Risiko und Moral in der Mikrofinanzierung

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Jan Steinh€fel
Graduiertenkolleg
Transnationale soziale Unterst•tzung
Universit‚t Hildesheim
Risiko und Moral in der Mikrofinanzierung
Arbeitspapier
Februar 2009
Kurzzusammenfassung: Bisherige Forschungen zum Gegenstand der Mikrofinanzierung
wurden vornehmlich von den Wirtschaftswissenschaften betrieben. Als eine der Leitprobleme
haben sich hier die Debatte, ob der Nachhaltigkeit oder der Erreichung der Armen Priorit‚t
einger‚umt werden soll, und die Diskussion der Kreditgruppe als Instrument der
Risikovermeidung herausgestellt. Dabei wurde entweder versucht, die Unterscheidung von
Risiko und Moral theoretisch aufzul€sen, oder den Aspekt der Moral zu €konomisieren.
Demgegen•ber wird im nachstehenden Text die Unterscheidung von Risiko und Moral als
inh‚rentes Problem der Mikrofinanzierung aufgefasst. Das Programm der Mikrofinanzierung
sieht vor, Investitionsentscheidungen f•r Personen zu erm€glichen, die vom formalen
Finanzmarkt ausgeschlossen sind. Entscheidungsspielraum zu erm€glichen heiƒt, Gefahren in
Risiken zu transformieren; sich dabei auf marginalisierte Personengruppen zu fokussieren
heiƒt, sich dem Schema der Moral zu bedienen. Als Instrument der Kopplung von Risiko und
Moral hat sich das Design der Kreditgruppe bew‚hrt, in der die Mitglieder wechselseitig
f•reinander b•rgen. Die Solidarit‚t der Gruppe resultiert aus der Gefahr des f•reinander
B•rgens und kann diese gleichzeitig dadurch bannen, indem sie den individuellen Umgang
mit Risiken moralisch durch die latente Drohung mit Missachtung von Zahlungss‚umigen
konditioniert. Dabei kann die Kreditgruppe nicht als ein eigenst‚ndiges System beschrieben
werden, sondern bedarf zur Bew‚ltigung ihres Latenzproblems der Anbindung an eine
Mikrofinanz-Institution.
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Einleitung:
Der Gegenstand der Mikrofinanzierung spricht B‚nde, wenn es um das Spannungsverh‚ltnis
von Wirtschaftlichkeit und Sozialer Hilfe geht: Arme sind keine Hilfsbed•rftigen, sondern
Klienten; sie empfangen keine Almosen, sondern erhalten eine Chance zum wirtschaftlichen
Handeln. Die Kreditgruppe soll Solidarit‚t generieren und gleichzeitig die R•ckzahlung
forcieren. Die Mikrofinanz-Institute (MFIs) werden nicht in die Kategorie profitabler Banken
gesteckt, aber auch nicht als Hilfsorganisationen angesehen, die Reiss‚cke verteilen. In diesen
Instituten kann man zudem sowohl Abteilungen f•r social outreach als auch f•r
Risikomanagement finden. Externe Geldgeber sind nicht nur Spender, sondern auch ethic
investors, die f•r ihre Anteile nur sehr begrenzte Renditen bekommen bzw. f•r ihre Kredite
nur einen Inflationsausgleich.
Weiter ist bemerkenswert, dass der Mikrofinanzierung in den wirtschaftlich starken Regionen
der Weltgesellschaft wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, obwohl weltweit •ber 2500
Institutionen und •ber 65 Millionen Haushalte an Mikrofinanzierung teilnehmen1 (Zahlen von
2003 nach Armend„riz de Aghion, Morduch 2005: 3). Von wem sollte sie •berhaupt
Aufmerksamkeit bekommen? Ein nahe liegender Kandidat w‚re die Wirtschaft – immerhin
geht es in welchem Sinne auch immer um Finanzierung – doch Hauptaugenmerk wird hier
den Produktpreisen, den B€rsendaten, Unternehmensbilanzen und Zinss‚tzen der Banken und
der Notenbanken geschenkt – zumindest wird Mikrofinanzierung nicht als ein sehr
ertragreiches Unterfangen angesehen. Ein anderer Kontext, der sich f•r Mikrofinanzierung
interessieren k€nnte, w‚re die Soziale Arbeit – immerhin geht es um kleine Kredite an Leute,
die vom kommerziellen Kreditmarkt ausgeschlossen sind. Und in der Tat wird in den letzten
Jahren Mikrofinanzierung als erfolgreiches Konzept der Minderung von Armut im Bereich
der Entwicklungshilfe gefeiert. Dennoch gibt es Stimmen, die den Motiven der
Armutsbek‚mpfung nahe stehen und dem Konzept der Mikrofinanzierung, wenn nicht
wirtschaftliche
Ausbeutung, so
doch zumindest
die Errichtung
eines einseitigen
Abh‚ngigkeitsverh‚ltnisses zum Nachteil der Kreditnehmer unterstellen (z.B. Wichterich
2007; Papa et. al. 2006).
1
Allgemein hin wird in der Mikrofinanz-Branche davon ausgegangen, dass man pro Kredit nehmenden Haushalt
im Durchschnitt f•nf Haushaltsmitglieder, auf die Zahl von 2003 bezogen in Summe also •ber 300 Millionen
Menschen erreicht. Und es gibt Prognosen, die in der Mikrofinanzierung ein Potential der Erreichung von •ber
einer Milliarde Menschen sehen.
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Wenn Mikrofinanzierung weder dem Funktionskontext der Wirtschaft noch (weil umstritten)
dem der Hilfe vollst‚ndig unterstellt ist, wie ist dann dieses Ph‚nomen zu verstehen, so
k€nnte sich die Wissenschaft fragen.
I. Bisherige Forschung zur Mikrofinanzierung
In der Wissenschaft bekommt der Gegenstand der Mikrofinanzierung vor allem von den
Wirtschaftswissenschaften Beachtung. Als Hauptdiskussionen haben sich dabei die Debatte
zwischen dem poverty-approach und dem sustainability-approach, die Er€rterung der
Kreditgruppe als Instrument der Risikovermeidung und die Diskussion •ber die Wirkung von
Mikrofinanzierung herausgestellt.
Der ‚poverty-approach’ verweist auf die Wichtigkeit der Armutsbek‚mpfung durch die
Mikrofinanzierung, der Tiefe ihrer Intervention. Es geht hier um die Frage nach dem Output
bzw. dem Zweck von Mikrofinanzinstitutionen (im weiteren MFI genannt), der nicht darin
liegen soll, Profit aus den Leistungsm€glichkeiten der Armen zu schlagen, sondern vielmehr
die finanzielle Situation der Kunden m€glichst stark zu verbessern. Die Prim‚rreferenz dieses
Ansatzes ist also Hilfe. Der ‚sustainability-approach’ richtet die Priorit‚t demgegen•ber auf
die Langlebigkeit einer MFI. Dabei soll die hier geforderte Nachhaltigkeit ebenfalls nicht der
Profitmaximierung dienen, sondern eine m€glichst lang bestehende Finanzdienstleistung f•r
die Armen gew‚hrleisten. In diesem Sinne wird Nachhaltigkeit als Mittel zum Zweck
ausgerufen, wobei dem Problem der Fortw‚hrung des Inputs gegen•ber der Qualit‚t des
Outputs
Vorrang einger‚umt wird, weil ersteres
letzterem zeitlich
voraus geht
(zusammenfassend z.B. Hermes / Lensink 2007: 6ff).
Es geht also in dem Konflikt zwischen diesen beiden Ans‚tzen um die Frage der
Prim‚rsetzung des Mittels (Rentabilit‚t) oder des Zwecks (Hilfe). Dadurch wird aber die
Spannung zwischen Wirtschaftlichkeit und Hilfe nicht gekl‚rt, sondern nur auf theoretischer
Ebene weitergef•hrt, mit dem Versuch, sie durch die Pr‚ferenz f•r eine Seite aufzul€sen. Es
bleibt dann nur die M€glichkeit der Mystifizierung, indem man vom „The Ying and Yang of
Microfinance“ (Rhyne, 1998) spricht. So steht eine wissenschaftliche Kl‚rung aus, wie in der
Mikrofinanzierung die Unterscheidung von wirtschaftlichem und helfendem Kalk•l gezogen
wird und welche Mechanismen der Vermittlung zwischen beiden Seiten Verwendung finden.
Ein weiteres Augenmerk wird von der Wirtschaftstheorie auf das lending-design,
insbesondere auf das der Kreditgruppe gerichtet, die erlaubt, Kredite an Mittellose zu
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vergeben, indem diese wechselseitig f•reinander b•rgen. Dabei wird die Kreditgruppe
vornehmlich unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Risikominderung betrachtet, und
daraufhin wird versucht anhand wirtschaftlicher Variablen-Modelle zu erkl‚ren, wie es zu
dieser Risikominderung kommt (zusammenfassend z.B. Armend„riz de Aghion, Morduch,
2005: 86ff; Hermes / Lensink 2007: 2f). Dagegen spricht man in der Praxis (und in
Nebens‚tzen wirtschaftswissenschaftlicher Arbeiten) oft davon, dass in der Gruppe Solidarit‚t
erzeugt wird und sie zu einem gesteigerten Selbstvertrauen und Empowerment ihrer
Mitglieder beitr‚gt. Und auch in sozialwissenschaftlichen Arbeiten zur Mikrofinanzierung
wird darauf hingewiesen, dass als wichtiger Aspekt der Kreditgruppe die Generierung von
Emanzipation und Kontrolle zu nennen ist (vgl. Papa et. al. 2006: 107), den man nicht ohne
weiteres auf Wirtschaftlichkeit zur•ckrechnen kann.
So kann man sich fragen, ob nicht die Beobachtung der Gruppe allein unter dem Aspekt der
Risikohandhabung zu einseitig ist, und ob nicht innerhalb der Gruppe Kalk•le zum Zuge
kommen, die sich auf die Herstellung einer Gruppenidentit‚t und die Stellung ihrer Mitglieder
beziehen und sich nicht durch die ‚Standard-Škonomie’ erkl‚ren lassen (vgl. dazu Ferraton
2001: 367). Wenn tats‚chlich Solidarit‚t und Selbstachtung wichtige Gesichtspunkte des
Gruppenlebens sind, dann k€nnte man zudem vermuten, dass diese beiden Aspekte auch
einen Beitrag zum Umgang mit Risiken leisten.
Ein weiteres Forschungsthema zur Mikrofinanzierung fragt nach ihrer Wirkung auf die
Armutslage der Klienten. Die dazu durchgef•hrten empirischen Studien kommen zu
Ergebnissen, die zwischen gar keinem, geringem und deutlich erkennbarem Effekt streuen
(vgl. z.B. Morduch 1999, Colemann 2002, Khandker 2001, Chen 1996). Neben der
Diskussion um die St‚rke des Effekts, die sich immer auch stark auf die Methode bezieht,
kann man aber eine relativ einheitliche Meinung in den Fazits entsprechender Studien
ausmachen, die darauf verweist, dass Mikrofinanzierung zumindest eine Stabilisierung der
wirtschaftlichen Lage der Klienten bewirkt, dabei aber auch immer nur ein Instrument der
Armutsbek‚mpfung unter anderen sein kann.
Die •berwiegende Forschung zur Mikrofinanzierung, so kann man zusammenfassen, befasst
sich zu Recht mit der Frage, wie Kleinkredite an Menschen vergeben werden k€nnen, die
vom kommerziellen Bankensektor ausgeschlossen sind, um dadurch ihre Lebenssituation zu
verbessern. Dabei wird aber das Problem der Unterscheidung von Wirtschaftlichkeit und
Hilfe, das auftaucht, wenn es um Kreditvergabe einerseits und um benachteiligte
Personengruppen andererseits geht, bisher unzureichend beleuchtet. Diskutierte Pr‚ferenzen
f•r eine ihrer Seiten, vorgetragen als Pl‚doyer f•r Armutsbek‚mpfung oder f•r Nachhaltigkeit,
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versuchen die Unterscheidung aufzul€sen und f•hren doch dazu, dass die Unterscheidung als
ungekl‚rter Konflikt weiter zum tragen kommt. Und die Problematisierung der Kreditvergabe
innerhalb von Gruppen tr‚gt der Unterscheidung von Wirtschaftlichkeit und Hilfe insofern
unzureichend Rechnung, als dass sie vornehmlich als Instrument der wirtschaftlichen
Risikovermeidung gedeutet wird unter Auƒerachtlassung der Tatsache von Ph‚nomenen wie
Gruppensolidarit‚t und Selbstachtung.
Demgegen•ber soll eine theoretische Perspektive aufgezeigt werden, die davon ausgeht, dass
in der Mikrofinanzierung der Aspekt der Wirtschaft und der Aspekt der Hilfe sich in der Form
der Unterscheidung von Moral und Risiko einf•hren. Die Vermittlung zwischen diesen beiden
Seiten erfolgt durch Entscheidungen dar•ber, welche vom kommerziellen Banksektor
ausgeschlossenen Personen mit Entscheidungsm€glichkeiten •ber Investitionen ausgestattet
werden und welche nicht. F•r diese Vermittlung bedienen sich Mikrofinanzinstitute
offensichtlich vornehmlich der Form der Gruppe, in der Risiken generiert und durch
Mechanismen der Gruppensolidarit‚t, der Selbstachtung der Gruppenmitglieder und
schlieƒlich der drohenden Missachtung von Zahlungss‚umigen handhabbar gemacht werden
k€nnen. Funktion der Mikrofinanzierung w‚re demnach nicht die Risikovermeidung
bestimmter Personengruppen, sondern vielmehr die ‹berf•hrung ihrer Gefahrensituation in
eine Situationen der Entscheidung •ber eigene Risiken. Aus dieser Funktion heraus ergeben
sich f•r diese Personengruppe einerseits eine Stabilisierung ihrer wirtschaftlichen Lage und
andererseits die M€glichkeit ihrer Selbstachtung.
II. Risiko und Moral im Entscheidungsprogramm der Mikrofinanz-Institute
Bisher wurde Mikrofinanzierung also vor allem unter dem Problem der Vereinheitlichung von
wirtschaftlicher Unabh‚ngigkeit und Armutsbek‚mpfung diskutiert, und dabei die KreditGruppe als Ort der wirtschaftlichen Risikovermeidung beschrieben. Wenn aber tats‚chlich in
der Mikrofinanzierung die Unterscheidung eines wirtschaftlichen und eines helfenden Kalk•ls
zum Tragen kommt, stellt sich die Frage, wie diese Unterscheidung getroffen wird, und wie
trotz und gerade aufgrund dieser Differenzierung zweier Seiten diese beiden Seiten zu
einander in Beziehung gesetzt werden k€nnen, wie zwischen ihnen vermittelt werden kann.
Zur Beantwortung dieser Frage soll zun‚chst die Perspektive der Mikrofinanz-Institute
eingenommen werden, also jener Organisationen, die unter dem Programmtitel der
Mikrofinanzierung Kleinkredite an von formellen Bankgesch‚ften ausgeschlossenen Personen
vergeben. MFIs sind Organisationen und zeichnen sich demnach durch das fortw‚hrende
Prozessieren von Entscheidungen aus (im Sinne Luhmann, 2000). Die Spezifik der
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Organisation von MFIs scheint offenkundig dann darin zu liegen, vor allem dar•ber zu
entscheiden, wem durch Kreditvergabe die MÄglichkeit gegeben wird, Åber Investitionen zu
entscheiden, und wem nicht. Mit diesem Entscheidungsprogramm treffen MFIs zweierlei
Beschr‚nkungen: Einerseits geht es um die Bestimmung von Personen oder Personengruppen,
denen bisher nicht gegebener Entscheidungsspielraum einger‚umt werden soll. Andererseits
geht es um die Festlegung auf Kreditvergabe, die den Entscheidungsspielraum der
bestimmten Personen auf Investitionsm€glichkeiten bezieht.
Mit Fuchs (2004) k€nnen diese beiden Beschr‚nkungen der Entscheidungen der MFIs als
Moralschema und Funktionsorientierung gedeutet werden. Wie jedes Hilfeprogramm muss
auch und gerade das Programm der Mikrofinanzierung der Tatsache Rechnung tragen, dass
jede Maƒnahme mit dem Problem konfrontiert wird, zum einen Personen identifizieren zu
m•ssen, denen sie zu Gute kommen soll, und zum anderen, sich auf einen Kontext zu
beziehen, in dem sie zum Tragen kommen kann (Baecker 1994: 105f). Dieser Argumentation
liegt die allgemeine soziologische Annahme zu Grunde, dass sich die Menschen immer
auƒerhalb der Gesellschaft befinden, um lediglich in Form funktionsspezifischer sozialer
Adressen an den verschiedenen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft teilnehmen zu
k€nnen (vgl. Abb. 1). Die funktionsspezifischen Adressen der Wirtschaft konstituieren sich
zum Beispiel in Form des Konsumenten hinsichtlich seiner F‚higkeit des Zahlens oder
Nichtzahlens; dagegen fungiert etwa in der Politik die Form des W‚hlers als Adresse.
Hilfsprogramme richten sich ihrerseits auf die Bearbeitung defekter Adressen und handeln
sich damit folgendes Problem ein: Sie k€nnen einerseits eine defekte Adresse immer nur
hinsichtlich ihrer eigentlichen spezifischen Funktion bearbeiten, m•ssen also versuchen, einen
bestimmten Funktionsbezug wieder herzustellen, z.B. den Zahlungsunf‚higen wieder mit
Zahlungsf‚higkeit auszustatten. Den Adressendefekt selbst k€nnen sie andererseits aber nicht
in Bezug auf die eigentliche Funktionslogik der Adresse erkennen, sie ist ja defekt und soll ja
gerade deswegen bearbeitet werden, und bed•rfen deswegen eines Ersatzschemas mit dem sie
defekte Adresse aufsp•ren k€nnen. Dieses Ersatzschema ist die Moral mit ihrer
Unterscheidung von Achtung und Missachtung. Hilfsprogramme nehmen sich solchen
Personen in Form von Achtung an, deren Adresse in einer f•r das Hilfsprogramm nicht
tragbaren Weise besch‚digt ist und missachten in der Regel alles andere (vgl. dazu Fuchs
2004: 22ff).
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Abbildung 2: Funktionsbezug und Moral von Hilfsprogrammen
Funktionsbezug
Moral
Wirtschaft
Politik
Hilfsprogramm
Konsument
W‚hler
Klient
Moral
Person
Erziehung
Sch€ler
Inklusion
Religion
Re-Inklusion
Laie
Wie schauen nun das Moralschema und die Funktionsorientierung der Programme der MFIs
genauer aus? MFIs sind haupts‚chlich in strukturschwachen Entwicklungsregionen
vorzufinden und richten sich hier an Personengruppen, die keinen Zugang zu formalen
Banken haben und deswegen auf sehr beschr‚nkte M€glichkeiten des Geldleihens angewiesen
sind, wie informelle Geldverleiher oder traditionelle Kreditgruppen (vgl. zusammenfassend zu
diesen informellen M€glichkeiten Schrader 1997: 27ff). Der Grund f•r diese finanzielle
Exklusion kann aus Sicht der Bankenbranchen vor allem darin gesehen werden, dass die
Risiken, die sich automatisch mit dem Verleih von Geld einstellen, hier nicht auf einer
rentablen Weise eingesch‚tzt werden k€nnen (Armend„riz de Aghion, Morduch 2005: 5f).
Der Aufwand f•r die Gewinnung von Informationen •ber die Risikostrukturen in diesen
Regionen ist zu kostspielig; insbesondere im Vergleich zu den nachgefragten geringen
Kredith€hen. Genau ab der Schwelle, ab der es f•r kommerzielle Banken nicht mehr m€glich
ist, kreditw•rdige Adressen ausmachen, setzen die Mikrofinanzprogramme an. Sie
identifizieren Personengruppen, die sich im finanziellen Exklusionsbereich befinden und sich
fÅr die Teilnahme an Mikrofinanzierung eignen, anhand des Schemas der Moral von Achtung
und Missachtung (vgl. Abb.2). die Seite der Achtung bezeichnet die in Frage kommenden
Personen; die Seite der Missachtung alle anderen, also jene, die bereits Zugang zu einer Bank
haben, und jene, deren Teilnahme zu einem Risiko f•hren w•rde, das selbst f•r
Mikrofinanzierung nicht mehr kontrollierbar w‚re. Dabei ist anzunehmen, dass die
Mikrofinanzprogramme die Gr•nde f•r die Tatsache der finanziellen Exklusion nicht ihrem
eigenen potentiellen Klientel zurechnen, sondern den Mechanismen des Finanzmarkts selbst,
um daraus die Rechtfertigung der achtungsvollen Zuwendung zu den Ausgeschlossenen zu
ziehen.
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Abbildung 2: Das Moralschema der Mikrofinanzierung
Moral
Achtung
…
Missachtung
…
…vom Bankenzugang
ausgeschlossener und
deswegen in Gefahr lebender
…von anderen
Exklusionslagen betroffener
oder inkludierter
…Personen
Die Funktionsorientierung der Programme der MFIs richtet sich darauf, Gefahren fÅr die
Lebenssituation von Personen
in
wirtschaftliche Risiken
zu transformieren.
Die
Unterscheidung von Gefahr und Risiko bezieht sich dabei auf das Problem der
Zurechenbarkeit nachteiliger Ereignisse (z.B. Luhmann 1996: 41): K€nnen nachteilige
Ereignisse auf die Umwelt zugerechnet werden, handelt es sich um Gefahren; kann das eigene
Entscheidungsverhalten als Grund f•r den Eintritt des Nachteils herangezogen werden,
handelt es sich um Risiko (vgl. Abb.3). Die Lebenssituationen von Massen von Menschen in
unterentwickelten Regionen sind verschiedensten Gefahren ausgesetzt. Neben €kologischen
Gefahren, wie D•rre oder ‹berflutung, liegen die Gefahren in unterschiedlichen
Gesellschaftskontexten, z.B. als politische und/oder religi€s motivierte Unruhen, als
unzureichende Bildungsm€glichkeiten, willk•rliche Rechtssprechungen oder Krankheit. Eine
weitere Gefahr, die gerade Kleinstunternehmungen betrifft, die vom Groƒteil der Menschen in
Entwicklungsl‚ndern betrieben werden, ist wirtschaftlicher Art und bezieht sich auf
Marktpreisschwankungen f•r Produktionsmittel oder des Groƒhandels. Wenn man nicht •ber
den Einkauf von Rohstoffen oder Handelsg•tern disponieren kann, sondern f•r den Betrieb
der kleinen Unternehmung und der Versorgung der Familie darauf angewiesen ist, was man
bereits hat oder was vor Ort angeboten wird, lebt man in st‚ndiger Gefahr. Preis‚nderungen
k€nnen so schnell das Aus des kleinen Gesch‚fts bedeuten, ohne dass es m€glich ist, durch
eigenes Entscheiden gegenzusteuern. Diese wirtschaftliche Gefahr kumuliert zudem mit
Gefahren aus anderen, vor allem personenbezogenen gesellschaftlichen Kontexten, wie
fehlende Bildung und Krankheit. Die Folge ist, dass mit m€glichen zuk•nftigen Ereignissen
gegenw‚rtig nicht umgegangen werden kann. So werden eigentlich absehbare Nachteile
laufend zu Schicksalsschl‚gen im Falle ihres Eintretens.
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Kleinkredite
f•r
Kleinstunternehmungen
erweitern
nun
deren
wirtschaftlichen
Entscheidungsspielraum und generieren dadurch Risiken (vgl. zur Risikoverarbeitung
kommerzieller Banken, Baecker 1991). Die Betreiberinnen werden so mit der Alternative
konfrontiert, in welche Produktionsmittel sie investieren oder von welchen Groƒh‚ndlern und
in welcher St•ckzahl sie ihre Waren einkaufen. Die N‚herin muss jetzt entscheiden, ob sie in
eine N‚hmaschine, in bessere Stoffe oder in st‚rkeres N‚hgarn investiert; oder ob sie ihre
Stoffe von einem preisg•nstigeren Groƒh‚ndler in der n‚chsten Stadt bezieht oder ihr Kapital
f•r eine gr€ƒere Anzahl von Stoffen zur Erzielung von Preisrabatt einsetzt. Nat•rlich stellt
sich ihr auch die M€glichkeit, •berhaupt keine Investitionen zu t‚tigen, aber selbst dann
k€nnen nachteilige Ereignisse auf ihre eigene Entscheidung zur•ckgerechnet werden.
Schlechtes Gesch‚ft muss dann nicht unbedingt aus der allgemeinen schlechten
Wirtschaftslage herr•hren, sondern kann durch schlechte Investitionsentscheidungen
begr•ndet
werden.
Mikrofinanzierung
er€ffnet
den
Kreditnehmerinnen
Entscheidungsm€glichkeiten, mit denen sie sich auf die Zukunft einstellen k€nnen. Dadurch
wird Risiko generiert, n‚mlich genau in dem Sinne, dass im Falle des Eintretens nachtteiliger
Ereignisse diese dann auf die in der Vergangenheit getroffene Entscheidung zur•ckgerechnet
werden k€nnen.
Abbildung 3: Transformation von Gefahren in Risiken als Funktionsbezug der
Mikrofinanzierung
wirtschaftliche
Risiken
Gefahr
als Zurechenbarkeit nachteiliger Ereignisse
auf…
…Umwelt,
…eigenes Entscheiden,
z.B. auf die D•rre im Falle von
z.B. fehlende Investition in eine Angel
Hunger
Mit der Bestimmung des Funktionsbezugs der Transformation von Gefahren in Risiken wird
die Stellung von Programmen der Mikrofinanzierung im Vergleich zu herk€mmlichen
Entwicklungsans‚tzen einerseits und zu kommerziellen Bankgesch‚ften andererseits deutlich.
Bereits ab den 1930er Jahren wurde versucht, Entwicklung in den strukturschwachen
Regionen durch Kapitaltransfer aus strukturstarken Regionen zu initiieren (Hulme / Mosley
1996: 2). Dabei ging es zun‚chst haupts‚chlich um die subventionierte Finanzierung
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technischer Groƒprojekte, wie Kraftwerke, Straƒenbau, Anlagen zur Rohstoffgewinnung oder
die Modernisierung von Landwirtschaftsbetrieben, mit der Annahme eines trickle-downEffekt, also der Annahme des allm‚hlichen Durchschlagens des Nutzens dieser
Groƒprojektf€rderung auf die wirtschaftliche Gesamtlage (Schrader 1997: 19f). Die Frage der
Groƒkreditvergabe wurde dabei sehr eng an die Frage nach der Investition gekoppelt. Eigene
Entscheidungsm€glichkeiten
des
Kreditnehmers,
meistens
des
Staates
des
Entwicklungslandes, wurden dadurch relativ beschr‚nkt gehalten, und zwar nicht nur in
Bezug auf die Art der Investition, sondern auch in Bezug darauf, wer an diesen
Entscheidungsprozessen beteiligt war, n‚mlich nicht die breite Masse der Bev€lkerung.
Verst‚rkt wurde dieses Entwicklungskonzept durch den nach dem 2. Weltkrieg
aufkommenden Modernisierungsansatz, der die Alternative der Entscheidung nicht auf die
gegebenen gesellschaftliche Strukturen der betreffenden Region bezieht, sondern alternativlos
auf die modernen Strukturen des Westens (Seibel 2006: 51f). Korruption, Marktverzerrungen
und Misswirtschaft f•hrten sodann zu einem Umdenken in der Entwicklungsfinanzierung
(Schrader 1997: 34; Armend„riz de Aghion, Morduch 2005: 5f). Sp‚testens in den 1980er
wurde durch die wissenschaftlichen Arbeiten der Ohio School der Fokus der Kreditvergabe
auf Klein- und Kleinstbetriebe gelenkt (Hulme, Mosley 1996: 3f). Kreditvergabe, so das
Pl‚doyer, sollte nicht mehr subventioniert werden, sich nicht mehr auf einen spezifischen
Wirtschaftssektor beziehen und nicht mehr technisch anspruchsvolle Produktionsbed•rfnisse,
sondern konkret vorfindbare Bed•rfnisse von Kleinstunternehmen ansprechen. Damit wird
deutlich, dass Mikrofinanzierung im Gegensatz zu fr•heren (und teilweise noch weiter
praktizierten) Entwicklungsfinanzierungskonzepten auf die Erm€glichung dezentraler
Entscheidungsspielr‚ume
von
Kleinstbetrieben
aus
ist
und
dadurch
auf
eine
Risikogenerierung f•r breite Bev€lkerungsmassen abstellt.
Noch deutlicher wird diese Funktion der Mikrofinanzierung im Vergleich zu materieller
Entwicklungshilfe, die Reiss‚cke, Saatgut oder landwirtschaftliches Ger‚t verteilt.
Entscheidungsm€glichkeiten und eigenes Risiko werden hier nicht gef€rdert, sondern
systematisch negiert, bis hin zu dem Extremfall, bei dem der Bauer, anstatt sein Feld zu
bestellen, einfach auf den Sack Reis der Hilfsorganisation wartet. Gefahren werden dadurch
nicht beseitigt, sondern gesteigert, wenn man bedenkt, wie abh‚ngig solche Hilfsmaƒnahmen
von externen Geldgebern sind.2
2
Erst mit dem Eintritt der Gefahr, wenn es also schon zu sp‚t ist, findet die materielle Hilfe dann wieder
paradoxerweise einen Teil ihrer Sicherheit. Flutwellen und Hungersn€te lassen, wenn sie erfolgreich
massenmedial dargestellt werden k€nnen, die Spendenkassen klingen.
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Von kommerziellen Banken unterscheiden sich MFI darin, dass sie sich in ihrer
Kreditvergabe auf bestimmte Personengruppen, eben auf vom formalen Finanzmarkt
Ausgeschlossene, beschr‚nken, und dass diese Beschr‚nkung moralisch gerechtfertigt wird.
Formale Banken dagegen treffen ihre Entscheidungen •ber Kreditvergabe ausschlieƒlich
hinsichtlich des Kriteriums des kontrollierbaren Risikos (Baecker 1991). Es mag hier
diskriminierende Ausnahmen der Nichtvergabe von Krediten an Personen mit bestimmten
Attributen geben (Financial Services Authority 2000), die aber die Regel insofern best‚tigen,
als dass es sich gerade deshalb um Diskriminierung handelt, weil sie aus €konomischen
Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen sind.
Das Programm der Mikrofinanzierung entscheidet •ber die Generierung von Risiken f•r in
Gefahr lebende Personen vermittels des Schemas der Moral. Es ist also die Entscheidung •ber
die Kreditvergabe an bestimmte Personen, die den Funktionsbezug auf Risikogenerierung mit
dem Moralschema koppelt. Und anders herum sind es das Problem der Risikogenerierung und
die moralische Identifizierung Ausgeschlossener, die den Entscheidungen der MFIs ihren
Sinn verleihen. Entscheidungen •ber Kreditvergabe sind im Sinne von Baecker (1991: 61f)
Entscheidungen •ber die Annahme von Zahlungsversprechen, also Entscheidungen dar•ber,
wessen Nichtzahlungsf‚higkeit f•r eine bestimmte Zeitdifferenz in Zahlungsf‚higkeit
transformiert wird unter der Bedingung des Versprechens der Einhaltung der Befristung
dieser Zeitdifferenz. Diese Zeitdifferenzen, die kommerzielle Banken immer schon versuchen
wirtschaftlich auszubeuten, nutzen die Programme der Mikrofinanzierung f•r eine
zukunftsbezogene Version von Hilfe. Die Daseinsnachsorge, die klassische Hilfsprogramme
leisten (Luhmann 2005: 180, Baecker 1994: 98), wird ganz im Sinne der Wirtschaft auf
Daseinsvorsorge umgestellt. Denn durch die Kreditvergabe wird ein Zeitfenster ge€ffnet, in
dem den Kreditnehmerinnen erm€glicht wird, sich selbst zu helfen. Offensichtlich braucht
jede Art von Selbsthilfe immer auch ein Gegenlager, an dem sie zur Entfaltung kommen kann.
Im Falle der Mikrofinanzierung ist dieses Gegenlager die Investitionsm€glichkeit in das
eigene Kleinstunternehmen, •ber die nun selbst entschieden werden kann.
Das Programm der Mikrofinanzierung sieht also vor, st‚rker als andere Hilfsprogramme die
Zeitdimension in Anspruch zu nehmen. Die allgemeine Funktion der Hilfe, die Erm€glichung
von Chancen der Inklusion (Fuchs 2000: 160f), wird damit insofern auf das •uƒerste erf•llt,
als dass die Chance tats‚chlich als Chance konstituiert wird. Die Chance wird nicht in Form
von Sachgegenst‚nden, wie Werkzeug oder Nahrung, bereitgestellt, sondern in ihrer reinen
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Form der zeitlichen Aufspannung eines M€glichkeitsraumes gew‚hrleistet. 3 Das Problem der
Ausnutzung dieses M€glichkeitsraumes bleibt den Klientinnen •berlassen, kann somit ihnen
auch zugerechnet werden und genau darin liegt das Moment der Risikogenerierung der
Mikrofinanzierung. Der Sachbezug auf Zahlungen, in der der verzeitlichte M€glichkeitsraum
zur Geltung kommt, dient als Festlegung der Mikrofinanzierung in der Sachdimension. Denn
es sind Zeitdifferenzen von Zahlungen und Nichtzahlungen, die als Medium f•r die
Erm€glichung von Chancen fungieren. Schlieƒlich stellt die Fokussierung auf Adressen, die
in Bezug auf den formalen Finanzmarkt keine Ber•cksichtigung finden, die Festlegung der
Mikrofinanzierung in der Sozialdimension dar. Hier ist es die Verwendung des Schemas der
Moral, die daf•r Sorge tr‚gt, dass die entsprechenden defekten Adressen auch identifiziert
werden k€nnen.
Wie schaffen MFIs aber eigentlich, was kommerzielle Banken nicht schaffen, n‚mlich •ber
die Kreditvergabe f•r defekte Finanzadressen zu disponieren? Welcher konkreten Instrumente
bedienen sie sich, damit Kleinkredite in einem Bereich, der f•r kommerzielle Banken viel zu
gef‚hrlich ist, auch zur•ckgezahlt werden? Diese Fragen lenken das Augenmerk auf das
‚lending-design’ der Kreditgruppe.
III. Moral und Risiko in der Kreditgruppe
Die allgemeine Idee der Kreditgruppe liegt darin, dass sie jeweils f•r die Kredite ihrer
Mitglieder b•rgt. Kann ein Mitglied seine ausstehende R•ckzahlung nicht wahrnehmen,
m•ssen alle anderen Mitglieder f•r dieses Vers‚umnis aufkommen. Kreditgruppen l€sen
durch ihren Mechanismus des wechselseitigen B•rgens, so wird allgemein hin angenommen,
das Problem des adverse selection, d.h. das Problem der Selektion hoch riskanter
Kreditnehmer aufgrund fehlender Informationen, und das Problem des moral hazard, d.h. das
Problem fehlender oder nachlassender Gesch‚ftst•chtigkeit (Armend„riz de Aghion /
Morduch 2005: 88ff). Denn die Informationsasymmetrien hinsichtlich des Risikogehalts
m€glicher Kreditnehmerinnen werden in der Gruppe durch ihre Selbstauswahl geeigneter
Kreditnehmerinnen bew‚ltigt ("assortative matching") (ebd.). Und das wechselseitige
Beobachten und der Gruppendruck der Mitglieder l€st das Problem fehlender oder
nachlassender Gesch‚ftst•chtigkeit (ebd.: 96ff). Zur theoretischen Explikation dieser
3
Das Zulassen eines zeitlichen M€glichkeitsraumes zeigt, dass es sich bei dem Programm der
Mikrofinanzierung nicht um eine „optionsfreie Selbstfestlegung“ handelt, die Baecker (2000: 44f) allgemein bei
der Funktionslogik der sozialen Hilfe feststellt.
12
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Funktionsweise der Kreditgruppe werden, wie bereits erw‚hnt, vorzugsweise €konomische
Variablen-Modelle erstellt. Dabei bleibt vor allem unklar, welche Rolle der Gruppendruck zur
Kreditr•ckzahlung genau spielt und wie er theoretisch erfasst werden kann, ohne ihn bloƒ als
Variable mit einem Geldwert zu versehen.
Dass R•ckzahlung immer auch •ber den Gruppendruck verl‚uft, wird deutlich an
Beobachtungen, die in den pers€nlichen Beziehungen innerhalb der Gruppe eine hohe
Erkl‚rungskraft f•r den Gruppenmechanismus sehen (vgl. zusammenfassend Hermes,
Lensink
2007:
2ff).
Beispielsweise
wurde
die
Erfahrung
gemacht,
dass
starke
Mitgliederbeziehungen in Gruppen in D€rfern und schwache Mitgliederbeziehungen in
Gruppen in St‚dten eine negativen Einfluss auf die R•ckzahlungsquote haben (Armend„riz de
Aghion / Morduch 2005: 109). Zudem ist bekannt, dass der Gruppendruck zur R•ckzahlung
vor allem •ber die Drohung mit pers€nlichen Sanktionen, also •ber die M€glichkeit von
Missachtung, l‚uft (Papa et. al. 2006: 93ff).
Demnach ist es nahe liegend, danach zu fragen, wie das Problem der Achtung und
Missachtung innerhalb der Gruppe mit dem Problem des Risikoumgangs zusammenspielt. So
soll im Folgenden eine theoretische Perspektive aufgezeigt werden, die davon ausgeht, dass
MFIs sich dem Instrument der Gruppenkredite deswegen bedienen, weil es im Stande ist, den
Funktionsbezug der Risikogenerierung und das Moralschema der Achtung von formalen
Finanzmarkt Ausgeschlossener miteinander zu koppeln.
Schnittstelle der Kopplung von Risiko und Moral innerhalb der Gruppe ist die Entscheidung
jedes einzelnen Mitglieds •ber m€gliche Investitionen. Jedes Mitglied muss, wie oben
erw‚hnt, entscheiden, f•r was es seinen gew‚hrten Kredit verwendet, und sei es zu
entscheiden, ihn •berhaupt nicht f•r eine Investition zu verwenden. Durch diese
Entscheidungsm€glichkeit wird Risiko generiert als M€glichkeit der Zurechenbarkeit der
Nichtzur•ckzahlung des Kredits auf die Investitionsentscheidung des Kreditnehmers. Dieses
Risiko betrifft aber nicht nur die Kreditnehmerinnen, sondern auch die MFI, die dar•ber
entschieden hat, dass diese Kreditnehmerinnen Kleinkredite bekommen und andere nicht.
Kreditgruppen sind nun ein Instrument f•r MFIs, mit ihrem Entscheidungsrisiko umzugehen
und damit zugleich Entscheidungsrisiko f•r ihr ausgew‚hltes Klientel zu erm€glichen. Denn
in
der
Gruppe
wird
das
Risiko
dadurch
gehandhabt,
indem
die
jeweiligen
Risikoentscheidungen der einzelnen Mitglieder zur Gefahr fÅr die gesamte Gruppe werden,
und diese Gefahr im Schema der Moral auf die jeweiligen Risikoentscheidungen so
zurÅckwirkt, dass dort ein kontrollierter Umgang mit Risiken initiiert wird (vgl. Abb. 4).
Knackpunkt dieses Mechanismus ist die Tatsache, dass die Gruppe nicht selbst die riskanten
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Investitionsentscheidungen ihrer Mitglieder trifft, aber mit ihren Folgen leben muss. Die
Gruppe muss f•r die eingegangen Risiken ihrer einzelnen Mitglieder b•rgen; sie ist von deren
Folgen betroffen ohne sie direkt beeinflussen zu k€nnen, und nimmt sie deswegen in der
Form der Gefahr wahr (vgl. allgemein dazu Luhmann 1996: 41).
Das Problem der Gefahr der Gruppe, also eben ihr Betroffensein von den Entscheidungen
ihrer
Mitglieder,
f•hrt
dann
zu
einer
Personalisierung
der
Folgen
der
Investitionsentscheidungen (vgl. dazu allgemein Luhmann 1993: 332f) 4 : die Frage der
R•ckzahlung oder Nichtzur•ckzahlung, die sich f•r die Gruppe als Gefahr darstellt, wird
innerhalb der Gruppe auf die jeweiligen Entscheider attribuiert. Weil die Gruppe die
Einzelentscheidungen ihrer Mitglieder selbst nicht direkt steuern kann, macht sie f•r deren
Folgen entsprechend umso mehr ihre Mitglieder verantwortlich. Es ist nicht die Schuld der
Gruppe, wenn eine Kreditnehmerin ihren Kredit nicht zur•ckzahlen kann, aber es ist die
Gruppe, die f•r dieses Ereignis gerade stehen muss, und deswegen liegt es f•r sie nahe, den
Entscheider dieser missgl•ckten Investition f•r schuldig zu erkl‚ren (vgl. f•r ein empirisches
Beispiel Papa et. al. 2006: 93ff).
Die Folge dieser Personalisierung der Gruppe zeigt sich in der Form der Moralisierung der
Beziehungen innerhalb der Gruppe. Zumindest legen diese These Beobachtungen nahe, die
jeder machen kann, der das Praxisfeld der Mikrofinanzierung betritt: man trifft hier
unweigerlich auf Erz‚hlungen •ber die starke Gruppensolidarit‚t und die Wichtigkeit der
Stimulans von Selbstvertrauen der einzelnen Mitglieder. Dass die Gruppe einer Gefahr
ausgesetzt ist, die als Prinzip des wechselseitigen B•rgens paradoxerweise in ihr selbst
eingebaut ist, schweiƒt zusammen. Solange das Gefahrenereignis, die Nichtzur•ckzahlung
eines Kredits, nicht eintritt, wird Solidarit‚t erzeugt, denn man weiƒ, welche pers€nliche
Bedeutung es hat, wenn man f•reinander einsteht, solange eben dieses Prinzip des
F•reinandereinstehens
nicht
zum
Zuge
kommt.
Neben
der
Erzeugung
einer
Gruppensolidarit‚t f•hrt die Moralstruktur der Gruppe zu einer Zurechnung von Achtung auf
ihre einzelnen Mitglieder, wiederum soweit sie denn erfolgreiche Investitionsentscheidungen
getroffen haben. Semantiken wie Selbstvertrauen, Empowerment oder Selbstverantwortung
verweisen auf diesen Sachverhalt, ohne ihn aber in seiner Komplexit‚t erkl‚ren zu k€nnen.
Die Kehrseite der Achtungsgenerierung der Gruppenstruktur einerseits in Bezug auf die
Mitglieder und andererseits in Bezug auf die Gruppenidentit‚t ist die Latenz der Missachtung.
Kann ein Kredit nicht zur•ckgezahlt werden, wird die Gefahr f•r den Zusammenhalt der
Gruppe
akut.
F•r
die
Ausl€sung
dieser
4
Gefahr
wird
dann
die
entsprechende
Vgl. zu dem allgemeinen Ph‚nomen, dass Gruppen einen hohen Personalisierungsgrad aufweisen Fuchs, 2001:
212ff.
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Entscheidungstr‚gerin verantwortlich gemacht; ihr droht pers€nliche Missachtung. Diese
Latenz der Missachtung scheint offensichtlich so stark zu sein, dass die Kreditnehmerinnen
viel daran setzen, ihren Kredit auch zur•ckzahlen; zumindest lassen sich so die enorm hohen
R•ckzahlungsquoten erkl‚ren, die teilweise bei 100% liegen.
Durch das Instrument der Kreditgruppe wird es also m€glich, Investitionsentscheidungen f•r
Adressen zu erm€glichen, die vom formalen Finanzmarkt ausgeschlossen sind. Das Risiko,
das mit diesen Investitionsentscheidungen unweigerlich einhergeht, wird dabei durch das
Prinzip des wechselseitigen B•rgens gehandhabt. Denn das B•rgen moralisiert die
Gruppenstruktur und erm€glicht dadurch die Transformation von Gefahren in Risiken, indem
der erfolgreiche Umgang mit Risiken mit der Zurechnung von Achtung gest•tzt wird,
w‚hrend Gefahren durch die Latenz der Missachtung selbst latent gehalten werden k€nnen.
Durch diese Kopplung von Moral und Risiko ist die Gruppe jedoch st‚ndig von ihrer eigenen
Latenzaufdeckung bedroht, denn warum sollten sich ihre Mitglieder den Stress der
Bew‚ltigung von Risiken unter Androhung von Missachtung aussetzen, wo sie sich doch
einfach darauf einigen k€nnten, mit dem Geld abzuhauen? Die Explikation der Rolle der MFI
und der Kleinstunternehmerinnen kann auf diese Frage eine wichtige Antwort geben.
IV. Die Latenz der Gruppe und die Rolle der MFI und der Kleinstunternehmerinnen
Die Kreditgruppe k€nnte, das ist ganz offensichtlich, ohne eine Anbindung an eine MFI gar
nicht existieren, denn bereits das Fehlen des durch die MFI bereitgestellten Kapitals w•rde
der Kreditgruppe ihren Sinn nehmen. 5 Insofern kann die Kreditgruppe auch nicht als ein
soziales System verstanden werden, das sich v€llig selbstst‚ndig ohne Bezugnahme auf
externe Instanzen reproduziert (im Sinne Luhmann, 1987).6 Vielmehr stellt die Kreditgruppe
eine Struktur dar, die von der MFI einerseits und der Situation der Kreditnehmerinnen
andererseits getragen wird. Diese Struktur wurde bereits beschrieben, n‚mlich als eine
eigent•mliche Kopplung von Risiko und Moral, die sich aus den Entscheidungsm€glichkeiten
•ber Investitionen ergibt. Diese Kopplung ist aber von ihrer eigenen Latenz bedroht: •ber ihr
schwebt immer die Gefahr der Nichtzur•ckzahlung der Kredite und in Folge dessen die
Missachtung der Gruppenmitglieder; k‚me es zur Latenzaufdeckung, bricht die Kreditgruppe
5
Es gibt zwar traditionelle Kreditgruppe, die g‚nzliche ohne externe Anbindung auskommen; diese weisen aber
eine ganz andere Struktur auf als solche, die bisher beschrieben wurden. Dazu sp‚ter mehr.
6
Wenn man mit Luhmann (2000: 22f) mit dem Begriff der Gruppe ausschlieƒlich ein soziales System
verstanden haben m€chte, m•sste man f•r die hier beschriebene Kreditgruppe einen anderen Begriff verwenden,
z.B. informelle Kommunikation.
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auseinander. Anders formuliert erf•llt die Kreditgruppe f•r sich keine eigene Funktion
sondern dient der MFI als Instrument daf•r, Kleinkredite an solche Personen zu vergeben, die
vom formalen Kreditmarkt ausgeschlossen sind. Demnach kommen die Situation der
Kreditnehmerinnen sowie die Rolle der MFI in den Blick, wenn man sich fragt, wie das
Instrument der Kreditgruppe funktioniert (vgl. Abb. 4).
Abbildung 4: Kreditgruppe und die Rolle der MFI und der Kreditnehmerinnen
Lebenssituation
der Klientinnen
Risiko
Selbstachtung
Stabilisierung der M‚glichkeit
von Investitionsentscheidungen
Latenzdeckung
Fehlendes
Kapital
Missachtung
Gefahr
Mitglied
Mitglied
Mitglied
Selbstachtung
SolidaritÅt
Gruppen
-Identit‚t
Achtungszurechung
Latenz der
Gruppe
Gefahr
Risiko
Risikoverteilung
Beobachtung der
Investitionsentscheidungen
Missachtung
Fehlendes
Kapital
Gefahr
Latenzdeckung
Achtung vom formalen
Finanzmarkt Ausgeschlossener
Externes Zeitma• durch
RÄckzahlungstermine
Entscheidung Äber
Kleinkreditvergabe
MFI
Die MFIs als externe Referenz erm€glicht nun, diese Latenzaufdeckung zu verhindern.
Zun‚chst stellt sie das notwendige Kapital zur Verf•gung: sie entscheidet •ber die Vergabe
von Krediten. Weiter gibt sie ein externes Zeitmaƒ vor, nach dem die Kredite zur•ckgezahlt
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werden. Und schlieƒlich tritt sie in dem Maƒe, wie sie sich um exkludierte Adressen k•mmert,
als Hilfsorganisation auf und schenkt in diesem Sinne ihrem Klientel Achtung.
Die zeitliche Strukturierung der Gruppe durch die MFIs f•hrt zu einem Entladen und
Aufladen der Dynamik der Gruppe. An den Tagen der R•ckzahlung sammelt der loan officer
als Abgesandter der MFI die Ratenzahlungen der Kreditnehmer in der Gruppe ein. Der
individuelle Erfolg des Umgangs mit Risiken wird an diesen R•ckzahlungstagen beobachtbar
und in Form der Selbstachtung auf die einzelnen Mitglieder zur•ckgerechnet. Auch wird die
gemeinsam eingegangene Gefahr in der Gruppe, die von potentiellen Zahlungss‚umigen
ausgeht, gerade an diesem Tag auf die Spitze getrieben. Denn ob die Gruppe f•r eine nicht
beglichene Ratenzahlung gerade stehen muss oder nicht, entscheidet sich genau am Tag der
R•ckzahlung.
Das
Bestehen
der
Gefahr,
ihr
Nichtakutwerden,
rechtfertigt
den
Gruppenzusammenhalt, best‚tigt also die SolidaritÇt der Gruppe. Potentiellen Misserfolg
einer Kreditnehmerin droht dagegen die Gruppe zu sanktionieren, indem er auf die
Entscheidungstr‚gerin in der Form pers€nlicher Missachtung zugerechnet wird.
Neben der Bereitstellung von Kapital und der zeitlichen Strukturierung scheint es f•r das
Funktionieren der Mechanismen der Gruppe eine Rolle zu spielen, dass sich die Gruppe
gegen•ber der MFI in dem Maƒe loyal verh‚lt, in dem diese als Hilfsorganisation anstatt als
organisierter Kredithai auftritt. Die Loyalit‚t wird typisch vor allem in Gruppenseminaren
erzeugt, die vor der Auszahlung der Krediten gehalten werden. Hier werden gemeinsam
Lieder gesungen, Leitspr•che der entsprechenden MFIs im Chor aufgesagt und mit alldem ein
Bild der Achtbarkeit der Mission der MFI erzeugt (vgl. dazu Papa et. al 2006: 93ff). 7
Die Latenz der Kreditgruppe wird neben ihrer Anbindung an die MFI zudem von der
Lebenssituation der Kreditnehmerinnen gedeckt. Die Kreditnehmerinnen w•rden das stressige
Spiel in der Gruppe sicherlich nicht mitspielen, wenn es nicht irgendeinen Effekt auf ihre
Lebenssituation hat. Wie bereits erw‚hnt, zeigen durchgef•hrte Studien •ber den
wirtschaftlichen Nutzen der Mikrofinanzierung f•r die Kreditnehmerinnen unterschiedliche
Ergebnisse, doch gibt es eine allgemeine ‹bereinstimmung dar•ber, dass Mirkofinanzierung
zumindest zu einer Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage der Kreditnehmerinnen f•hrt (vgl.
Morduch 1999, Colemann 2002, Khandker 2001, Chen 1996). Mikrofinanzierung erm€glicht
also, dass der M€glichkeitsraum f•r das Entscheiden der Kleinstunternehmer bzw. Haushalte
stabil gehalten wird. Und eigenes Entscheiden, so wurde bereits erl‚utert, heiƒt Risiken auf
sich zu nehmen, also nachteilige Ereignisse auf eigenes Entscheidungsverhalten zurechenbar
zu machen, anstatt sie als Gefahren der Umwelt zuordnen zu k€nnen. Der Wert, der die
7
Dass Loyalit‚t gegen•ber der MFI in Gruppenseminaren erzeugt wird, habe ich selbst auch w‚hrend eines
Praktikums in einer MFI in Ghana erfahren k€nnen.
17
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Kreditnehmerinnen also zur Teilnahme an Kreditgruppe animiert, ist die Handhabung
wirtschaftlicher Risiken. Ein zweiter Wert, der mit der Generierung von Risiken einhergeht,
ist die •ber die Gruppe laufende Zurechnung von Selbstachtung. Wer mit Risiken erfolgreich
umgehen kann, was zuvor keiner einem zugetraut hat, der wird in der Gruppe durch die
Zurechnung von Achtung belohnt. Die Gruppe steht f•r die Kreditnehmerinnen ein, setzt sich
folglich einer Gefahr aus, aber schafft es, sie zu bannen, indem sie die wirtschaftliche Gefahr
in
personenbezogene
Solidarit‚t
umm•nzt.
Dieser
•ber
Gefahr
laufende
Solidarisierungsmechanismus schl‚gt sich zugleich auf die teilnehmenden Mitglieder, eben
als Selbstachtung, nieder. Denn wer erfolgreich an einer Gruppe teilnehmen kann, und zwar
an einer Gruppe, in der es um die Generierung von Risiken geht, zu denen man keinen
alternativen formalen Zugang hat, wird Åber die Form der Gruppe Selbstachtung gewinnen.
Ganz wichtig ist hier zu sehen, dass die Zuschreibung von Selbstachtung auf keine psychische
Ursache zur•ckzuf•hren ist, sondern vielmehr davon auszugehen ist, das sich die
Selbstachtung aus der extremem Selbstbezogenheit der sozialen Struktur der Gruppe ergibt,
die eben an den sozialen Attributen der Gruppenmitglieder abgelesen werden kann.
Mikrofinanzierung hat also zweierlei Effekte, die die Kreditnehmerinnen zur Teilnahme an
Kreditgruppen motivieren und dadurch deren Latenz deckeln: einerseits eben die tats‚chlich
erreichte stabilere wirtschaftliche Situation, und andererseits, worauf man in der Praxis immer
wieder st€ƒt, die theoretisch aber vernachl‚ssigt wird, eine gesteigerte Selbstachtung.
Wenn man einen Begriff f•r diesen komplizierten Vorgang der Kreditvergabe in Gruppen an
vom formalen Finanzmarkt Exkludierte bem•hen m€chte, dann k€nnte man von finanzieller
Hilfe zur Selbsthilfe sprechen.8 Es ist mit alldem die zeitliche Rahmenvorgabe durch die MFI,
in der es den Klienten erm€glicht wird, sich durch Investitionen selbst zu helfen, und es ist die
Gruppe, in der die Kopplung von Achtung und Risikohandhabung von Frist zu Frist stabil
gehalten wird. Das Programm der Mikrofinanzierung k€nnte in diesem Sinne als finanzielle
Selbsthilfe definiert werden. Diese Form der Selbsthilfe kann dann als jener Parasit (im Sinne
Serres) gesehen werden, der es erlaubt, die Unterscheidung von Moral und Risiko zu treffen,
indem er ihre beiden Seiten trennt und sie sogleich zusammenh‚lt. 9
Dabei sind Kreditgruppen nicht die einzigen Mikrofinanz-Instrumente von MFIs. Es gibt
funktionale •quivalente, die ebenfalls in der Lage sind, die Achtung von Personen mit der
8
Formen der Selbsthilfe mit einer ganz ‚hnlichen Struktur des Abstellens auf Gruppen lassen sich auch in
anderen Funktionskontexten beobachten, vor allem in der Krankenbehandlung (vgl. z.B. Nickel et. al. 2006).
9
Genauere Analysen dieses Selbsthilfe-Parasiten m•ssten in ihrer Beschreibung der Struktur der
Mikrofinanzierung neben den Kleinstunternehmerinnen, der MFI und der Kreditgruppe noch
Spendenorganisationen oder ethische Investoren als eine weitere Stelle aufnehmen. Denn empirische Studien
zeigen, dass in dem Maƒe, in dem MFIs durch Kreditgruppen in der Lage sind, finanziell Ausgeschlossene zu
erreichen, sie selbst auf externe Mittel angewiesen werden (Cull et. al. 2008, 2005).
18
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Generierung von Risiken zu koppeln. Beispielsweise gibt es ein Experimentieren mit
Individualkrediten ohne Gruppenb•rgschaft, deren R•ckzahlungen dennoch in Gruppen auf
€ffentlichen Pl‚tzen erfolgen. Das €ffentliche R•ckzahlungsprozedere gew‚hrleistet hier das
Moment m€glicher Stigmatisierung und tr‚gt dadurch zum Erfolg der R•ckzahlung bei
(Armend„riz de Aghion, Morduch 2005: 137f). Auch kann das Risiko der R•ckzahlung durch
dynamische Anreizmodelle gehandhabt werden: diejenige, die zur•ckzahlt, bekommt einen
weiteren Kredit mit besseren Konditionen; diejenige, die nicht zur•ckzahlt, bekommt gar
keinen weiteren Kredit. Problematisch wird es nur dann, wenn diese Anreizmodelle durch den
Wettbewerb zwischen verschiedener MFIs unterlaufen werden (ebd.: 127f).
V. Zum Abschluss: Kreditgruppen vs. ROSCAs
Informale Ans‚tze der Mikrofinanzierung in Gruppen k€nnen bis in das 16. Jahrhundert
zur•ckverfolgt werden und entstanden h€chstwahrscheinlich noch einige Zeit fr•her (vgl.
Seibel, 2006: 50). Sie wurden (von der modernen Wissenschaft) bei dem Stamm der Yoruba
im heutigen Nigeria entdeckt, als einige der Angeh€rigen dieses Stammes als Sklaven in die
Karibik verschleppt wurden. Dabei handelte es sich um heute vor allem so genannte ROSCAs
(Rotating Savings and Credit Association) (vgl. dazu Armend„riz de Aghion, Morduch, 2005:
59ff), d.h. von Zusammenschl•ssen von Menschen, die in bestimmten Zeitabst‚nden solange
je einen bestimmten Betrag, sei es in Form von Geld, haltbaren Ernteertr‚gen oder Arbeit, f•r
ein ausgew‚hltes Gruppenmitglied aussch•ttet bis jedes Mitglied in den Genuss dieser
Aussch•ttung gekommen ist. Heute sind diese ROSCAs in fast allen solchen L‚ndern,
haupts‚chlich aber in West-Afrika, verbreitet, in denen Menschen keinen Zugang zu formalen
Banken haben. Worin liegt der entscheidende Unterschied zwischen solch informalen und
formalen Kreditgruppen?
Der Unterschied wird damit zusammenh‚ngen, dass formale Kreditgruppen an MFIs
angebunden sind, w‚hrend ROSCAs ohne externe Referenz auskommen. Kreditgruppen, so
wurde argumentiert, k€nnen sich deswegen nicht eigenst‚ndig reproduzieren, weil die latente
Zurechenbarkeit von Missachtung auf die Entscheidungstr‚ger im Falle des Eintretens der
Nichtzur•ckzahlung so akut ist, dass die Gruppenmitglieder sich diesem Mechanismus der
Gruppe nicht unterwerfen w•rden und stattdessen sich darauf einigen w•rden, mit dem
erhaltenen Geldern einfach zu verschwinden, wenn es nicht die MFI gibt, die Kapital und ein
externes Zeitmaƒ bereitstellt und die Achtbarkeit ihrer Mission nahe legt. ROSCAs hingegen
k€nnen ihre eigenen Strukturen entwickeln. Das zeitliche Maƒ der Aussch•ttung des
Geldbetrags an ein Mitglied wird intern, also durch die Gruppe selbst bestimmt. Auch
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beansprucht eine ROSCAs keine externen Kapitalquellen, sondern bezieht ihre Gelder
eigenst‚ndig von ihren Mitgliedern. Schlieƒlich wird auch das Potential drohender
pers€nlicher
Missachtung
einer
Teilnehmerin
im
Falle
ihrer
Zahlungsunf‚higkeit
ausschlieƒlich durch die Gruppe erzeugt. Im Unterschied zu ROSCAs k€nnen formale
Kreditgruppen sich also nicht als sich selbst reproduzierende System ausdifferenzieren, da
ihre Strukturbildung zu stark von externen Vorgaben abh‚ngig ist, w‚hrend ROSCAs in der
Lage sind, ihre Strukturbildung intern zu regeln. Die Kopplung der Kreditgruppe an die MFI
erm€glicht es aber, Kredite gleichzeitig an ihre Mitglieder zu vergeben, w‚hrend ROSCAs
ihre Kredite nur in zeitlicher Abfolge an ihre Mitglieder vergeben k€nnen. In der
Erm€glichung dieser Gleichzeitigkeit scheint die evolution‚re Errungenschaft zu liegen, die
formale Mikrofinanzierung mit ihrem Kredit-Programm der Gruppe im Unterschied zur
traditionellen Form der ROSCA darstellt.
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