III. Grundsätze des Strafverfahrens 22 1. Allgemeine Grundsätze des

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III. Grundsätze des Strafverfahrens 22 1. Allgemeine Grundsätze des
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Einleitung
III. Grundstze des Strafverfahrens
Literatur: Bçse, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Satzes „Nemo tenetur se ipsum accusare“, GA 2002, 98; Eschelbach,
Gehçr vor Gericht, GA 2004, 228; Geppert, Der Grundsatz der freien Beweiswrdigung (§ 261 StPO), Jura 2004, 105; Grunsky,
Grundlagen des Verfahrensrechts, 1974; Hassemer, Legalitt und Opportunitt im Strafverfahren – eine Skizze, FS zum 125jhrigen
Bestehen der Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein, 1992, S. 529; Lderssen, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Beweisrechts,
ZStW 1973, 288; Stuckenberg, Die normative Aussage der Unschuldsvermutung, ZStW 1999, 422; Weigend, Unverzichtbares
im Strafverfahrensrecht, ZStW 2001, 271.
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1. Allgemeine Grundstze des Strafverfahrens. Unter den allgemeinen Grundstzen des Strafverfahrens wer-
den hier solche verstanden, die fr alle Verfahrensstadien Geltung beanspruchen. Die speziellen Verfahrensgrundstze (vgl. Rn 33 ff.) betreffen hingegen in erster Linie bestimmte Verfahrensabschnitte.106
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a) Offizialprinzip. Das sog. Offizialprinzip, das im Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft (§ 152 Abs. 1 i.V.m.
§ 160 Abs. 1) eine einfachgesetzliche Ausprgung erfhrt, bedeutet, dass die Strafverfolgung grundstzlich (vgl.
etwa §§ 155a, 155b, 374 ff., 395 ff., siehe Rn 131 f.) dem Staat und nicht dem einzelnen Brger obliegt. Historisch
geht es auf die gezielte obrigkeitliche berwindung der Konfliktbewltigung durch die beteiligten privaten Parteien
zurck.107 Hintergrund des staatlichen Strafverfolgungsmonopols ist einerseits das Bedrfnis nach Vermeidung von
Selbstjustiz und andererseits die Gewhrleistung eines Verfahrens, das dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit
(Art. 20 Abs. 3 GG) gengt, indem es sowohl die Durchsetzung des çffentlichen Strafverfolgungsanspruchs als
auch den Schutz der Rechte der von der Strafverfolgung betroffenen Personen gewhrleistet (vgl. Rn 4, 13). Das
staatliche Strafverfolgungsmonopol korrespondiert mit dem Charakter des Strafrechts als çffentliches Recht, das
die Verletzung der Rechtsordnung in der Person des oder der Geschdigten sanktioniert (vgl. Rn 1).
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b) Selbstbelastungsfreiheit. Der Grundsatz, dass niemand verpflichtet ist, sich selbst anzuklagen oder an der ei-
genen Verurteilung mitzuwirken, wird als sog. nemo tenetur-Prinzip („nemo tenetur se ipsum accusare“ und „nemo
tenetur se ipsum prodere“) bezeichnet. Ein Zwang zur Selbstbezichtigung wrde die Menschenwrde berhren.108
Der nemo tenetur-Grundsatz hat in § 136 Abs. 1 S. 2 fr den Beschuldigten und in § 55 Abs. 1 fr den Zeugen eine
einfachgesetzliche Ausprgung erfahren, gilt aber als bergeordneter Verfahrensgrundsatz.109 Anstzen, durch eine
extensive Interpretation dieses Grundsatzes eine dogmatische Basis fr eine allgemeine Lehre der Beweisverbote zu
schaffen, muss kritisch begegnet werden. Denn zum einen gibt es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz dergestalt,
dass der Beschuldigte vor Selbstbelastungen jeglicher Art in Schutz genommen werden msste.110 Zum anderen
ist der Beschuldigte zwar nicht zur aktiven Mitwirkung am Strafverfahren (z.B. durch die Mitwirkung an Tatrekonstruktionen, die Erstellung von Schriftproben oder die Abgabe einer Speichelprobe zum Zweck einer DNAAnalyse111) verpflichtet, wohl aber zur Duldung bestimmter Maßnahmen, die auch durch unmittelbaren Zwang
durchgesetzt werden kçnnen (z.B. die kçrperliche Untersuchung oder Entnahme einer Blutprobe nach § 81a, die erkennungsdienstliche Behandlung nach § 81b oder die Durchfhrung einer Wahlgegenberstellung). Der Ansicht,
dass das nemo tenetur-Prinzip auf das Verbot der zwangsweisen Preisgabe von Tatwissen, mithin auf den Schutz
der geistig-seelischen Sphre des Beschuldigten zu beschrnken sei, kann von einem dogmatischen Standpunkt
aus im Grundsatz zugestimmt werden.112
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c) Unschuldsvermutung. Die Unschuldsvermutung, die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt113 und in Art. 6 Abs. 2
MRK gesetzlich verankert ist, besagt, dass niemand als schuldig behandelt werden darf, ohne dass in einem gesetzlich geregelten Verfahren seine Schuld nachgewiesen ist (nher Art. 6 MRK Rn 69 ff.).114 Die Unschuldsvermutung
steht zwar nicht der Unzulssigkeit von Strafverfolgungsmaßnahmen entgegen, die ja erst die Klrung der Schuldfrage bezwecken; aus ihr folgt aber, dass entsprechend der Eingriffsintensitt der Strafverfolgungsmaßnahme ein be-
106 Die hier vorgenommene Unterscheidung deckt sich weitgehend mit der zwischen „verfassungsrechtlichen“ und
„klassischen“ Prozessgrundstzen (vgl. LR/Rieß, Einl. H
Rn 4 ff., 8), die mittlerweile terminologisch etwas veraltet
erscheint; allgemein zu „unverzichtbaren“ Grundstzen des
Strafverfahrens Weigend, ZStW 2001, 271; Heinrich, Jura
2003, 167.
107 Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, 1989, S. 93
m.w.N.; hervorzuheben ist hier das langobardische Edictus
Rothari von 643 (vgl. Schçnfeld, Das Rechtsbewußtsein der
Langobarden, 1934, S. 82 ff.; von Amira, Germanisches
Recht, Band II, 4. Aufl. 1967, S. 172 ff.) und die Peinliche
Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532.
108 BVerfGE 56, 37, 42, 49 = NJW 1981, 1431 ff.; BVerfGE
80, 109, 121 = NJW 1989, 2679, 2680.
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109 Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht, 1998; Torka,
Nachtatverhalten und nemo tenetur, 2000.
110 Vgl. BGHSt 42, 139, 156 = NJW 1996, 2940, 2943.
111 Meyer-Goßner, Einl. Rn 29a.
112 Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren. Ein
Beitrag zur Konturierung eines berdehnten Verfahrensgrundsatzes, 2001.
113 BVerfGE 22, 254, 265 = NJW 1967, 2151, 2153; BVerfGE
82, 106 = NJW 1990, 2741.
114 BVerfGE 35, 311, 320 = NJW 1974, 26, 27; BVerfGE 74,
358, 371 = NJW 1987, 2427; BVerfGE 82, 106, 114 = NJW
1990, 2741; eingehend zum im Einzelnen umstrittenen
normativen Gehalt der Unschuldsvermutung SK/Paeffgen,
Art. 6 MRK Rn 175 ff.; Stuckenberg, Untersuchungen zur
Unschuldsvermutung, 1998; Stuckenberg, ZStW 1999,
422.
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Einleitung
stimmter, ggf. erhçhter Grad des Tatverdachts vorliegen muss (nher zu den Graden des Tatverdachts Vorbem. zu
§ 94 Rn 4, § 112 Rn 10 ff. und § 152 Rn 5). Die Unschuldsvermutung endet erst mit der Rechtskraft der Verurteilung.115 Ein Anspruch des Beschuldigten darauf, ein Strafverfahren allein zu dem Zweck fortzufhren, seine Unschuld zu beweisen, kann aus der Unschuldsvermutung nicht hergeleitet werden.116
d) Grundsatz des gesetzlichen Richters. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters ist in Art. 101 GG und in § 16
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GVG ausdrcklich niedergelegt (vgl. auch Art. 6 MRK Rn 19 ff.). Dort heißt es: „Niemand darf seinem gesetzlichen
Richter entzogen werden“. Die Verfassungsnorm garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter
steht, der unabhngig und unparteilich ist und der die Gewhr fr Neutralitt und Distanz gegenber den Verfahrensbeteiligten hat.117 Konsequenz dieses Grundsatzes ist die Notwendigkeit von abstrakten Zustndigkeitsregeln, sowohl in çrtlicher (§§ 7 ff.) und sachlicher (§§ 21a–140a GVG) Hinsicht als auch im Hinblick auf die Geschftsverteilung bei den jeweiligen Gerichten. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters kann nach § 338
Nr. 1 einen absoluten Revisionsgrund darstellen (nher § 338 Rn 2 ff.). Aus dem Grundsatz des gesetzlichen Richters
folgt ferner die Notwendigkeit von Vorschriften, die die Ausschließung und Ablehnung eines Richters erlauben,
wenn begrndete Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit bestehen (vgl. §§ 22 ff.).118 Mit dem Grundsatz des gesetzlichen Richters eng zusammen hngt der verfassungsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhngigkeit
(vgl. Art. 97 GG).
e) Grundsatz des rechtlichen Gehçrs. Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf recht-
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f) Verhltnismßigkeitsgrundsatz. Der umfassende Geltungsanspruch des Grundsatzes der Verhltnismßigkeit
kennzeichnet das Strafverfahrensrecht als „angewandtes Verfassungsrecht“ (vgl. Rn 2). Eine wichtige Konsequenz
des Verhltnismßigkeitsgrundsatzes ist die ultima-ratio-Funktion des Strafrechts. Da das Strafrecht die einschneidendste Handhabe des Staates zur Beschrnkung der Freiheitsrechte seiner Brger darstellt, darf es im Hinblick auf
etwaige mildere, ebenso geeignete Mittel – vorbehaltlich einer Einschtzungsprrogative des Gesetzgebers – nur
subsidir Anwendung finden. Der Verhltnismßigkeitsgrundsatz ist bei allen Strafverfolgungsmaßnahmen mit Eingriffscharakter zu beachten. Ausprgungen dieses Grundsatzes finden sich in Form besonderer Subsidiarittsklauseln z.B. in § 81 Abs. 2 S. 2, § 98a Abs. 1 S. 2, § 100a S. 1, § 100c Abs. 1 Nr. 4, § 100f Abs. 1, Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S.1
und S. 2, § 100g Abs. 2, § 100i Abs. 2 S. 1 und 2 § 110a Abs. 1 S. 3 und 4, § 112 Abs. 1 S. 2, § 120 Abs. 1 S. 1, § 163b
Abs. 2 S. 2, § 163d Abs. 1 S. 1, § 163e Abs. 1 S. 2 und 3 und § 163f Abs. 1 S. 2 und 3 (vgl. auch Vorbem. zu § 94 Rn 6).
Die Tendenz des Gesetzgebers, alle neu geschaffenen Ermittlungsbefugnisse mit einer derartigen besonderen Subsidiarittsklausel auszustatten, entwertet freilich deren Bedeutung als limitierendes Merkmal (zur Problematik der
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liches Gehçr (vgl. auch Art. 6 MRK Rn 46).119 Dies bedeutet, dass jedem Betroffenen – nicht nur dem Angeklagten –
Gelegenheit gegeben werden muss, sich dem Gericht gegenber zu den ihn betreffenden Sachverhalten zu ußern
und dass das Gericht seine Ausfhrungen zur Kenntnis nehmen und in Erwgung ziehen muss.120 Art. 103 Abs. 1
GG ist zwar im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren nicht anwendbar, der Grundsatz des rechtlichen Gehçrs gilt aber als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips auch dort.121 Der Anspruch auf rechtliches Gehçr hat in der StPO
einfachgesetzliche Ausprgungen in den §§ 33, 33a, 115, 118, 128, 136, 163a, 175, 201, 243 Abs. 2 und Abs. 4,
§§ 257, 258, 265, 308 Abs. 1, § 311 Abs. 3, §§ 311a, 324 Abs. 2, §§ 326, 350, 351 Abs. 2 erfahren und ist auch in
Art. 6 MRK verankert. Hervorzuheben ist auch das Akteneinsichtsrecht (vgl. §§ 147, 385 Abs. 3, §§ 406e,
474 ff.) als Ausprgung des Rechts auf rechtliches Gehçr (nher Art. 6 MRK Rn 44, 83).122 Ausnahmen von
dem Grundsatz bestehen fr das Strafbefehlsverfahren (§ 407 Abs. 3), weil dort die Mçglichkeit des Einspruchs
(§ 410) besteht, sowie dann, wenn die vorherige Anhçrung den Erfolg der Strafverfolgungsmaßnahme gefhrden
wrde (§ 33 Abs. 4). In der Regel kann dies bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen angenommen werden (vgl. Vorbem. zu § 94 Rn 2). Der Anspruch soll verhindern, dass der Mensch zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht
wird.123 Durch das am 1.1.2005 in Kraft getretene Anhçrungsrgengesetz124 wurde § 33a allgemeiner gefasst und
§ 356a neu eingefgt, um das Recht auf rechtliches Gehçr zu strken.
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BVerfGE 35, 202, 232 = NJW 1973, 1226, 1230.
BGHSt 10, 88, 93.
BVerfG NJW 2005, 3410 m.w.N.
Meyer-Goßner, Vor § 22 Rn 1.
Eingehend zum normativen Gehalt des Grundsatzes
Eschelbach, GA 2004, 228.
120 BVerfGE 60, 175, 210 = NJW 1982, 1579, 1582; BVerfGE
64, 135, 144 = NJW 1983, 2762, 2763; BVerfGE 65, 305,
307 = NJW 1984, 1026.
121 BVerfGE 101, 397, 405 = NJW 2000, 1709.
122 BVerfG NJW 1994, 3219; Kempf, StraFo 2004, 299, der
zutreffend darauf hinweist, dass das durch Akteneinsicht
ermçglichte rechtliche Gehçr eine wesentliche Bedingung
fr den an die Organe der Strafrechtspflege gerichteten
Auftrag der Wahrheitsfindung darstellt (302); zur Bedeutung im Ermittlungsverfahren Walischewski, StV 2001,
243.
123 BVerfGE 7, 53, 58 = NJW 1957, 1228; BVerfGE 9, 89, 95 =
NJW 1959, 427.
124 BGBl I 2004, S. 3220; Huber, JuS 2005, 109; die Gesetznderung geht zurck auf die Plenarentscheidung BVerfGE
107, 395 = NJW 2003, 1924.
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Kumulierung von Eingriffen nher Vorbem. zu § 94 Rn 8). Besondere Bedeutung entfaltet der Verhltnismßigkeitsgrundsatz auch im Hinblick auf die zeitlichen Schranken von Eingriffsbefugnissen.125
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g) Vorbehalt des Gesetzes. Der verfassungsrechtliche Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes besagt, dass jeder
hoheitlichen Maßnahme mit Eingriffscharakter eine einfachgesetzliche Befugnisnorm zugrunde liegen muss. Fr
das Strafverfahren ist dieser Grundsatz deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich die Ermittlungswirklichkeit
nicht abschließend in bestimmten Verfahrensregeln abbilden lsst. Die Beweismittelgewinnung ist deshalb vom
Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens, die Beweiswrdigung durch den Grundsatz der
freien richterlichen Beweiswrdigung bestimmt. Durch das StVG 1999126 wurde ferner § 161 in eine – bis dahin
in der StPO fehlende – Ermittlungsgeneralklausel umgestaltet (nher § 161 Rn 1, 13 ff.). Die Ermittlungsgeneralklausel rechtfertigt aber nur Maßnahmen mit geringer Eingriffsintensitt wie etwa die kurzfristige Observation. Besondere Maßnahmen sind ohne spezialgesetzliche Ermchtigungsgrundlage unzulssig, wobei im Detail vieles umstritten ist.127 Mit dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes eng zusammen hngt der verfassungsrechtliche
Bestimmtheitsgrundsatz.128
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h) Grundsatz des fair trial. Die vorstehend genannten allgemeinen Verfahrensgrundstze berbrckend stellt der
Grundsatz des fair trial, der in Art. 6 MRK (vgl. dort Rn 39 ff.) im Sinne eines Mindeststandards129 eine gesetzliche
Ausgestaltung erfahren hat und verfassungsrechtlich aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet wird, ein Prinzip dar, das die grçßtmçgliche Optimierung verfassungsmßiger Werte durch das Verfahrensrecht verlangt.130
Beispiele: In schwerwiegenden Fllen muss dem Angeklagten auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des
§ 140 ein Pflichtverteidiger bestellt werden;131 Aussagen eines Zeugen vom Hçrensagen mssen besonders vorsichtig gewrdigt werden.132 Geheimhaltungsinteressen des Staates drfen dem Angeklagten nicht zum Nachteil gereichen.133 Die gerichtliche Frsorgepflicht, die sich in Hinweis- (vgl. § 265, § 136 Rn 16) und Schutzpflichten (vgl.
§ 68 Abs. 2 und 3, § 68a, §§ 171b, 172 Nr. 2 GVG) konkretisiert, stellt eine der wichtigsten Ausprgungen des Anspruchs auf ein faires Strafverfahren dar.134 Der im angloamerikanischen Recht vorherrschende Gedanke des fair trial
im Sinne einer „Waffen-Gleichheit“ zwischen Anklage und Verteidigung kann auf das deutsche Strafverfahrensrecht
hingegen wegen dessen weniger kontradiktorischen Charakters nicht ohne weiteres bertragen werden.135
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i) Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung. Da durch das Strafverfahrensrecht besonders tief in die Rechte der
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Betroffenen eingegriffen wird, kommt dem Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung fr den gesamten Strafprozess
große Bedeutung zu. Dieser Grundsatz, der zum Recht auf ein faires Verfahren gezhlt werden kann, erfhrt einfachgesetzliche Ausprgungen unter anderem in den §§ 115, 121, 128 f., 161a, 163 Abs. 2 S. 1, § 163a Abs. 3, §§ 222a,
222b, 229 Abs. 1 und 2, § 268 Abs. 3 S. 2 und ist auch in Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK (vgl. dort Rn 59 ff.) niedergelegt. Das
BVerfG hat sich in jngerer Zeit hufiger mit Verstçßen gegen den Beschleunigungsgrundsatz, u.a. in Haftsachen,136
auseinanderzusetzen gehabt. Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzçgerungen mssen grundstzlich bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs, z.B. im Rahmen der Strafzumessung, durch Beschrnkung der Strafverfolgung,
Absehen von Strafe oder Einstellung des Verfahrens, bercksichtigt werden. Art und Umfang der Verzçgerung mssen durch das erkennende Gericht ausdrcklich festgestellt werden.137 Zu einem Verfahrenshindernis kann die Verzçgerung aber nur in extrem gelagerten Einzelfllen fhren (vgl. auch Rn 68).138 Der Beschleunigungsgrundsatz gebietet aber auch, exzessivem Prozessverhalten der Verteidigung zu begegnen, indem z.B. zum Zwecke der
Prozessverschleppung gestellte Beweisantrge erst in den Urteilsgrnden beschieden werden.139
Das im materiellen Strafrecht geltende Analogieverbot beansprucht nach h.M. im Strafverfahren keine Geltung.140
125 Nher Kropp, ZRP 2001, 404; vgl. ferner die Begrenzung
der Anordnungsdauer in § 100b Abs. 2 S. 4, § 100d Abs. 1
S. 4–6, § 100i Abs. 4 S. 2; BVerfGE 96, 44, 54 = NJW 1997,
2165, 2166 (Durchsuchung), BVerfG NStZ 2005, 456
m.w.N. (U-Haft).
126 BGBl I S. 1253; BT-Drucks 14/1484.
127 Vgl. Perschke, Die Zulssigkeit nicht spezialgesetzlich
geregelter Ermittlungsmethoden im Strafverfahren, 1997;
Hilger, NStZ 2000, 564; Martensen, JuS 1999, 433.
128 Dazu BVerfGE 110, 33 = NJW 2004, 2213 m.w.N.
129 Meyer-Goßner, Art. 6 MRK Rn 4.
130 Steiner, Das Fairnessprinzip im Strafprozeß, 1995,
S. 140 ff. m.w.N.; Roxin, § 11 Rn 11.
131 BVerfGE 46, 202 = NJW 1978, 151.
132 BVerfGE 57, 250 = NJW 1981, 1719.
133 BGHSt 49, 112 = NJW 2004, 1259.
134 Zu einzelnen Ausprgungen der Frsorgepflicht Marczak,
StraFo 2004, 373.
135 BVerfGE 110, 226, 253 = NJW 2004, 1305, 1308 konkretisiert das Prinzip der „Waffengleichheit“ auf Informati-
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onsrechte und das Recht des Beschuldigten auf Mitwirkung
eines Verteidigers seiner Wahl; vgl. Rzepka, Zur Fairness
im deutschen Strafverfahren, 2000; Heubel, Der „Fair trial“
– Ein Grundsatz des Strafverfahrens?, 1981; LR/Rieß, Einl.
H Rn 116 ff.
U-Haft: BVerfGK 5, 109 = NStZ 2005, 456; BVerfG NJW
2006, 668; 2006, 1336; BVerfG NStZ 2006, 295; BVerfG
EuGRZ 2006, 283; 2006, 626;; kritisch hierzu Schmidt,
NStZ 2006, 313; Reststrafenbewhrung: BVerfG NJW
2001, 2707; Strafvollzug: BVerfGK 5, 155 = NJW 2005,
3488.
BVerfG NJW 1993, 3254; 1995, 1277; 2003, 2225; 2003,
2228; BVerfGK 1, 269 = NJW 2003, 2897; BVerfGK 2, 239
= NJW 2004, 2398.
BVerfGK 1, 269, 284 = NJW 2003, 2897, 2899.
BGHR StPO § 244 Abs. 3 S. 2 Prozessverschleppung 14 =
NJW 2005, 2466; BGH NStZ 2005, 341.
LR/Rieß, Einl. B Rn 24.