Sophokles! Die Alten! Philoktet!«

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Sophokles! Die Alten! Philoktet!«
Uta Korzeniewski
»Sophokles! Die Alten! Philoktet!«
Lessing und die antiken Dramatiker
UVK Universitätsverlag Konstanz GmbH
Lessing und die Gelehrsamkeit
Um Lessings Verhältnis zu den antiken Dramatikern zu verstehen, spielt natürlich die klassische Philologie eine wichtige Rolle. Wenn man Lessing gerecht werden will, muss man jedoch
berücksichtigen, dass es die klassische Philologie im modernen Sinne zu Lessings Zeit noch
nicht gab. Daher gilt der erste Blick dieser Arbeit der zeitgenössischen Gelehrsamkeit und anderen möglichen Quellen und Vorbildern Lessings. Nicht nur die Frage, welche Quellen Lessing
benutzt hat, sondern auch, wie er mit ihnen umging, lässt sich aus diesem Blickwinkel besser beantworten und beurteilen. Lessing erweist sich bei dieser Betrachtung als die seltene Ausnahme,
die Gelehrsamkeit und Literaturkritik vereint. Seine Vorläufer und Vorbilder bei dieser Synthese, die er zum Teil weit übertrifft, stammen aus der französischen Tradition der Querelle des
Anciens et des Modernes.
1. LESSING ZWISCHEN ALLEN STÜHLEN: GELEHRT ODER ANGENEHM?
1.1. Die Klasse der Gelehrten
Aus heutiger Sicht wie auch aus der Sicht von Lessings Zeitgenossen fällt es schwer, Lessing
einzuordnen: Einerseits hat er die Bildung und zum Teil auch die Arbeitsweise eines Gelehrten,
andererseits gehört er nicht zu der Klasse der Gelehrten, die sich in Deutschland um diese Zeit
vor allem durch eine Professur oder seltener durch eine Stellung an einem Fürstenhof auszeichnen.1 Diese Gruppe von Gelehrten greift Lessing in seinen Schriften oft genug an, er verspottet
sie, weil sie sich nicht für das Publikum verständlich ausdrücken können und weil sie ihre
Gelehrsamkeit nicht zu nutzen wissen, ähnlich wie es auch die moralischen Wochenschriften im
Spott über die „Pedanten“2 tun. Lessings Spott kann sich aber ebenso gegen die oberflächliche
Popularisierung richten3, z. B. gegen einen französischen Literaturkritiker, der ein Thema nicht
gründlich, sondern wie der Hahn über die Kohlen4 behandelt, gegen die moralischen Wochenschriften oder gar gegen die Erwartungen seiner Leser, die schnurrige Theatergeschichten statt
dramaturgischer Analysen erwarten.5
1.2. Lessings Anspruch: Gelehrt und angenehm
Lessings Ehrgeiz ist es, die Fehler dieser beiden Richtungen zu überwinden, seine Arbeiten
sollen gelehrt und angenehm sein, wie er es im Leben des Sophokles ausdrückt.6 Der Spott, den
er in beide Richtungen austeilt, soll diesen Anspruch verdeutlichen, er dient darüber hinaus als
1
BARNER, Lessing zwischen Bürgerlichkeit und Gelehrtheit, in: Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der
Aufklärung, ed. R. Vierhaus, Heidelberg 1981, Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung VII, p. 165-204.
2
Über die Entwicklung des Begriffs: Wilhelm KÜHLMANN, Gelehrtenrepublik und Fürstenstand; Entwicklung
des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982, Studien und Texte zur
Sozialgeschichte Bd. 3.
3
Lessing Abneigung gegen die Popularphilosophen: PONS, Lessing: Un érudit malgré lui, p. 41; gegen die
Moralischen Wochenschriften: MARTENS, Lessing als Aufklärer; zu Lessings Kritik an den Moralischen Wochenschriften, in: Lessing in heutiger Sicht, 1977, p. 237ss, besonders p. 239s und 245.
4
Über Batteux in der 2. Abhandlung über die Fabel.
5
HD 50 (BVI 429).
6
B V/1 234.
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Lessing und die Gelehrsamkeit
Stilmittel, um den Leser zu unterhalten: Der Pedant gibt in Lessings Schriften manches Mal den
Harlekin bzw. den Don Quichote, das Lachen über ihn soll die ernsthaften Überlegungen auflockern. Die Angriffe auf die Gelehrsamkeit und die Exkurse über Fehler der Gelehrten dienen
darüber hinaus dazu, Lessing trotz der fehlenden gesellschaftlichen Attribute als ebenbürtig auszuweisen: Bekannt als Zeitungsschreiber oder Komödien-Verfasser7 hätte er sonst bei seinen
Lesern nicht dieselbe Glaubwürdigkeit gehabt wie ein Professor.
1.3. Theater und Gelehrsamkeit
Für die Beschäftigung mit dem Theater und besonders mit dem antiken Theater ist zu Lessings Zeit ein gewisses Maß an Gelehrsamkeit unerläßlich: Die traditionelle Gattungspoetik
beruft sich auf antike Vorbilder und die antike Theorie, besonders Aristoteles, und diese sind
dem „ungelehrten Leser“ nicht zugänglich. Wenn Lessing das deutsche Theater seiner Zeit
verändern will, kommt er um die Antike und die Gelehrsamkeit nicht herum. Selbst wenn er
wie die englischen Moralphilosophen seine Ästhetik ausschließlich aus den Empfindungen des
Menschen begründen wollte, müßte er sich doch mit der französischen oder gottschedianischen
Gegenposition auseinandersetzen.
1.4. Was bedeutet Lessing die Gelehrsamkeit?
Die Frage, ob sich die antike Autorität oder das gründliche gelehrte Nachforschen umgehen
ließe, stellt sich jedoch für Lessing gar nicht: Von Kind an mit den antiken Vorbildern vertraut
und als leidenschaftlicher Aufklärer immer auf der Suche nach den Ursprüngen und Quellen
moderner Zustände, ist Lessing ein wahrer Gelehrter im Sinne seiner Zeit8 und versteht sich
auch selbst als solcher9. So sehr er über die Pedanterie spotten kann, ist er doch ebenso schnell
bereit, den Gelehrten gegen den Spott anderer in Schutz zu nehmen, wenn er ihm unberechtigt
scheint.10 Während seine privaten Notizen zeigen, wie seine Interessen sich bis in die letzten
Details der Gelehrsamkeit zum Theater erstrecken, ordnet Lessing seine gelehrte Neugier in den
veröffentlichten Schriften seinem Ziel unter, das moderne Theater zu verbessern und zu reformieren. Seine Gelehrsamkeit soll im Gegensatz zur Pedanterie nützlich sein;11 sie dient daher
7
Zeugnisse dafür, daß Lessings journalistische Tätigkeit nicht als gelehrt anerkannt wurde, stellt Ernst KUNDT,
Lessing und der Buchhandel, p. 20ss zusammen. Sulzer bezeichnet Lessing als Zeitungsschreiber, und die Karschin schreibt an Gleim: Er ist Zeitungsschreiber in der Vossischen Buchhandlung. Weiter nichts, soviel ich weiß.
Ein Besucher vermerkt in seinem Tagebuch noch über den Wolfenbütteler Bibliothekar verwundert und bewundernd: seine Kenntnisse sind sehr ausgedehnt, und er ist kein bloßer Komödien-Verfasser. DAUNICHT, Lessing im
Gespräch, p. 336, Nr. 576.
8
PONS, Lessing: Un érudit malgré lui ?, 1979, p. 40s.
9
Im Umgang mit Nicolai und Mendelssohn zeigt er sich als typischer Gelehrter und bedauert sogar scherzhaft
das Verschwinden der Foliobände, Kennzeichen der Gelehrsamkeit alten Stils DAUNICHT, Lessing im Gespräch
(1971), p. 76-78 (Nr. 102 und 103). Als Wolfenbütteler Bibliothekar schreibt Lessing an Reiske, dem er Handschriften schickt: Ich habe zwar versprechen müssen, sie nicht außer Landes zu schicken, doch … will ich einmal
annehmen, daß Gelehrte, die einander dienen wollen, alle in einem Lande leben. (17.12.1770, B XI/2 125, Nr.
632).
10
Das Studium der Alten bis zu dieser Bekanntschaft getrieben, ist keine Pedanterei, sondern vielmehr das Mittel, wodurch Leibniz der geworden ist, der er war, und der einzige Weg, durch welchen sich ein fleißiger und
denkender Mensch ihm nähern kann (71. Literaturbrief, Teil V.).
11
Vgl. die Kritik an Hédelin d’Aubignac und Dacier, deren gelehrte Einwände zwar berechtigt seien, die aber
selbst nicht wissen, was sie wollen. HD 81: Denn Racine hat nur durch seine Muster verführt, Corneille aber,
durch seine Muster und Lehren zugleich. Die letzteren besonders, von der ganzen Nation (bis auf einen oder zwei
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manchmal dazu, das antike Theater in einem Grad zu aktualisieren, der aus der Sicht des modernen Philologen unhistorisch erscheint.
Aber kann man denn an einen Gelehrten des 18. Jahrhunderts schon die Maßstäbe anlegen
wie an einen Altphilologen des frühen 19. Jahrhunderts oder gar unserer eigenen Zeit? Wenn
Lessing aus moderner Sicht Irrtümer begeht oder „schummelt“, sahen seine Zeitgenossen dies
genauso? Um diese Frage zu beantworten, muß man sich Lessings gelehrte Zeitgenossen und
ihre Arbeitsweise ansehen.
2. LESSING UND DIE GELEHRSAMKEIT
Wenn es um die „Eigenart lessingschen Philologisierens“ geht12, muß man etwas über die
Alternativen wissen: Wie „philologisierten“ denn die anderen Gelehrten zu Lessings Zeit? Wo
liegen Unterschiede, wo Gemeinsamkeiten? Wo ist Lessings Standort in der gelehrten Landschaft seiner Zeit, aus der sich die klassische Altertumswissenschaft entwickeln wird?
2.1. Die verschiedenen Vorläufer der klassischen Altertumswissenschaft
Wie Momigliano, Grafton und andere gezeigt haben, entwickelt sich die klassische Altertumswissenschaft aus verschiedenen Strömungen:
Da ist zum einen die klassische humanistische Gelehrsamkeit, die literarische Texte bearbeitet, kommentiert und nachahmt, sowohl durch Imitationen in den alten Sprachen als auch
zunehmend durch Übersetzungen und Nachschöpfungen in den Nationalsprachen. Der größte
Teil des modernen Theaters hat hier seine Wurzeln. 13 Diese Richtung drückt sich vor allem in
Poetikkommentaren, Poetiken, Ausgaben und Übersetzungen der antiken Dramen aus.
Im 17. Jahrhundert unterscheidet sich davon zunehmend die antiquarische Gelehrsamkeit,
die mehr oder weniger systematisch antike Quellen zu verschiedenen Sachfragen zusammenstellt. Ihre Schriften zu einzelnen Themen wie antikes Trinkgeschirr, Bestattungssitten, Gladiatorenspiele, aber auch Theaterbau und Agone sind zu Lessings Zeit in großen Thesauri zusammengefaßt und durch gemeinsame Indices erschlossen14.
Seit Bentley bildet sich in England eine Konjekturalkritik heraus, die über persönliches
Sprachgefühl und Leseerfahrung hinaus ihre Ergebnisse historisch, metrisch und sprachlich
begründet und diskutiert. Davon profitieren auch die antiken Dramentexte.
Der moderne Leser vermißt hier nicht nur die wichtigen Quellen aus Archäologie und Epigraphik – beide Wissenschaften waren bis zu Lessings Zeit jedoch noch kaum in der Lage, mehr
als Fragmente zum antiken Theater beizutragen15 – sondern auch andere Gebiete, die noch nicht
Pedanten, einen Hedelin, einen Dacier, die aber oft selbst nicht wußten, was sie wollten,) als Orakelsprüche
angenommen.... (BVI 587).
12
Walter JENS, Lessing und die Antike (1978), Reclam p. 52.
13
Mysterienspiele, Autos und volkstümliche Jahrmarktsunterhaltung haben sicherlich ebenfalls einen Anteil,
das literarische Theater entsteht jedoch in bewußter Nachahmung antiker Vorbilder (Aufführung des Ödipus in
Vicenza) und oft in ebenso bewußter Ablehnung der volkstümlichen Formen.
14
In meiner Bibliographie von Lessings Quellen habe ich sie mit der Sigle Thes gekennzeichnet.
15
Über die epigraphischen und archäologischen Zeugnisse und ihre Wichtigkeit für das Drama: BLUME,
Einführung in das antike Theaterwesen, Darmstadt 1978, p. 8-11.
Zwei der wichtigsten archäologischen Quellen waren noch völlig unerschlossen: Die Vasenbilder wurden allgemein den Etruskern zugeordnet und nicht auf das griechische Theater bezogen (R.M. COOK, Greek Painted
Pottery, p. 288ss), und bis zu den Ausgrabungen im 19. Jahrhundert hielt man das Odeon für das noch unentdeckte Dionysos-Theater (Jacob LANDY, Stuart und Revett: Pioneer Archeologists; in: Archaeology IX, 1956,
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systematisch bearbeitet worden sind, wie z. B. die antike Metrik und die Dialekte. Auch die
Mythologie wird erst zu Lessings Zeit zum ersten Mal wissenschaftlich behandelt.
2.2. Die Beschäftigung mit dem antiken Theater reicht noch über die gelehrten Fachgebiete
hinaus
Antiquarische Gelehrsamkeit und Konjekturalkritik sind Strömungen, die auf die Philologie
als Wissenschaft hinarbeiten, indem sie systematisches Arbeiten und Spezialisierung fördern.
Andererseits erscheint in ihnen die literarische Seite der antiken Texte oft nur am Rande.
Gleichzeitig bilden sich Vorläufer der Literaturkritik und Literaturtheorie in den Nationalsprachen heraus, die jedoch nicht ohne den Bezug auf das antike Vorbild auskommen.
Zunächst noch als Nebenzweig der humanistischen Gelehrsamkeit festigt sich im Frankreich
des 17. Jahrhunderts die muttersprachliche Literaturkritik, die aber im engen Bezug zur Antike
bleibt, wie sich besonders in der Querelle des Anciens et des Modernes zeigt. In Deutschland
beginnt dieser Zweig erst mit Gottsched und Lessing.
Vor allem in Schottland und England fragen die Moralphilosophen nach den Grundlagen der
Ästhetik in den menschlischen Empfindungen. Der Bezug zur Antike zeigt sich nicht nur in den
angeführten Beispielen, sondern auch in der Abhängigkeit von antiken Theorien über Kunst und
Literatur.
2.3 Gelehrsamkeit in Lessings Umgebung
Wie man sieht, ist das Wissen über das antike Theater über zahlreiche Einzeldisziplinen verstreut. Diese haben noch dazu ihre Stammländer: Ästhetik und Konjekturalkritik in England,
antiquarische Gelehrsamkeit in Holland, Literaturkritik in Frankreich. Deutschland fehlt in
dieser Aufzählung, man könnte es am ehesten der antiquarischen Gelehrsamkeit zurechnen, in
der die Holländer führend sind. Während Goethe eine Generation später in ständigem Austausch
mit Philologen steht, die sich intensiv mit dem antiken Theater befassen und auf seine Fragen
eingehen können, steht Lessing allein auf weiter Flur.
p.252-259). Die wichtigsten archäologischen Werke zu Lessings Zeit mit Bezügen zum athenischen Theater sind
in der Bibliographie angeführt und mit Arch gekennzeichnet. Die meisten dieser Quellen werden bei Lessing
erwähnt, teils in anderen Zusammenhängen; sie werden näher erläutert in: C. B. STARCK, Systematik und Geschichte der Archäologie. Curt WACHSMUT, Die Stadt Athen im Alterthum, Leipzig 1874, Bd. I; GRELL, Le 18e
siècle et l’Antiquite, I, 249ss. Über die frühe Geschichte der Ausgrabungen von Herkulaneum und Pompeji:
Robert ETIENNE: Pompeji. Das Leben in einer antiken Stadt, Stuttgart 1974, cap.2, p. 44-55; Charles E.
MULLETT, Englishmen discover Herculaneum and Pompeii; in: Archaeology X, 1957, p.31-38; Jean SEZNEC,
Herculaneum and Pompeii in French Literature of the eighteenth century, in: Archaeology II, 1949, p.150-158.
Die epigraphischen Zeugnisse: METTE, Urkunden dramatischer Aufführungen in Griechenland; darüber hinaus
findet man in Bd. I der TrGF die Theaterinschriften, die in der Literatur überliefert sind und die, die nicht zeitgenössisch zu den Theateraufführungen sind, wie z. B. das Marmor Parium. Die Geschichte der Epigraphik:
LARFELD, Handbuch der Epigraphik, 1907. Die wichtigsten Theaterinschriften wurden erst bei Ausgrabungen im
19. Jahrhundert gefunden. Von den bei Larfeld genannten Quellen benutzt Lessing vor allem die von Gudius und
Graevius erweiterte Auflage von Gruter, Amsterdam 1707, sowie für die schon entdeckten Teile des Marmor
Parium den Abdruck bei Palmerius, Leiden 1668. Die aktuellste Inschriftensammlung von Muratori benutzt er
nicht. Die Epigraphik ist besonders für die Organisation der antiken Aufführungen wichtig (siehe Kap. Theaterorganisation 2.6: Die Rolle des Staates).
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Lessing und die antiken Dramatiker
Lessings Schul- und Universitätszeit
Zu der Frage, ob Lessing ein Gelehrter war, wird öfters seine Schulzeit an der Fürstenschule
angeführt. Lessing selbst bezeugt, daß er dort Plautus und Terenz gelesen habe16, wahrscheinlich in der freien Lektürezeit. Für das Griechische wissen wir weniger über Niveau und Umfang
seiner Studien. Sein Griechischlehrer Höre war wohl nicht der große Anreger, zu dem ihn Kont
verklären möchte: Lessing nennt ihn einen Pedanten, der brave Fürstenschüler erziehen wolle.17
Immerhin bietet uns dieser Höre das bisher noch nicht berücksichtigte Zeugnis, daß er wie
sein Vorgänger mit seinen Fürstenschülern jedes Jahr den Aias des Sophokles gelesen habe,
allerdings mit der Einschränkung, daß seine Schüler nicht ohne lateinische Parallelübersetzung
auskommen könnten.18 Höres Schulausgabe läßt den Schluß zu, daß der Aias als moralisches
und rhetorisches Lehrstück mit Ausblicken in die Mythologie gelesen wurde, ohne auf Dramaturgie und Theaterwesen näher einzugehen.
Von Christ, bei dem Lessing in Leipzig studiert hat, lassen sich keine Anregungen für Lessings Beschäftigung mit dem Theater mehr nachweisen, auch wenn es sie sicher gegeben hat:
Christs Vorlesung über Plautus ist leider nicht erhalten, und verschiedene Indizien deutet darauf
hin, daß Lessing sie nicht gehört hat19.
Lessings persönliche Bekanntschaft mit Reiske beginnt erst in der Wolfenbütteler Zeit, als er
seine bekannten Arbeiten zum antiken Theater schon abgeschlossen hat.
Deutsche Gelehrte und Kritiker
Was ist nun mit den großen Gelehrten und Kritikern des 18. Jahrhunderts, deren Namen und
heute vertraut sind, Ernesti, Christ, Heyne, Gesner, Reiske, Winckelmann auf der einen, Gott16
LM V 268, G. E. Lessings Schriften, Dritter Teil, Vorrede: Theophrast, Plautus und Terenz waren meine
Welt, die ich in dem engen Bezirke einer klostermäßigen Schule, mit aller Bequemlichkeit studierte-17
KONT, p.23: stimulé par son professeur Jean-Godefroi Höre, qui représentait dignement les études antiques.
Die Anekdoten aus der Schulzeit deuten nicht auf ein gutes Verhältnis zum Konrektor. (Brief an den Vater vom
2.11. 1750, vgl. auch DANZEL / GUHRAUER, G. E. Lessing, Bd. I, p. 31; p. 40).
18
BARNER, Produktive Rezeption, Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973, p.16, meint, Lessing
habe Sophokles nicht in der Schule gelesen und kritisiert, daß dies sonst zu selbstverständlich angenommen
würde. Ich richte mich hier nach der Aussage von Lessings Lehrer Höre, der 1746, also in dem Jahr, in dem
Lessing die Fürstenschule verläßt, im Vorwort seiner Schulausgabe des Aias schreibt: minus decennio est, quod...
in afranorum ordinem magistrorum cooptatus, Sophoclis Aiacem ... exemplo Silligii, cathedram vacefacientis,
interpretari coepi. Schon Höres Vorgänger hatte also den Aias im Unterricht behandelt. HOERIUS: Sophoclis Ajax
cum Scholiis tam antiquis quam novis et translatione soluta metris ac revincta. Wittenberg 1746.
19
DANZEL/GUHRAUER, G. E. Lessing, p. 51s. und p. 68. Das Vorlesungsmanuskript, das Zeune posthum unter
dem Titel Abhandlungen über die Litteratur und Kunstwerke vornehmlich des Alterthums (Leipzig 1776) herausgegeben hat, gibt die private Vorlesung über Kunstgeschichte wieder und enthält kein Kapitel über das Drama.
Schon Ernesti hat in Christs Nachlaß erfolglos nach Unterlagen über die Plautus-Vorlesung gesucht, wie er im
Vorwort der Plautus-Ausgabe von 1760 schreibt: Christius noster...multorum annorum publicas praelectiones
consumserat ennarandis Plauti commoediis... In Schedis quidem eius nihil repertum est, quod ad hanc rationem
pertineret: at in librorum apparatu nonnulla ad hoc consilium pertinentia venire vidimus (Praefatio p. x).
DÖRFFEL, J. F. Christ, sein Leben und seine Schriften (1878), druckt auf p. 49 das Vorlesungsverzeichnis, demzufolge Christ von 1739 bis 1742 über Plautus gelesen hat, schreibt aber auf p. 57, daß Lessing 1746 die Universität Leipzig bezog, als Christ noch über Plautus las.
Lessing selbst sagt im 27. an. Brief: Ich habe Christen gekannt und Christen gehört, und ihn über diese Sachen
selbst gehört. Lessing bezieht sich hier mit diese Sachen auf die antiken Gemmen, er hat also wahrscheinlich
Christs private Vorlesung supra re litteraria, rerum antiquarum notitia, reliquis litteris (DÖRFFEL, p. 49) zu
diesem Thema gehört, die öffentlichen Vorlesungen behandelten nämlich römische Autoren. Was Lessing Christ
im allgemeinen verdankt, hat am besten Erich Schmidt beschrieben: SCHMIDT, Lessing, p. 43-48.
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Lessing und die Gelehrsamkeit
sched, die Schlegels, Wieland auf der anderen Seite? Auf der Seite der Gelehrten ergibt sich das
Bild, daß sie so gut wie nichts zum antiken Theater veröffentlicht haben. Ernesti und Gessner
geben in den Einleitungen zu ihren Schulausgaben nur Allgemeinplätze von sich, und ein
Einfluß von Reiskes Konjekturensammlung auf Lessing läßt sich nicht nachweisen. Selbst Curtius’ Poetikkommentar führt lieber Beispiele aus Voltaire oder Racine als aus Sophokles an.
Einzig Winckelmann ist in den antiken Dramen so zu Hause, daß er beiläufig Konjekturen zum
Dramentext und zu den Kommentaren der aktuellen Ausgaben in seine Werke einflechten kann,
es bleibt aber bei diesen vereinzelten Bemerkungen.20
Auf der Seite der Literaturkritik bietet sich ein anderes Bild: Hier beschäftigt man sich intensiv mit dem Theater, auch mit dem antiken. Gottsched fehlen jedoch die nötigen sprachlichen
und historischen Grundlagenkenntnisse,21 und die anderen großen Namen des 18. Jahrhunderts
beschäftigen sich erst nach Lessing und von ihm angeregt mit dem antiken Theater22. Die große
Ausnahme ist hier Johann Elias Schlegel,23 der die Elektra übersetzt, die Troerinnen nachdichtet24 und schon den Philoktet als Beispiel anführt.25 Durch seine Abwanderung nach Dänemark
und seinen frühen Tod wirkt er jedoch nicht so entscheidend auf die deutsche Literatur, wie sein
Talent und seine Bildung es erwarten ließen.
So bleiben unter den Gelehrten wie unter den Kritikern die weniger bekannten Namen, die
sich mit dem antiken Theater befassen: Schulmänner wie Goldhagen übersetzen Theaterstücke,
Starck und Wilamov verfassen zwei lateinische Monographien zu Fragen des antiken Theaters,
Schirach vermittelt Marmotels Gedanken über die Tragik nach Deutschland.26 Auch Steinbrüchel, der Schweizer Übersetzer einiger griechischer Dramen, ist heute kaum bekannt.
Wenn Lessing über die Mittelmäßigkeit seiner Umgebung hinauskommen will, ist er auf die
klassischen gelehrten Hilfsmittel angewiesen:27 Noch mehr als heute ist zu seiner Zeit jede
Gelehrsamkeit an das Buch gebunden, Archäologie und Epigraphik beginnen gerade erst, sich
20
Anmerkungen über die Baukunst (1762), p. 24s. Winckelmann verbessert Barnes’ Euripides-Übersetzung
außerdem an zwei Stellen seiner Geschichte der Kunst (Teil I, 4. und 5. cap., p. 272 und p. 307). Über Winckelmanns Literaturkenntnisse: UHLIG, Kunst und Dichtung bei Winckelmann, Zeitschrift für dt. Philologie, Berlin
1979, Bd 98, Heft 2, p. 161-176.
21
DANZEL, p.146 zitiert ein schlagendes Zeugnis, nämlich Ernestis Gedenkrede auf Gottsched. S. auch
SCHMIDT, Lessing, p. 51, FRANKE, p. 13.
22
Herder antwortert immerhin schon direkt auf den Laokoon, sein Wäldchen verrät aber weit geringere Kenntnis der antiken Theaterpraxis als Lessings Text (s. Kapitel Theaterpraxis).
23
Zu Lessings Zeit gibt es drei Brüder: Johann Elias (1719-1749), Johann Heinrich und Johann Adolf Schlegel. Johann Adolf ist der Übersetzer von Batteux’ Les beaux Arts (Leipzig 1751) und von Baniers Mythologie
(1754) und der Vater von August Wilhelm und Friedrich, den beiden berühmten Schlegels der Goethezeit. Werke,
Kopenhagen / Leipzig, Bd. I 1761, Bd. II 1762, Bd. III 1764, Bd. IV 1766, Bd. V 1770. Athenäum Reprint
Frankfurt a. M. 1971. Eine gute Einführung in die dramaturgischen Werke, ihre Entstehung und Vorbilder gibt
Johann von ANTONIEWICZ in der Einleitung seiner Ausgabe: Johann Elias Schlegels aesthetische und dramaturgische Schriften, Heilbronn 1887 (Deutsche Literaturdenkm. des 18. und 19. Jhds. 26).
24
1737 und 1738 in den Fastnachtsferien, sagt sein Bruder in den Werken im Vorbericht zu den Trojanerinnen,
III, 143. Werke III, 387. Über die Datierung der Übersetzung vgl. ANTONIEWICZ, p. xiv s. Besprechung der
Übersetzung in GGA 18. 4. 1748, abgedruckt von Guthke in Literarisches Leben p. 337s, der sie Haller zuweist.
25
Auszug eines Briefes, Werke III p. 205s
26
Die Autoren sind in der Bibliographie durch D G gekennzeichnet. Die Plautusübersetzungen werden
vorgestellt von REINHARDSTOETTNER, Plautus, spätere Bearbeitungen plautinischer Lustspiele.
27
Paul RAABE, Lessing und die Gelehrsamkeit, p.71.
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Lessing und die antiken Dramatiker
einen Bereich darüber hinaus zu eröffnen, und das Medium der gelehrten Zeitschrift28 hat die
alten Sammelschriften noch nicht vollständig verdrängt. Bücher und Zeitschriften vermitteln
ihm auch die europäische Literaturkritik.
3. LESSINGS GELEHRTE QUELLEN
Unter diesen gelehrten Hilsmitteln fehlen wissenschaftliche Gattungen, die heute selbstverständliches Handwerkszeug des Philologen sind: Zu Lessings Zeit vermischen die gerade erst
entstandenen wissenschaftlichen Zeitschriften noch alle Wissensgebiete, es gibt keine Literaturgeschichten29, Textausgaben beruhen auf wenigen und nicht gewerteten Handschriften, Übersetzungen in moderne Sprachen gibt es nur von wenigen antiken Dramen, die ersten Wörterbücher und Nachschlagewerke sind nicht alphabetisch, sondern systematisch oder etymologisch
geordnet, Grammatiken, Metriken und Kommentare reproduzieren zum Teil sehr unkritisch
antikes Material aus disparaten Quellen.
Um die Masse der verstreuten gelehrten Arbeiten zu erschließen, die auf Miscellanea30, Briefsammlungen, Streitschriften und Thesauri verteilt ist, behilft Lessing sich wie die Gelehrten
seiner Zeit mit den wenigen verlässlichen Handbüchern wie Fabricius’ Bibliotheca und Bayles’
Dictionnaire und darüber hinaus mit den ausgedehnten Indices vieler gelehrter Werke. Er beherrscht dieses Handwerkszeug souverän, besser als viele der gelehrten Zeitgenossen, und die
Ergebnisse seiner gelehrten Nachforschungen sowie seines Scharfsinns und seines Geschmacks
ragen weiter über seine Zeitgenossen hinaus als seine Griechischkenntnisse.
Aus persönlicher Vorliebe wie aus gelehrter Notwendigkeit ist Lessing ein Büchernarr, er besitzt zeitweise 6000 Bücher, von denen er den größten Teil in zwei Schritten versteigern läßt,
bevor er nach Wolfenbüttel geht. Er benutzt außerdem in Berlin, Leipzig und Hamburg eifrig
die Bibliotheken. Der Katalog seiner privaten Bibliothek ist leider verschollen.31
Lessings Gesprächspartner zum antiken Theater, seine Bücher, sind uns daher nicht direkt
zugänglich, man muß sie aus Lessings Zitaten erschließen. Dabei kann man sich keinesfalls auf
die Namen verlassen, die Lessing selbst in seinen Schriften und Notizen nennt: Zum Teil hat er
28
Otto DANN: Vom Journal des Scavants zur wissenschaftlichen Zeitschrift, in: Gelehrte Bücher vom Humanismus bis zur Gegenwart, Hrsg. Bernhard Fabian und Paul Raabe, Wiesbaden 1983, p.63-80.
29
FUHRMANN, Die Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert,
in: Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, ed. B. Cerquiglini und H.U. Gumbrecht, Frankfurt a.M. 1983,
p. 49-72.
30
Diese Sammlungen von Kommentaren, Anmerkungen und Konjekturen zu verschiedenen Textstellen sind in
der Bibliographie mit Sam gekennzeichnet, ebenso wie die gelehrten Briefe und Streitschriften, wenn sie auf eine
ähnliche Ansammlung von Einzelbeobachtungen hinauslaufen.
31
Lessings Bibliothek wurde auf drei Auktionen versteigert: Oktober 1768 in Berlin, am 1.2. 1769 in Hamburg und am 14. 5. 1770 ebenfalls in Hamburg. (Roland FOLTER, Deutsche Dichter- und Germanistenbibliotheken, Stuttgart 1975, p. 133). Einige der versteigerten Werke sind von der Bibliothek Wolfenbüttel erworben
worden: Im September 1770 verzeichnet das Akzessionsjournal dreizehn Titel aus der Versteigerung von Lessings
Bibliothek in Hamburg, darunter die Jahrgänge 1721 bis 1758 des Mercure de Paris und das Journal des Scavans
von 1665 bis 1768, …. Das einzige deutsche Buch ist eine griechisch-lateinische Ausgabe antiker Redner von
1615, und nur ein venezianischer Demosthenes-Druck von 1504 gehört zu den wenigen kostbaren alten Büchern
die Lessing für die Bibliothek anschaffte. REIFENBERG, Bernd: Lessing und die Bibliothek, p.56. In einem Brief
an Gleim (1. 2. 1767) zählt Lessing außerdem die Zeitschriftenreihen auf, die er besitzt: das Journal des Savans,
den Mercure de France, die Acta Eruditorum und die Années litteraires de Fréron. Lessings Briefwechsel zu seiner
Bibliothek und ihrer Versteigerung ist ausführlich wiedergegeben von BOGENG, Die großen Bibliophilen,1922,
Bd. I, p. 274-282, auf die Bücher, die ihm in verschiedenen Lebensabschnitten in Berlin, Breslau und Hamburg
zur Verfügung standen, geht das Kapitel Lessings Bibliothek näher ein.
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Lessing und die Gelehrsamkeit
sich diese Notizen gerade angelegt, um etwas erst später nachzusehen, z. B. Quellenangaben aus
zweiter Hand, zum Teil hat er nicht alle seine Quellen angegeben, entweder weil er voraussetzen konnte, daß sie bekannt waren, oder weil der entsprechende Name gerade nicht in seine
Argumentation paßte. Einige der erwähnten Bücher hat er auch nachweislich nur „diagonal“
gelesen,32 wie man aus Fragen erkennen kann, die sich bei genauerer Lektüre von selbst geklärt
hätten.
Um zu erkennen, welches Bild Lessings Zeitgenossen vom antiken Theater und den Dramatikern hatten, muß man also über die direkten Quellen hinausgehen, einerseits das grundlegende
Handwerkszeug des Gelehrten anführen, das nicht für jede Kleinigkeit zitiert wird, andererseits
die beiläufigen Bemerkungen bei anderen Literaturkritikern, die Rückschlüsse auf allgemein
verbreitete Meinungen und Urteile zulassen.
3.1. Aus welchen Gebieten stammen Lessings Quellen über die antiken Dramatiker und das
Theater?
Auf den ersten Blick scheinen Lessings Nachforschungen über das antike Theater keine Grenzen zu kennen: Italienische Poetiken und holländische Thesauri, französische anciens wie englische Moralphilosophen, Sammelschriften wie Zeitschriften finden sich unter seinen Quellen.
Wenn man genauer hinsieht, lassen sich jedoch einige Grenzen ziehen, die weniger von seinem
persönlichen Interesse als von der Literaturdiskussion seiner Zeit bestimmt werden: So kann
Lessing die englischen Moralphilosophen zwar als wertvolle Anregung zur Theatertheorie heranziehen, jedoch kaum, wenn es um antike Beispiele geht. Diese sind bei den Engländern sehr
spärlich vertreten und dazu noch teils aus französischen Quellen geschöpft. Immerhin ist der
englische Blick auf die antiken Dramen wie auch auf die Querelle kaum von der doctrine classique geprägt, so daß die englische Literaturkritik, gestützt auf eine solide gelehrte Tradition
und auf ihre Wertschätzung Shakespeares, die antiken Dramen schon stärker historisch beurteilt. Hier findet Lessing wertvolle Anregungen.
Italienische Poetiken und Kommentare zieht Lessing nur in Einzelfällen heran: Im Allgemeinen geht er nicht vor Vossius’ Poetik im Lateinischen und vor die Querelle du Cid in der französischen Literaturkritik zurück: Erst mit der Etablierung der französischen Klassik beginnt der
Horizont seiner Diskussion. Bentley ist ihm zwar bekannt, er hat jedoch die Dissertation nachweislich nicht gelesen und bezieht sich auch nicht auf die englische Konjekturalkritik zu den
antiken Dramen33.
Im Unterschied zu vielen Gelehrten seiner Zeit bevorzugt Lessing direkte Quellen: Er beginnt
zwar seine gelehrte Untersuchung meist von einer modernen Fragestellung aus, die er über
Nachschlagewerke oder Indices verfolgt, jedoch bieten ihm gelehrte Kommentare und Theorien
immer nur den Ausgangspunkt für eigene Nachforschungen am antiken Text, und auch antike
theoretische Texte überprüft er oft an den Dramen selbst. Bei seiner Dramenlektüre macht
Lessing sich Notizen, die sich auf Fragestellungen der Dramaturgie und des modernen Theaters
beziehen. Insofern sind neben Fabricius und Bayle die Ausgaben mit ihren Kommentaren und
32
Eine Praxis, die schon damals unter Gelehrten weit verbreitet war, vgl. p. 52-54 bei Bernhard FABIAN: Der
Gelehrte als Leser.
33
Die Konjekturalkritik ist ohnehin nicht Lessings starke Seite, und die wenigen Textstellen aus antiken Dramen, die er zitiert, sind nicht von englischen Kritikern behandelt worden, mit einer Ausnahme, die aber völlig
indiskutabel ist (Benjamin, s. Kapitel Dramatikerausgaben, Aischylos).
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37
Lessing und die antiken Dramatiker
Indices seine wichtigsten gelehrten Quellen. In ihnen findet man jedoch gerade nicht, was Lessings besonderen Zugang zu den antiken Dramen ausmacht: den Blick des Theatermanns.
Lessings Hauptquellen sind neben der lateinischen Gelehrsamkeit vor allem französische Literaturkritiker
Lessing, der große Kritiker der französischen Tragödie, bezieht sich bei den antiken Dramatikern auf das – noch spärliche – gelehrte Handwerkszeug seiner Zeit und auf französische Quellen und Anregungen34. Dabei spielt eine bedeutende Rolle die Querelle des Anciens et des
Modernes, deren Ausläufer in den Bereich des Dramas noch zu wenig beachtet worden sind35.
Die Querelle fördert das historische Bewußtsein, fragt gleichzeitig nach der Bedeutung der
Antike für die Neuzeit und trägt eine – wenn auch oberflächliche – Beschäftigung mit der Antike in den Nationalsprachen, d. h. über den engen Kreis der Gelehrten hinaus36. Die antiken
Dramen werden mit den modernen verglichen und dabei nicht mehr nur als Texte, sondern
ansatzweise schon als gespielte Stücke mit ihrem Publikum betrachtet. Dies alles sind Punkte,
die Lessing auch für Deutschland am Herzen liegen.
Hédélin d’Aubignac und André Dacier behandeln schon in Ansätzen die antike Theaterpraxis, wenn auch vom Standpunkt der doctrine classique. Sie sind für Lessing interessante gelehrte Quellen, Fénelon, Dubos und Brumoy sind seine Anreger und Vorbilder. Fénelon, weil
er eine Ästhetik der Empfindsamkeit mit antiken Beispielen unterstützt37, Dubois, weil er die
historische Distanz zur antiken Literatur durch eine Ästhetik überwinden will, die nach der
Wirkung auf die Zuschauer fragt, und Brumoy, weil er Dubos’ Ästhetik auf das antike Drama
34
Über die Rolle des antiken Theaters im Klassizismus: BRAY, La formation de la doctrine classique (1927)
und KNIGHT, Racine et la Grece (1950); für das 18. Jahrhundert, besonders p. 64-68 über die aristotelischen
Regeln. MARTINO, Die Entwicklung der dramatischen Theorien (1972) und BRAITMEYER: Geschichte der poetischen Theorien von den Diskursen der Maler bis auf Lessing (1888/9).
35
Über die Querelle allgemein und RIGAULT, Histoire de la Querelle des Anciens et des Modernes (1856) und
GILLOT, La Querelle des aniens et des modernes en France (1914). Beide konzentrieren sich auf den Homerstreit
und erwähnen die Dramatiker vor allem, wenn die gegnerischen Parteien summarisch Listen von modernen und
antiken Dichtern gegeneinander stellen. Gillot gibt auch einen guten Überblick über den gesellschaftlichen Hintergrund der Querelle. Speziell über den Homerstreit: FINSLER, Homer in der Neuzeit (1912). KAPITZA, Ein
bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt (1981) stellt sehr übersichtlich die wichtigen Texte der französischen
Querelle und ihrer Aufnahme in Deutschland zusammen. Dabei umfaßt er auch die auf Latein abgefaßte gelehrte
Literatur. Er gibt außerdem eine Klassifizierung der wichtigen Argumente und einen Überblick über ihre Entwicklung im Verlauf des Streits. Über das Drama in der Querelle gibt es leider keine so umfassende Darstellung,
aber einen Überblick bei BORINSKI, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie der Neuzeit, Bd II (1924), p. 186-195.
In meiner Bibliographie sind die betreffenden zeitgenössischen Autoren mit Q sowie je nach Partei mit ant oder
mod gekennzeichnet.
36
In diesem Zusammenhang hat die Querelle das zweifelhafte Verdienst, gewisse Anekdoten und typische
Kritikpunkte an Einzelzügen antiker Dramen zu Stereotypen erstarren zu lassen, die sich in der weiteren Diskussion als zählebig erweisen werden. So sind z. B. die von Lessing verteidigten euripideischen Prologe ein Lieblingsthema der Literaturkritik, ebenso wie die Einheit der Zeit in Phönissen und Captivi, Dramen, die sonst kaum
bekannt sind und so gut wie nie aus einem anderen Grund zitiert werden.
37
Daß Fénelon und Dubos zu den Wegbereitern der Empfindsamkeit gehören, hat auch Klaus DIRSCHEL (Von
der Herrschaft der Schönheit über unsere Gefühle - Elemente einer sich formierenden Ästhetik der sensibilité; in:
Frühaufklärung, ed. Sebastian Neumeister, Romanist. Kolloqu. 6, München 1994, p. 388ss) herausgestellt, er
wundert sich, daß es die Anciens und nicht die Modernes sind, die diese neue Richtung vertreten (p. 388). Die
späteren Modernes bilden jedoch die literarisch konservative Partei, da sie die inzwischen kanonisierten französischen Klassiker Corneille und Racine zum Vorbild für die zeitgenössische Literatur machen wollen und sich
gegen neue Strömungen und Gattungen wenden.
38
Uta Korzeniewski, »Sophokles! Die Alten! Philoktet!«
Lessing und die Gelehrsamkeit
überträgt. Brumoy ist außerdem wichtig wegen der Form seiner Darstellung, in der er die Dramen durch eine Kombination von Erklärungen, Paraphrasen und Übersetzungen dem französischen Publikum zugänglich macht.
Natürlich haben auch Lessings französische Zeitgenossen aus dieser Generation der Querelle
gelernt: Französische Kritiker bemühen sich im Gegensatz zu den Gelehrten traditionellen Stils,
das antike Drama als Theaterstück zu sehen und es dementsprechend zu kritisieren oder von
ihm zu lernen.
Dabei entwickeln Voltaire und Marmontel sowie einige unbedeutendere Autoren38 vor allem
die Ideen der modernes (und dahinter steht Corneille) weiter, ebenso wie auf seine Art Rousseau. Diderot und Batteux, in gewissem Sinne auch Jean Racine, stehen in der Tradition
Fénelons, während die Académie des Inscriptions ihr gelehrtes Wissen vor allem zur Verteidigung des klassischen Standpunkts der anciens einsetzt und dabei auf dem Gebiet der Theaterpraxis und Dramaturgie das Feld der gelehrten Forschungen erweitert39.
Alle diese Autoren benutzen wie Lessing das antike Theater, um ihren eigenen Standpunkt in
der modernen Theaterdiskussion zu stützen. So entwickelt sich sogar eine Mode der Tragédie à
la Grecque, die zusammen mit der lebhaften theoretischen Diskussion beweist, daß Lessing die
Aufmerksamkeit seiner Zeit nicht erst auf die griechischen Dramen zu richten brauchte.
Lessing hat den meisten dieser Kritiker und Gelehrten etwas voraus, nämlich den eigenen,
frischen Zugang zu den antiken Texten. In seiner Auffassung des antiken Theaters nähert er sich
am meisten Diderot an, dessen Theaterschriften und Stücke er auch übersetzt. Er distanziert sich
jedoch nicht so deutlich wie der Franzose von gewissen historisch bedingten Eigenheiten des
antiken Theaters, die er ebenso wenig übernehmen will wie Diderot. Daß Lessing andererseits
gerade Voltaire heftig attackiert, erklärt sich ohne Rückgriff auf persönliche rancune, wenn man
Voltaires Haltung zum antiken Theater betrachtet40: Das was Voltaire aus dem antiken Theater
übernehmen will, nämlich majesté, grandeur, den Chor, die politischen Stoffe, will Lessing aus
seiner Nachahmung der Griechen als historische Zutat eliminieren.
3.2. Die französische Literaturkritik als wichtige Ergänzung der Gelehrsamkeit
Alle diese Autoren haben Lessing nachweislich beeinflusst, und zwar auch und gerade da, wo
er sie nicht namentlich zitiert, aber ihren Thesen zum antiken Theater widerspricht. Auch wenn
ihre Arbeiten dem Standart, den die Altertumswissenschaft kurz nach Lessings Tod etabliert,
nicht mehr entsprechen, haben ihre Fragestellungen diesen wissenschaftlichen Aufbruch doch
mitgeprägt, sowie teils indirekt, durch Lessings Vermittlung, auch die deutsche Klassik. Noch
in August Schlegels Vorlesungen über das Trauerspiel findet man die Kritik der Modernes aus
der Querelle wieder – die deutsche Klassik ist also nicht nur „Phönix aus der Asche“41, sondern
tief in der europäischen Literaturkritik und Gelehrsamkeit verwurzelt.
38
Z. B. Dumolard, Jacquet und Gaillard.
In den Mémoires de l’Académie, die die dort gehaltenen Vorträge – mit zeitlicher Verzögerung – wiedergeben. Die einzelnen Mémoires zum antiken Theater sind heute durch einen thematischen Index sowie durch
WARTELLES Bibliographie d’Eschyle et de la Tragédie grecque erschlossen.
40
MAT-HASQUIN, Michèle: Voltaire et l’antiquité grecque, Oxford 1981.
41
Diese Sichtweise kritisiert FUHRMANN, Die „Querelle des Anciens et des Modernes“, der Nationalismus und
die deutsche Klassik, p. 109.
39
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39
Lessing und die antiken Dramatiker
4. WIE TRÄGT DIE QUELLENFORSCHUNG ZU EINEM BESSEREN
VERSTÄNDNIS LESSINGS BEI?
Genaue Quellenforschung tut daher not, und einige Beispiele sollen hier zeigen, wie sie nicht
nur ein Licht auf Lessings Studien zum Theater, sondern auf seine gesamte Arbeitsweise wirft
und sogar die Textgestaltung der heutigen Lessing-Ausgaben beeinflussen kann:
4.1. Die Quellenforschung ist unerlässlich, um Lessings Arbeitsweise verstehen und einordnen
zu können
Das erste Beispiel widerspricht der Darstellung Lessings als traditioneller Gelehrter, der auf
Latein geschrieben habe (die Qualität seiner Übersetzungen ist sogar gelobt worden): alle lateinischen Passus in Lessings Briefen und Notizen, die in unser Gebiet fallen, sind bisher zum
größten Teil noch nicht zugewiesene Exzerpte aus anderen Autoren.42
Ein weiteres Beispiel liefert die Beschäftigung mit den Ausgaben, die Lessing benutzt hat: Im
Gegensatz zu dem, was der Index angibt und Barner in den Kommentar der neuen Ausgabe
übernimmt, hat Lessing nicht eine völlig unvollständige, frühe Ausgabe für seine AischylosLektüre benutzt, sondern die beste, die zu seiner Zeit verfügbar war. Daraus lassen sich wiederum Quellenverweise in Lessings Notizen deuten, die vorher völlig unverständlich waren, da sie
sich auf die Seitenzahlen seiner Ausgabe bezogen.
Die Quellenforschung gibt auch Auskunft darüber, welche Dramatikerzitate bei Lessing
höchstwahrscheinlich nicht direkt aus eigener Lektüre stammen und hilft so, seine Lektüre
einzugrenzen.
Nebenbei erscheint dabei eine neue und wichtige Quelle für die tragischen Sujets, die man in
Lessings Nachlaß gefunden hat: Sie stammen aus Zwingers Lexikon, dessen Gebrauch Lessing
an anderer Stelle beiläufig erwähnt, und zeigen dort durch ihren Zusammenhang, unter welchen
Themen Lessing seine Sujets suchte.
Großen Einfluß auf die Textgestalt haben die neu erschlossenen Quellen für die Pantomimenabhandlungen: Angebliche Schreibfehler Lessings, die Lachmann und Muncker verbesserten, erweisen sich als aus dem Zusammenhang gerissene wörtliche Zitate, die Lessing das Auffinden
der Originalstelle erleichtern sollten, oder als Fehler oder veraltete Zitierweise seiner Vorlage.
Auch die Zuweisung eines Zeitungsartikels erscheint in neuem Licht, wenn man erweisen
kann, daß Lessing die dort zitierte Quelle gekannt hat.
Mehrere Autoren haben außerdem Lessings Abhängigkeit von seinen gelehrten Quellen so
dargestellt, als ob er nur in gefälligem Deutsch ausgeschrieben habe, was er in seinen Handbüchern fand. Schon der erste Blick in zeitgenössische Nachschlagewerke und ähnliche Quellen43
zeigt aber den großen Unterschied zwischen Lessing und seinen Vorgängern, an Menge der angeführten Stellen, Genauigkeit der Zitate, Erläuterungen und kritischem Anspruch.
42
Wenn Dietsch also Lessing als Gelehrten erweisen will, weil er gutes Latein geschrieben habe und mit seiner
Übersetzung eines Passus von Timocles (BXI/1 180, Nr. 122, 2.4.1757, s. Kap. Bild der Dramatiker, 1.) sogar
Grotius übertreffe, trifft das nicht zu. (DIETSCH, Über Lessing als Philologen [1864] 20). Lessing zitiert die
Übersetzung von H. Stephanus nach dem Poetik-Kommentar von Robortellus. Auch in der Pantomimenabhandlung stammt das Latein aus anderen Autoren, hier aus Vossius und Ferrarius (s. Kapitel Theaterpraxis), in den
tragischen Sujets zitiert Lessing aus Zwingers Bibliothek (s. Kapitel Dramatikerlektüre 2.1.).
43
Die entsprechenden Werke sind in der Bibliographie mit einem N gekennzeichnet.
40
Uta Korzeniewski, »Sophokles! Die Alten! Philoktet!«
Lessing und die Gelehrsamkeit
4.2. Wie weit übernimmt Lessing aus seinen Quellen, wie weit ist er unabhängig?
Unter den Autoren, die an Lessings gelehrter Arbeitsweise zweifeln, verdienen zwei besondere Beachtung: Robertson und Barner. Ihre Kritik soll der Anlaß sein, Lessings Umgang mit
seinen Quellen im Leben des Plautus und besonders im Leben des Sophokles genauer zu untersuchen.
In beiden Arbeiten benutzt Lessing seine Hilfsmittel kritisch und souverän, im Vergleich mit
ihnen kann man auch erkennen, wo Lessing eigene Schwerpunkte setzt: Er interessiert sich
mehr als seine Vorgänger für die Theaterpraxis und sucht in diesem Bereich nach weiteren
Quellen, um die Nachrichten, die seine Vorgänger einfach überliefern, historisch einordnen und
verstehen zu können. Die Umschau in der zeitgenössischen Gelehrsamkeit bestätigt zugleich,
was Norden über das Leben des Sophokles gesagt hat: Für das Gelingen eines derartigen Unternehmens fehlten damals noch alle Voraussetzungen44. Lessing kann sich nicht damit begnügen,
Nachrichten aus seinem Bereich kritisch auszuwerten, sondern er steht vor ungesicherten Daten
im Bereich der Historie, unsicheren Texten, fehlenden Datierungen und Zuweisungen seiner
Quellen, deren Abhängigkeit voneinander er nicht erkennen und die er deshalb kaum gewichten
kann. Gerade der hohe kritische Anspruch, den Lessing an seine gelehrte Arbeit stellt, läßt die
Aufgabe soweit anwachsen, daß Lessing sie aufgegeben hat.
Zweifel an Lessings gelehrter Originalität bei Robertson und Barner
Robertson stellt Lessing so dar, als ob er in den Beiträgen und in der Dramaturgie Fabricius
und andere Handbücher ausgeschrieben habe. In seinem Aufsatz über die frühe Plautus-Abhandlung stellt er z. B. fest, die Aufzählung der Ausgaben mache eine distinctly secondhand impression und verweist auf Fabricius oder Müller als Quellen.45 In Lessings Dramatic Theory sucht er
Vorgänger für die Gedanken, die Lessing dort äußert, und schließt sogar Valckenaer mit ein,
dessen Diatribe höchstwahrscheinlich noch nicht erschienen war, als das entsprechende Kapitel
aus Lessings Dramaturgie veröffentlicht wurde46. Wenn Lessing Aussagen über antike Dramatiker macht, weist Robertson meistens auf Dacier oder vor allem Fabricius als Vorgänger hin.
Solche Angaben lassen Lessing als unsolide oder als Blender erscheinen, sie passen scheinbar
zu dem Bild, das Zeitgenossen wie Lange von Lessing entwerfen, wenn sie ihm Abhängigkeit
von Bayle oder falsches Spiel mit den Verbesserungen zu Jöchers Gelehrtenlexikon vorwerfen.
Sie scheinen auch das Bild der Quellenforschungzu bestätigen, die Lessing Nonchalance im
Umgang mit seinen Quellen attestiert, wenn es um Ideen aus dem Bereich der Ästhetik und der
Dramaturgie geht.47
44
NORDEN, Lessing als klassischer Philologe, Kl. Schr. p. 626.
ROBERTSON, Notes on Lessing’s ‘Beyträge’... (1913), p. 521: ... his list makes, ... a distinctly secondhand
impression. Possibly he made merely a selection from that published by Fabricius or Müller.
46
Lessing veröffentlicht die Stücke 36-39 der Dramaturgie am 15.12.1767. Valckenaers Vorwort ist von
September 1767 datiert, zu diesem Zeitpunkt ist die Diatribe also noch nicht gedruckt. Sie erscheint auch nicht in
den Katalogen von der Michaelismesse 1767 bis zur Ostermesse 1769. Die Göttingischen Gelehrten Anzeigen
besprechen die Diatribe zusammen mit dem Hippolytus von 1768, mit dem sie sie in einem Band erhalten haben,
in ihrem Heft von April 1769. Es ist also mehr als unwahrscheinlich, daß sich Lessing vor Dezember 1767 die
Diatribe beschaffen konnte. Da von Valckenaer mehrmals eine Euripides-Gesamtausgabe angekündigt war, bezieht sich Lessings Hinweis auf einen neuen Herausgeber des Dichters wahrscheinlich auf Valckenaer.
47
z.B. NIVELLE, Armand: Lessing im Kontext der europäischen Literaturkritik, in: Lessing in heutiger Sicht,
Bremen - Wolfenbüttel 1977, p.89-111, p. 90s. Nivelle distanziert sich aber von der Plagiatjägerei und würdigt
Lessings eigene Leistung.
45
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41
Lessing und die antiken Dramatiker
Welche Vorstellungen Lessing in diesen Bereichen von Urheberrechten hatte, ist eine andere
Frage, seinen Umgang mit gelehrten Quellen sollte man jedoch davon unterscheiden48: Die
Ausgabenliste, die Robertson als distinctly secondhand abqualifiziert, erhebt zu einem gewissen
Teil gar keinen Anspruch auf Authentizität: Wer von den Lesern einer Theaterzeitschrift würde
erwarten, daß Lessing die Erstausgabe des Plautus von 1472 in den Händen gehalten habe? Zu
einem anderen Teil läßt sich die Liste aber gerade nicht auf Fabricius oder Müller zurückführen,
weil sie über deren Informationen hinausgeht49 und dazu noch einen charakteristischen Fehler
aufweist, den Fabricius richtigstellt50. Außerdem kann man die Verwendung einiger der genannten Ausgaben im Leben des Plautus nachweisen.51
Was Robertson für die Plautus-Abhandlung und für die Hamburgische Dramaturgie formuliert und dort mit Lessings Jugend bzw. mit Lessings Mangel an eigenen Büchern in Hamburg
begründet52, überträgt Barner auf das Leben des Sophokles, wo es ein anderes Gewicht bekommt, weil Lessing hier mit größerem gelehrten Anspruch auftritt: Barner zieht Lessings wissenschaftliche Arbeitsweise im Leben des Sophokles in Zweifel, wenn er sagt: Ein großer Teil
der von Lessing zitierten antiken wie neueren Zeugnisse, besonders auch Philologen-Meinungen,
dürfte aus dem Fabricius stammen... Editionen und Nachschlagewerke habe Lessing nur in
einzelnen Fällen benutzt. Dazu bemerkt er noch, es müsse in einzelnen Fällen offen bleiben, ob
er aus einem Original oder aus zweiter oder gar dritter Hand schöpft53. Gerade dieser Angabe
muß man energisch widersprechen: Die Stellen, wo Lessing aus zweiter oder gar dritter Hand
schöpft, sind nicht besonders zahlreich, gehören nicht zum Kern des Themas und lassen sich
meist schon anhand von Lessings eigenen Angaben herausfinden, wenn er z. B. auf Meursius’
Theseus oder ähnliche Nachschlagewerke verweist.54
48
Über Lessings Anspruch im Umgang mit gelehrten Quellen gibt er selbst ausführlich Auskunft in den
antiquarischen Briefen, z. b. am Anfang des 15. Briefes, wo er Klotz’ Arbeitsweise kritisiert: Nun sagen Sie mir,
heisst das Quellen brauchen? Ist es genug, um dieses zu versichern, dass man den untersten Rand des Blattes mit
Namen klassischer Schriftsteller umzaeunt? Oder muss man diese Schriftsteller auch selbst nachgesehen haben,
und gewiss sein, dass sie wirklich das sagen, was man sie sagen laesst? (BV/2 402) .
49
Abweichungen von Müller und Fabricius s. im Kapitel Lessings Bibliothek 3.1.1. Lessing legt Wert darauf,
zu zeigen, daß er einige Ausgaben selbst in der Hand gehabt hat, er zitiert zum Beispiel einige Worte vom Titelblatt der Ausgabe von 1522.
50
Lessing zitiert die Ausgabe von Camerarius mit der Jahreszahl 1538, die auf ihrem Titelblatt steht, tatsächlich ist die Ausgabe erst 1558 erschienen.
51
Siehe Kapitel Lessings Bibliothek, 3.1.1. Die Ausgabe von Mulingus, Straßburg 1508, von der Robertson
sagt, daß Lessing sie zwar benutzt, aber nicht in seine Liste aufgenommen habe (p.521), führt Lessing nur als
Quelle einer Textvariante nach Taubmann an.
52
ROBERTSON, Lessing’s Dramatic Theory (1939), p. 350.
53
B V/1 686.
54
Nur an einer Stelle ist Lessings Quelle nicht direkt zu erkennen, aber anhand der Zitierweise zu vermuten: Es
handelt sich um die Erwähnung von Barnes und Sabinus (MM, BV/1 367s), wo die verkürzte Namensform ohne
Buchtitel darauf hindeutet, daß Lessing Franciscus Floridus Sabinus aus zweiter Hand zitiert, nämlich entweder
aus Barnes (Euripidis Tragoediae p. 37) oder aus Bayle (Dictionnaire II, 428, s. v. Euripide, Anm. G. Zitat 46:
Franc. Floridus Sabinus, Lectionum subcisivar. Libr. II, Cap. XIII, apud Barnes. in Vita Eurip. pag. 37). Da die
Kommentare dieses Zitat aber nach dem Index von LM bisher Georg Sabinus (einem Schwiegersohn Melanchthons) zugeordnet hatten, konnten sie dies nicht erkennen.
42
Uta Korzeniewski, »Sophokles! Die Alten! Philoktet!«
Lessing und die Gelehrsamkeit
4.3. Lessings Arbeitsweise, wie sie aus den Vorlagen und den Stadien seiner Notizen deutlich
wird
Aus solchen Aussagen entsteht wie auch bei Robertson zur Plautus-Abhandlung leicht der
Eindruck, als habe Lessing bei Fabricius schon eine Vorlage für sein Leben des Sophokles finden können, die er nur noch ausformulieren mußte, wozu er dann in einzelnen Fällen einmal in
die antiken Quellen gesehen habe. Ein Blick in die Bibliotheca Graeca genügt aber, um den
Unterschied zwischen Lessing und seinem Vorbild klarzustellen: Aus Fabricius hätte Lessing
höchstens das Gerippe entnehmen können, das er im Folgenden mit kritischen Anmerkungen
nach baylescher Manier ausfüllt.
Wie bei der Liste der Plautus-Ausgaben muß man auch hier zunächst die Ansprüche klarstellen, die an eine solche Arbeit gestellt werden: Wer Daten über das Leben eines antiken Dichter
sammelt, wird sich natürlich nicht nur auf Zufallsfunde bei der eigenen Lektüre verlassen, und
sei sie noch so ausgedehnt. Er wird die aktuelle vorhandene Sekundärliteratur nutzen, sowohl
Nachschlagewerke als auch Indices zu antiken Autoren und antike Zusammenstellungen. Der
Gelehrte erweist sich im kritischen und gewissenhaften Umgang mit diesem Material, selbst
wenn er bei der Jagd nach neuen Testimonien und Fragmenten wenig Glück hat.
Den kritischen und gewissenhaften Umgang mit seinem Handwerkszeug kann man Lessing in
vollem Maße bescheinigen: Wo seine Vorgänger schon griechische Zitate anführen, sind Lessings oft länger, oder er gibt in ein paar Worten den Zusammenhang des Zitates an. Oft führt er
auch da ein griechisches Zitat an, wo man bei den Vorgängern nur ein lateinisches Zitat oder
eine Umschreibung ohne Quellenangabe findet. Vage Angaben wie in Protreptico, in Platone
etc. findet man in Lessings Druckbögen nicht, sie sind bei ihm immer mit Seiten- oder Kapitelzahl und Nennung seiner Ausgabe versehen55. Wo dies in den Notizen noch nicht der Fall ist,
handelt es sich meist um Angaben, die Lessing sich notiert hat, um sie noch nachzuprüfen;56
dies kann man anhand der verschiedenen Entwicklungsstadien der Notizen in Barners Ausgabe57
nun leicht nachverfolgen58.
Wo Lessing aus zweiter oder dritter Hand zitiert, handelt es sich um weniger wichtige zusätzliche Angaben, wenn er hier eine Quellensammlung wie Meursius Reliquia Attica benutzt, gibt
er das selbst an und weist dann auf seinen selbständigen und kritischen Gebrauch der Quelle
55
Siehe Tabelle im Anhang: Quellen zum Leben des Sophokles.
Hiervon nachzusehen notiert er sich im Quartheft (M) zu Casaubonus (BV/1 336), und aus einem Kommentar zu Clemens Alexandrinus einen Verweis auf Justin mit dem Namen des Editors Sylburgus (BV/1 364).
57
Barner druckt drei Stadien: Lessings Quartheft, die Notizen aus dem Nachlaß und Eschenburgs leicht
bearbeitete Ausgabe dieser Notizen (B, Sophokles, Textgrundlage und Textüberlieferung, p. 674: Die heute in der
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel aufbewahrten Nachlaßtexte zum Sophokles (eingehende Beschreibung
bei Milde, Gesamtverzeichnis, Bd I, S. 87f) sind 1860 von der Tochter Eschenburgs verkauft worden. Ob sie alles
umfassen, was Eschenburg seinerzeit verwendet hat, läßt sich nicht mehr eindeutig klären.). Auf größere eigene
Erweiterungen Eschenburgs weist nichts hin, er scheint allerdings einige wenige griechische Zitate, auf die Lessing in seinem Entwurf nur verweist, eingefügt zu haben, z. B. aus der Elektra zum equus Sophocleus (PP III: Par.
B V 373 , Eschenburg B V 326).
58
Z. B. schreibt Lessing auf seinen fliegenden Blättern in einer frühen Version nur Ferner die Tetralogien des
Xenokles und Euripides Aelianus lib. II. 8 (B V 361), wahrscheinlich nach der Angabe bei Fabricius. Im Quartheft vergleicht Lessing Fabricius’ Angabe mit den Anmerkungen Scheffers über den Aelian, das heißt, er hat die
Stelle inzwischen selbst nachgesehen und den Kommentar dazu auf Nachrichten zum antiken Theaterbetrieb
ausgewertet, wie seine Erläuterungen auf derselben Seite zeigen (die Erklärung, der genannte Xenocles sei derselbe, den Aristophanes in den Fröschen ansticht, scheint direkt aus diesem Kommentar zu stammen, ebenso wie
die Verbesserung der Jahreszahl, zu der Lessing ausdrücklich auf Scheffer hinweist).
56
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43
Lessing und die antiken Dramatiker
hin59. Lessing legt also Wert auf die Nachprüfbarkeit seiner Angaben wie auch auf die Originalität seiner Leistung.
Lessing läßt seine Leser nicht darüber im Unklaren, welche Bäche ihn zu den Quellen gewiesen haben, wie er sagt: Er nennt Bayle, Gyraldus, Meursius und Fabricius nicht nur schon im
ersten Abschnitt seines Kommentars, sondern setzt sich im folgenden fortlaufend kritisch mit
ihnen auseinander, von der Verbesserung einzelner Druckfehler bis zu inhaltlichen Korrekturen
und Ergänzungen. Druckfehler in den Zahlen verbessert er bei Meursius und weist dabei auf die
zwei Ausgaben hin, die ihm vorliegen, sowie auch bei Fabricius60, ungenaue Verweise bei
Fabricius,61 außerdem ganz im Stil von Bayle Verstöße gegen die Chronologie62.
Lessings Kritik an Fabricius, Fabricius kann diese Anführung unmöglich selbst nachgesehen
haben, zeigt den Anspruch, den er auch an sich selbst in dieser gelehrten Arbeit stellt. Wo er
eine von seinen Nachschlagewerken genannte Quelle nicht finden kann, weist er seine Leser
darauf hin:
Fabricius: (Bibl. Graec. T. I. p. 629) Íáõóéêáá tota fuit Homerica, et satiricis dramatibus annumeranda,
judice Casaubono“, Ohne Zweifel in den Anmerkungen über den Athenäus; denn in seinem Buche, De Poesie
satyrica, erwähnt er der Nausikaa unter den satyrischen Stücken des Sophokles nicht.63
Wenn Lessing die Quellen nachschlägt, vergleicht er sie mit den Angaben in den
Nachschlagewerken und verbessert sie aus den Kommentaren.64 Teils läßt er sich auch von den
Kommentaren zu weiteren Nachforschungen anregen.65
4.4. Lessings gelehrter Anspruch – Lessings Ehrgeiz beim Umgang mit seinen Quellen
Neben dem souveränen Umgang mit dem gelehrten Handwerkszeug und aufklärerisch-kritischer Haltung bei der Benutzung seiner Quellen kann man deutlich Lessings Ehrgeiz erkennen,
das Wissen zu seinem Thema zu vermehren. Dies erkennt man schon an der Zusammenstellung
von Zeugnissen des Cicero in seinem Quartheft,66 die darauf hinweist, daß Lessing seine CiceroAusgabe mit einem Index nach Erwähnungen von Sophokles durchgesehen hat. Ähnlich ist er
wahrscheinlich auch mit dem Suda-Lexikon verfahren.67
59
Über die Topographie von Athen: B n: man sehe den Harpocration und Pollux, deren Stellen Meursius
(Reliqu. Att. cap. 6) anführt (BV/1 241, Anm. 13); über die Pest in Athen: I, zzz: Nach dem Zeugnisse des
Aeneas Gazäus. Meursius führt die Stelle in seinem Theseus an (Cap. XXXI); doch ohne einen weitern Gebrauch
davon zu machen, als daß er den Scholiasten des Aristophanes daraus verbessert … (BV/1 277, Anm. 69),
Meursius: Aeneas Gazäus in Theophrasto; Textabweichung im letzten Wort des griechischen Zitates: Lessing hat
óõíïéêéóèåéç
, Meursius: óõíïéêéóèåßå.
60
D: Lessing zitiert Fabricius: Aeschylo juniorem annis XVIII. (man lese XVII.) und Meursius, zu dem er sagt:
Es hat sich offenbar ein Druckfehler hier eingeschlichen; ... Ich will hoffen, daß man in der neuen Ausgabe der
sämtlichen Werke des Meursius diesen Fehler bemerkt und verbessert hat. In dem Gronovschen Thesaurus... ist er
glücklich stehen geblieben. (BV/1 251).
61
E: und das soll Sokrates bei dem Plato selbst sagen? Fabricius kann diese Anführung unmöglich selbst
nachgesehen haben (BV/1 252).
H ccc : Fabricius (Bibl. Gr. Lib. II. cap. 17. §1.) zitieret sie: Plutarchus de defectu in virtute. Ein solches Buch
des Plutarchs gibt es gar nicht (BV/1 262, Anm. 49).
62
E: Lamprus konnte damals schwerlich mehr leben. Man überschlage es nur... (BV/1 254).
63
Lose Blätter, Anm. 7 (2) (B 355), vgl. Druck 1790, F 2, (B 300).
64
So verbessert er Fabricius aus dem Aelian-Kommentar von Scheffer, Quartheft zu M, B 336.
65
Z. B. verweist Harduin in seinem Kommentar zu Plinius auf Dionys von Halikarnassos, und Lessing sucht
dort nach weiteren Belegen zu der verlorenen Tragödie Triptolemos (Leben des Sophokles, I; B 288s).
66
B 348s.
67
Siehe Kapitel Bild der Dramatiker, 2.2.2.
44
Uta Korzeniewski, »Sophokles! Die Alten! Philoktet!«
Lessing und die Gelehrsamkeit
Daß der größte Teil der Quellen, die Lessing anführt, schon an verstreuten Stellen in gelehrten Werken genannt ist, verheimlicht Lessing seinem Leser wie gesagt nicht, er weist im Gegenteil stolz darauf hin, wenn er einmal ein Zeugnis selbst gefunden oder auf neue Art ausgewertet hat. So sagt er zu einem Testimonium zum Triptolemos aus Plinius, es sei ein Zeugnis,
das, so viel ich weiß, noch von niemandem angeführet worden und weist zugleich darauf hin,
daß Fabricius dasselbe Zeugnis anders auswertet. Ähnlich merkt er zum Thamyris an: Casaubonus , Meursius, Fabricius finden in ihren Verzeichnissen der verlornen Stücken des Sophokles
des „Thamyris“ bloß bei dem Athenäus, dem Pollux, und dem ungenannten Biograph, gedacht.
Sie hätten anmerken sollen, daß auch Plutarch seiner nicht undeutlich gedenkt;...68.
Lessings Leistung besteht aber nicht nur darin, die Zeugnisse zu Sophokles aus mehreren
Nachschlagewerken zusammengetragen und um einige weitere vermehrt zu haben. Seine Leistung liegt in der Erklärung und Kommentierung dieser Quellen, zu der Lessing weitere antike
Quellen sowie Sekundärliteratur heranzieht. Lessing nimmt die antiken Nachrichten nicht einfach hin, sondern vergleicht sie mit anderen historischen, chronologischen und literarischen
Zeugnissen. Dadurch erarbeitet er sich selbst Wissen über das antike Drama, den Theaterbetrieb
und den historischen Hintergrund, und dieses Wissen will er übersichtlich gegliedert und nachprüfbar an seine Leser weitergeben. Einen eigenen Schwerpunkt setzt er dabei im Bereich der
Theaterpraxis und Bühnenausstattung, so z. B. beim dritten Schauspieler, der Maske und dem
Kostüm, wie der Vergleich mit seinen Vorgängern zeigt. Lessing ist der einzige, der auf die
Frage der Kostüme und der Schauspieler überhaupt näher eingeht.
In Bezug auf die historischen Bedingungen des antiken Theaters geht Lessing daher nicht nur
über Fabricius, sondern auch über Bayle und Barnes hinaus, denn Bayle strebt kein umfassendes
Bild des Dramatikers an, sondern vertieft nur bestimmte Interessengebiete wie Verhältnis zu
Ethik und Philosophie, Barnes verfällt dagegen in einer Anhäufung von beziehungslosen Fakten
in den Stil eines Annalisten. Wilamowitz sagt zu recht, daß Lessing ein Leben des Sophokles
geschrieben habe, zu dem kein deutscher Philologe seiner Zeit imstande gewesen wäre69.
Lessing bemüht sich also, wie er es angekündigt hat, über die zeitgenössischen Nachschlagewerke und überhaupt über den gelehrten Wissensstand seiner Zeit hinauszukommen, indem er
ihn kritisch prüft, verbessert und ergänzt, sei es, um seinen eigenen gelehrten Ruf zu festigen,
oder um durch die Verbesserungen zum Wissensfortschritt in der „Gelehrtenrepublik“ beizutragen. Diese beiden Ziele nennt Lessing in seiner Einleitung Dank und Bewunderung70, wobei er
auf die Bewunderung in scheinbarer Bescheidenheit keinen Anspruch erheben will. Die beiden
Beweggründe sind jedoch bei Lessing wie bei anderen Gelehrten nicht immer streng zu trennen.
Man kann erkennen, daß Lessings Ehrgeiz dabei nach den Quellen unterscheidet, mit denen er
umgeht: Gyraldus sieht Lessing nicht mehr als ernsthafte Konkurrenz an, er mokiert sich über
dessen Fehler und gebraucht seine Quellen aus dem Zusammenhang gelöst. Die Fehler im Fabricius sieht Lessing anscheinend als typische Begleiterscheinungen eines großen Sammelwerkes, er verbessert sie zwar nicht ohne einen gewissen Stolz, aber ohne längere Diskussion.
Meursius’ Kommentar und Fragmentsammlung benutzt Lessing mit größerer Aufmerksamkeit,
seine Meinungen werden nicht so leicht abgetan wie die von Fabricius, auch mit Casaubonus
geht Lessing auf diese Weise um. Wo Lessing sich gegen Meursius und Casaubonus absetzt
68
Leben des Sophokles, I, p und q (BV/1 287 und Anm. 85), K, u. (BV/1 290, Anm. 90), TrGF IV F600.
WILAMOWITZ, Eurip. Herakles, Bd. I Berlin 1889= Einleitung in die griechischen Tragödie, p.233, Anm. 9.
70
Leben des Sophokles, Einleitung: Ich kann nicht bewundert werden, aber ich werde Dank verdienen (BV/1
234).
69
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Lessing und die antiken Dramatiker
oder sie ergänzt, geht es ihm mehr als bei Fabricius um seine gelehrte Reputation, auf keinen
Fall um polemische Kritik wie bei seinen modernen Gegnern oder im Leben des Sophokles gelegentlich bei Samuel Petit.
4.5. Lessings Arbeitsweise erforschen, um seine inhaltliche Originalität erkennen und würdigen
können
Neben den oben genannten, eher technischen Ergebnissen sind die inhaltlichen Einflüsse und
Anklänge wichtig: Robertson hat hier für die Dramaturgie schon eine große Zahl von Quellen
genannt und Lessing dabei allzu oft die Originalität abgesprochen, nur weil er mit den gleichen
Schlüsselbegriffen oder Grundtatsachen arbeitet. Dabei versucht er, Lessing als Abschreiber aus
wenigen, eng begrenzten Quellen darzustellen, wo dieser sich in Wirklichkeit auf Binsenweisheiten aus den Scholien („Euripides der Philosoph der Bühne“) oder allgemein bekannte antike
Anekdoten bezieht,71 die schon bis in die Wochenschriften vorgedrungen waren, und bemerkt
nicht, wenn Lessing diese Begriffe im Rahmen einer anderen Argumentation originell einsetzt. 72
Im Bereich des antiken Theater zeichnen sich dabei spannende Dialoge in Lessings Arbeit ab:
In Lessings gelehrter Arbeit begegnen sich ständig der Gelehrte und der Theaterpraktiker und
befruchten sich gegenseitig: Der Theaterpraktiker stellt neue Fragen an den Text, besonders zu
Organisation und Aufführung, die die Gelehrten bisher vernachlässigt hatten. Seine Sichtweise
befruchtet Lessings gelehrte Arbeit auch wenn es um die Textinterpretation geht, wo er unklare
Stellen erfolgreich durch eine geänderte Sprecherverteilung oder die Annahme einer sprechenden Geste deutet, schon in seiner Jugend bei Plautus wie später in der Hamburgischen Dramaturgie bei Terenz. Die Sicht der Theaterpraxis ist für Lessing ein Mittel, die Gelehrsamkeit
nicht am Buchstaben kleben zu lassen, sondern das ganze, den Geist, im Blick zu behalten, wie
er es mehrmals gefordert hat73.
Andererseits verschafft die Gelehrsamkeit Lessing das Mittel, sich einen ganz eigenen Zugang
zu den Dramatikern zu schaffen, unabhängig von den Deutungen der Klassizisten. Eine gewisse
Großzügigkeit gerade im Umgang mit Bühnenkonventionen, die die doctrine classique sehr
engherzig beurteilt, könnte Lessing aus der Gelehrsamkeit gelernt haben. Die antiken Dramen
geben Lessing Anregungen, die er sonst nirgens hätte bekommen können, und aus seiner Sicht
bestätigen sie oft seine Intuitionen.
Neben dem Dialog zwischen dem Theatermann und der Tradition darf man einen anderen,
aktuellen nicht vergessen, den Lessing zum Teil verdeckt führt: Besonders in der Hamburgischen Dramaturgie nimmt Lessing leidenschaftlich Stellung zu Deutungen des antiken Dramas
bei modernen französischen Autoren. Er bekämpft Voltaires Schule, die von den Griechen das
71
Entsprechend findet auch MEYER, Lessing und die Franzosen eine Übereinstimmung zwischen einem Ausspruch Jean Racines, der in Louis Racines Kommentar erscheint, und einem Ausspruch Lessings, den sein Bruder
überliefert (Karl LESSING: G. E. Lessings Leben, p. 42) sehr sonderbar (p. 160). Beide Dramatiker sollen von sich
gesagt haben, ihre Dramen seien schon fertig, wenn sie das Konzept ausgearbeitet hatten und die Dialoge noch
schreiben mußten. Die Übereinstimmung erklärt sich jedoch durch die klassische Bildung Racines wie Lessings,
die beide auf eine Anekdote über Menander aus Plutarchs De gloria Atheniensum (Plut. Glor. Athen. iv, p. 347E
= PCG VI/2 T 70) zurückgreifen, einer Schrift, die jedem Kenner des antiken Theaters bekannt sein mußte.
72
GUTHKE, Der Stand der Lessing-Forschung, p. 78-79, kritisiert Robertson in diesem Sinne.
73
BOHNEN, Klaus: Geist und Buchstabe. Vgl. das berühmte Zitat aus Wie die Alten den Tod gebildet, das
Altertumskrämer und Altertumskundige unterscheidet: Jener hat die Scherben, dieser den Geist des Altertums
geerbet. Jener denkt mir kaum mit seinen Augen, dieser sieht auch mit seinen Gedanken. Ehe jener noch sagt, „so
war das!“ weiß dieser schon, ob es so sein können. BVI 757.
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Uta Korzeniewski, »Sophokles! Die Alten! Philoktet!«
Lessing und die Gelehrsamkeit
Politische im Drama übernehmen will, aber auch die ersten Entwicklungen bei Jean Racine,
Batteux und Marmontel, die den Griechen die poetische Gerechtigkeit absprechen und stattdessen terreur, fatalité und le tragique, fast schon im Sinne der „Tragik“, in ihren Dramen
finden wollen. Zeitgenössische Ansätze, etwa bei Diderot, das antike Drama historisch zu sehen, nimmt Lessing nur in Auszügen auf: Einerseits ist ihm die historische Deutung wichtig, um
Wesentliches von Nebensächlichem unterscheiden zu können, andererseits will er nicht zulassen, daß die historische Distanz die Autorität des antiken Dramas über das moderne Theater
schmälert.
Daß die berühmten fermenta cognitionis der Dramaturgie auch beim antiken Drama nicht ins
Leere gesät sind, sondern Teil einer lebhaften Auseinandersetzung mit Strömungen der zeitgenössischen Literaturkritik, wird nur zu einem geringen Teil aus den Namen deutlich, die Lessing zitiert. Erst die Anklänge an Formulierungen anderer Autoren sowie die charakteristischen
Umformungen und Auslassungen bei Lessing lassen den ganzen Dialog und damit Lessings
eigenen Standpunkt hervortreten.
In diesem Zusammenhang verwundert es schon, daß Lessing die Namen der Autoren, auf die
er reagiert, nicht immer nennt. Es kann sich nicht um Rücksicht auf seine Leser handeln, denen
er immerhin die Namen der Herausgeber von Aristophanes und den Menander-Fragmenten
zumutet. Wollte er seinen Gegnern dadurch an Gewicht nehmen, ihre Vorstellungen einfach
durch eigene verdrängen, bevor sie in Deutschland Fuß fassen konnten? Oder fand er einige
Ideen so allgemein verbreitet, daß der sie nicht mehr einem bestimmten Autor zuweisen wollte?
Auch wenn Lessing z. B. eine Formulierung über die poetische Gerechtigkeit stark an Jacquet
anlehnt74, wäre es hier fast irreführend gewesen, den Namen dieses unbedeutenden Kritikers zu
nennen, der im Grunde nur Gedanken von Brumoy und englischen Kritikern prägnant zusammenfaßt.
5. LESSING: GELEHRT UND ANGENEHM?
Wird Lessing nun seinem Anspruch gerecht, ein wahrer Gelehrter zu sein und doch angenehm
und anwendungsbezogen zu schreiben, den Buchstaben zu kennen und doch den Geist im Blick
zu behalten? Die Synthese beider Elemente, im Grunde das alte Ideal des Humanisten, Gelehrter und Dichter zugleich, hat bei Lessing eine ganz eigene, persönliche Ausprägung gefunden,
die sich für das Theater als fruchtbar erwiesen hat. Sie lebt davon, daß die Grundspannung
zwischen Text und Aufführung, Geist und Buchstabe Lessings Leben wie ein roter Faden durchzieht, über die Gelehrsamkeit hinaus bis zum Goeze-Streit.
Die historische Entwicklung der Altertumswissenschaft ist jedoch fast noch zu seinen Lebzeiten über das Ideal eines Gelehrten hinweggegangen, das Lessing teuer war. So hat ihn die
Nachwelt recht widersprüchlich beurteilt: Gerade die Altphilologen betonen, wie sehr sich seine
Arbeit über die eines reinen Spezialisten ihres Fachs erhebt, gerade die Germanisten erkennen,
wie sehr die gelehrte Fundierung Lessing von den anderen Literaturkritikern seiner Zeit unterscheidet. Lessing hat sich so mutig zwischen alle Stühle gesetzt, daß das Verständnis seiner
Werke manchmal bis heute darunter leidet – oder so erfolgreich, daß manche Kommentatoren
seiner Rhetorik bis heute auf den Leim gehen und ihn als den Wiederentdecker des griechischen
Theaters feiern, das zu seiner Zeit in aller Munde war.75
74
75
S. Kapitel Tragik, 7.
S. Kapitel Griechen und Franzosen.
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