Mecklenburg-Vorpommern Zentralabitur 2006
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Mecklenburg-Vorpommern Zentralabitur 2006 Deutsch Leistungskurs Aufgaben Abitur 2006 Deutsch Lk Seite 2 Hinweise für Schüler Aufgabenauswahl: Wählen Sie von den vorliegenden vier Aufgaben e i n e aus und bearbeiten Sie diese vollständig. Bearbeitungszeit: Ihre Arbeitszeit beträgt 300 Minuten; zusätzlich stehen Ihnen 30 Minuten Lesezeit für die Wahl der Prüfungsaufgabe zur Verfügung. Hilfsmittel: Sie dürfen ein Nachschlagewerk zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung verwenden. Hinweis: Die den Aufgaben zu Grunde liegenden Texte wurden nicht in jedem Fall der neuen Rechtschreibung angepasst. Sonstiges: Geben Sie auf der Reinschrift die bearbeitete Aufgabe an und nummerieren Sie die Seiten bitte fortlaufend. Für die Bewertung gilt die Reinschrift. Entwürfe können nur dann ergänzend herangezogen werden, wenn sie zusammenhängend konzipiert sind und die Reinschrift etwa drei Viertel des erkennbar angestrebten Gesamtumfangs beträgt. Abitur 2006 Deutsch Lk Seite 3 Aufgaben im Überblick Aufgabe I Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts (Textauszug) Interpretieren Sie den Text. Äußern Sie sich zu seiner Funktion als Eingangskapitel der Novelle. Stellen Sie den literaturhistorischen Kontext her. Aufgabe II Siegfried Lenz: Das Ende des Gutenbergzeitalters (Textauszug) Analysieren Sie den Text und bewerten Sie dessen Gestaltungs- und Wirkungsweise. Aufgabe III Arthur Schnitzler: Die grüne Krawatte Interpretieren Sie den Text. Aufgabe IV Friedrich Hebbel: Karl Krolow: Herbstbild Toter Herbst Interpretieren Sie, ausgehend von der jeweiligen Gestaltung des Herbstmotivs, die beiden Gedichte vergleichend. Abitur 2006 Deutsch Lk Seite 4 Aufgabe I Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts (Textauszug) Interpretieren Sie den Text. Äußern Sie sich zu seiner Funktion als Eingangskapitel der Novelle. Stellen Sie den literaturhistorischen Kontext her. ___________________________________________________________________________ Text zur Aufgabe I Joseph von Eichendorff (1788 - 1857) Aus dem Leben eines Taugenichts (Textauszug) In Eichendorffs Novelle wird in zehn Kapiteln von einem Jüngling erzählt, der sein Vaterhaus verlässt und in die Welt hinauszieht, um sein Glück zu suchen. Erstes Kapitel 5 10 15 20 Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: „Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.“ - „Nun“, sagte ich, „wenn ich ein Taugenichts bin, so ist’s gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen.“ Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehn, da ich die Goldammer, welche im Herbst und Winter immer betrübt an unserm Fenster sang: „Bauer, miet mich1, Bauer miet mich!“ nun in der schönen Frühlingszeit wieder ganz stolz und lustig vom Baume rufen hörte: „Bauer, behalt deinen Dienst2!“ – Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig3 spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus. Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten recht stolz und zufrieden Adjes4 zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm ich meine liebe Geige vor, und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend: 1 „miet mich“ – in Mieten setzen, einmieten, zum Überwintern „Dienst“ – Hilfe, freiwillige Unterstützung 3 artig – (früher auch) anmutig, gefällig 4 Adjes – eingedeutscht für das französische „Adieu“ (Gott befohlen!) 2 Abitur 2006 Deutsch Lk 25 30 Seite 5 „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen In Berg und Wald und Strom und Feld. Die Trägen, die zu Hause liegen, Erquicket nicht das Morgenrot, Sie wissen nur vom Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Not um Brot. Die Bächlein von den Bergen springen, Die Lerchen schwirren hoch vor Lust; Was sollt ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl und frischer Brust? 35 40 Den lieben Gott laß ich nur walten; Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld Und Erd und Himmel will erhalten, Hat auch mein’ Sach’ aufs best bestellt!“ Indem, wie ich mich so umsehe, kömmt ein köstlicher Reisewagen ganz nahe an mich heran, […] (Erstdruck 1826) Aus: J. v. Eichendorff. Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Digitale Bibliothek Sonderband. Meisterwerke deutscher Dichter und Denker. Direct Media Publishing GmbH. Berlin 2000 Abitur 2006 Deutsch Lk Seite 6 Aufgabe II Siegfried Lenz: Das Ende des Gutenbergzeitalters (Textauszug) Analysieren Sie den Text und bewerten Sie dessen Gestaltungs- und Wirkungsweise. ______________________________________________________________________ Text zur Aufgabe II Siegfried Lenz (geb. 1926) Das Ende des Gutenbergzeitalters (Auszug) 5 10 15 20 25 30 […] Die klassische Vorstellung vom Leser, der bereit ist, die Einsamkeit eines Autors zu teilen, mußte aber bereits überprüft werden, als das Radio erfunden wurde. In der Heraufkunft dieses neuen Mediums, das Literatur gleichzeitig an Millionen Konsumenten vermitteln konnte, glaubten einige, wenn auch nicht den Verdränger, so doch den Ideal-Konkurrenten des Buches zu erblicken. Der Konsument, der wußte, daß er im Augenblick des Empfangs mit vielen anderen Hörern verbunden war, wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß der Autor sein Buch für ihn, ihn allein, geschrieben haben könnte. Die Intimität überkommener Lesekultur wurde aufgehoben; eine andere Qualität der Wahrnehmung zeigte sich. Noch aber war der Autor nicht entmachtet: Auch im gehörten Buch ließen sich sein persönlicher Stil erkennen, seine formalen Fähigkeiten, seine Überredungskunst – sie erkannte man an, ihnen vertraute man. Da die Rezeption von sogenannten Hörbüchern eine andere Aufmerksamkeit erfordert als eine stille Lektüre – sie kann anscheinend beiläufiger geschehen, müheloser und genügt sich oft darin, überflüssige Zeit nutzbringend zu verwenden –, war es wohl absehbar, daß eines Tages regelrechte Hör-Bibliotheken entstehen würden, in denen Proust1, Joyce2 oder Thomas Mann auf Kassette zu haben sind. Doch seltsam genug: Diese Hör-Bibliotheken haben das Buch keineswegs ersetzen oder überflüssig machen können; es läßt sich sogar in einzelnen Fällen nachweisen, daß das gedruckte Buch durch das gehörte begünstigt wurde. Aus aufschlußreichem Ungenügen nämlich entschieden sich Hörer dazu, das Gehörte noch einmal nachzulesen; nicht selten aus dem Bedürfnis, ein gewonnenes Urteil durch Lektüre zu bestätigen. Das aber legt die Vermutung nahe, daß wir bei der Entwicklung unserer kognitiven Fähigkeiten nicht aufs Lesen verzichten können. Lesend – so argumentierte schon Plato3 – wird die Urteilskraft gefördert, lesend wird das Erinnerungsvermögen verfeinert, wird die Phantasie entwickelt. Hellsichtige Diagnostiker, die die Zeichen der Zeit früh wahrgenommen haben, versichern uns, daß für den Erzähler die Spätzeit bereits begonnen habe, für ihn und die ganze narrative Literatur. Michael Joyce4 hat erkannt: »Wir befinden uns in der Spätzeit des Drucks, einer Übergangszeit, da das Buch, wie wir es kennen, dem Ausdruck des Geistes in Lichtform Platz macht.« Da stellt sich wie von selbst die Frage: Wird der Bildschirm des Computers das Buch überflüssig machen, wird Gutenbergs schwarze Revolution bald nur noch ein Abreißblatt in der Geschichte der Textverbreitung sein? Was sich dem computerorientierten Konsumenten heute an Informationsvielfalt bietet, hätte sich ein Schriftgießer alter Tage in der Tat nicht träumen lassen. Schon ist es möglich, am Bildschirm durch das gewaltige Labyrinth menschlichen Wissens zu streifen, durch ein scheinbar unbegrenztes Universum. Die enzyklopädische Offerte braucht nur angenommen zu 1 2 3 4 Marcel Proust (1871 - 1922): bedeutender französischer Schriftsteller James Joyce (1882 - 1941): bedeutender irischer Schriftsteller Plato (um 427 - 347 v. Chr.): bedeutender altgriechischer Philosoph Michael Joyce: amerikanischer Professor, Verfasser von Hypertextromanen Abitur 2006 Deutsch Lk 35 40 Seite 7 werden, und wir können nicht nur in die Tiefe der Zeit tauchen, sondern auch alle gewonnenen Informationen miteinander verbinden. Die Musik eines Jahrhunderts, seine Philosophie, seine Malerei, seine Naturwissenschaften werden im Augenblick präsent, und nicht nur dies: Sie verweisen auch aufeinander. Der Semiotiker Eco5, der selbst eine CD-ROM verfaßt hat – er nannte sie »Encyclomedia« – ist sicher, daß die neue Technologie gewisse Bücher verdrängen wird, Handbücher vor allem, Enzyklopädien. Ihm stellte sich übrigens die Informationsbeschaffung durch den Computer als höchst praktikabel dar – im Vergleich zur Befragung einer Enzyklopädie. Doch welch ein Schicksal ist der Literatur vorbehalten, dem Roman, dem Gedicht? […] (1999) Aus: S. Lenz. Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur. Drei Essays. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 2003 5 Umberto Eco (geb. 1932): italienischer Sprachwissenschaftler und Romanautor Abitur 2006 Deutsch Lk Seite 8 Aufgabe III Arthur Schnitzler: Die grüne Krawatte Interpretieren Sie den Text. Text zur Aufgabe III Arthur Schnitzler (1862 - 1931) Die grüne Krawatte 5 10 15 20 25 30 Ein junger Herr namens Cleophas1 wohnte zurückgezogen in seinem Hause nah der Stadt. Eines Morgens wandelte ihn die Lust an, unter Menschen zu gehen. Da kleidete er sich wohlanständig an wie immer, tat eine neue grüne Krawatte um und begab sich in den Park. Die Leute grüßten ihn höflich, fanden, daß ihm die grüne Krawatte vorzüglich zu Gesichte stehe, und sprachen durch einige Tage mit viel Anerkennung von der grünen Krawatte des Herrn Cleophas. Einige versuchten, es ihm gleichzutun, und legten grüne Krawatten an wie er – freilich waren sie aus gemeinerem Stoff und ohne Anmut geknüpft. Bald darauf machte Herr Cleophas wieder einen Spaziergang durch den Park, in einem neuen Gewand, aber mit der gleichen grünen Krawatte. Da schüttelten einige bedenklich den Kopf und sagten: »Schon wieder trägt er die grüne Krawatte ... Er hat wohl keine andere ...« Die etwas nervöser waren, riefen aus: »Er wird uns noch zur Verzweiflung bringen mit seiner grünen Krawatte!« Als Herr Cleophas das nächste Mal unter die Leute ging, trug er eine blaue Krawatte. Da riefen einige: »Was für eine Idee, plötzlich mit einer blauen Krawatte daher zu kommen?« Die Nervöseren aber riefen laut: »Wir sind gewohnt, ihn mit einer grünen zu sehen! Wir brauchen es uns nicht gefallen zu lassen, daß er heute mit einer blauen erscheint!« Aber manche waren sehr schlau und sagten: »Ah, uns wird er nicht einreden, daß diese Krawatte blau ist. Herr Cleophas trägt sie, und daher ist sie grün.« Das nächste Mal erschien Herr Cleophas, wohlanständig gekleidet wie immer, und trug eine Krawatte vom schönsten Violett. Als man ihn von weitem kommen sah, riefen die Leute höhnisch aus: »Da kommt der Herr mit der grünen Krawatte!« Besonders gab es eine Gesellschaft von Leuten, der ihre Mittel nichts anderes erlaubten, als Zwirnsfäden um den Hals zu schlingen. Diese erklärten, daß Zwirnsfäden das Eleganteste und Vornehmste seien, und haßten überhaupt alle, die Krawatten trugen, und besonders Herrn Cleophas, der immer wohlanständig gekleidet war und schönere und besser geknüpfte Krawatten trug als irgendeiner. Da schrie einmal der Lauteste unter diesen Menschen, als er Herrn Cleophas des Weges kommen sah: »Die Herren mit der grünen Krawatte sind Wüstlinge!« Herr Cleophas kümmerte sich nicht um ihn und ging seines Weges. Als Herr Cleophas das nächste Mal im Park spazieren ging, schrie der laute Herr mit dem Zwirnsfaden um den Hals: »Die Herren mit der grünen Krawatte sind Diebe!« Und manche schrien mit. Cleophas zuckte die Achseln und dachte, daß es mit den Herren, die jetzt grüne Krawatten trugen, doch weit gekommen sein müßte. Als er das dritte Mal wieder kam, schrie 1 a) von griech. kleos – Gerücht, Gerede und von phas – etwas behaupten b) Kleopas, Kleophas – im Neuen Testament einer der beiden Emmaus-Jünger (Lukas 24, 18), starb der Überlieferung nach als Märtyrer Abitur 2006 Deutsch Lk 35 40 Seite 9 die ganze Menge, allen voran der laute Herr mit dem Zwirnsfaden um den Hals: »Die Herren mit der grünen Krawatte sind Meuchelmörder!« Da bemerkte Cleophas, daß viele Augen auf ihn gerichtet waren. Er erinnerte sich, daß er auch öfters grüne Krawatten getragen hatte, trat auf den Gesellen mit dem Zwirnsfaden zu und fragte: »Wen meinen Sie denn eigentlich? Am Ende mich auch?« Da erwiderte jener: »Aber, Herr Cleophas, wie können Sie das glauben? Sie tragen doch gar keine grüne Krawatte!« Und er schüttelte ihm die Hand und versicherte ihn seiner Hochachtung. Cleophas grüßte und ging. Aber als er sich in gemessener Entfernung befand, klatschte der Mann mit dem Zwirnsfaden in die Hände und rief: »Seht ihr, wie er sich getroffen fühlt? Wer darf jetzt noch daran zweifeln, daß Cleophas ein Wüstling, Dieb und Meuchelmörder ist?!« (e 1901) Aus: A. Schnitzler. Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften. Bd. I. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 1961 Abitur 2006 Deutsch Lk Seite 10 Aufgabe IV Friedrich Hebbel: Karl Krolow: Herbstbild Toter Herbst Interpretieren Sie, ausgehend von der jeweiligen Gestaltung des Herbstmotivs, die beiden Gedichte vergleichend. Text zur Aufgabe IV 5 Friedrich Hebbel (1813 - 1863) Herbstbild Karl Krolow (1915 - 1999) Toter Herbst Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! Die Luft ist still, als atmete man kaum, Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah, Die schönsten Früchte ab von jedem Baum. Oktober – eine Zinnvase mit künstlichen Blumen. O stört sie nicht, die Feier der Natur! Dies ist die Lese, die sie selber hält, Denn heute löst sich von den Zweigen nur, Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt. 5 (1852) 10 Zirrhose des Lichtes. Der raschelnde Albtraum Wind, in Stunden mit verhängtem Gesicht. Er schwenkt Fähnchen über einem Forum schwarzer Ackerfrüchte. Das alte Jahr mit Aschenhaar lebt einen Reim lang fort. (1963) Aus: F. Hebbel. Werke in drei Bänden. Bd. 3. Aufbau-Verlag. Berlin u. Weimar 1971 Aus: K. Krolow. Landschaften für mich. Neue Gedichte. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. Main 1966