Schwerbehindertenrecht Widder

Transcription

Schwerbehindertenrecht Widder
Bezirkskrankenhaus Günzburg
Akademisches Krankenhaus
für die Universität Ulm
Schwerbehindertenrecht
(SGB IX)
Bernhard Widder
Klinik für Neurologie und Neurologische Rehabilitation
Überregionales Schlaganfallzentrum - Interdisziplinäres Schmerzzentrum
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Entwicklung des Schwerbehindertenrechts
1953 Schwerbeschädigtengesetz für die Versorgung von Kriegsverletzten als Grundlage der weiteren Entwicklung
1974 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zur “Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft”.
Aufgrund der Anlehnung an das soziale Entschädigungsrecht
zunächst MdE als Maßstab - allerdings ohne Kausalitätsbezug
1986 Neufassung des Schwerbehindertengesetzes. Ersatz der MdE
durch den “Grad der Behinderung” (GdB) ohne Koppelung an
das Arbeits- und Erwerbsleben, Wegfall der Prozentangabe.
Zusätzlich “Nachteilsausgleiche”
2001 Überleitung des Schwerbehindertengesetzes in das SGB IX
(„ Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“)
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Der Begriff der Behinderung im SGB IX
§ 2 SGB IX
(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6
Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher
ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
Funktionsbeeinträchtigungen müssen
vorliegen, also nicht erst in Zukunft zu erwarten sein,
regelwidrig sein ist, d.h. von dem für das Lebensalter typischen Zustand
abweichen,
nicht nur vorübergehend sein (> 6 Monate), und
relevant sein, d.h. die Teilhabe am Leben beeinträchtigen
(Grad der Behinderung wenigstens 10)
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Weitere Begriffe des SGB IX
§ 2 SGB IX
(2) Menschen sind … schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt ….
(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen behinderte
Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, … wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung
einen geeigneten Arbeitsplatz … nicht erlangen oder nicht behalten können
(gleichgestellte behinderte Menschen).
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Die Auswirkungen einer Behinderung
Behinderung
Grad der Behinderung
(GdB)
Nachteilsausgleiche
(Merkzeichen)
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Von den Anhaltspunkten zur VersMedV
1916 “Anhaltspunkte für die militärärztliche
Beurteilung der Frage der Dienstbe-schädigung oder Kriegsbeschädigung“
1983 “Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz”
2009 Anlage „Versorgungsmedizinische
Grundsätze“ der VersorgungsmedizinVerordnung (VersMedV) vom 1.12.2008
Internetversionen z.B. www.bmas.de
Buchversion über Bundesministerium für Arbeit und Soziales
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Grad der Behinderung (GdB)
Welche Vorteile bringt ein „GdB“?
GdB
Vorteile
< 30
keine Bedeutung
30-40
ggf. Anerkennung einer Schwerbehinderung im Rahmen der „Gleichstellung“,
wenn ohne diese Hilfe kein geeigneter Arbeitsplatz zu erlangen oder zu behalten ist (vor allem bei Behörden und Großunternehmen)
50-60
1.
2.
3.
4.
70
erheblichere steuerliche Vorteile (auch Fahrtkosten)
(„Gleichstellung“ bei GdB von 50 und Merkzeichen „G“)
80-100
weitere steuerliche Vergünstigungen
(„Gleichstellung“ bei GdB von 70 und Merkzeichen „G“)
frühere Berentung (60 bzw. 63 Jahre)
Kündigungsschutz (nur mit Zustimmung Integrationsamt)
Zusatzurlaub
mäßige steuerliche Vorteile (570 EUR)
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Allgemeine Regeln der GdB-Einschätzung (1)
Für den GdB sind in der Regel nur Werte anzugeben,
die durch 10 teilbar sind (10, 20, 30, 40 ….)
Nicht als „Behinderung“ gewertet werden dürfen ...
1. physiologische Veränderungen des Alters (z.B. altersgemäße
Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule oder Merkfähigkeitsstörungen),
2. folgenlos abgelaufene Krankheiten oder Funktionsstörungen
(z.B. Commotio cerebri),
3. weniger als 6 Monate bestehende Funktionsbeeinträchtigungen,
4. Gesundheitsstörungen, die erst in Zukunft zu erwarten sind.
Abweichungen der Bewertung von den in den “Versorgungsmedizinischen Grundsätzen” genannten GdB-Werten bedürfen einer ausführlichen Begründung
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Allgemeine Regeln der GdB-Einschätzung (2)
“Übliche seelische Begleiterscheinungen“ von Behinderungen oder
“übliche Schmerzen“ bei entsprechenden Funktionsstörungen sind in
den GdB-Werten der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze” bereits
berücksichtigt.
Über das Übliche hinausgehende, außergewöhnliche seelische
Begleiterscheinungen und/oder Schmerzen sind gesondert zu
begründen.
Außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen setzen voraus,
dass eine “spezielle ärztliche Behandlung erforderlich ist” (nicht
nur ab und zu leichte Psychopharmaka, Behandlung muss nicht
tatsächlich durchgeführt werden !!!!!!).
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Bildung des Gesamt-GdB
Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB 10 bedingen,
führen nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB
Maßgebend für die Bildung des Gesamt-GdB sind die “Auswirkungen
der einzelnen Behinderungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander”.
Diese können
30 + 20 = 50
30 + 20 = 60
30 + 20 = 40
30 + 20 = 30
voneinander unabhängig sein (z.B. SHT + Beinlähmung),
sich aufeinander besonders nachteilig auswirken
(z.B. paarige Gliedmaßen),
sich zum Teil überschneiden (Regelfall)
sich gar nicht verstärken (z.B. Beinfraktur + Peroneus)
Bei der Gesamtwürdigung der verschiedenen Behinderungen sind
Vergleiche mit Funktionsstörungen anzustellen, zu denen feste GdBWerte angegeben sind
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Feste GdB-Werte für Vergleichsbewertungen
GdB Zugehörige Funktionsstörung
100 • Schwerer Intelligenzmangel mit hochgradigem Mangel an Selbständigkeit und Bildungsfähigkeit
• Unvollständige Halsmarkschädigung mit gewichtigen Teillähmungen beider Arme und
Beine und Störungen der Blasen- und/oder Mastdarmfunktion
• Vollständige Lendenmarkschädigung mit Plegie der Beine und Störungen der Blasenund/oder Mastdarmfunktion
• Vollständige Lähmung von Arm und Bein (Hemiplegie)
• Verlust beider Arme oder beider Beine im Oberschenkel
80
• Störung des Gleichgewichts mit Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen oder zu
stehen
• Verlust beider Beine im Unterschenkel
• Vollständiger Ausfall des Armplexus oder des Plexus lumbosacralis
70
• Verlust eines Armes im Oberarm oder im Ellbogenbereich
60
• Verlust eines Armes im Unterarm mit kurzem Stumpf
• Vollständiger Ausfall des unteren Armplexus oder des (proximalen) N.ischiadicus
50
• Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung
• Artikulationsstörung mit unverständlicher Sprache
• Verlust einer Hand oder vollständiger Ausfall des oberen Armplexus
• Verlust eines Beins im Unterschenkel
• Vollständiger Ausfall der Unterschenkel- und Fußmuskulatur (distaler N.ischiadicus)
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GdB-Werte bei Hemiparesen
obere Extremität
untere Extremität
Plegie bzw. völlige Gebrauchsunfähigkeit
Plegie, allenfalls Stehen für Transfer möglich
Gehfähigkeit für kurze Strecken
Arm/Hand unterstützend
zu gebrauchen
Gehfähigkeit selbständig für kurze
Strecken
GdB/MdE
Gehfähigkeit nur leicht behindert
Arm/Hand im täglichen
Leben einsetzbar, jedoch
Feinmotorikstörung
Gehfähigkeit selbständig für kurze
Strecken
Gehfähigkeit nur leicht behindert
Ggf. zusätzlich zu berücksichtigen: Aphasie
Hemineglekt und/oder Apraxie
symptomatisches Anfallsleiden
organisches Psychosyndom
100
80-90
70-80
60-70
40-50
30-40
30-100
30-100
30-100
30-100 ....
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Sonderfall „Heilungsbewährung“
Hirntumoren
Gutartige Tumoren: GdB je nach Schaden
WHO Grad II: GdB min. 50
WHO Grad III/IV: GdB min. 80
Heilungsbewährung von 5 Jahren nur nach Entfernung eines
malignen Kleinhirntumors des Kindesalters (z.B. Medulloblastom).
Bei geringer Leistungsbeeinträchtigung dabei GdB 50
Anfallsleiden (und analog z.B. Multiple Sklerose mit Therapie)
nach 3 Jahren Anfallsfreiheit bei weiterer Notwendigkeit
antikonvulsiver Behandlung verbleibender GdB 30
nach 3 Jahren Anfallsfreiheit ohne Antikonvulsiva kein GdB mehr
Die früher vorgesehene Heilungsbewährung bei der
schubförmig verlaufenden MS ist entfallen
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Nachteilsausgleiche
Merkzeichen B, G, aG, RF, H, (BI, Gl)
Merkzeichen „G“ (1)
Definition
Vorteile
(1)
Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr
Freifahrt im öffentlichen Nahverkehr
1. bei Hilflosigkeit (Merkzeichen („H“)
2. bei eingeschränkter Gehfähigkeit,
bei Funktionsstörungen der LWS oder Gliedmaßen mit GdB 50,
bei Claudicatio spinalis mit GdB 40,
bei ausgeprägten psychogenen Gangstörungen, wenn Simulation
und Aggravation auszuschließen sind,
wenn eine Wegstrecke von etwa 2 km nicht in einer halben Stunde
zurückgelegt werden kann,
•
•
örtliche Besonderheiten sollen unberücksichtigt bleiben,
nicht die schmerzfreie Gehstrecke ist entscheidend
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Merkzeichen „G“ (2)
3. bei zerebralen Krampfanfällen
wenn hierdurch im Straßenverkehr Gefahren für sich oder andere
auftreten,
bei im allgemeinen wenigstens mittlerer Anfallshäufigkeit
(in Abständen von Wochen),
bei tagsüber auftretenden Anfällen mit Bewusstseinsstörung.
4. bei Orientierungsstörungen
wenn ausgeprägte Sehbehinderungen (z.B. Hemianopsie) bestehen,
wenn Aphasien vorliegen, die einen GdB von 70-80 bedingen,
wenn eine geistige Behinderung mit einem GdB von im Allgemeinen
80-90 besteht.
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Merkzeichen „B“
Definition
Vorteile
Ständige Begleitung ist bei Schwerbehinderten
notwendig, wenn die Voraussetzungen für die Merkzeichen ”G”
oder ”H” vorliegen, und die Betroffenen zur Vermeidung von
Gefahren für sich oder andere regelmäßig auf fremde Hilfe
angewiesen sind.
Unentgeltliche Beförderung einer Begleitperson oder eine
Hundes in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Gefahren müssen lediglich ”möglich” sein, sie brauchen weder mit
Sicherheit einzutreten noch wahrscheinlich zu sein.
Zu berücksichtigen ist nicht nur die Beförderung selbst, sondern auch der
Weg dorthin (z.B. Treppe am Bahnhof).
”Regelmäßig” bedeutet nicht, dass dies ”immer” sein muss (z.B. alt
bekannte Strecken bei Alzheimer-Betroffenen)
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Merkzeichen „aG“
(1)
Definition: Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher
Gehbehinderung, die sich wegen der
Schwere ihres Leidens dauernd nur mit
fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.
Hierzu gehören Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte
und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen ... oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die aufgrund von Erkrankungen dem vorstehend
aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Vorteile:
Benutzung von Behindertenparkplätzen
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Merkzeichen „aG“
Das Merkzeichen ”aG” bezieht sich nur auf Einschränkungen der
Gehfähigkeit und nicht auf andere Bewegungsbehinderungen (z.B.
Orientierungsstörungen, Anfallsleiden).
Der Leidenszustand muß ... die Fortbewegung auf das Schwerste
einschränken.
Orientierung an der Gehstrecke: Eine außergewöhnliche
Gehbehinderung ist anzunehmen, wenn ”die schmerzfreie
Gehstrecke deutlich unter 50 m liegt”.
Orientierung an der Behinderung bei Hemiplegikern: Personen
mit gebrauchsunfähigem Arm (= ”armamputiert”) und einer
verbliebenen Gehfähigkeit von einigen hundert Metern
(= ”einseitig oberschenkelamputiert”).
Doppelunterschenkelamputierte kommen generell nicht als Vergleichsmaßstab bei Analogschlüssen in Betracht (BSG-Urteil).
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Merkzeichen „aG“ - Bayern-aG
(2)
Schwerbehinderte, bei denen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens
„aG“ nicht vorliegen, aber …
GdB 80 für Funktionsstörungen an unteren Gliedmaßen oder der LWS
und Merkzeichen „G“ und „B“¨
GdB 70 für Funktionsstörungen an unteren Gliedmaßen oder der LWS
und Merkzeichen „G“ und „B“
und GdB 50 für Funktionsstörungen des Herzens und der
Atmungsorgane
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Merkzeichen „aG“ - Urteile
(1)
BSG vom 03.02.1988 – 9/9a RVs 19/86
Ein Schwerbehinderter kann nicht deshalb als außergewöhnlich gehbehindert anerkannt
werden, weil normale Parkplätze ihm das beim Ein- und Aussteigen aus seinem PKW
erforderliche vollständige Öffnen der Wagentüre nicht oder nicht ungefährdet ermöglichen.
BSG vom 19.01.1992 – 9a RVs 4/92
Auch häufig auftretende Anfälle, die zur Bewegungsunfähigkeit führen, rechtfertigen „aG“
nicht, da sie nicht ständig auftreten. Eine Gleichstellung kommt nur in Betracht, wenn der
Anfallskranke wegen gleich bleibender Anfallshäufigkeit ständig auf einen Rollstuhl
angewiesen ist. Auch die ständige Gefahr, einen Anfall zu erleiden, reicht nicht aus.
BSG vom 13.12.1994 – 9 RVs 3/94
Der Nachteilsausgleich „aG“ steht Behinderten nicht zu, die wegen eines Anfallsleidens
oder wegen Störungen der Orientierungsfähigkeit zwar nur unter Aufsicht gehen können,
aber nicht auf einen Rollstuhl angewiesen sind.
BSG vom 11.03.1998 – B 9 SB 1/97 R
Auch die Gefahr einer Verschlimmerung kann den Nachteilsausgleich „aG“ rechtfertigen.
Das ist der Fall, wenn medizinisch feststeht, dass der Schwerbehinderte zur Vermeidung
überflüssiger Gehstrecken in der Regel einen Rollstuhl benutzen soll, um der baldigen
Verschlechterung seines Gesundheitszustandes vorzubeugen.
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Merkzeichen „aG“ - Urteile
(2)
BSG vom 10.12.2002 – B 9 SB 7/01 R
Nach den straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften kommt es nicht darauf an, welche
Wegstrecke ein Schwerbehinderter außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch
bewältigen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich
ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung – praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – erfüllt, qualifiziert sich für den Nachteilsausgleich „aG“ auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt.
Bay. LSG vom 05.10.2004 – L 18 SB 45/04
Bei der Frage, ob ein behinderter Mensch außergewöhnlich gehbehindert ist, kommt es
nicht immer darauf an, welche Restgehstrecke ihm tatsächlich verblieben ist. Wenn der
behinderte Mensch nämlich nicht so stark beeinträchtigt ist, dass ihm schon auf den
ersten Metern eine Fortbewegung nur mit großer körperlicher Anstrengung möglich ist,
scheidet die Feststellung des Nachteilsausgleichs aus.
LSG Rheinland-Pfalz vom 19.07.2005 – L 4 SB 54/05
Begründen die festgestellten Funktionseinschränkungen für sich nicht das Vorliegen einer
außergewöhnlichen Gehbehinderung, sondern verursacht erst das Hinzutreten einer
Adipositas per magna die Geheinschränkung, sind die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „aG“ nicht erfüllt. Das Gehen mit einem Rollator ist rechtlich der Fortbewegung mit fremder Hilfe nicht gleichzustellen.
Merkzeichen „aG“ - Urteile
(3)
BSG vom 29.03.2007 – B 9/9a SB 5/05 R
Es reicht für die Bejahung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nicht aus, dass der
Kläger auf Fußwegstrecken von etwa 100 m – unter Umständen sogar mehrfach – pausieren muss. Vielmehr kommt es insbesondere darauf an, ob er sich nur unter großen
körperlichen Anstrengungen zu Fuß fortbewegen kann.
BSG vom 05.07.2007 – B 9/9a SB 5/06 R
Bei der Feststellung der Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „aG“ sind Schwierigkeiten beim Verlassen des Kraftfahrzeugs nicht zu berücksichtigen, zumal sie von der Art
und Ausstattung des Fahrzeugs abhängen. Es kommt allein darauf an, ob sich der
behinderte Mensch wegen der Schwere seines Leidens nur mit großer Anstrengung
außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann.
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Merkzeichen „RF“
(1)
Definition
Sehbehinderte (GdB 60) und Hörgeschädigte (GdB 50) sowie
Personen mit einem GdB von 80, die aufgrund ihres Leidens an
öffentlichen Veranstaltungen ständig und umfassend nicht teilnehmen können.
Das Merkzeichen soll ”Behinderten ein Mindestmaß an
Informationen und Abwechslung zu bieten, um sie vor
kultureller Verödung zu schützen”.
Vorteile
Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht und Gebührenermäßigung beim Telefon.
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Merkzeichen „RF“
a) Behinderte mit schweren Bewegungsstörungen
► wenn der Behinderte trotz Begleitperson und technischer Hilfsmittel
ständig an die Wohnung gebunden ist,
maßgeblich ist, ob der Behinderte passiv als Zuschauer oder Zuhörer
sitzend oder stehend an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen
kann,
es reicht nicht aus, lediglich an einzelnen Veranstaltungen (z.B.
Massen-veranstaltungen) nicht teilnehmen zu können,
► wenn dem Behinderten nur ganz wenige Veranstaltungen zugänglich
sind, deren Art und Anzahl ”nicht nennenswert” und im Verhältnis zu
anderen Veranstaltungen als ”geringfügig” zu werten sind,
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Merkzeichen „RF“
b) Behinderte, die auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken
► bei motorischer Unruhe oder aggressivem Verhalten,
► bei schwerer Entstellung, Geruchsbelästigung, häufigen hirnorganischen Anfällen, groben unwillkürlichen Kopf- und Gliedmaßenbewegungen sowie lauten Atemgeräuschen (z.B. Tracheostoma),
der Begriff der ”Unzumutbarkeit” soll nicht besonderen Empfindlichkeiten
der Gesellschaft, sondern dem Behinderten und seiner Menschenwürde
Rechnung tragen,
die funktionsgerechte Benutzung üblicher Hilfsmittel (z.B. Tragen von
Windelhosen) stellt keine Verletzung der Menschenwürde dar,
bei geistig Behinderten ist es unerheblich, ob sie überhaupt imstande
sind, die Darbietungen zu erfassen oder zu verfolgen,
es kommt nicht darauf an, ob der Behinderte wegen seiner Affektlabilität
emotional belastende Veranstaltungen meidet.
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Merkzeichen „H“
Definition
Hilflos im Sinne des SGB IX ist, wer
1. nicht nur vorübergehend
2. bei häufig und regelmäßig wiederkehrenden
Verrichtungen
3. aus körperlichen und/oder psychischen Gründen
4. dauernd in erheblichem Umfang
fremder Hilfe bedarf.
Vorteile
Steuerminderung (3.700 EUR), unentgeltliche Beförderung im
Personennahverkehr, Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer,
Gewährung von Pflegegeld, häusliche Pflegehilfe …
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Merkzeichen „H“ (Hilflosigkeit)
Hilflosigkeit
Pflegebedürftigkeit
Gesetzliche Unfallversicherung, Soz. EntPflegeversicherung
schädigungsrecht, Schwerbehindertenrecht
… wer … nicht nur vorübergehend für eine
Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung
seiner persönlichen Existenz im Ablauf
eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd
bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch
erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist …
… wer … für die gewöhnlichen
und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf
des tägliches Lebens auf Dauer … in erheblichem oder höheren Maße der Hilfe bedarf
Welches Attribut ist „leichter“ zu erhalten?
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Merkzeichen „H“ (Hilflosigkeit)
Pflegebedürftigkeit
Grundpflege
Körperpflege
Waschen, Zahnpflege, Darm- und
Blasenentleerung
Ernährung
Nahrungsaufnahme
Hauswirtschaft
Mobilität
Aufstehen u. Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden,
Stehen und Gehen …
Einkaufen, Kochen,
Reinigen der Wohnung
…
Pflegestufe 1: min. 90 min Grundpflege / Tag
Hilflosigkeit
Grundpflege
Körperpflege
Waschen, Zahnpflege, Darm- und
Blasenentleerung
Ernährung
Nahrungsaufnahme
Geistige Anregung
Mobilität
Aufstehen u. Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden,
Stehen und Gehen …
Kommunikation
Erfordernis der ständigen Überwachung
Täglicher Zeitaufwand bei min. 3 Verrichtungen von min. 2 Stunden
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Kasuistiken zu
Merkzeichen
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Merkzeichen aG - Orientierungsstörungen
Anamnese: Ältere Sehstörung linkes Auge (GdB 30). In letzten Jahren
zunehmende Gangunsicherheit, Gedächtnis- und Orientierungsprobleme,
häufige Stürze. Kann nicht allein gelassen werden (läßt Herdplatten an)
Derzeitige Einschätzung
Sehminderung
GdB 30
Herzminderleistung mit Bluthochdruck
GdB 20
Hüftgelenksarthrose
GdB 20
Verschleißerscheinungen der WS
GdB 20
Gesamt
GdB 60
Keine Merkzeichen. Klagt auf höheren GdB sowie „G“, „B“ und „aG“
Befund: Fortgeschrittene SAE mit unsicher-ataktischem Gangbild mit verbliebener Wegstrecke 200-300 m, Parkinsonoid, ausgeprägte Demenz. Im CT
massive Innen- und Außenatrophie, Ultraschall generalisierter Gefäßprozess.
Beurteilung: GdB 80 sowie “G”, “B”, jedoch nicht “aG”
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Merkzeichen aG - reduzierte Gehstrecke
Anamnese: 54jährige Ärztin für physikalische Medizin, in Rehabilitationsklinik
tätig. Mit 9 Jahren Poliomyelitis, danach Parese linkes Bein, Versorgung mit
Schienen-Hülsen-Apparat. In den letzten 10 Jahren Kraftverlust, schubförmig
begonnen nach Infekt mit Muskelschmerzen. Laut stationärer Abklärung
Fibromyalgie-Syndrom, kein Postpolio-Syndrom. Arbeitet ganztägig. Aktionsradius mit Krücken 20-30 m, hat Parkplatz am Haus, Arbeitsplatz ebenerdig.
Derzeitige Einschätzung: GdB 80 + “G”, Klagt auf “aG”
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Merkzeichen aG - Aussteigen aus dem PKW
Anamnese: 74jähriger Rentner, vor 5 Jahren rechtshirniger Schlaganfall.
erfolgter Nach Rehabilitation Gehfähigkeit 200-300 m, jedoch weiterhin
komplette Plegie des Armes. Zusätzlich jetzt in letzten 2 Jahren dementieller
Abbau, kann nicht alleine gelassen werden. Die 20 Jahre jüngere Ehefrau
pflegt ihn.
Derzeitige Einschätzung
GdB 80, alle Merkzeichen außer „aG“. Klagt jetzt auf „aG“. Habe Probleme
beim Aussteigen aus dem PKW und benötige hierbei Hilfe. Er brauche dazu
jedoch genügend Abstand zum nächsten Auto, wie es diesen nur auf einem
Behindertenparkplatz gebe.
BSG vom 05.07.2007 – B 9/9a SB 5/06 R: Schwierigkeiten beim Verlassen des Kraftfahrzeugs sind nicht zu berücksichtigen, zumal sie von der Art und Ausstattung des Fahrzeugs
abhängen. Es kommt allein darauf an, ob sich der behinderte Mensch wegen der Schwere
seines Leidens nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen
kann.
aber … ev. Vergleich mit „armamputiert und einseitig oberschenkelamputiert“
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Merkzeichen RF
Anamnese: Beim dem 47jährigen Angestellten bestehen nach einer Verletzung
des linken Unterschenkels ein Muskeldefekt, trophische Störungen, eine
Fußgelenksversteifung links sowie eine Schädigung des N. peronaeus und N.
tibialisn. Zusätzlich reaktive Depression, seit Jahren bestehende Migräne und
Wirbelsäulenbeschwerden aufgrund der Fehlhaltung beim Gehen.
Derzeitige Einschätzung: Gesamt-GdB von 90 und Merkzeichen „G“.
Geklagt wird auf Anerkennung des Merkzeichens „RF“. In der Begründung
macht der Kläger geltend, dass er nach einstündigem Sitzen den linken Fuß
hochlagern müsse und deshalb Veranstaltungen im Stehen, wie z.B. Eishockeyspiele, nicht besuchen könne. Autofahren und der Besuch von Veranstaltungen im Sitzen seien weiterhin möglich.
Beurteilung: Im vorliegenden Fall wird zwar ein GdB von wenigstens 80
erreicht. Nach den Vorgaben der Anhaltspunkte genügt es aber nicht, wenn
die Teilnahme an einzelnen Veranstaltungen nicht möglich ist.
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Merkzeichen RF
Anamnese: Bei der 56jährigen, frühzeitig berenteten Klägerin bestehen seit
Jahren gemäß Unterlagen ein ausgeprägte neurotische Depression, eine
Zwangsstörung, eine Somatisierungsstörung, Wirbelsäulenbeschwerden sowie
Beschwerden an mehreren Gelenken. Es erfolgt eine Behandlung mit hochpotenten Neuroleptika.
Derzeitige Einschätzung: Gesamt-GdB von 100 ohne Merkzeichen.
Klage auf Merkzeichen RF.
Befund: Bei der Untersuchung fanden sich ständige dystone, ticartige Bewegungen der Gesichts- und Halsmuskulatur sowie des gesamten Oberkörpers. In
der Anamnese wurde außerdem eine ausgeprägte Angst vor Menschenansammlungen berichtet.
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