2010), 235f. Ein Beispiel hierfür ist eine doppelte Lohndiskriminierung einer Rollstuhlfahrerin aufgrund des Frau- und des Behindertenseins. Siehe NAGUIB (2010), 235f. Tarek Naguib »intersektionaler Diskriminierung« oder »additiver Diskriminierung« andererseits zu differenzieren. 1.1.3 Abhängigkeit von der Schutzkonzeption Die Qualifizierung einer mehrdimensionalen Diskriminierung als qualifizierte Eindimensionalität hängt von der Schutzkonzeption des Diskriminierungsverbotes ab (symmetrisch, asymmetrisch)13. Ist das Diskriminierungsverbot asymmetrisch strukturiert (denkbar z.B. bei rassistischer Diskriminierung), fallen symmetrische Nebendimensionen (z.B. männliches Geschlecht) als die Diskriminierung mehrdimensional qualifizierende Elemente weg. Unter den genannten Voraussetzungen wäre etwa die Aussage »bockgeiler Neger«14 eine einfache – und eben nicht im Sinne der Mehrdimensionalität qualifizierte – eindimensionale rassistische Diskriminierung. Dies, obwohl »bockgeiler [...]« auf das männliche Geschlecht verweist und zugleich rassistisch hergestellt ist. 1.1.4 Bedeutung für das Schweizer Recht Sämtliche in den vier genannten Erlassen formulierte Diskriminierungsbzw. Benachteiligungsverbote sind für mehrdimensionale Diskriminierungen bzw. Benachteiligungen als zusätzliche Qualifizierung der entsprechend explizit genannten Diskriminierungsverbote zugänglich. Lässt sich eine mehrdimensionale Diskriminierung als »verstärkende Diskriminierung« fassen, deren Hauptbezugspunkt die im entsprechenden Erlass gefasste Dimension ist,15 liegt eine qualifizierte Verletzung der entsprechenden eindimensional formulierten Diskriminierungsverbote vor. Aus der Rechtspraxis gibt es zahlreiche Beispiele solcher verstärkender Diskriminierungen.16 13 14 15 16 Zur Unterscheidung siehe MÜLLER, Jörg Paul / SCHEFER, Markus (2008): Grundrechte in der Schweiz. Im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, Stämpfli Verlag, Bern, 687ff. EKR-Entscheid-Nr. 2006-68. »Frau«, »Mann« im GlG, »Behinderung« im BehiG, »Rasse«, »Ethnie«, »Religion« in Art. 261bis StGB bzw. Art. 171c MStG und betreffend Art. 8 Abs. 2 explizit »Herkunft«, »Rasse«, »Geschlecht«, »Alter«, »Sprache«, »soziale Stellung«, »Lebensform« (gemeint ist sexuelle Orientierung und fahrende Lebensform), »Religion«, »Weltanschauung«, »politische Überzeugung«, »Behinderung«. Dazu und zu den rechtspraktischen Herausforderungen siehe Teil 3. 5 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle 1.2 »Mehrdimensionalität« als implizite »eigenständige Dimension« 1.2.1 Mehrdimensionalität als ungenanntes Stigma im Rahmen einer offenen Liste von Diskriminierungsdimensionen Mehrdimensionalität lässt sich als eine eigenständige qualifizierte Ungleichbehandlung unter die subsidiäre Auffangklausel einer offenen Liste von Diskriminierungsverboten subsumieren. Vorausgesetzt ist, dass sich die Mehrdimensionalität als eine neu auftauchende (bzw. neu erkannte) soziale Ungleichheitsdimension (bzw. Stigma behaftete Kategorie) fassen lässt (asymmetrische Konzeption). Sämtliche Typen der mehrdimensionalen Diskriminierung können davon betroffen sein. Denn es kommt nicht darauf an, ob die in der Mehrdimensionalität verwobenen Dimensionen auch unabhängig voneinander eine Benachteiligung auslösen oder aber einzig die Kombination daraus. 1.2.2 Bedeutung für das Schweizer Recht Von den vier genannten Erlassen weist einzig Art. 8 Abs. 2 BV einen nicht abschliessenden Katalog von Diskriminierungsdimensionen auf.17 Dies öffnet den Blick für neue Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsrealitäten. Davon erfasst sind auch Ungleichheitsverhältnisse mehrdimensionaler Natur, unabhängig davon, ob eine Dimension explizit genannt ist oder nicht. Da Art. 8 Abs. 2 BV einem differenzierten pragmatischen Schutzkonzeptions-Pluralismus folgt, orientiert sich die Qualifizierung einer mehrdimensionalen Diskriminierung an der sozialen Realität. Dies erfordert eine jeweils der konkreten Situation angepasste Interpretation von Art. 8 Abs. 2 BV sowohl vor dem Hintergrund der symmetrischen als auch der asymmetrischen Schutzkonzeption. 17 6 Ebenso: Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101); Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I, SR 0.103.1). Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II, SR 0.103.2). Tarek Naguib 1.3 Zwischenfazit Mehrdimensionale Diskriminierung ist von den vier geprüften Erlassen nicht explizit untersagt. Implizit erfasst ist die »verstärkende Diskriminierung«, vorausgesetzt, sie stellt sich als qualifizierte Form expliziter Diskriminierungsverbote heraus. »Intersektionale Diskriminierung« lässt sich einzig unter die offene Liste von Art. 8 Abs. 2 BV und die einschlägigen menschenrechtlichen Bestimmungen subsumieren. 2. Mehrdimensionale Diskriminierung in der Rechtspraxis 2.1 Übersicht Mehrfachdiskriminierung ist in der schweizerischen Rechtsprechung kein Thema. Von den insgesamt gut 400 Urteilen des Bundesgerichts zu Art. 8 Abs. 2 BV wurde das Vorliegen einer mehrdimensionalen Diskriminierung in keinem einzigen ausdrücklich geprüft.18 Auch eine Sichtung der ca. 400 Gerichtsurteile und 600 Schlichtungsverfahren zum Gleichstellungsgesetz19 und der gut 550 Entscheide zum strafrechtlichen Verbot der Rassendiskriminierung hat keine explizite Auseinandersetzung zum Vorschein gebracht.20 Identisch ist die Situation bei den Entscheiden zum Behindertengleichstellungsgesetz:21 Eine _ Leerstelle.22 18 19 20 21 Prima vista gingen auch die Vorinstanzen nicht darauf ein. Eine Zusammenfassung der Entscheide finden sich in einer Datenbank des Zentrums für Sozialrechte (ZSR) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), verfügbar unter: www.non-discrimination.ch (Zugriff: 14.12.2012). Eine Zusammenfassung der Entscheide finden sich in einer Datenbank der deutschsprachigen Schlichtungsstellen zum Gleichstellungsgesetz, verfügbar unter: www.gleichstellungsgesetz.ch (Zugriff: 14.12.2012), und der französischsprachigen Schlichtungsstellen, verfügbar unter: www.leg.ch (Zugriff: 14.12.2012). Wovon 236 Nichteintretens- bzw. Einstellungsverfügungen und 253 Schuldsprüche betreffen. Eine Zusammenfassung der Entscheide finden sich in der Datenbank der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), verfügbar unter: www.ekr.admin.ch (Zugriff: 14.12.2012). Zu den Entscheiden, die unterschiedlichste Rechtsgebiete im Privatrecht und öffentlichen Recht betreffen, liegt noch keine Übersicht vor. Eine Datenbank zu den Entscheiden ist derzeit in Planung im Rahmen eines Projektes des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (EBGB), der Fachstelle Égalité Handicap und der Universität Basel. 7 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle Diese Leere in der Rechtswirklichkeit spiegelt nicht die Situation im sozialen Alltag der von Diskriminierung Betroffenen wider.23 Offenbar gelingt es dem Recht nicht, »die andere Frage zu stellen«24: Der Rassismus im Sexismus, der Heterosexismus im Ableism, der Ageism im Klassismus etc. werden nicht erkannt oder sie werden erkannt, aber nicht thematisiert. Die Gründe dafür sind weitestgehend ungeklärt. 2.2 Erklärungsansätze für die _ Leerstelle Die Erklärungen für die _ Leerstelle in der schweizerischen Rechtswirklichkeit liegen am Fehlen expliziter Rechtsnormen. Sie sind aber auch im Wirkungsfeld derjenigen Akteur_innen zu suchen, die für die Rechtsprechung zuständig sind.25 Von Bedeutung sind zudem Personen, die in aussergerichtlichen Rechtsverfahren bzw. in alternativen Konfliktlösungsverfahren entscheiden26 oder indirekt Einfluss auf die entsprechenden Verfahren nehmen.27 Für ihr Handeln und Unterlassen spielen sowohl persönliche Entscheidungen als auch institutionalisierte Praxen eine Rolle.28 Das defensive Verhalten der Akteur_innen, mehrdimensionale Diskriminierung in Entscheiden, Rechtsschriften und Beratungskonstellationen aktiv zu thematisieren, kann anhand der Komplexitätskritik und der Gefahr des Untertauchens spezifischer Anliegen erklärt werden. Nach der 22 23 24 25 26 27 28 8 Dies zumindest auf justiziabler Ebene. Hingegen sieht Art. 5 Abs. 1 BehiG vor, dass Bund und Kantone beim Ergreifen von Maßnahmen, um Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen, den besonderen Bedürfnissen behinderter Frauen Rechnung tragen. Siehe vorne, Teil 1, und hinten, Teil 4. MATSUDA, Mari J. (1992): When the First Quail Calls: Multiple Consciousness as Jurisprudential Method, Women’s Rights Law Reporter, Vol, 14, 1189. Richter_innen. Schlichter_innen, Schiedsrichter_innen, Mediator_innen. Wissenschaftlicher Stab, Anwält_innen, Berater_inner, Rechtswissenschaftler_innen, Medienschaffende. Grundsätzlich zur Problematik der Rechtsmobilisierung bei eindimensionaler Betrachtung siehe SOLANKE, Iyola (2009): Putting Race and Gender Together: A New Approach To Intersectionality, in: The Modern Law Review, 723–749. McCALL, Leslie (2005): The Complexity of Intersectionality, Journal of Women in Culture and Society; LIEBSCHER, Doris / NAGUIB, Tarek / PLÜMECKE, Tino / REMUS, Juana (2012): Wege aus der Essentialismusfalle: Überlegungen zu einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht, Kritische Justiz 2/2012, 204ff. Tarek Naguib Komplexitätskritik von Squires29 wird die Komplexität der zu beurteilenden Rechts- und den ihnen zugrunde liegenden Sachfragen reduziert, um so effizient wie möglich Wirkung zu erzielen. Dies hat u.a. zur Folge, dass rechtlich gebotene Differenzierungen unterbleiben bzw. gar nicht erkannt werden.30 Hierfür werden vordergründig rationale Argumente angeführt (z.B. prozessökonomische), hintergründig spielen aber auch Alltagstheorien und politische Motive eine Rolle.31 Alltagstheorien und politische Motive sind durch Vorurteile und blinde Flecken geprägt. Nach der u.a. von Holzleithner32, Verloo 33 und Tobler34 formulierten Kritik des Untertauchens spezifischer Anliegen kann dies zu einem Untertauchen bzw. einer Hierarchisierung diskriminierungsschutzrechtlicher Anliegen führen. Rassismen, Sexismen und andere diskriminierende -ismen bewusster oder unbewusster Natur bewirken, dass etwa der Rassismus im Sexismus oder umgekehrt der Sexismus im Rassismus vernachlässigt, bagatellisiert, ja gar negiert wird. Auch das Feld der Antidiskriminierungsarbeit ist davor keineswegs gefeit. Es ist der Gefahr ausgesetzt – je nach historischer, politischer, ökonomischer und personeller 29 30 31 32 33 34 SQUIRES, Judith (2009): ‚Intersecting Inequalities: Britain’s Equality Review’, International Feminist Journal of Politics, 11 (4), 496ff. So sieht etwa das Bundesgericht in der Entscheidung BGE 135 I 49 nicht soziale Stellung, sondern Behinderung zu klären (Priorisierung). In BGE 132 I 49 ist die Prüfung des Vorliegens einer Diskriminierung aufgrund der »sozialen Stellung« und der »Behinderung« gar gänzlich unterblieben (siehe hierzu hinten, Teil 4.1.3). KLOSE, Alexander (2011): Stereotypen, Vorurteile, Diskriminierungen: Tatsachenbehauptungen in Urteilen zum Gleichbehandlungsrecht, in: MAHLMANN, Matthias (Hg.): Festschrift für Hubert Rottleuthner, Nomos, Baden-Baden. HOLZLEITHNER, Elisabeth (2008): Zur Hierarchisierung von Diskriminierungsdimensionen, Referat an der Tagung »Diskriminierung: einfach – doppelt – mehrfach?«, organisiert durch die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR, die Fachhochschule Nordwestschweiz FHNF und die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, Olten, 12. November 2008. VERLOO, Mieke (2006): Multiple Inequalities, Intersectionality and the European Union, Journal of Women’s Studies, 3. TOBLER, Christa (2009): Von der Geschlechter- zur Rassendiskriminierung: Lehren aus Art. 4 Abs. 2 BV, in: KAELIN, Walter (Hg.): Das Verbot ethnischkultureller Diskriminierung. Verfassungs- und menschenrechtliche Aspekte, Bibliothek zur Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Beiheft 2009, Basel/Genf/München. 9 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle Prägung – bestimmten Diskriminierungsdimensionen mehr und anderen weniger Platz einzuräumen.35 2.2.1 Sphäre der Rechtsmobilisierung (Beratung, Forensik) Ein wesentlicher Faktor für die Zurückhaltung der Gerichte, Sach- und Rechtsfragen aus einer mehrdimensionalen Perspektive zu prüfen, ist die tendenziell unikategoriale Rügepraxis der Beschwerdeführenden.36 In der Beratungspraxis und Prozessführung erweist sich der »Normalfall« (bzw. häufige Fall) der »mehrdimensionalen Diskriminierung« als Ausnahmefall.37 So weist z.B. der Bericht »Rassismusvorfälle in der Beratungspraxis«38 – mittlerweile getragen von elf Beratungsstellen – 2008 zwei von 87, 2009 3039 von 162, 2010 und 2011 null von insgesamt 178 bzw. 156 Fällen mit Bezug zu mehrdimensionaler Diskriminierung aus. Strafanzeigen zum Verbot der Rassendiskriminierung werden ausschliesslich monokausal thematisiert. Im Behindertengleichstellungsbereich gibt es bis anhin einzig eine Organisation, die sich des Themas der mehrdimensionalen Diskriminierung von Mädchen mit Behinderung annimmt, ohne jedoch diesbezüglich Rechtsverfahren anzustrengen.40 Wer im Bereich der Frauengleichstellung aktiv ist, fokussiert primär auf die Diskriminierung weisser und gesunder Frauen. Beispiele für die eindimensionale Perspektive finden sich auch in anderen Bereichen wie z.B. im Kampf gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidenti35 36 37 38 39 40 10 BAER, Susanne / SMYKALLA, Sandra (2009): Zur Bedeutung von Stereotypen für gleichstellungspolitische Interventionen, in: BAER, Susanne / SMYKALLA, Sandra / HILDEBRANDT, Karin (Hg.), Schubladen, Schablonen, Schema F – Stereotype als Herausforderung für Gleichstellungspolitik, USP Publishing, Kleine Verlag, Hamburg; NAGUIB, Tarek (2011b): Mehrdimensionale Diskriminierung, in: Agile Behinderten-Selbsthilfe Schweiz (Hg.), Bulletin 2011. Ausgenommen von dieser Begründung sind Verfahren, in denen von Amtes wegen sämtliche potenzielle Rechtsverstösse geprüft werden müssen, wie etwa bei Strafprozessen nach Art. 261bis StGB bzw. 171c MStG. Das einzige dem Verfasser bekannte Beispiel ist der Fall B.P., der derzeit mittels Petition vor dem UNO-Rassismus-Ausschuss anhängig ist (siehe hierzu hinten, Teil 4.1.4). Sämtliche Berichte sind online abrufbar unter: http://www.rechtsratgeberrassismus.ch (Zugriff: 30.12.2012). Der statistische Ausreisser lässt sich vermutlich damit erklären, dass verschiedene Mitarbeiter_innen der dem Bericht angeschlossenen Beratungsstellen im Berichtsjahr im Lauf von verschiedenen Veranstaltungen zur Problematik der mehrdimensionalen Diskriminierung sensibilisiert wurden. Siehe http://www.avantidonne.ch (Zugriff: 30.12.2012). Tarek Naguib tät (Trans*, Inter*). Insgesamt besteht grosser Forschungsbedarf, um die Bedeutung mehrdimensionaler Diskriminierung im Umfeld der Mobilisierung von Recht zu ergründen. Die Gründe für die Zurückhaltung, das Antidiskriminierungsrecht aktiv gegen mehrdimensionale Diskriminierung zu mobilisieren, sind vielfältig: Korrespondierend mit der Komplexitätskritik wird seitens der Anwaltschaft auf den »forensischen Pragmatismus« verwiesen, d.h. die taktische Reduktion des Verfahrens auf möglichst einfach nachweisbare Sach- und Rechtsfragen.41 Die Priorisierung ist insbesondere da nachvollziehbar, wo Verfahrenserleichterungen wie im GlG und BehiG bestehen. Die Komplexitätskritik verweist auch auf den Aspekt der »strategischen Mobilisierung«, d.h. die gezielte Ausrichtung des Prozesses auf politisch leicht verständliche und verwertbare Ziele.42 Weiter spielt – einhergehend mit der Theorie des Untertauchens – die »mono-kategoriale Spezialisierung« der Aktivist_innen bzw. ihre mangelnde Sensibilität für die Anliegen besonders marginalisierter Gruppen eine Rolle.43 Während das Auge für die eine Dimension geschärft ist, geraten andere nur in abgeschwächter und fragmentarischer Form in den Fokus oder sie liegen gänzlich ausserhalb des Blickfeldes. Problematisch ist insbesondere das Phänomen des »Wettbewerbs um strategische Vorteile« bzw. die »strategische Essentialisierung« politischer Ressourcen;44 die Sichtbarkeit der einen Kategorie geht auf Kosten der Unsichtbarkeit weiterer für die Diskriminierung massgeblicher Kategorien. Entscheidend für die Ein- bzw. Ausgrenzung der jeweiligen Anliegen ist neben der Prozessmaxime auch die historisch gewachsene Machtstruktur.45 2.2.2 Sphäre der Rechtsdurchsetzung und -sanktionierung (Rechtsprechung) 41 42 43 44 45 »Beweisen Sie das mal, das ist nicht so einfach.« (Aussage einer Anwältin). »Ich rüge das, wo ich am meisten Erfolg habe.« (Berater einer spezialisierten Anlaufstelle). »Ich möchte hier die Sache rechtlich vorwärts bringen«, »Wir müssen schauen, dass wir möglichst wirkungsvoll sind.« (Aussagen von Anwälten). Die schweizerische Antidiskriminierungslandschaft ist historisch gewachsen und überwiegend eindimensional strukturiert. Naguib (2011b); BAER, Susanne / REILING, Ines (2011): Verbandsklagerecht. Unveröffentlichtes Rechtsgutachten zuhanden der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung Berlin. Baer et al. (2011); Baer et al. (2009). 11 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle Trotz fehlender oder mangelhafter Rechtsmobilisierung haben Gerichte die Kompetenz und Pflicht, im Rahmen der geltenden Verfahrensgrundsätze »Mehrdimensionalität« offensiv anzugehen.46 Dies lässt sich m.E. aus dem Schutz- und Gewährleistungsauftrag von Art. 8 Abs. 2-4 herleiten. Wie bereits erwähnt, zeigt sich aber auch hier ein komplexes Vermeidungsverhalten. Von besonderem Gewicht ist das Argument der »Prozessökonomie«, das die Gerichte heranziehen, um die Rechtsprüfung zu priorisieren und abzubrechen, sobald eine Diskriminierung festgestellt wurde.47 In der Gerichtssoziologie weitgehend ungeklärt ist, nach welchen Kriterien die ökonomische Priorisierung vorgenommen wird, warum etwa »Behinderung« geprüft wird und »soziale Stellung« nicht oder nur pro forma.48 Dies hängt zum einen damit zusammen, dass »rechtsdogmatische Komplexität« und »die politische Frage« möglichst effizient umgangen werden. Zum zweiten ist es wahrscheinlich, dass auch diskriminierende Kriterien in Form offener und blinder Flecken der Richter_innen mit entscheidend sind, dass Mehrdimensionalität von den Gerichten nicht thematisiert wird.49 2.2.3 Sphäre der Praxis hinter der Praxis (Rechtswissenschaften) Erstaunlich ist, dass trotz der gesellschaftlicher Virulenz und intellektueller Anreize, die das Phänomen der mehrdimensionalen Diskriminierung bietet, auch die Rechtswissenschaften zurückhaltend sind, zum Thema zu publizieren. Theoretisch denkbar ist, dass sich der wissenschaftliche Diskurs an den Leitplanken des wissenschaftlichen Mainstreams und an den von ihr verteilten Meriten ausrichtet. Und solange die eidgenössische Tendenz besteht, kritische Rechtsdogmatik nur zurückhaltend und »pragmatisch« zu betreiben bzw. es zu vermeiden, wegen »abgehobener Wissenschaft« ignoriert zu werden, lässt sich auf dem (noch) unsicheren Terrain der Intersektionalität nur dann etwas gewinnen, wenn auch juristisch handfeste dogmatische Grundsätze herausschauen. Schließlich ist auch die Wissenschaft nicht immun gegen Rassismus, Heterosexismus, Ageism, Ableism und Klassismus. An dieser Stelle soll nun aber nicht über Gründe 46 47 48 49 12 Im Rahmen von Art. 8 Abs. 2-4 i.V.m. Art. 35 BV. Siehe BGE 132 I 49 (hierzu hinten, Teil 4.1.3); BGE 135 I 49. Siehe BGE 132 I 49 (hierzu hinten, Teil 4.1.3); BGE 135 I 49. LUDEWIG, Revital / LA LLAVE, Juan / GROSS-DE MATTEIS, Bianca (2012): Einflussfaktoren bei Entscheidungen von Staatsanwälten: Zwischen Urteil und Vorurteil – Ausländer, Vorstrafe, Deliktschwere ..., SZK 2/12, 29-44. Tarek Naguib spekuliert, sondern darauf verwiesen werden, dass es Aufgabe der Rechtswissenschaften ist, die analytische _ Leerstelle zu füllen. 2.3 Ansätze in der Rechtsprechung 2.3.1 Verweigerung der Einbürgerung einer Kopftuchträgerin 2006 (BGE 132 I 167) In einer Entscheidung von 2006 hatte das Bundesgericht darüber zu befinden, ob die Ablehnung des Einbürgerungsantrages der türkischen Beschwerdeführerin Art. 8 Abs. 2 BV verletzte. Das Gericht kommt zum Schluss, dass der dieser Beschwerdeführerin vorgehaltene Mangel an Integration, an Integrationswillen und Anpassung nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Religion, mit dem tatsächlichen Beachten und Leben des Islam und mit den aus dem Koran abgeleiteten Verhaltens- und Bekleidungsweisen stehe. Vor diesem Hintergrund könne nicht von einem Verstoss gegen Art. 8 Abs. 2 BV gesprochen werden. Das zeige sich auch darin, dass der Vater und der Bruder der Beschwerdeführerin, die sich gleichermassen zum Islam bekennen, in Anbetracht ihrer Integration bzw. ihres Integrationswillens tatsächlich eingebürgert worden seien. Es könne auch nicht davon gesprochen werden, dass die Beschwerdeführerin wegen der aus dem Koran abgeleiteten Bekleidungsvorschriften spezifisch als Frau diskriminiert worden sei, da in der Vergangenheit auch muslimische Frauen, welche sich nach den Gepflogenheiten ihrer Religion kleiden, tatsächlich eingebürgert worden seien. Daran vermöge der Einwand der, die Einbürgerung unterstützenden, Minderheit in der Kommission und im Landrat nichts zu ändern, wonach die Beschwerdeführerin nur dann Chancen auf eine Einbürgerung hätte, wenn sie ihr Kopftuch ablegen und somit ihrer religiösen Überzeugung entsagen würde. Im Urteil wird »Mehrdimensionalität« nicht ausdrücklich thematisiert. Hingegen prüft das Gericht neben der eindimensionalen Diskriminierung aufgrund der islamischen Religion implizit zusätzlich eine intersektionale Diskriminierung aufgrund der »aus dem Koran abgeleiteten Bekleidungsvorschrift spezifisch als Frau«. In seiner Argumentation bleibt es jedoch oberflächlich und stützt sich nicht auf theoretische Ansätze zur Intersektionalität. Eine Folge davon ist eine wenig stringente Argumentationsführung. Einerseits zieht das Gericht »islamische Frauen, welche sich nach den Gepflogenheiten ihrer Religion kleiden, und die in der Vergangenheit eingebürgert wurden« als Vergleichsgruppe heran. Andererseits bezeichnet es den Sachverhalt nicht als eine intersektionale Benachteiligung einer 13 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle »islamischen Frau«, sondern »lediglich« als eine Benachteiligung aufgrund des Frauseins. Dies lässt sich nicht als eine sprachliche Ungenauigkeit ohne rechtliche Folgen bagatellisieren. Vielmehr ist aus der psychologischen Forschung bekannt, dass die präzise Benennung von Unrecht für die Wiedergutmachung der betroffenen Person höchst bedeutsam sein kann.50 Die fehlende Fundierung in der theoretischen Auseinandersetzung zur Intersektionalität erweist sich auch aus prozessualen Gründen als problematisch. Durch die plurikategoriale Perspektive – d.h. die Betrachtung mehrdimensionaler Diskriminierung als ein Nebeneinander von mehreren Dimensionen – und zugleich statistische Linse, war es dem Gericht nicht möglich, den Einzelfall als potenzielle singuläre »Intersektionalität« – d.h. als Verwebung (und eben nicht als ein Nebeneinander) von mehreren Dimensionen – kritisch ins Auge zu fassen. Angesichts der Argumentation einer Minderheit in der Kommission, welche die Chancen der Gesuchstellerin davon abhängig machte, ob diese das Kopftuch ablege oder nicht, hätte sich das Gericht von einem rigiden Einzelfall-Vergleich loslösen und angesichts der konkreten Umstände zumindest die Wahrscheinlichkeit einer intersektionalen Diskriminierung annehmen müssen. Mittels Weiterentwicklung seiner Einbürgerungs-Rechtsprechung 200351 – angepasst an die besonderen Schwierigkeiten des Nachweises der Intersektionalität – ist es angemessen, ein reduziertes Beweismass mit anschliessender Umkehr der Beweislast anzulegen. Demnach hätte die für das Einbürgerungsverfahren zuständige Gemeinde beweisen müssen, dass der Mehrheitsentscheid in der Kommission nicht massgeblich durch die diskriminierenden Äusserungen der Minderheit beeinflusst war. In diesem Sinne hätte das Bundesgericht möglicherweise zum Schluss kommen müssen, das Verfahren wegen Verletzung von sich spezifisch aus Art. 8 Abs. 2 BV ergebenden prozeduralen Anforderungen zur vertieften Überprüfung an die Vorinstanzen zurückzuweisen. 2.3.2 Verweigerung der Einbürgerung einer Kopftuchträgerin 2008 (BGE 134 I 49) 50 51 14 NDJABOUÉ, Ruth / BRISSON, Chantal / VÉZINA, Michel (2012): Organisational Justice and Mental Health: A Systematic Review of Prospective Studies, Occup Environ Med 2012 69, 694-700. BGE 129 I 217 E. 2.2.3f. Tarek Naguib Ähnlich gelagert ist BGE 134 I 49. Der Einwohnerrat begründete die Ablehnung des Einbürgerungsgesuches damit, dass die Gesuchstellerin durch das Tragen des Kopftuches eine fundamentalistische Glaubensrichtung bezeuge. Der Schleier bzw. das Kopftuch sei nicht religiöses Symbol, sondern sichtbarer Ausdruck der Unterwerfung der Frau unter den Mann. Damit werde, so das Bundesgericht in seiner Begründung, eine Ungleichbehandlung der Frau allein aufgrund ihres Geschlechts demonstriert. Das verstosse gegen Art. 2 und 8 der Bundesverfassung und damit gegen unsere gemeinsame Wertvorstellung, ihre Assimilation an unsere gesellschaftlichen und politischen Normen sei nicht gegeben. Dieser Beschluss ist endgültig. Ein Referendum ist ausgeschlossen.52 Als Ausgangslage der Entscheidung hält das Bundesgericht im Grundsatz zutreffend fest, dass die Begründung geeignet sei, Frauen, die sich zum Islam bekennen und das Kopftuch tragen, gegenüber Männern und solchen Frauen, die das Kopftuch trotz des Bekenntnisses zum Islam nicht tragen oder einer anderen Glaubensrichtung verpflichtet sind, im Einbürgerungsverfahren zu benachteiligen und rechtsungleich zu behandeln. Danach jedoch fällt das Gericht in der Argumentation hinter den zwei Jahre zuvor gefällten BGE 132 I 167 zurück, indem es die Prüfung auf das Vorliegen einer Diskriminierung aufgrund des Glaubens beschränkt. Dies nahm es aber nicht zum Anlass, auch den Sexismus im antimuslimischen Rassismus zu thematisieren. Zwar hatte dies vorliegend im Ergebnis insofern keine negativen Konsequenzen, als hier eine Verletzung von Art. 8 Abs. 2 BV festgestellt wurde. Hingegen wurde das der Frau widerfahrene Unrecht nicht in seiner ganzen Dimension ernst genommen. 2.3.3 Anstellungsdiskriminierung einer jungen Frau mit Kind (Urteil V 98 245, Luzern)53 In einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Luzern aus dem Jahre 2001 zum Gleichstellungsgesetz wurde einer jüngeren Frau wegen Anstellungsdiskriminierung eine Entschädigung im Umfang von CHF 7.000 zugesprochen. In der Begründung kommt das Gericht zum Schluss, dass die Mutter eines jüngeren Kindes gegenüber einer älteren Frau diskriminiert worden sei, weil erstere bei der Bewerbung als Wäschereimitarbeiterin nicht berücksichtigt wurde. Dies mit der Begründung, dass bei ihr eine 52 53 BGE 134 I 49 E. 3.2. Siehe auch http://www.gleichstellungsgesetz.ch/html_de/103N1172.html (Zugriff: 30.12.2012). 15 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle weitere Schwangerschaft möglich sei und sie wegen des Kindes mehr Absenzen habe. Ohne sich auf die theoretischen Ansätze zu stützen, machte das Gericht deutlich, dass Frauen in unterschiedlichem Alter auch unterschiedlichen Diskriminierungen aufgrund ihres Frauseins und Alters ausgesetzt sind. Die Entscheidung liest sich als eine implizit mehrdimensionale Analyse. Das Gericht hat es hingegen verpasst, sich theoretisch fundiert mit der Problematik der Intersektionalität und ihren rechtsdogmatischen Folgen (wie z.B. die Auswirkungen auf Art und Höhe der Rechtsfolgen) auseinanderzusetzen.54 Hingegen ist hier auch die Rechtsvertretung mit in die Verantwortung zu nehmen, die eine intersektionale Analyse auch nicht eingefordert hatte. 3. Die operative Bedeutung von »Mehrdimensionalität« Die bisherigen und folgenden Ausführungen machen deutlich, dass die _ Leerstelle zur Mehrdimensionalität problematische Ausschlüsse und Defizite im Diskriminierungsschutz zur Folge haben kann. Es besteht das Risiko, dass das Diskriminierungsschutzrecht nicht effektiv mobilisiert und Verstösse nicht wirksam und gerecht sanktioniert werden. Defizitäre rechtsdogmatische Folgerungen führen auf einer ersten Stufe zu Ausschlüssen vom Diskriminierungsschutz (Problem der Exklusivität – siehe folglich unter 3.1). Auf einer zweiten Stufe – nämlich da, wo sich der Diskriminierungssachverhalt im Geltungsbereich der Diskriminierungsverbote befindet – führt die fehlende oder mangelhafte mehrdimensionale Analyse potenziell zu einer Minderung des Schutzstandards (gründend im Problem der Essentialisierung und Homogenisierung – siehe folglich unter 3.2). Konkret kann sich dies auf die Rechtfertigungsprüfung auswirken, so insbesondere hinsichtlich der angesichts der spezifischen Qualität mehrdimensionaler Diskriminierungen möglicherweise notwendigen »mehrfachen« bzw. komplexeren Rechtfertigung oder erhöhten Rechtfertigungsstrenge. Denkbar ist, dass bei einer fehlenden mehrdimensionalen Analyse, unangemessene Rechtsfolgen gesprochen werden, sowohl hinsichtlich der Art und der Höhe von Sanktionen. Zudem können eindimensionale Betrachtungen eine ineffektive und ungerechte Prozessführung münden. 54 16 Siehe hinten, Teil 4. Tarek Naguib Schliesslich ergeben sich auf nicht-justiziabler bzw. programmatischer Ebene des Diskriminierungsschutzes Schwierigkeiten.55 Im Folgenden werden anhand ausgewählter Beispiele die Problemstellungen illustriert und darüber hinaus aufgezeigt, warum es aus rechtsoperationeller Sicht wichtig ist, Diskriminierungssachverhalte aus der Perspektive der Mehrdimensionalität zu analysieren. 3.1 Exklusivität: Ausschluss vom Diskriminierungsschutz Mit »Exklusivität« bezeichne ich das Risiko, dass bestimmte Diskriminierungskonstellationen aus dem kategorialen Raster des Diskriminierungsschutzes fallen, wenn sie nicht aus mehrdimensionaler Perspektive erkannt und analysiert werden.56 Beispiele dafür sind die nachfolgend zusammengefassten Urteile zur Verweigerung der Kostenvergütung für eine chirurgische Behandlung eines 66 jährigen adipösen Mannes (BGE 136 I 121), zur Anstellungsdiskriminierung (Zürcher Fall) und zu einem Rayonverbot für eine Gruppe von Menschen, die regelmässig am Bahnhof Bern Alkohol konsumieren (BGE 132 I 49).57 3.1.1 Verweigerung der Kostenvergütung für eine chirurgische Behandlung eines 66-jährigen adipösen Mannes (BGE 136 I 121) In BGE 136 I 121 befasst sich das Gericht mit der Problematik der Rationierung medizinischer Leistungen durch Ausschluss von der Kostenvergütung durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung. Im konkreten Fall wurde eine Krankenkasse von der Vorinstanz verurteilt, die chirurgische Behandlung eines 66 jährigen adipösen Mannes zu vergüten, obwohl die Richtlinie der zuständigen medizinischen Fachvereinigung solche Eingriffe für über Sechzigjährige angesichts eines höheren Operationsrisikos und der Erfahrung, dass Übergewicht ab dem siebzigsten Altersjahr die 55 56 57 Siehe Liebscher et al. (2012), 204; grundsätzlich in NAGUIB, Tarek (2012): Postkategoriale ‚Gleichheit und Differenz’: Antidiskriminierungsrecht ohne Kategorien denken!?, in: AST, Stephan / HÄNNI, Julia / MATHIS, Klaus / ZABEL, Benno (Hg.): Gleichheit und Universalität. Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2010 in Halle (Saale) und im Februar 2011 in Luzern, ARSP Beiheft 129. Siehe auch Liebscher et al. (2012), 204. Siehe auch die Kritik des »single-axisapproach« nach Crenshaw (1991), 57ff. Ausführlich dazu hinten. 17 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle Mortalität kaum mehr beeinflusst, für medizinisch nicht gerechtfertigt halten. Das Bundesgericht führt aus, dass es Beschränkungen der Leistungspflicht, die medizinisch begründet werden, mangels Fachkenntnissen nur sehr zurückhaltend prüfe, demgegenüber einen strengeren Massstab anlege, wo juristische oder andere Gründe angeführt würden. Im konkreten Fall befasst sich das Bundesgericht mit der Frage, ob die Verweigerung der Leistung eine gemäss Art. 8 Abs. 2 BV verbotene Altersdiskriminierung darstelle. Es kommt zum Schluss, dass sich die Unterscheidung angesichts der gesicherten Fachmeinung auf überzeugende Motive stützt und somit auf einer objektiven und vernünftigen Rechtfertigung beruht. Mit keinem Wort befasst sich das Gericht mit der Frage der mehrdimensionalen Diskriminierung aufgrund des Alters und einer Behinderung oder aber einer weiteren, nicht explizit aufgeführten Dimension bzw. Stigma behafteten Kategorie (z.B. Krankheit, chronische Krankheit).58 Angesichts der Einschränkung der Mobilität durch das hohe Körpergewicht, die sich aufgrund altersbedingter Abnahme physischer Kräfte zumindest auf die Mobilität von älteren Menschen stärker auswirkt als auf jüngere, ist dies erstaunlich. Von Bedeutung ist die mehrdimensionale Diskriminierung insbesondere aufgrund der damit möglicherweise bestehenden Unterschiede in der Prüfung der Rechtfertigung. An diese sind unter Umständen höhere Massstäbe zu richten, wenn Menschen verstärkt aufgrund einer Behinderung betroffen sind, dies etwa im Gegensatz auch zur Vergleichsgruppe von Menschen, die Krankheiten aufweisen, die die Mortalität beeinflussen. 3.1.2 Verweigerung der Anstellung aufgrund der Herkunft und des Kopftuchtragens (Urteil 050401/ U 1, Zürich) In einem Urteil von 2005 aus Zürich hatte das Arbeitsgericht über folgenden Sachverhalt zu befinden: Die Beklagte Y., eine Reinigungsfirma mit breit gefächertem Kundenprofil, meldete im Juni 2004 beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) eine offene Teilzeit-Reinigungsstelle mit dem Hinweis, wegen der Kundschaft und dem Firmenprofil wolle man keine »Leute aus dem Balkan«. Auf Vorschlag ihrer RAV-Beraterin bewarb sich die Klägerin X., eine Schweizerin mazedonischer Abstammung, 58 18 Da ungeklärt ist, ob Adipositas überhaupt eine Behinderung darstellt. Siehe hierzu etwa PÄRLI, Kurt / NAGUIB, Tarek (2013): Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit, Rechtsgutachten zuhanden der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ADS, Berlin 2013. Tarek Naguib bei der Beklagten, die wiederum bestritt, dass juristisch eine Bewerbung vorlag. Unbestritten ist die Meldung des RAV an Y. über das Interesse von X. an der Stelle. In einer E-Mail teilte Y. dem RAV mit: »Wir stellen keine Leute aus dem Balkan ein und meine Firma verträgt solche Leute nicht, wie wir in der ganzen Schweiz auch nicht! […] Kopftücher, Moslems etc. gehören nicht hier her! […] Bin Stinksauer [sic], dass Sie nicht lesen können, dass wir keine Kopftücher einstellen […].« Der Name der Klägerin X. war in der Betreffzeile der E-Mail aufgeführt. Der Rechtsstreit wurde auf der Grundlage unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln ausgetragen und letztlich gewonnen. Der Klägerin wurde aufgrund einer schweren widerrechtlichen Persönlichkeitsverletzung aus culpa in contrahendo eine Genugtuung in der Höhe von CHF 5.000 zugesprochen. In der Entscheidung wurde nicht geprüft, ob eine sexistische Diskriminierung oder eine mehrdimensionale Diskriminierung rassistischsexistischer Natur und aufgrund der Religionszugehörigkeit vorliegt. Die Fehler sind bereits in der Klageführung unterlaufen. Der Anwalt hatte es unterlassen, eine Geschlechterdiskriminierung bzw. eine Verletzung von Art. 3 des Gleichstellungsgesetzes zu rügen. Dadurch bestand auf prozessualer Ebene das Risiko, dass angesichts des Fehlens eines expliziten Verbotes der Diskriminierung aufgrund der Religion oder wegen rassistischer Diskriminierung im Privatrecht das Verfahren verloren gehen würde. Auch musste das Gericht sich nicht mit den Fragen auseinandersetzen, ob eine mehrdimensionale Diskriminierung vorliegt und inwiefern sich dies auf die Art und Höhe der Wiedergutmachung auswirkt. Zudem hat – unabhängig von möglichen Auswirkungen auf die Rechtsfolgen – bereits die differenzierende Feststellung einer mehrdimensionalen Diskriminierung einen eigenständigen Wert, da nur so die Rechtsverletzung in ihrer vollen Tragweite ernst genommen wird.59 3.1.3 Rayonverbot für eine Gruppe von Alkohol konsumierenden Menschen (BGE 132 I 49) In BGE 132 I 49 hatte das Gericht über die Rechtmässigkeit eines verfügten Rayonverbots für eine Anzahl von Personen, die regelmässig im Bahnhof Bern Alkohol konsumieren, zu befinden. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass eine Diskriminierung aufgrund der Lebensform nach Art. 8 Abs. 2 BV nicht vorliegt: So legten die Beschwerdeführer insbe59 Siehe hierzu vorne, Teil 2. 19 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle sondere nicht konkret dar, inwiefern sie einer sozial bestimmbaren Minderheit oder Gruppe angehörten, die sich mit spezifischem Verhalten und besonderen Lebensformen oder durch eine bestimmte äussere Erscheinung und kulturelle Prägung von der Mehrheit in verschiedenen Lebensbereichen unterscheiden würden. Es sei im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführer möglicherweise unterschiedlichen Herkünften, Lebensumständen und Wohnorten eine spezifische Gruppe bildeten, die durch besondere, nicht frei gewählte oder schwer aufgebbare Merkmale gekennzeichnet ist und aus diesem Grunde eines besonderen verfassungsmässigen Schutzes bedürften. Nicht nachvollziehbar ist, weshalb es das Bundesgericht unterliess, auch das Vorliegen einer Diskriminierung aufgrund der Dimensionen »soziale Stellung« und »Behinderung« zu untersuchen. Zudem hat es das Gericht verpasst, einen eigenständigen – allenfalls intersektionalen – Stigmatisierungsprozess zu prüfen. Angesichts der im Vor- und Nachgang der Verfügung des Rayonverbots teils diskriminierenden öffentlichen Debatten, wäre es geboten gewesen zu klären, ob und inwiefern allenfalls eine Stigmatisierung der betroffenen Personen besteht, die einen qualifizierten Gleichheitsschutz erfordert. Damit hätte geprüft werden müssen, ob ein Rayonverbot einer qualifizierten Rechtfertigungsprüfung standhält. Ohne einer Analyse aus der Perspektive der Mehrdimensionalität aber bliebt diese Prüfung (und damit auch der potenzielle verfassungsrechtliche Schutz) aus. 3.1.4 Einbürgerungsverweigerung aufgrund der Herkunft und der Behinderung (Fall B.P., BGE 138 I 305, Urteil vom 12.6.2012) BGE 138 I 305 betrifft ein komplexes Einbürgerungsverfahren. An der Bürgerversammlung vom 30. März 2007 wurde das Einbürgerungsgesuch von B.P. abgelehnt, da die anwesenden Votanten der Ansicht waren, der Gesuchsteller nütze die sozialen Institutionen aus und verhalte sich gegenüber der Bevölkerung nicht korrekt. Im Rahmen dessen wurde von den Stimmbürger_innen60 »die Faulheit gewisser Leute« beklagt und »Probleme mit den Leuten aus dem Balkan« moniert. Im anschließenden Votum wurde der Gesuchsteller ermahnt, er könne ja in einer Behindertenwerkstatt arbeiten. Im gegen den Ablehnungsentscheid eingeleiteten Rechtsverfahren stellte die Beschwerdeinstanz eine indirekte Diskriminierung aufgrund einer 60 20 Es waren ausschliesslich männliche Votanten. Tarek Naguib bestehenden Behinderung fest. Sie begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der Punkt der fehlenden Erwerbstätigkeit für die Ablehnung des Beschwerdeführers B.P. ausschlaggebend war. Der Vorwurf der Sozialhilfeabhängigkeit bzw. der beabsichtigten Ausnützung der Sozialleistungen baue auf diesem Argument auf. Werde die Erwerbstätigkeit als Einbürgerungskriterium derart in den Vordergrund gestellt, so bedeute dies im Ergebnis, dass Menschen mit einer Behinderung mangels Erwerb kaum mehr eine Chance auf Einbürgerung in der betreffenden Gemeinde haben. Von der Rechtsmittelinstanz nicht geprüft wurde, ob eine mehrdimensionale Diskriminierung vorlag. Angesichts des Rügeprinzips ist dies jedoch darauf zurückzuführen, dass der Rechtsvertreter es versäumt hatte, den Rassismus bzw. die Intersektionalität zwischen Rassismus und Ableism zu monieren. Dies wäre jedoch angesichts der (antimuslimisch) rassistischen Voten auf der Hand gelegen, denn die Sichtung der Protokolle der Gemeindeversammlung bringt ein diffuses Gemisch aus Rassismus und Ableism ans Licht. Zudem kam es im Vorfeld und Nachgang der Gemeindeversammlung in den Medien zu einer intensiven Berichterstattung, die den rassistischen Diskurs rund um das Einbürgerungsgesuch von B.P. verdeutlichten. In einem Leserbrief im St. Galler Tagblatt vom 5.4.2007 monierte A.S. unter dem Titel »Moderne Hexenjagd« die Fremdenfeindlichkeit in Einbürgerungsverfahren, »[…] die im Akt der Abstimmung offensichtlich und ausschliesslich emotional getroffen wird«. Auch »werden gewisse Nationalitäten aus einem diffusen Gefühl der verlorengegangenen Kontrolle über seine eigene Zukunft (...) stigmatisiert und für alles erdenklich Schlechte verantwortlich gemacht: Autoraserei, Sozialmissbrauch, häusliche Gewalt, Alkohol- und Drogenmissbrauch und Jugendkriminalität etc.«. Auch N.L. zeigt sich in ihrem Leserbrief in der Rheintalischen Volkszeitung vom 4.4.2007 nicht überrascht, »[…] dass die einbürgerungswilligen Menschen aus dem Balkan, welche über einen einwandfreien Leumund verfügen, mit solch einem Misstrauen konfrontiert werden«. Was sie »ausserordentlich stört und schockiert ist die Tatsache, dass einige Einwände vom letzten Freitag mit solch einer Gehässigkeit und abschätzig vorgebracht wurden. Dies gibt mir sehr zu denken. Denn wer es nötig hat, sich einer solch unanständigen und diskriminierenden Methode zu bedienen, degradiert sich selber«. Die Unterlassung der Rüge einer rassistischen bzw. einer mehrdimensionalen Diskriminierung hatte für den Beschwerdeführer im Ergebnis zwar keine negativen Konsequenzen, jedoch wurde damit ein unnötiges Risiko 21 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle eingegangen. Zugleich bedeute die Beschränkung der Prüfung auf den Aspekt der Behindertendiskriminierung auch eine Simplifizierung der Situation, die der Betroffenenperspektive nicht gerecht wird. Nachdem das Einbürgerungsgesuch aufgrund des Entscheides im ersten Verfahren erneut überprüft werden musste und wiederholt eine Ablehnung (mit noch deutlicherem Mehr) erfolgte, ergriff B.P. wiederum Beschwerde dagegen. In dieser zweiten Entscheid-Runde stellte das Bundesgericht in letzter Instanz aufgrund einer entsprechenden Rüge des Anwaltes zwar fest, dass das Votum eines Stimmbürgers eine Diskriminierung aufgrund der Herkunft darstelle. Insgesamt jedoch sei – alle Voten zusammengenommen – keine Diskriminierung erkennbar. Abgesehen davon, dass die Argumente des Gerichtes wenig überzeugend waren, wurde nicht näher geprüft – trotz entsprechender Rüge des Anwaltes – inwiefern das Zusammenspiel der Behinderung und der Herkunft für die Ablehnung des Einbürgerungsgesuches von Bedeutung war. Während im ersten Verfahren dem Anwalt Fehler unterlaufen waren, verpassten es im zweiten Verfahren die urteilenden Gerichte zu untersuchen, ob eine mehrdimensionale Diskriminierung vorlag. Insbesondere das Bundesgericht hätte letztinstanzlich auf die in der Beschwerde gerügte mehrdimensionale Diskriminierung vertieft eingehen müssen. Insgesamt erweist sich die Debatte über das Einbürgerungsgesuch als ein spezifisch rassistischer »Sozialschmarotzerdiskurs«, indem die Behinderung des Gesuchstellers als Vehikel für den Rassismus missbraucht wird. Die Verwebung der Dimensionen »Behinderung« und »Herkunft« repräsentiert ein »zeitgemässes« rassistisches Diskursmuster, das zum einen für die Motivbildung des für die Einbürgerung zuständigen Organs als auch für die Wirkung auf den Gesuchsteller rechtspraktische Bedeutung hat. Dies hätte vom Gericht eingehender untersucht werden müssen. Der Fall ist derzeit vor dem UNO-Ausschuss gegen Rassismus anhängig. 3.2 Essentialisierung, Homogenisierung: Schwächung des Diskriminierungsschutzes Eine eindimensionale Perspektive auf Diskriminierungssachverhalte führt zu einer essentialistischen und homogenisierenden Rechtspraxis. Essentialisierung benennt das Problem der Überbewertung von »Differenz«. Mit Homogenisierung bezeichne ich die Gefahr, dass eine Diskriminierungskonstellation zwar erfasst, hingegen aber nicht in der bestehenden Kom22 Tarek Naguib plexität ernst genommen wird. Solche gruppistischen61 Perspektiven, so Susanne Baer, »essentialisieren Differenz und Ungleichheit. Wer Menschen in Gruppen einteilt, reduziert sie auf ein Merkmal oder eine Eigenschaft, homogenisiert also Menschen, die einiges, aber nie alles gemeinsam haben.« 62 Dies birgt die Gefahr, dass kollektive Identitätskonzepte als Identitätspolitiken verfestigt werden.63 Auf rechtspraktischer Ebene bestehen unterschiedliche Fallen, die zu einem unangemessenen Rechtsschutz führen.64 Eine Überbewertung von Differenz kann dazu führen, dass der Rechtfertigungsmassstab zu tief angesetzt wird. Bei einer Homogenisierung besteht das Risiko, dass die zuständige Behörde eine Rechtsfolge festlegt, die der Schwere der Diskriminierung nicht angemessen ist. Auf prozessualer Ebene kann eine Homogenisierung dazu führen, dass einer natürlichen oder juristischen Person, die nicht als Mitglied der Gruppe (oder als Vertreter dieser Gruppe bzw. ihrer Interessen) anerkannt ist, die Legitimation zur Prozessführung aberkannt wird. Über diese rechtsdogmatischen harten Konsequenzen hinaus ist es bedenklich, wenn das Signal ausgesendet wird, bestimmte »-ismen«, »Stigmatisierungen« und »Diskriminierungen« seien weniger problematisch, insbesondere dann, wenn Antidiskriminierungsrecht auch als Kampf gegen stereotype Diskurse verstanden wird. 3.2.1 Inadäquate Rechtsfolgen? – illustriert anhand von Urteilen zur Rassismus-Strafnorm (Art. 261bis StGB) Sexismus, Klassismus, Ableism und Ageism sind regelmäßig Bestandteil von Sachverhalten im Rahmen von Strafverfahren wegen rassistischer Äusserungen nach Art. 261bis StGB. Selbst bei klarer Beweislage werden sie von den zuständigen Strafbehörden nicht thematisiert. Im Kanton Luzern waren die Aussagen »muslimische Schlampe« und »islamische Ter- 61 62 63 64 Anlehnend an BRUBAKER, Rogers (2004): Ethnicity without Groups, Harvard University Press, Cambridge/Massachusetts/London. Baer (2009); Naguib (2012), 181ff.; GOLDBERG, Suzanne B. (2009): Intersectionality in Theory and Practice, in: GRABHAM, Emily / COOPER, Davina / KRISHNADAS, Jane / HERMAN, Didi (Hg.): Intersectionality and Beyond: Law, Powert and the Politics of Location, Oxford/Rotledge-Cavendish. Baer (2010); Baer et al. (2009); Naguib (2012), 181ff.; Goldberg (2009). Liebscher et al. (2012), 204. 23 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle roristin« zu beurteilen.65 In einem Fall der Staatsanwaltschaft Aargau wurden junge Männer mit folgenden Worten bedroht: »[Wenn man] diese schwarzen Sauböcke zwingen würde 8 Stunden am Tag zu arbeiten, das würde ihnen dieses Herumbocken schon verleiden […]«.66 Im Kanton Zürich hatte die Staatsanwaltschaft Spuck- und Verbalattacken sowie Sachbeschädigungen gegenüber Asylbewerbenden im Rollstuhl zu beurteilen.67 »Du Paraplegiker«, so die inkriminierten Worte, »was machen Sie da in der Schweiz, gehen Sie zurück nach Hause. Deine Monkeyfamilie wartet auf dich.« Diese seien nur hergekommen, um den Staat auszubeuten, sich in der Schweiz medizinisch behandeln zu lassen, um zu Lasten der Steuerzahler schöne Automobile zu kaufen und eine Rente zu beziehen. Die fehlende mehrdimensionale Analyse hat auf der Ebene der Strafbemessung negative Konsequenzen. Gemäss Art. 47 StGB ist die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu bemessen.68 Es berücksichtigt das Verschulden auch nach der Verwerflichkeit des Handelns. Sexismus und andere »-ismen« sind machtvolle Vehikel zur Ausübung rassistischer Dominanz. Der weisse Mann nutzt maskulines Machtkapital gegenüber der schwarzen Frau als zusätzliches Mittel zur rassistischen Unterdrückung. Gegenüber einem männlichen Schwarzen gilt die Devise des Angriffes auf die Sexualität des schwarzen Mannes. »Derselbe« weisse Mann missbraucht die Verletzlichkeit von Menschen mit Behinderung. Machtressourcen motivieren den Täter und verstärken oder ermöglichen das Ohnmachtsgefühl des Opfers.69 Daher ist die mehrdimensionale Perspektive eine zentrale und gebotene Analysekategorie. Es kommt hinzu, dass im Rahmen einer adhäsionsweisen Prüfung allfälliger zivilrechtlicher Ansprüche (z.B. Genugtuungsanspruch) auch die Auswirkungen auf die betroffene Person mit berücksichtigt werden müssen (wegen seelischer Unbill).70 65 66 67 68 69 70 24 EKR-Entscheid-Nr. 2010-31. Nummerierung gemäss EKR-Online-Datenbank: http://www.ekr.admin.ch > Dienstleistungen > Sammlung Rechtsfälle (Zugriff: 30.12.2012). EKR-Entscheid-Nr. 2006-68. EKR-Entscheid-Nr. 2005-29. Ege(2012), 280ff. Ndjaboué et al. (2012). Zu den psychischen Auswirkungen von Diskriminierung siehe auch GRABHAM, Emily (2009): Intersectionality: Traumatic Impressions, in: GRABHAM, Emily / COOPER, Davina / KRISHNADAS, Jane / HERMAN, Didi (Hg.): Intersectionality and Beyond: Law, Power and the Politics of Location, Routledge-Cavendish, Oxford. Tarek Naguib 3.2.2 Verbandsklage: Urteile 050401/ U 1 (Zürich), T 304.021563 (Lausanne) (Anstellungsdiskriminierung) Ein weiterer rechtspraktischer Aspekt der mehrdimensionalen Analyse von Diskriminierungssachverhalten, die dem Problem der Essentialisierung und Homogenisierung zuzuordnen sind, ist die Beschwerdebzw. Klagelegitimation von Verbänden.71 Konkret stellt sich etwa die Frage, ob im Zuge des behindertengleichstellungsrechtlichen Verbandsbeschwerde- bzw. -klagerecht (Art. 9 BehiG) auch Organisationen legitimiert sind, die sich in erster Linie gegen Rassismus, Sexismus, Heterosexismus oder Ageism einsetzen. Analoges gilt für das Verbandsklage- und Beschwerderecht nach dem Gleichstellungsgesetz (Art. 7 GlG). Bis anhin ist keine Organisation auf die Idee gekommen, eine entsprechende Beschwerde oder Klage zu führen. Auch in den beiden Urteilen zur Anstellungsverweigerung (050401/ U 1 Zürich und T 304.021563 Lausanne),72 in denen einerseits eine rassistische Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe und andererseits eine rassistische Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit gerügt wurde, spielte beide Male auch das weibliche Geschlecht eine Rolle. Neben dem Risiko des Unterliegens, da rassistische Diskriminierung im Gegensatz zur sexistischen Diskriminierung keiner expliziten Antidiskriminierungsgesetzgebung unterstellt ist, wurde damit auch auf das Verbandsklagerecht nach Gleichstellungsgesetz verzichtet. Im Zuge von Art. 8 Abs. 2 BV vergleichsweise komplexer erweist sich die Situation, da Art. 8 Abs. 2 BV keine Regeln zu den Rechtsfolgen und zur Durchsetzung aufstellt, wie dies im Rahmen des Gleichstellungsgesetzes und des Behindertengleichstellungsgesetzes der Fall ist. Hier ist jeweils spezifisch das spezialisierte öffentliche Verfahrensrecht zu konsultieren, das je nach Rechtsbereich variiert und einer gesonderten Untersuchung bedarf. 3.2.3 Beweisführung Eine weitere prozessuale Herausforderung ist die Beweisführung. Insbesondere die intersektionale Diskriminierung kann erst durch das Begreifen des komplexen Zusammenspiels der involvierten Diskriminierungsdimensionen für die Kausalität zwischen Handlung und Wirkung erkannt wer- 71 72 Z.B. im Rahmen von Art. 7 GlG, Art. 9 BehiG, Art. 82 ZPO (SR 272). Siehe hierzu vorne, 3.1.2. 25 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle den.73 Alle im vorliegenden Aufsatz erwähnten Fallbeispiele weisen Potenziale für eine intersektionale Beweisführung auf. In BGE 134 I 49 (Einbürgerung 2008) hatte die unikategoriale bzw. eindimensionale Kausalitätsprüfung die Folge, dass der Sexismus im Rassismus nicht benannt wurde. In der Entscheidung BGE 138 I 305 (Einbürgerung 2011) unterliess es das Gericht zu untersuchen, inwiefern die Behinderung des Beschwerdeführers die rassistischen Voten und damit die rassistisch diskriminierende Einbürgerungsverweigerung ermöglicht hat. In BGE 132 I 167 (Einbürgerung 2006) verhinderte der statische Vergleich zwischen dem zu beurteilenden und einem früheren Einbürgerungsverfahren die Feststellung einer Rechtsverletzung. 3.2.4 Programmatik der Entstigmatisierung: Einbürgerung 2008 (BGE 134 I 49), Einbürgerung 2011 (BGE 138 I 305) Im bereits dargestellten BGE 134 I 49 unterliess es das Gericht, die Frage des Sexismus im Rassismus gegenüber Musliminnen (und Muslimen) zu stellen. Dadurch wird das Signal ausgesendet, der Sexismus sei für den Rassismus nicht von Bedeutung. Durch die explizite Benennung des Sexismus im Rassismus hätte das Bundesgericht ernst genommen, dass in der Argumentation muslimische Frauen als unterdrückt und muslimische Männer als die Unterdrücker dargestellt werden. Weil es diese Dekonstruktion unterlassen hat, trägt es dazu bei, dass sich das Stereotyp weiter zementiert. Aus einer intersektionalen Perspektive betrachtet, hätte das Gericht auch das Argument der Gleichstellung als ein offensichtlich sexistisch diskriminierendes doppelzüngiges entlarvt. Indem es das Gleichstellungsargument als scheinheilig markiert, mit dem kulturelle Grenzen markiert werden, und damit letztlich auf rassistische Weise auf spezifische Weise schwarze Frauen vom Bürgerrecht ferngehalten werden. Auch in Entscheidung 1D_6/2011 zeigt sich, dass eine Vereinfachung die Sache, um die es eigentlich geht, nicht ernst nimmt. 4. Fazit: Von der _ Leerstelle zum »Intersectional Turn« Mehrdimensionale Diskriminierung wird in den geltenden schweizerischen Rechtsnormen nicht explizit benannt. Die Ausführungen haben jedoch gezeigt, dass mehrdimensionale Diskriminierungen partiell unter die 73 26 Crenshaw (1991); Naguib (2010), 233. Tarek Naguib normierten Diskriminierungsverbote subsumiert werden können. Im Unterschied zu offenen Listen wie in Art. 8 Abs. 2 BV, ist der Schutz bei kategorial geschlossenen Diskriminierungsverboten (GlG, BehiG, Art. 261bis StGB bzw. 171c MStG) hingegen auf die verstärkende Mehrdimensionalität beschränkt. Weiter möchte ich an dieser Stelle der Vollständigkeit halber erwähnen – obwohl dies bisher nicht thematisiert wurde – dass das bestehende Schutzdefizit über eine rechtsschöpferische Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln des Privatrechts (Persönlichkeitsschutz74, Grundsatz von Treu und Glauben75, Grundsatz des Verbotes sittenwidrigen Verhaltens76) und des öffentlichen Rechts (z.B. Grundsatz von Treu und Glauben im Aufsichtsrecht) zumindest teilweise ausgeglichen werden kann.77 Die Beachtung von »Mehrdimensionalität« als analytische Kategorie und Orientierung in der Auslegung bestehender Diskriminierungsverbote ist auf der Ebene der Rechtswirklichkeit (noch) nicht angekommen. Die Gerichte waren bis anhin nicht bereit, entsprechende Prüfungen vorzunehmen, auch nicht bei bestehender Kognition.78 Mögliche Gründe für diese Zurückhaltung sind die Prozessmaxime bzw. eine formale Anwendung der Kognitionsregeln der Gerichte, prozessökonomische Überlegungen, fehlende Sensibilität für die Problematik, blinde Flecken und politische Motive. Mit verantwortlich für die Schutzdefizite sind auch die Interessenvertretungsorganisationen, die Antidiskriminierungsberatung sowie die forensisch tätige Anwaltschaft. Neben der fehlenden Sensibilität zeigt sich insbesondere die Herausforderung, dass eindimensional orientierte Schutznormen und Machtstrukturen die taktische Prozessführung, die politisch-strategische Essentialisierung und den Kampf um politische Ressourcen befördern. Nicht auszuschliessen sind zudem auch hier blinde Flecken und Vorurteile. Last but not least steht die Rechtswissenschaft in der Verantwortung, die konzeptuelle und rechtsdogmatische Leer- bzw. Lehrstelle zu füllen. Dies jedoch erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit der Perspektive auf die eigene rechtswissenschaftliche Disziplin und – ich wiederhole mich – ihre blinden Flecken. 74 75 76 77 78 Art. 27ff. ZGB, Art. 328 OR. Art. 2 ZGB. BGE 129 III 35. PÄRLI, Kurt (2009): Vertragsfreiheit, Gleichbehandlung und Diskriminierung im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis, Stämpfli Verlag, Bern. Siehe hierzu Art. 95ff. Bundesgesetz über das Bundesgericht (SR 173.110). 27 Mehrdimensionalität im schweizerischen Antidiskriminierungsrecht: Eine_Leerstelle Eine Ausweitung des kategorialen hin zu einem intersektionalen Blick ist notwendig, damit Diskriminierung erkannt und akkurat benannt und so der Betroffenenperspektive gerecht wird, damit sie auf den bestehenden Rechtsgrundlagen gerügt, bewiesen und angemessen sanktioniert werden kann. Die Dehierarchisierung im geltenden Antidiskriminierungsrecht und eine explizite Regelung mehrdimensionaler Diskriminierung in den bestehenden Gesetzen unterstützte die notwendige Blickschärfung und trüge dazu bei, machtvolle Ungleichheiten nicht zu perpetuieren, sondern abzubauen. Dadurch würde gewährleistet, dass Sachverhalte mehrdimensionaler Diskriminierung von den Diskriminierungsverboten erfasst und angemessen bewertet werden sowie der Rechtsschutz effektiv mobilisiert wird. Noch aber fehlt es an einem hierarchiefreien schweizerischen gesetzlichen Diskriminierungsschutz. Der gesetzgeberische Weg hat derzeit wenig Aussicht auf Erfolg. Einerseits sind die Widerstände der bürgerlich-liberalen Kräfte im Lande zu gross. Andererseits setzt ein Schulterschluss zwischen den überwiegend unikategorial organisierten Antidiskriminierungsakteur_innen voraus, dass genügend Ressourcen und politischer Support zur Verfügung gestellt werden. Daher geht der derzeit pragmatische Weg über die Einflussnahme der Interessenvertretung, der Anwält_innen und der Gerichte über eine intensive publizistische Aktivität in rechtswissenschaftlichen Zeitschriften und über Tagungen und Sensibilisierungsveranstaltungen. Immerhin zeigen sich erste Anzeichen der Formierung einer NGO-Koalition gegen Diskriminierung, unter deren Ägide verschiedene Organisationen gemeinsam für eine bessere Antidiskriminierungsgesetzgebung werben möchten. Eine mehrdimensionale und postkategoriale Perspektive – ein eigentlicher »Intersectional Turn«79 – könnte das bestehende Antidiskriminierungsrecht einen Schritt weiterbringen. Denn soll Antidiskriminierungsrecht Diskriminierung wirksam bekämpfen, muss es mehr als ein monobzw. plurikategoriales Recht sein. So wie der Kampf gegen Diskriminierung der Frau ein Kampf gegen Diskriminierung aller Frauen nämlich »Women of colour, working class women, poor women, physically challenges women, lesbians, old women, as well as white economically privi- 79 28 Zum Begriff siehe EINARSDÓTTIR, Thorgerdur / THORVALDSDÓTTIR, Thorgerdur (2007): Gender Equality and the Intersectional Turn, Kvinder Køn Forsking 1/2007. Tarek Naguib leged heterosexual women«80 ist, so ist der Kampf gegen rassistische Diskriminierung ein Kampf gegen Rassismus in Bezug auf alle Menschen. Oder: Wenn die Bekämpfung von Diskriminierung von Menschen mit Behinderung auch antisexistische, antirassistische, antiageistische und antiklassistische Praxen mit einschließt, werden machtvolle ableistische Ungleichheitsverhältnisse differenzierter erkannt und damit besteht auch die Chance, dass die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung effektiver und gerechter erfolgen kann.81 Schliesslich – um ein letztes Beispiel zu nennen – führt die Arbeit gegen heterosexistische Diskriminierung von Schwulen, Lesben, Trans* und Inter* potenziell zu besseren Erfolgen, wenn sie auch eine Perspektive auf »Race«, »Class«, »Age« und »Handicap« einnimmt. Mit den Worten von Susan Goldberg werden »neglected issues« ins Bewusstsein gerückt und erst dadurch rechtlich sanktionierbar.82 80 81 82 SMITH (1979/1980), zitiert nach MORAGA, Cherie / ANZALDUA, Gloria (1981): This Bridge Called My Back. Writings by Radical Women of Color, Kitchen Table – Women of Color Press, New York. DEGENER, Theresia (2011): Intersections between Disability, Race and Gender in Discrimination Law, in: SCHIEK, Dagmar / LAWSON, Anna (Hg.): European Union Non-Discrimination Law and Intersectionality – Investigating the Triangle of Racial, Gender and Disability Discrimination, Ashgate, 41; LAWSON, Anna (2011): Disadvantage at the Intersection of Race and Disability: Key Challenges for EU Non-Discrimination Law, in: SCHIEK, Dagmar / LAWSON, Anna (Hg.): European Union Non-Discrimination Law and Intersectionality – Investigating the Triangle of Race, Gender and Disability Discrimination, Asghate, 32ff. Goldberg (2009); siehe auch BAILEY, Alison (2010): On Intersectionality and the Whiteness of Feminist Philosophy, in: YANCY, George (Hg.): The Center Must Not Hold: White Women Philosophers on the Whiteness of Philosophy, Lanham, Lexington Books. 29