Frédéric Chopin: „Paris ist alles, was du willst!“

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Frédéric Chopin: „Paris ist alles, was du willst!“
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Das literarische Reisemagazin — Thema: Paris — eine Beilage der Süddeutschen Zeitung — Heft 1, November 2000
mosaik
Paris
Frédéric
Chopin:
„Paris
ist
alles,
was
du
willst!“
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Roman
08 Peter Handke
Die Stunde der wahren Empfindungen
Die Schilderung zweier Tage im Leben des Gregor Keuschnig
Reisebericht
16 Hans Scherer
An Heines Grab
Eine Besichtigung des Cimetière de Montmartre
20 Hans Scherer
Hotels, die einen Umweg lohnen
Informationen zu Hotels in Paris
Adressbuch
28 Hans Scherer
31 Sascha Schmidt
Assoziationen zu Restaurants, Cafés, Theater in Paris
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Inhalt
Essay
32 Graham Greene
Der Mann, der den Eiffelturm stahl
Der Transport des Eiffelturms aufs Land und wieder zurück
Autoren
36 Biographie der Autoren
Reiseservice
38 Internetadressen zum Thema Paris
Adressen von Touristeninformationszentren
Lexikon
40 geschichtliche Zeittafel, Informationen zur
Wirtschaft, kulturelle Höhepunkte
Stadtplan
41 und ein Plan für öffentliche Verkehrsmittel
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Blick auf Sacrè Coeur,
Montmartre
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Editorial
Liebe Leserinnen,
liebe Leser,
Sie halten die erste Ausgabe von mosaik in der
Hand, das neue literarische Reisemagazin. Sie finden
es künftig einmal im Monat in dieser Zeitung.
mosaik will Sie in jeder Ausgabe in Form von
Romanen, Reiseberichten, Geschichten und Essays
über ein anderes Gebiet oder eine andere Stadt informieren. Besonders in den Romanen erlangen Sie
Kenntnisse auf eine persönliche Art und Weise. Ihnen
werden neben der eigentlichen Handlung sehr gute
Beschreibungen der Schauplätze geboten, so dass Sie
auf den Wegen der Literatur eine Stadt oder ein bestimmtes Gebiet besichtigen können. Neben guten
Beschreibungen bekommen Sie grundlegende Informationen zu Hotels und Restaurants in Form von
Reiseberichten. Reisetipps werden Ihnen außerdem
über Adressen von Touristeninformationszentren im
In- und Ausland und über Adressen von ausgesuchte
Internetseiten geboten. Dort können Sie sich auch
über aktuelle Themen in der jeweiligen Stadt oder
dem jeweiligen Gebiet informieren.
Das Thema dieser Ausgabe ist die Stadt Paris. Sie
werden unter anderem den Protagonisten Keuschnig
in dem Roman „Die Stunde der wahren Empfindungen“ von Peter Handke einen Tag lang durch Paris
begleiten können. Hans Scherer berichtet über seinen
Besuch auf dem Cimetière de Montmartre. Sascha
Schmidt erzählt, welche Assoziationen er hatte, als er
in sein Adressbuch schaute und eine Adresse von
einem Restaurant in Paris fand, in dem er vor Jahren
mal war. Dazu auf der letzten Seite ein Stadt- und
Metroplan, damit Sie den Spuren der Literatur folgen
können.
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Roman
Peter
Handke
Die Stunde
der wahren
Empfindungen
Diese Schilderung zweier Tage
im Leben des Gregor Keuschnig,
Pressereferent der österreichischen Botschaft in Paris, setzt
ein mit einem langen Traum, in
dem Keuschnig „jemanden getötet hatte“; dieser Traum bewirkt bei ihm das Gefühl, er
gehöre „nicht mehr dazu“. Aufgrund dieses Gefühls nimmt
Keuschnig alle Ereignisse und
Verhaltensweisen als eingespielte Konventionen wahr, auf
die er nur mit Ekel und Überdruß reagieren kann. Erst als er
in der Stunde der wahren Empfindungen „drei Wunderdinge“
sieht – ein Kastanienblatt, ein
Stück von einem Taschenspiegel und eine Kinderzopfspange,
eröffnet sich ihm die „Idee eines
Geheimnisses“, die er später, als
sein Kind von einem Spielplatz
entführt worden zu sein scheint,
auch für anwendbar hält: „Indem ihm die Welt geheimnisvoll
wurde, öffnete sie sich und
konnte zurückerobert werden.“
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E
r verhielt sich so unverfänglich wie
möglich: kaufte zum ersten Mal Blumen für die Freundin. Ein Beobachter
würde aufhören, ihn auffällig zu finden,
wenn er ihn in dieses Blumengeschäft treten sähe.
Er war nur einer unter vielen, beschäftigt mit
Alltäglichem, so sorglos, daß er Blumen kaufte.
Wie jemand ganz Beliebiger stieg er mit dem
Blumenstrauß den Montmartre hinauf. In den
von einer Markthalle zur anderen wechselnden
Gerüche der Rue Lepic wurde er undefinierbar:
Fische, Käse, dann der Flanellgeruch von Anzügen, die in der Sonne standen, und unvermutet
zog ihn der Geruch von Weißbrot aus der offenen
Tür einer Bäckerei in die Erinnerung hinein, nicht
in die eigene, sondern eine neue erweiterte und
verbesserte, bei der das Flächige vor ihm räumlich
wurde. Niemand hier schien unentschlossen, von
sich selber belastet: zwischen diesen Leuten, die
er nie kennen würde, fühlte er sich aufgenommen.
Penibel streifte er sich vor der Wohnung der
Freundin die Schuhe ab, wobei er schadenfroh
lachte – gegen wen? – Aber er von innen die sich
nähernden Schritte hörte, wußte er nicht mehr wo
hinschauen bei dem Gedanken, daß es gleich wie
immer wäre, schamlos, und daß sie einander
erkennend anlächeln würden. Noch war es nicht
zu spät, er konnte schnell die Treppe weiter hinaufsteigen. Bewegungslos blieb Keuschnig stehen
Fuß an Fuß, bis wie üblich die Tür aufging – nur
daß die Lächerlichkeit ihn jetzt fast tötete.
Er ließ sich nichts anmerken. Im ersten
Moment war verwirrt gewesen, daß Beatrice ihn
wirklich sofort erkannte. Plötzlich hatte er Angst,
sie das nächste Mal nicht wiederzuerkennen, und
versuchte, sich die Einzelheiten ihres Gesichts
einzuprägen, oder ein besonderes Merkmal. In
der Küche tranken sie Kaffee, und er schaute ihr
zu wie sie die Crème Caramel aus dem Kühlschrank nahm, damit sie nicht so kalt wäre, wenn
die Kinder dann nach Hause kämen. Sie setzte
sich wirklich ihm gegenüber, außer Reichweite,
ganz wie er es sich gewünscht hatte, und spitzte
sorgfältig stumpfgewordene Stifte, Bleistifte für
das ältere Kind, Farbstifte für das Kind, das noch
in die École maternelle ging. Indem er ihr zuschaute, glückte es ihm, sich allmählich in den
Anblick zu vertiefen. Er hörte, wie vor dem geöffneten Fenster in der stillen Straße das Wasser im
Rinnstein floß. Es gluckste an manchen herausragenden Steinen, und je länger er zuhörte, desto
weiter erstreckte sich die Umgebung hin, und das
fließende Wasser wurde zu jenem Bach, dessen
glucksende Wellen eine fast vergessene Begebenheit erzählten.
Sie verließen gemeinsam die Wohnung. Sie
nahm den Aufzug, er ging die Treppe hinunter,
auf der Straße trafen sie sich wieder und trennten
sich zugleich, Beatrice mit einem ernsten, aber
unbekümmerten Gesicht, ohne Worte, als sei das
weitere schon geregelt. Bis dann, bis morgen. Und
heute? Er würde zur Arbeit zurückkehren; um
sechs im Elyséepalast an einer Pressekonferenz
zum Regierungsprogramm teilnehmen; um neun
bei sich zu Hause mit einem österreichischen
Schriftsteller, der gerade Paris wohnte, zu Abend
essen (eine der in seinem Budget vorgesehene sit-
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zenden Veranstaltungen): und nachher wohl
müde zum traumlosen Schlafen. Ein volles Programm, dachte er dankbar, kein freier Moment,
alles geregelt bis zum Ausschalten der Nachttischlampe gegen Mitternacht. Zumindest heute
war jede Minute schon vorgesehen; keine gefährlichen überflüssigen Bewegungen; die Wonnen
eines vollen Terminkalenders – Und wirklich kam
er sich bei diesem Gedanken wonnig umhegt vor.
Unbesorgt konnte er also die Augen heben, und
die Welt lag vor ihm, als hätte sie bis jetzt nur auf
ihn gewartet.
D
ie Luft war so klar, daß man von dem
Hügel aus nach allen Seiten über den
Rand von Paris hinausschauen konnte, wo es schon wieder grün wurde. Es
war ein Gesamtbild, das an kein Durcheinander
mehr denken ließ; jede nochso widerspenstige
Einzelheit dem Pauschaleindruck untergeordnet.
Das war ihm jetzt recht, denn er wollte an nichts
erinnert werden. Bei diesem Blick aufs Ganze, an
dem auch nach dem ersten Hinschauen nichts
Besonders war, konnte er sich selber nach außen
atmen, bis nichts Lästiges von ihm übrigblieb.
Als Keuschnig gegen sechs auf den Platz trat,
um zur Pressekonferenz in den Elyséepalast zu
gehem, blieb er plötzlich stehen und stemmte die
Hände in die Hüften. Er wurde angriffslustig
gegen die ganze Welt. „Jetzt habe ich dir's gezeigt!“ sagte er. "Ich werde dich noch unterkriegen." – Mit geballten Fästen lief er auf die Invalidenbrücke zu, überquerte unbekümmert um die
Autos den Quai d'Orsay. Es drängte ihn, auf der
Stelle einen Widerstand zu brechen und sich an
etwas zu beweisen. Er war jetzt sicher, es gab noch
etwas auszurichten – aber wo? Die Münzen klimperten in der Tasche beim Laufen, und er lief nur
noch schneller, rannte, verfolgte. Wenigstens
kurze Zeit hatte er das Gefühl, allmächtig zu sein
und auf die Welt hinunterschauen zu können. Sie
war für ihn bestimmt gewesen, und jetzt drang er
in sie ein, um die abgefallenen Dinge zu sich zu
bekehren. „Da bist du ja, Seine!“ sagte er gönnerisch, während er über die Brücke lief. „Fließ nur
so nichtssagend weiter – ich werde dein Geheimnis schon noch herauskriegen!“ Dann dachte er:
Ich erlebe ja etwas, – und auf einmal freute er sich
und ging langsamer.
Er hatte plötzlich Lust zu zeichnen: und
zeichnete mit dem Finger das Pickelhaubendach
des Grand Palais in die Luft, an dem er auf dem
Weg durch die Avenue Franklin D. Roosevelt
gerade vorbei ging. In Paris war gewöhnlich der
Himmel zu sehen, auch ohne daß man den Kopf
hob: sogar beim Geradeausschauen erschien er
am Ende vieler Straßen. So fiel Keuschnig auf, daß
inzwischen Wolken am Himmel waren, sehr
weiße, unbewegliche Streifen hoch oben, und darunter, ziemlich tief und quer zu den Streifen,
durch die Nähe etwas dunkler wirkende Wolken,
die sehr schnell knapp über die Dächer zogen und
deren Formen sich veränderten, bevor er sie
wahrnehmen konnte. Warum wird mir der Himmel jetzt auffällig? dachte er. Er fiel ihm eigentlich
nicht auf, er sah ihn nur, beteiligt, ohne Hintergedanken. Einige Schritte lang beschäftigt er ihn,
und zwar ausschließlich, so daß er nachher dachte: Ich möchte erreichen, diese selbstlosen und
doch ausgefüllten Momente, wo man nichts extra
beobachtet, wo einem aber auch nichts entgeht,
länger auszuhalten. Trotzdem machte ihn schon
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der nächste Blick auf die Wolken wieder verdrossen. Er wollte nichts mehr sehen. Verschwinde
endlich – alles! Er ging in der Mitte des Gehsteigs
mit den Händen in den Hüften und hatte Lust,
jemanden anzupöbeln. Ausweichen, ihr Sinnreichen! Er würde einer Frau nur ein Wort zurufen, und sie müßte ihr Leben lang daran denken.
Das Wort finden, auf das kein einziger mehr eine
Antwort wüßte!
Erinnerung kam ihm: Schulkinder in Turnhosenstanden in einer Reihe, davor zwei, die Spielführer, die abwechselnd die Namen derer aus der
Reihe, davor zwei, die Spielführer, die abwechselnd die Namen derer aus der Reihe nannten, die
sie in ihrer Mannschaft haben wollten. Die Genannten traten heraus – wobei die guten Spieler
O
ben am Ende des Champs Elysées
stand nur noch ein Motiv, der Triumphbogen, und unten vom Rond
Point aus blickte man durch ihn durch
auf nichts als den westlichen Himmel, der in dem
Belag der weitgestreckten Avenue widerschien."
Wäre man weiter hinaufgegangen, hätte man
dahinter die Kräne gesehen, mit denen immer
noch neue Häuser zu dem Vorort La Défense dazugestellt wurden." – Ich nehme wahr wie für jemand andern! dachte Keuschnig. Es war aber eine
kurze Ablenkung. Mit der Bewegung, mit der er
dann vom Gehsteig in den Drugstore an der
Avenue Matignon einbog, kam er sich auf einmal,
wenigstens fürs erste, gerettet vor. Schon das
Einbiegen – die Tatsache, daß er aus dem bedrückenden Geradeaus ausscherte – war wie ein
Einkehren gewesen, und als er durch den Drugstore ging und sich fortbewegte unter vielen anderen, in einem von ihm unabhängigen Rhythmus
von Stocken, Ausweichen, Weitergehen, nur noch
Drugstore-Bewegungen ausführte – mitmachen:
da konnte er sich vorstellen, ein ganz anderes
Leben zu führen, frei nach dem Drugstore-Gefühl,
in dem alles so problemlos wurde. „Ja, ich werde
ein neues Leben anfangen!“ sagte er, laut, als ob es
sich um etwas Dringendes handelte, und eine
schnell vergeben waren. Dann standen nur noch
die Nichtskönner verlegen aufgereiht: bitte, nenn
endlich meinen Namen! Noch der vorletzte kam
davon – nur nicht der allerletzte sein, allein stehenbleiben müssen. Dagegen hier die zerknüllten
Papierservietten auf den ketchupverschmierten
Tellern, die jungen, allein sitzenden Frauen davor,
die über den geöffneten Handtaschen ihre Liebesbriefe wiederlasen: in diesem Durcheinander galt
kein Spiel mehr, wo jemand der letzte sein mußte.
Keuschnig kaufte sich an dem Bücherstand
drei Reiseführer. Er wolte sie von vorn bis hinten
lesen. Noch etwas, an das ich mich halten kann,
dachte er. Und dann trat er wieder auf die Straße
hinaus. Dieser schmieriger Drugstore mit den zertretenen Pommes frites auf dem Fußboden und
den Zeitschriften , die alle schon Eselsohren hatten! Der Himmel bewölkte sich beim Zuschauen –
während er an der Kreuzung stand. Er versuchte,
sich an das neue Gefühl zu erinnern, mit dem er
gerade noch eingebogen war. Welches Einbiegen?
Plötzlich erinnerte er sich an nichts mehr; auch an
nichts andres. Er konnte zwar alles aufzählen, sich
aber an nichts erinnern. Er hatte die Tatsachen
behalten, aber nicht die Gefühle.
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ls er über den jetzt, Ende Juli, leeren
Kinderspielplatz am Carré Marigny
.ging, war der Himmel schon ganz be. deckt. Es blies ein starker, kalter
Wind, und die Kastanienbäume rauschten, daß
man die Autos auf den Champs Elysées nicht
mehr hörte. Kleine morsche Zweige spritzten auf
den Boden. Die Pferde an dem Kinderkarussell
waren den Sommer über mit Säcken und Plastikhüllen verdeckt und mit dicken Stricken zugeschnürt. Es wurde ziemlich dunkel; Keuschnig
war auf dem Carré, Staub wehte ihm in die Nase.
Der Wind blies jetzt so stark, daß er plötzlich eine
grausige Angst bekam und sich nicht mehr beherrschen konnte. Er lief zu dem Telefon an einer
Bushaltestelle der Avenue Gabriel und rief an:
Agnes war da – sie hob selber ab, biß beim selbstvergnügten Antworten ein Bonbon durch.
blinkten die Pfützen im Sand. Die Tauben waren
weggeflogen in die Bäume. Er saß auf der ausgebreiteten Zeitung und schaute geradeaus, um
nichts Besonderes zu bemerken. Auf dem Boden
war alles so nahe. Nur das dunkle Laub der
Kastanienalleen, dahinter noch die Dachspitze
des Grand Palais und weiter rechts die Spitze des
Eifelturms: das beengte nicht. Die Sonne ging
unter, und im nächsten Moment begannen die
Gegenstände wie von sich aus zu scheinen,
Im Weitergehen fiel ihm ein, daß er gerade
Angst gehabt hatte. Ein Gefühl; – erinnere dich.
Wie war das gewesen? Die Muskel und Sehnen im
ganzen Körper hatten sich mit einem Schlag verhärtet, zu einer eigenen Struktur wie zu einem
zweiten Skelett. Ja, hatte er die Angst gefühlt. Ich
muß alle Gefühle neu entdecken! dachte er.
Er setzte sich am Carré Marigny auf eine
Bank neben dem Kinderspielplatz und hoffte auf
den Zufall, der ihm endlich eine Möglichkeit zeigen würde, über sich nachzudenken; denn sooft er
absichtlich zu überlegen versuchte, glaubte er den
eigenen Gedanken nicht mehr – es waren nicht
seine eigenen. Wie meistens in Paris hatte der
Regen bald aufgehört, und in der letzten Sonne
während es im Luftraum zwischen ihnen gleichzeitig dämmrig wurde. Eine Zeitlang leuchteten
die Gegenstäde so stark, als ob sie sich selber in
Energie zerstrahlten. In dem flimmernden Zwielicht sah Keuschnig keine Einzelheiten mehr. Ein
anderes System hatte sich herabgesenkt. Dann
verschwand das Leuchten, aber die Gegenstände
blieben gleich hell, strahlten nur nichts mehr aus,
und das Dämmerlicht zwischen ihnen wurde wieder zu Tageslicht. – Und diese Licht wollte jetzt
nicht vergehen. – Er hatte auf einmal eine Vorstellung von vielen gleichzeitigen Vorgängen in
den verschiedenen Pariser Stadtteilen: im Touristenviertel St. Germain-des-Près wurden die
Pizzas auf den Tellern herumgezerrt, und die
hungrigen Touristen hatten schon vor mehren
Restaurants entschlußlos die Speisekarten gelesen; im Arbeiterviertel Ménilmontant tranken die
Arbeiter ihr Feierabendbier in einem richtigen
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Arbeiterbistro, das „Au rendez-vous de chauffeur“
hieß, und wo sich auch heute wieder einige Intellektuelle eingefunden hatten; im Ausländerviertel Belleville standen die Schwarzen gruppenweise, einige in Burnussen, mit Bierdosen in der
Hand ohne zu reden unter dem freien Himmel; im
Reichenviertel Auteuil wurden die Söhne und
Töchter der Großbürger von den Obern in den
englisch gepolsterten Pubs gefragt, ob sie französisches oder ausländisches Bier trinken wollten; –
und überall in der Stadt flimmerten unbenutzte
Flipperautomaten, rasselten und klingelten die
benutzten, rauschen die Platanen und Kastanien
an den Boulevards, schlingerten zwischen den
Métrowaggons während der Fahrt die schwarzen
Koppelschläuche, schauten einander Liebespaare
in die Augen, lagen in den immer noch bestehenden Wimpys die aufgeweichten Zwiebelringe
unter den Hamburgers – und das alles, dachte
Keuschnig, während er mit brennenden Augen in
das immer gleichbleibende Licht starrte.
Dann hatte er ein Erlebnis – und noch während er es aufnahm, wünschte er, daß er es nie
vergessen würde. Im Sande zu seinen Füßen erblickte er drei Dinge: ein Kastanienblatt; ein Stück
von einem Taschenspiegel; eine Kinderzopfspange. Sie hatten schon die ganze Zeit so dagelegen, doch auf einmal rückten diese Gegenstäde
zusammen zu Wunderdingen. – “Wer sagt denn,
daß die Welt schon entdeckt ist?“
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Reisebericht
An Heines Grab
Den Friedhof von Montmartre vermutet
man, ohne ihn zu kennen, neben Sacré-Coeur.
Ein Irrtum. Dort gibt es keinen Friedhof.
Es war wohl der letzte schöne Spätsommertag. Von unten leuchtete Paris in diesem unverwechselbaren Goldton. Das Licht verwandelte die
Wände mit den blassen Reklamebildern in Gemälde mit magischen Zeichen. Unmittelbar unter
der Place du Tertre, auf der die Touristen sich um
die Plätze vor den Cafés stritten, Haufen Volks,
begegnete man in den abschüssigen Gassen nur
noch wenigen Menschen. Ein paar kleine Mädchen spielten Ball an einer Mauer, die einen Park
mit hohen Bäumen umgab. Es war ein kompliziertes Spiel:Bevor die Mädchen den an die Wand
geschlagenen Ball auffangen durften, mußten
sie drei Pirouetten drehen. Das kleinste der drei
Mädchen verpaßte keinen Ball; es drehte sich wie
eine Spielzeugpuppe.
Von fern her brummte und summte der
immerwährende Lärm von Paris wie eine Hintergrundmusik, die die Stille schützt. Ich ging immer weiter nach unten. Bin ich eigentlich noch
auf dem Montmartre? Der Berg lag hinter mir.
Die Straßen waren eben geworden. Ich frage fünf,
– sechsmal nach dem Friedhof, da ich annahm,
ich hätte den Eingang verpaßt, wurde aber immer weiter gewiesen. Bis ich plötzlich auf der
Straßenbrücke der Rue de Maistre stand und den
Friedhof unter mir sah. Das ist unmittelbar vor
der Place Clichy. Überall hätte ich den Friedhof
erwartet, nur nicht hier. Eine Nekropole im
Zentrum der Lebenden.
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Reisebericht
An Heines Grab
Diese absurde, grün angemalte Brücke über
den Gräbern.Ein Dach für die Toten und Lebensader zugleich. Das Grab von Heinrich Heine liegt
im Bezirk 27. Ich hielt Ausschau nach der hohen
Säule, die man mir als Erkennungszeichen beschrieben hat, als ich neben mir plötzlich ein dünnes Stimmchen hörte: „Suchen Sie etwas, mein
Herr?“ Ich suchte nach dem Stimmchen, drehte
mich um, suchte unter der Brücke. Ein Gnom?
Ein Wurzelgeist? Auf einer Bank entdeckte ich
die Zwergin. Eine kleingewachsene PlastiktütenLady inmitten ihres Hausstandes, ihre Füße
reichten knapp bis an die Kante der Sitzfläche.
„Das Grab von Heine“, sagte ich. „Das ist ganz
einfach“, sagte sie mit fröhlichem Augenblinzeln,
„sehen Sie dort die weiße Säule? Das ist es“.
Etwas verstört stand ich vor dem Grab.
Unter dem Namen Heinrich Heine befindet
sich in auffallend kleinen Lettern die Inschrift
Frau Heine. Auf dem Sockel steht das berühmte
Gedicht: „Wo wird einst des Wandermüden/
letzte Ruhestätte sein?“ Vor der Säule lag ein
Strauß frischer bunter Astern. Ich ging zurück
zur Bank der Zwergin. „Sie haben mir sehr geholfen, Madame. Ich muß mich bei Ihnen bedanken“, sagte ich. „Aber ich bitte sie mein Herr“, sie
kicherte verlegen, „aber das ist doch selbstverständlich, kein Grund, ich bitte Sie.“ Sie hatte
eine Litanei solch abwehrender Höflichkeitsformeln in ihrem Sprachfundus, dabei gelang es
ihr allerdings nicht zu verheimlichen, daß jedes
Dankeswort ihr schmeichelte. Sie strahlte und sie
schien glücklich...
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Hotels,
die einen
Umweg lohnen
von Hans Scherer
Blick auf das Hotel in der Passage Joffroy
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Reisebericht
Auf der Mitte der breiten Fußgängerbrücke, die von der Académie Francaise über die Seine zum Louvre führt, blieb er stehen
und sah den Fluß hinauf und hinunter. Hinter den Türmen von
Notre-Dame, die er wie eine Erscheinung über der Spitze der Île de
la Cité sah, zog sich in quellenden Wolken ein Gewitter zusammen.
Auf der anderen Seite des Flusses schillerten in gleißend silbernem
Sonnenlicht die Kuppeln des Grand Palais und des Petit Palais. Er
konnte die Augen nicht lassen von diesem prachtvollen, unglaublichen Bild: Warum bin ich bloß nur so spät gekommen, dachte er.
Jahrelang hatte er die Reise nach Paris hinausgezögert. Fast die
ganze Welt hatte er schon gesehen, aber Paris hatte er ausgelassen
bis zu dieser dummen, kleinen Busreise, auf der er sich nun befand
und die eher als Scherz gedacht war: Er sollte eine Billig-Busreise
buchen und nüchtern berichten, was geschieht; freitags hin, sonntags wieder zurück. Für den Freitagabend, also unmittelbar nach
der Ankunft, war eine Sonderfahrt Paris Illuminé vorgesehen. Für
Samstag, als hätte man sich nach dem halben Tag schon sattgesehen an Paris, konnte man nach Entrichtung eines Preisaufschlages
an einem Ausflug nach Versailles teilnehmen. Das Busprogramm
läuft ohne Änderung auch heute noch so ab.
Der Reiseführer, der vermutlich finanziell an dem Aufpreis
beteiligt war, empfahl den Versailles-Ausflug wärmstens, so billig
käme man vermutlich nie mehr dorthin. Alle machten mit. Nur er
scherte aus und mußte sich daraufhin später von seiner Nachbarin
im Bus, Frau Bürgel aus Hofheim im Taunus, sagen lassen, er
glaube wohl, etwas Besonderes zu sein. Aber wenigstens einen Tag
wollte er sich ungestört seiner Paris-Seligkeit hingeben. Im Café
sitzen, Zeitung lesen, durch die Straßen laufen, sich für den Abend
ein Restaurant suchen - für Museen blieb keine Zeit. Es war das
Leben, wie er es sich vorgestellt hatte und wie er es aus hundert
Romanen und Filmen über Paris kannte. Daß es das alles wirklich
gibt. Darum war er so spät gekommen, weil er Angst vor einer
Enttäuschung hatte, weil er sich vor der Wirklichkeit gefürchtet
hatte. Aber nun stand er auf der Brücke und es kam ihm vor, als sei
er endlich angekommen.
Das Hotel der Busgruppe, zwei Übernachtungen, befand
sich, malerisch und geradezu extravagant pariserisch am Boulevard Montmartre im dritten oder vierten Hinterhof der Passage
Jouffroy.
(Hôtel Chopin, 14, bd. Montmartre, Tél 0142 54 56 58, D8)
Heute, so war kürzlich in einem neuen Paris-Führer zu lesen,
soll das Hotel im Jugendstil renoviert sein und, immer noch zu zivilen Preisen, als kleines Juwel der Pariser Hotelkultur gelten. Davon konnte man damals wahrhaftig nicht sprechen. Nach der Ankunft des Busses schleppten die Touristen mit erwartungsvollem
Herzklopfen ihr Gepäck durch die zwei oder drei Hinterhöfe der
Passagen. Man mußte sich wundern, wieviel sie für die zwei Übernachtungen mitgebracht hatten. Aber wer achtet darauf? Was war
das für ein buntes Treiben in der Passage. Es gab ein Spezialge-
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schäft für Spazierstöcke. Es gab Antiquariate aller Art, für Notenblätter, für alte Aktien, für Ballettbücher. Es gab Geschäfte für
künstliche Blumen, für Parfum in mundgeblasenen Flakons, für
alte, doch gebrauchsfähige Füllhalter, für altes Silber, für Bilderrahmen. Es gab Galerien und kleine Handwerksbetriebe wie
Druckereien oder eine Werkstatt für abenteuerliche Hüte. Am
Ende eines Innenhofes lag das Hotel. Das erste, das ihm auffiel
war die streng blickende Chefin mit kurz geschorenem Kopf, die
mit einer rauhen, tiefen Stimme sprach – und prompt eine blaue
Gauloise nach der anderen rauchte. Es kam ihm vor, als kenne er
sie aus einem Jean Gabin-Film.
Sein Zimmer lag in der obersten Etage des schmalen Hauses,
in der fünften oder sechsten also. Im Zimmer mit den knirsche –
den Dielen war er an den Wänden entlang gelaufen wie eine Katze,
die ein neues Haus inspiziert. Es gab ein großes Bett, auf dem ein
schwellendes Plumeau lag. Es gab einen windschiefen Schrank, der
nur mit Ziehen und Reißen zu öffnen war, einen altertümlichen
Nachttisch, einen kleinen Sessel, in dessen Polster eine der Sprungfedern herausstand, und in der Mitte des Zimmers einen zu großen
Tisch, so daß Stühle keinen Platz mehr hatten. Aber was war das
alles gegen das kleine Fenster und den Blick dadurch! Das Fenster
lag oberhalb eines Schieferwulstes an der Außenwand des Hauses
und gewährte tatsächlich einen traumhaften Pariser Blick. Man
sah über die Innenhöfe der Passage hinweg. Rechts war die Spitze
der Oper und vorne, halbrechts, der Eiffelturm. Ganz weit vorne
das Hochhaus auf dem Montparnasse. Es war alles wunderbar.
Genauso hatte er es sich vorgestellt...
... Fast bei jedem späteren Besuch in Paris wohnte er in
einem anderen Hotel, und er war nun oft hier – fünf, sechs Mal im
Jahr. Im Hotel Bersoly`s in der Rue de Lille wohnte und arbeitete
er allerdings ein halbes Jahr.
(Hôtel Bersoly`s, 16, Rue de Lille, Tél.0142 56 45 45, F7)
Das Bersoly`s ist handtuchschmal, aber mindestens sieben
Stockwerke hoch. Auf jeder Etage befinden sich drei Zimmer, die
nach französischen Dichtern benannt sind. Er wohnte im Zimmer
Victor Hugo, was ihn, kostentreibend, veranlaßte, eine Hugo-Gesamtausgabe zu erwerben. Der immer geduldige Hausmann, ein
Vietnamese, der die Zimmer in Ordnung hielt, ließ sich für ein
paar Franc bestechen, sein Zimmer immer als erstes zu machen,
daß er auch am Morgen darin arbeiten konnte. Dann saß er an
seiner für das kleine Zimmer übergroßen Schreibmaschine – Computer waren damals noch Raritäten – und dachte sich immer neue
Geschichten über Paris aus oder er schrieb darüber, was er am
Abend erlebt hatte. Jeden Tag eine Paris-Geschichte, das hatte er
sich vorgenommen. Das war nicht immer einfach. Aber um sein
Gelübde zu erfüllen, drehte er, so kam es ihm vor, ganz Paris, Prozesse, Museen, die Métro, die Straßen, die Menschen, die Mode,
das Essen, Bücher und Zeitungen, ganz Paris eben, durch die
„Wurstmaschine“ seiner Erzählungen. Der Frühstücksraum des
Hotels lag bei vielen der kleinen alten Pariser Hotels im Keller,
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Reisebericht
gestützt von dicken Holzbalken. Ein gemütlicher Raum, in dem
man sich wohlfühlte. Es gab nur wenige Tische, so daß man meistens mit mehreren Gästen zusammen an einem Tisch saß. Später,
nachdem er Paris, mehr gezwungen als freiwillig, wieder verlassen
hatte, ging er nie wieder ins Bersoly`s. Die Zeit war so schön, daß
er sie nicht auf diese halbherzige Weise, als Gast sozusagen, verlängern wollte. Erst in den letzten Jahren wohnte er immer wieder
in dem kleinen Hotel Danemark in der Rue Vavin auf dem Montparnasse.
(Hôtel Danemark, 21, Rue Vavin, 0142 43 26 93 78, G7)
„Hier kennt man mich“, sagte er, „hier kenne ich mich aus –
die dicke Wirtin mit ihrem hübschen Sohn und dem alten, freundlichen Mann, der das Frühstück serviert – es liegt praktisch an der
Métro, es ist sauber und relativ preisgünstig, vor allem, es gibt
einen schönen Schreibtisch im Zimmer.“ Die Beschränkung auf ein
Hotel ließ ihn jedoch auch fragen: „Ob ich alt werde?“ Die Frage
war überflüssig. Denn zwischen seinen Aufenthalten im Hotel
Danemark, das er zu seinem Stammhotel erklärte, erlaubte er sich
immer wieder Seitensprünge in die Hotels anderer Reviere und
anderer Klassen. So alt war er also doch noch nicht. Denn, zumindest in seinen Augen, beweist nichts mehr jugendlichen Vorwitz,
als die Lust, unbekannte Stadtviertel kennenzulernen. Der beste
Weg des Kennenlernens: Man wohnt darin.
Das Hotel Bedford in der Rue de l'Arcade, nicht weit vom
Gare Saint-Lazare zwischen dem Boulevard Haussmann und der
Madeleine, gehört zu seinen frühesten Wohnungen in Paris.
(Hôtel Bedford, 17, Rue de l'Arcade, 0142 25 68 23, D6/7)
Heute ist es ein reines Touristenhotel, seinem Namen entsprechend von Briten bevorzugt. Unvergeßlich ist der Aufzug des
Hotels, an dem nichts Besonderes wäre, wenn er nicht über eine
eigene Automatik verfügte, daß die Aufzugtür sich auf jeder Etage,
von Geisterhand bewegt, öffnet. Sie öffnet sich nicht einfach so,
sondern unter leidvollem Stöhnen und Ächzen: Bitte sehr, wenn es
denn sein muß, daß man mitfühlt mit der Tür und sich am liebsten
bei ihr entschuldigen möchte.
Das Hotel Bedford spielt nach George D. Painter eine wichtige
Rolle in der Biographie des späten Marcel Proust, der hier im letzten Jahr des ersten Weltkriegs zwei junge amerikanische Soldaten
besuchte. Seinem Freund Walter Berry berichtete er in einem Brief,
daß er das Hotel nicht gekannt habe und sich zuerst nach dem Weg
habe erkundigen müssen. Das kann nur ein absichtsvoller Irrtum
sein. Denn nur drei Häuser weiter in der Rue l'Arcade befindet sich
das Hotel Marigny, heute noch erkennbar an dem großgeschriebenen „Lift“ in der Leuchtreklame – als garantiere ein Lift die hohe
Qualität des Hauses –, das Proust sehr genau kannte. Hier befand
sich ein legendäres Knaben-Bordell, das in Proust Recherche als
„Jupiens Bordell“ erscheint. Dieser Jupien, in Wirklichkeit Albert
Le Cuziat, der Besitzer des Hauses, stand vorher in Diensten des
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Fürsten Radziwill, eines der vielen Vorbilder des Fürsten von
Guermantes, und war mit Proust befreundet. Zwar spricht Proust
in seinem Romanwerk alle diesbezüglichen Aktivitäten dem Baron
de Charlus zu, Painter weiß jedoch, daß Proust eigene Erlebnisse
im Hotel Marigny an orgiastischer Begeisterung die geschilderten
Erlebnisse des Barons weit übertrafen. Prousts Höllenfahrt, wie
Georges D. Painter schreibt. Das betrifft vor allem das letzte
Kriegsjahr 1917, das an gleichsam sinnlicher Verzweiflung in Paris
ein Pendant zum Jahr 1871 gewesen sein muß. Heute geht es im
Hotel Marigny recht bürgerlich, wenn nicht gar spießig zu. Der
Patron spricht zwei „Sätze“ deutsch: „Guten Morgen“ und „Wie
geht es Ihnen?“ Das sagt er immer wieder und kommt sich dabei
sehr lustig vor. Die Dame des Hauses im stregen, grauen Schneiderkostüm, aussehend wie die Aufseherin eines Mädchenpensionates, etwas blaustrümpfig, bekommt einen roten Kopf,
wenn man sie nach Proust befragt. Das Herz schlägt ihr bis zum
Halse, „aber nein, nein“, das sei alles ganz anders gewesen.
„Stimmt es also nicht, daß Proust seine Möbel aus der großen
elterlichen Wohnung dem Knaben-Bordell geschenkt hat“, fragte
er. „Um Himmels Willen, nein, Proust hat hier nur ein paar Tage
gewohnt, bis seine neue Wohnung fertig war.“ „Also doch“, sagte
er, was sie irritierte. Da schloß sich der Aufzug, der deutlich angezeigte „Lift“, in dem er stand. Sie wäre ihm am liebsten nachgelaufen, um richtigzustellen, Proust und seine Eigenheiten hätten mit
ihrem Hause nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Merkwürdigerweise fügte es sich, daß er zwei Monate später
schon wieder in Prousts Nachbarschaft wohnte, diesmal im Hotel
Waldorf-Florida am Boulevard Malesherbes, das exakt gegenüber
der einstigen, großen Wohnung Prousts liegt.
(Hôtel Waldorf-Florida, 12 bd. Malesherbes, 0142 23 56 23, D6)
Das Hotel ist ein schönes altes Jugendstilhaus, sehr gepflegt,
aber laut: Der Lärm von ganz Paris dringt durch die schmalen
Fenster und man kann sich nur schwer vorstellen, daß Prosts
Phantasien beim Aufwachen, die er im ersten Kapitel seines Romanwerkes beschreibt, in dieser Straße ihren Ursprung haben
sollten. – Nachdem das Zimmermädchen alle deine preisgünstig
eingekauften Getränkevorräte, mit denen er den Kühlschrank gefüllt hatte, Morgen für Morgen aus dem Kühlschrank nahm – die
billigen Getränke hatten in dem teuren Hotelkühlschrank nichts
verloren, betrachtete er dies als unfreundlichen Akt und mied das
Hotel fortan. Eine Erinnerung an das Hotel Waldorf-Florida
amüsiert ihn allerdings noch heute...
Einmal wohnte er im Hotel Grand Hommes am Panthéon,
nur des Namen wegen, einmal in dem Hotel über dem Gare de
l'Est, nur weil er vorher noch nie in einem Bahnhofsgebäude gewohnt hatte.
(Hôtel du Panthéon, 19, pl. du Panthéon, Tél 0143 54 32 95, C/D9)
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Reisebericht
Seine Wohnung im Hotel Lutetia am Boulevard Raspail, Ecke
Rue de Sèvres, im Mittelpunkt des VI. Arrondissements, war dagegen von anderem Zuschnitt.
(Hôtel Lutetia, 45, bd. Raspail, Tél. 01 45 49 68 68)
Das Hotel ist leider ziemlich teuer; das ist fast das einzige,
das dagegen spricht. In dem Hanser-Buch Hotel Lutetia nennt
Willi Jasper das Hotel im Untertitel Ein deutsches Exil in Paris,
das ist eine lange, nicht immer erfreuliche Geschichte. Schon vor
dem Zweiten Weltkrieg hatten die Deutschen zu dem Hotel mit der
imposanten Belle-Epoque-Fassade eine besondere Zuneigung. Es
ist nicht die verspielte, von Schmuckelemente überladene BelleEpoque, sondern die mächtige, fast burgenartige. Würde es noch
eines Beweises bedürfen, daß die Belle-Epoque, wie der Jugendstil
übrigens auch, wandlungsfähig war, das Hotel Lutetia liefert ihn.
Vor 1933 war das Hotel ein Treffpunkt der Intellektuellen, Henri
Matisse, André Gide, Joséphine Baker, General de Gaulle, der im
Lutetia seine Hochzeitsnacht verbrachte. Nach 1933 wurde das
Hotel Stammquartier für deutsche Exilanten, die es sich leisten
konnten. Klaus und Heinrich Mann, Egon Erwin Kisch, Willy
Brandt, Ernst Toller und viele andere. Weil auch in Deutschland
bekannt war, daß Lutetia von Exilanten bevorzugt wurde, quartierte sich auch der deutsche Geheimdienst, die Gestapo, hier ein.
1940 schlug Admiral Canaris hier die Zelte seiner Abwehrzentrale
auf. Man muß nicht unbedingt den Gedanken Jaspers folgen, der
in der Arbeit von Canaris und Ernst Jünger etwa den Versuch
sieht, „den Nationalsozialismus in Paris salonfähig zu machen“.
Das Hotel war jedenfalls offen für die Intellektuellen aller Richtungen. Nach der Befreiung von Paris trafen sich in den Salons des
Hotels Überlebende aus den Konzentrationslagern. Zu allen Zeiten
war das Hotel eine Signalstation des Geistes.
Über die sehr modische Dekoration der Hotelhalle von heute
läßt sich streiten. Sie ist etwas glatt und geschmäcklerisch geraten.
Für sie spricht immerhin, daß sie originell ist, eine Eigenschaft,
nach der man in anderen Pariser Hotels lange suchen muß. In der
geschichtsträchtigen Halle zu sitzen, Kaffee oder Tee oder den Apéretiv zu „nehmen“, dabei geruhsam den verhaltenen, stets nobel
gedämpften Betrieb zu beobachten, ist einer der interessantesten
Momente, die Paris zu bieten hat. Nein, das Lutetia ist immer noch
kein Touristenhotel. Der gepfefferte Zimmerpreis erscheint fast als
Schutzgebühr, eine kluge Überlegung der Inhaber. Seitdem er das
Lutetia kennt, verfolgt ihn der Gedanke, in so einem Hotel seinen
Lebensabend zu verbringen, – wenn er es sich leisten kann. Für
einen Café au lait in der Halle des Lutetia lohnt sich fast eine ParisReise.
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Adressbuch
... Heute wird es von vielen Touristen besucht. Um
Plätze muß man kämpfen, und es hat viel von seinem Zauber verloren. Aber man muß es erlebt
haben. Früher befand sich dort, wo heute das
Angélina an der Rue de Rivoli liegt, das berühmte
Rumpelmayer, das ebenfalls literarische Spuren
hinterlassen hat. Als Spezialität gilt noch immer
die Trinkschokolade, die über einen komplizierten, altmodischen Apparat tatsächlich von einem
schmelzenden Schokoladenriegel in die Tasse
tropft. Früher gab es für das Trinken der Schokolade gottweißwelche medizinische Begründungen, sie beruhige, sei Nervennahrung, Anregung,
selbst als Aphrodisiakum wurde sie (wie schlichtweg jede Speise) gehandelt. Heute wissen wir,
daß der dickflüssige Sud der Schokolade nur
Sünde ist. Gerade darum sollte man sie sich einmal leisten...
... Zwei Restaurants, in denen man ein hervorragendes Essen in einem interessanten historischen
Abiente erleben kann.
Das erste ist das Le Jules Verne auf der zweiten
Etage des Eiffelturms. Bestimmt bietet es die
schönste Aussicht auf Paris, und das Essen ist gut
– man staunt fast darüber, weil das Essen in vielen Aussichtsrestaurants jämmerlich schlecht und
teuer ist. Dort zu sitzen und zu speisen, Paris zu
seinen Füßen, hat etwas unwirklich Traumhaftes.
Ich erinnere mich vor allem an ein Bild von außen:
In einer tiefschwarzen Nacht stand ich vor dem
Eiffelturm und sah nach oben zu den strahlend
hell erleuchteten Restaurant, wo man wie in
einem Schattenbild die wehenden Schwalbenschwänze der Kellnerfräcke sah; silberne Platten
und Champagner wurden aufgetragen. Das andere Restauant, in dem Raum und Essen sich harmonisch ergänzen, ist das Grand Véfour am nörd-
lichen Ende des Palais Royal. Wie man weiß,
wurde das Palais Royal als eine Spielerei des
Herzogs von Orléans zwischen 1781 und 1784
geplant und erbaut. Überflüssig war die prachtvolle Anlage, die ursprünglich als Verwaltungszentrum von Paris gedacht war, von Anfang an.
Als Verwaltngszentrum waren das Palais und
seine Nebenbauten nie in Betrieb, eher als Vergnügungszentrum. Schon während der Revolution hatte sich dort ein Bordell – und Restaurantviertel installiert, dessen nicht umstrittener
Höhepunkt das Restaurant Le Grand Véfour war.
Künstler und balzacsche Banquiers mit zolaschen
Dirnen waren hier Stammgäste. Die Räume sind
mit einer unvorstellbaren plüschigen Pracht ausgestattet. Neopompejanisches aus der Frühzeit
des 19. Jahrhunderts. Nach dem zweiten Weltkrieg, 1948, erhielt das Restauant einen neuen
Besitzer, der das inzwischen etwas heruntergekommene Lokal wieder sternenwüdig machte.
Jean Cocteau entwarf die Menu-Karten, die alte,
rheumakranke Colette war hier die Königin. 1983
brannte das Restaurnt nach einem terroristischen
Anschlag nahezu völlig aus. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, daß diejenigen, die das
Gebäude später erwarben und renovierten, auch
die waren, die vorher die Bomben geworfen hatten. Heute ist das Restaurant zwar wieder im alten
Glanz eröffnet, aber der Schatten des Anschlags
liegt immer noch über dem Haus.
Ich war vor dem Brand zu einem Essen dort eingeladen. Es war ein unvergeßliches Erlebnis. Die
roten Samtbänke tragen Schilder mit den Namen
der einstigen Stammgäste, die hier früher gesessen haben. Ob sie Schilder die Wahrheit verraten,
weiß ich nicht. Ich speiste jedenfalls auf dem Platz
mit der "Reservierung" für Victor Hugo...
Le Train Bleu im Gare de Lyon ist ein Restaurant,
das vorwiegend durch die Einrichtung seiner
Räume besticht, weniger durch das Essen. Wie so
viele großartige Gebäude in Paris ist es eine
Hinterlassenschaft der Weltausstellung von 1900.
Der Train Bleu ist, genaugenommen, nichts anderes als ein Bahnhofsrestaurant, wenngleich das
prachvollste auf der Welt. Warum es „in seiner
Zeit“ so pompös eingerichtet worden ist, hat seinen Grund darin, daß vom Gare de Lyon aus einst,
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vor der Fliegerei, die lebenslustige Gesellschaft
von Paris im Winter und im Sommer für ein paar
Wochen oder auch nur für ein paar Tage an die
Côte d'Azur fuhr und sich vorher mit einem
Souper im Train Bleu von ihren Freunden verabschiedete. Der Schlafwagen brachte sie dann nach
Nizza oder Cannes oder Antibes. Die Geschichte
des Bahnhofs und eben dieser Reise in den Süden
kann man auf den riesigen Fresken der Schalterhalle studieren. Ich habe schon oft Freunden in
Paris den Train Bleu gezeigt und gleichsam vorgeführt. Alle waren begeistert, ...
... Das Restaurant Le Proscope an der Rue
l'Ancienne Comédie, gegründet 1689, wie es im
Wirtshauswappen heißt, nennt sich selbst „das
älteste der Welt“, wobei man allerdings nicht
genau weiß, worauf sich dieses „älteste“ bezieht.
Restaurant, Café - beides ist umstritten. Neuerdings hat man sich darauf geeinigt, das Procope
sei das älteste Eiscafé von Paris, obwohl mir das
Eis dort nie als etwas besonderes aufgefallen ist.
Es war jedenfalls das Stammlokal Voltaires. Er
konnte hier arbeiten – sein mächtiger Schreibtisch steht heute im Restaurant als Museumsstück
– und dabei mit einem Auge auf die Alte Komödie
schielen, die genau gegenüber lag. Wenn sein dort
gespieltes Stück dem Ende zuging, gab man ihm
ein Zeichen, so daß er rechtzeitig auf die Bühne
eilen konnte, um den Applaus entgegenzunehmen. Noch heute übrigens sind im Sommer die
Plätze auf den Balkon mit Blick auf das Getriebe
von Saint-Germain die begehrtesten. Abgesehen
von dem Schreibtisch und Voltaires Stuhl – auf
den ich mich mal heimlich gesetzt habe – enthält
die Einrichtung des ungewöhnlich großen, vielräumigen Lokals nicht viele originale Stücke...
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... Meine Sympathie für die Closerie des Lilas am
Boulevard Montparnasse wechselt von Besuch zu
Besuch. Sowohl die Qualität des Essens als seltsamerweise auch die Atmosphäre wechselt, was
gewiß schon einen Minuspunkt bedeutet. Die
Closerie, ein einstiges Ballhaus, das seinen Namen des vor ihr stehenden Fliederbäumen verdankt – die lila Farbe setzt sich in den Smokingjacken der Kellner fort –, gehört wie nahezu alle
Pariser Restaurants von Geschichte zu den literarischen Stammcafés. Hier saßen Théophile de
Banville, Émile Zola, Paul Cézanne und die unzertrennlichen Brüder Goncourt, der Versoffene
Verlaine und später Hemingway...
... Bei Lucas Carton gegenüber der Église de la
Madeleine fällt mir als erstes Pariser Tempel der
Kochkunst ein. Gegründet wurde das Restaurant
1732. Es gab Hoch-Zeiten und Niedergänge. Die
Pariser haben dem Lokal zum Beispiel lange nicht
vergessen, daß es während des Zweiten Weltkrieges das Lieblingsrestaurant der Deutschen
Besatzungsoffiziere war. Der heutige Besitzer jedoch, Alain Senderens, führt das Restaurant und
seine Küche so souverän, daß irgendwelche pseudopolitische Zweifel an der Integrität des Hauses
nicht aufkommen. Senderens ist wahrscheinlich
der zur Zeit beste Koch in Frankreich. Wie kein
anderer verkörpert er den intellektuellen Anspruch französischer Küchenkunst...
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Adressbuch
Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. Wir
waren noch Studenten, frisch verliebt, hatten kein
Geld und verbrachten ein Wochenende in Paris,
der Stadt der Liebe.
Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dich zum Essen
einzuladen. Es sollte romantisch sein und klein
und auch nicht zu viel kosten. So viele Wünsche
auf einmal sind schwer zu erfüllen, aber nicht in
Paris.
Wir hatten den Vormittag auf dem Père Lachaise
verbracht, dem Friedhof der Berühmtheiten. Du
wolltest zu Chopin und Bizet und ich zu Jim
Morrison und Oskar Wilde. Wie Abenteurer sind
wir über die riesige Anlage gezogen und haben
Inschriften entziffert. Natürlich hatten wir keine
Karte dabei, so war es doch ein wenig mühevoll,
die gewünschten Gräber zu finden.
Mittags aßen wir Baguette und Käse und tranken
Wein. Wir hatten stilvoll in einem Supermarkt
eingekauft und saßen nun unter den Bäumen im
Parc des Buttes Chaumont. Erstaunlich, dass ich
mich noch an die Namen erinnern kann.
Auf merkwürdigen Wegen führtest Du mich dann
zum Montmatre und wir besichtigten die Sacrè
Coeur. Langsam stellte sich nun wirklich der
Hunger ein.
Ein Freund hatte uns als Geheimtipp ein
Restaurant hier in der Nähe verraten. Gut und
günstig und wirklich romantisch. Naja, allein die
Suche war ein Erlebnis wert.
Links von Sacrè Coeur die Rue du CardinalGuibert entlang bis links die Rue St.-Rustique
kommt. Hier hinein und bis zum Ende durch.
Dort wieder links in die Rue Poulbot. Sie endet in
einem kleinen Hinterhof mit ein paar Bäumen in
der Mitte. Zwischen den Hauswänden und den
Bäumen waren Lichterketten und Girlanden
gespannt und darunter standen kleine und große
Tische mit Klappstühlen. Die bunten Kerzen
gaben das Ihrige und vor uns lag wohl das schönste Restaurant (Chez la Mère Justine) von Paris .
Gut vielleicht erscheint es auch nur Verliebten als
das schönste aber romantisch war es auf jeden
Fall.
Wir setzten uns an einen Ecktisch unter einen
Ahornbaum und ein kleiner Junge brachte uns die
Karte. Unser Freund hatte nicht gelogen, es war
günstig. Einen Salat für 15 FF, Brot für 5FF und
das ganze Menü bestehend aus Salat, Suppe, Brot,
ein Fleischgericht, Käse und Süßspeise gab es für
90 FF. Das erscheint viel, ist aber für Pariser Verhältnisse recht wenig.
Zu den Gäten zählten Künstler und Studenten.
Ein buntes Völkchen, das lachte und ohne Unterlass redete. Das Essen war wirklich gut und später
erfuhren wir, dass die Mutter unseres kleinen
Kellners selbst kochte und den Betrieb ihrerseits
von ihrem Vater übernommen hatte, der ihn wiederum von seiner Mutter erbte, die dem Restaurant seinen Namen gab.
Es war ein wirklich gelungener Abend.
Das Olympia – an den großen Boulevards gelegen,
auf dem Teilstück zwischen Oper und St-Madeleine – sieht von außen wie ein heruntergekommenes Kino aus. Innen erreicht man über einen
breiten, immer breiter werdenden Gang den
großen Saal, das Allerheiligste französischer
Unterhaltungsmusik. An dieser Stelle müßte man
über die merkwürdig zurückgebliebene französische Musik reden. Jüngere Leute, Nicht-Franzosen, können über französische Musik nur spöttisch lächeln. Die Schlager klingen wie aus den
sechziger Jahren. Selbst die Musik-Fernsehsender spielen Oldies, Oldies, immer nur Oldies
und selbstverständlich französisch gesungen. Diese Verweigerung der Internationalität, die inzwischen durch die Musik in der ganzen Welt üblich
geworden, ist eine französische Eigenart, die der
Fremde nur schwer versteht. Die Franzosen indes,
die jungen und die alten, stört es überhaupt nicht.
Allein dieses trotzige Festhalten an den alten
Liedern und Sängern macht diese pseudotraditionelle Rückwärtswendung zu einer liebenswerten
Eigenschaft. Das Olympia spielt dabei eine nicht
zu überschätzende Rolle. Wer einStar werden will
in Frankreich, muß zuerst im Olympia auftreten:
der Auftritt dort hat eine adelnde Wirkung. Noch
wichtiger ist das Olympia für die älteren Künstler,
die ein Comeback versuchen. Im Olympia kann
man endgültig verabschiedet oder wieder zu den
Sternen erhoben werden.
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Graham Greene
Der Mann, der den
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Essay
Es war nicht so sehr der Diebstahl des
Eiffelturms, der mir Schwierigkeiten bereitete; es
war die Frage, wie ich ihn zurückbringen sollte,
bevor ihn irgendwer vermißte. Die ganze Sache
war, da muß ich mich loben, hervorragend eingefädelt. Sie können sich gewiß vorstellen, was alles
dafür erforderlich war – eine ganze Flotte riesiger
Lastwagen, um den Turm zu einem jeder friedlichen, flachen Felder zu transportieren, die man
auf dem Weg nach Chantilly sieht. Dort konnte
der Turm bequem auf der Seite kiegen.
Auf dem Hinweg war an diesem verhangenen Herbstmorgen sehr wenig Verkehr gewesen,
und das bißchen konnte man nur als dürftig bezeichnen. Niemand, der versuchte, meine einhundertundzwei sechrädrige Lastwagen zu überholen, merkte, daß sie durch die Last des Turms wie
Perlen an einer Kette miteinander verbunden
waren. Die Privatwagen scherten für einen Moment aus und probierten vorbeizukommen, doch
sobald die Fahrer der Fiats und Renaults dann
Lastwagen um Lastwagen sahen, gaben sie einfach auf und schlossen sich der Prozession an. Auf
der anderen Seite bescherte ich den Autos, die
nach Paris hineinwollten, eine wunderbar freie
Fahrt; für sie war die lange Strecke von Chantilly
fast eine Einbahnstraße. Sie flitzten vorbei und
hatten keine Zeit zu bemerken, daß der Turm so
über den einzelnen Lastwagen lag, daß es praktisch keinelei Zwischenräume gab: der Turm fuhr
in einer Art Schlafwagen hinaus, der Hunderte
von Metern lang war. Ich empfinde eine starke
Zuneigung zu dem Turm, und es freute mich, ihn
nach all den Jahren des Krieges, des Nebels, Regens und Radars so friedvoll zu sehen. Am ersten
Tag, an dem er da ruhte, lief ich um ihn herum,
betastete gelegentlich eine Strebe: dem vierten
Stock schien ein wenig unbehaglich zu sein, wo er
einen seichten und modrigen Nebenfluß der Seine
überspannte, und ich ließ ihn anheben. Dann fuhr
ich zurück zum Originalstandplatz – ich
war immer noch nervös, daß irgend jemand etwas merken könnte. Die großen
Betonklötze standen da – mit nichts obendrauf.
Sie erinnerten dermaßen an Grabstätten, daß bereits jemand ein Blumengewinde zu Ehren der
Helden der Résistance niedergelegt hatte. Einmal
fuhr ein Taxi vor, das den letzten Zugvogel des
Tourismus enthielt, der hier noch einmal aussteigen wollte, bevor er den Atlantik westwärts überquerte, um dem nahenden Winter zu entkommen.
Er hatte ein Mädchen bei sich, und er schwankte
Eiffelturm stahl
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ältestes Restaurant in Paris, 1582
La Tour dÀrgent, 15-17, Quai de la Tournelle
Tél 0142 69 56 25, F/G8
Graham Greene
Der Mann, der den Eiffelturm stahl
ein wenig beim Gehen. Er bücke sich, um die
Blumen anzuschauen und als er sich wieder aufrichtete, lag ein rosiger Schimmer auf seinen gutrasierten, gepuderten Wangen. „´s ´is ´ne Gedenkstätte“, sagte er. „Comment?“ fragte der
Taxifahrer. Das Mädchen warf ein : „Chester, du
sagtest, wir können hier zu Mittag essen.“ „Da ist
kein Turm“, erwiderte der Mann. „Comment?“
„Was ich sagen will, ist“, erklärte er und schlenkerte mit den Armen, um seine Worte zu unterstreichen, „Sie haben uns zm falschen Platz gebracht. „Er gab sich sogar richtig Mühe: „Ici n´est
pas la Tour Eiffel.“ „Oui. Ici.“ „Non. Pas du tout.
Ici il n´est pas possible de manger.“ Der Fahrer
stieg aus und sah sich um. Ich spürte wieder Nervosität in mir aufsteigen. Es war ja möglich, daß
ihm die Abwesenheit des Turmes auffiel. Doch er
stieg wieder in sein Taxi und wandte sich traurig
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an mich. „Sie ändern immerzu die Straßennamen“, beklagte er sich. Ich beugte mich vertraulich zu ihm runter. „Sie wollen doch nur ein
Mittagessen“, sagte ich. „Bringen Sie sie zum Tour
d´Argent.“ Sie fuhren recht fröhlich dvon, und
damit war diese Gefahr gebannt.
Natürlich bestand immer das Risiko, daß die
Belegschaft das öffentliche Interesse auf sich ziehen könnte, aber das hatte ich berücksichtigt. Die
Arbeiter und Angestellten wurden wöchentlich
entlohnt, und welcher Mann oder Frau wäre wohl
so töricht zuzugeben, daß der Arbeitsplatz verschwunden war, bis sie Woche wieder vorbei und
das Geld verdient war? Die Cafés in der Nachbarschaft wurden zur Zufluchtsstätte für die
Belegschaft, allerdings mochte niemand mit
einem Kollengen an einem Tisch sitzen, schon um
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Essay
unangenehmen Gespräche aus dem Weg zu
gehen. Auf einen Quadratkilometer kam, wie ich
nachzählen konnte, eine Uniformmütze; jeder
Mann saß seine Dienstzeit zufrieden in einem
Bistro ab, trank – je nach Höhe seines Gehalts –
ein Bier oder einen Pastis und stand pünktlich von
seinem Tisch auf, sobald die Feierabendzeit angebrochen war. Ich glaube nicht, daß sie auch nur
verwirrt waren durch das Verschwinden des
Turms. Man konnte ihn offenbar ebenso leicht
vergessen wie die Einkommensteuer. Besser, gar
nicht daran zu denken; wenn man darüber nachdächte, könnte schließlich irgendwer von einem
erwaren, daß man etwas unternähme.
Die Touristen blieben natürlich die Hauptgefahr. Nachtflieger glauben an einen tiefliegenden Nebel, und das Luftfahrtministerium übermittelte dem Außenministerium mit der „Bitte um
Stellungnahme“ etliche Klagen über Radarstörungen – eine neue russiche Waffe im kalten Krieg.
Unter Fremdenführern und Taxifahreren sprach
sich aber schnell herum, es sei einfacher und
weniger kompliziert, Fremde, die nach dem Eiffelturm fragten, zum Tour d´Argent zu fahren. Das
Management dort nahm ihnen nicht die Illusionen, und der Blick war an diesen Herbsttagen
ebenso gut, und sie waren sehr glücklich, sich für
eine Menge Geld pro Person in das Gästebuch einzutragen. Ich pflegte vorbeizuschauen und ihnen
zuzuhören. „Ich dachte immer, er sei irgendwie
mehr aus Stahl“, sagte einer von ihnen. „Ich
glaubte, man könnte durch ihn hindurchsehen.“
Ich erklärte ihm, wie sehr das doch auf das Unternehmen zutreffe, in dem er sich eben befände. Ein
Urlaub kann niemals ewig währen, und als ich
meinen kleinen Morgenrundgang machte, beschloß ich, daß der Turm wieder in Betrieb gesetzt
werden müsse, bevor die dort Beschäftigten auf
ihren Lohn verzichten müßten.
bei einem Kostümverleiher Polizeiuniformen,
Uniformen der Garde mobile, der Garde républicaine und der Académie française ausgeliehen.
Die Ablkenkungsmanöver umfaßten eine Versammlung der Poujadisten, eine Revolte der
Algerier und die Trauerrede für einen obskuren
Theaterkritiker, die ein Freund von mir hielt, der
sich als Kulturminister verkleidet hatte. Ich sage
„verkleidet“, aber natürlich bestand für ihn nicht
einmal die Notwendigkeit, auch nur seinen
Namen zu ändern, geschweige denn sein Gesicht,
da sich ohnehin keiner erinnerte, wer dieser
Minister in Monsieur Mollets Kabinett war. Die
Touristen hatten das letzte Wort, und eigenartigerweise war es derselbe Amerikaner, der mit
demselben Mädchen in einem Taxi ankam,
während ich da am Fuß meines geliebten Turms
stand, der im Morgendunst Pirouetten zu drehen
schien. Er schaute sich schnell um und sagte: „´s
nich der Eiffelturm.“ „Comment?“ „Oh, Chester“,
sagte das Mädchen, „wo haben sie uns jetzt wieder
hingebracht? Sie machen aber auch gar nichts
richtig. Ich bin so hungrig, Chester. Ich habe eben
von der Sole Délice geträumt, die wir gegessen
haben. „Ich sagte zum Fahrer: „Sie wollen zum
Tour d´Argent“, und beobachtete, wie sie wegdüsten. Der Kranz zu Ehren der Helden der
Résistance war verwelkt, aber ich steckte eine der
vergilbten Blüten in mein Knopfloch und winkte
dem Turm ein Lebewohl zu. Ich hätte in
Versuchung geraten können, ihn noch einmal zu
stehlen.
Ich konnte nur hoffen, daß er im Lauf der
Zeit noch einmal jemanden wie mich finden
würde, der ihm ein wenig Landluft gönnte. Ich
versichere ihm, daß es dabei kaum ein Risiko gibt.
Niemand in Paris könnte zugeben, daß der Turm
fünf Tage lang unbemerkt verschwunden war –
genausowenig wie ein Liebhaber sich selbst eingestehen könnte, daß ihm die Abwesenheit seiner
Geliebten nicht aufgefallen sei. Dennoch war das
Zurückbringen des Turms eine heikle Angelegenheit und erforderte eine Menge Verkehrsumleitungen. Um das zu bewerkstelligen, hatte ich
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Autoren
Graham Greene, 2. Oktober 1904 in
Berkhampstead geboren. Nach einem Studium im Balliol College in Oxford begann er
eine journalistische Laufbahn bei der Provinzzeitung Nottingham Journal. Später trat
er in die Nachrichtenredaktion der Times ein
und wurde zu Beginn des Krieges Feuilletonredakteur der Wochenzeitung Spectator.
Schon in seinen ersten Büchern kündigten
sich die Motive seines Gesamtwerks an:
Weltliche Macht und göttliche Gnade, Gut
und Böse, Verbrechen und Strafe sind die
polaren Gegensätze, um die seine Bücher
immer wieder kreisen.
Peter Handke, am 6. Dezember 1942
in Griffen/Kärnten geboren. Erste literarische Texte für die Internatszeitschrift
„Fackel“ im katholischen Knabeninternat
Tanzenberg. Ab 1961 Jurastudium in Graz.
Während dieser Zeit Anschluß an die Schriftstellergruppe um das „Forum Stadtpark“ und
Publikationen in der Zeitschrift „manuskripte“. 1969 Gründungsmitglied des Frankfurter
„Verlags der Autorer“. 1973-77 Mitglied der
Grazer Autorenversammlung. Lebt zunächst
in Graz, dann in Düsseldorf, in den USA, und
ab 1979 längere Zeit in Salzburg.
Sascha Schmidt, am 15. August 1978
in Offenbach am Main geboren. Er machte
1998 in Bad Kreuznach Abitur und studiert
seit 1999 in Wiesbaden an der Fachhochschule Medienwirtschaft. In seiner Freizeit ist
er im Vorstand einer regionalen bündischen
Jugendbewegung tätig und schreibt Kurzgeschichten und Gedichte.
Hans Scherer, am 5. März 1938 in
Berlin geboren. Er war Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
und zuletzt Kulturkorrespondent in Berlin.
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Reiseservice
...im Internet
http://www.paris-touristoffice.com
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...in Deutschland
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127, av. des Champs-Elysées
Tél. 08 36 68 31 12
Fax 01 49 52 53 00
Métro: Charles de Gaulle-Etoile
Tgl. 9-20 Uhr
Informationen über Events, Ausflüge, Stadtrundfahrten; Stadtpläne, Hotel- und Restaurantverzeichnisse und Zimmerreservierungen
(ab Zwei-Sterne-Hotels). Filialen in Gare du
Nord und Gare de Lyon (Mo-Sa 8-20 Uhr), am
Eiffelturm (Mai-Sept. 11-18 Uhr) und im
Carrousel du Louvre (10-19 Uhr).
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Lexikon
Paris, [frz. par’i] Hauptstadt und größte Stadt
Frankreichs, zugleich Département („Ville de
Paris“,gegliedert in20Arrondissements),105 km2,
(1986) 2,128 Mio. Ew., Agglomeration (1986)
10,25 Mio Ew.; liegt 34 m über dem Meeresspiegel beiderseits der Seine im Zentrum des
Pariser Beckens, umgeben von Plateaus (150 bis
200 m ü. M.), deren große Wälder (Forêts de
Montmorency, St. Germain, Marly, Rambouillet,
Fontainebleau, Sénart u.a.) als Erholungsgebiete
dienen. Paris bildet mit den Dép. Seine-SaintDenis, Val-de-Marne, Val-d'Oise, Essone, Hautsde-Seine, Yvelines, Seine-et-Marne die Region
Île-de-France.
Geschichte. Das gallische oppidum Lutetia
Parisiorum auf der Île de la Cité wurde 52 v. Chr.
von den Römern, 486 vom Frankenkönig Chlodwig erobert und 508 Hauptstadt des Fränkischen
Reiches. Unter den Karolingern sank es wieder
zum Grafensitz ab, mit den Kapetingern wurde
die Stadt Ende des 10 Jh. Mittelpunkt des französischen Reiches. Sie dehnte sich auf den beiden
Seine-Ufern aus, auf dem rechten die „Ville“ mit
Händlern und Handwerkern, auf dem linken seit
dem 12. Jh. die Universität (Sorbonne). Ansätze
zur städtischen Selbstverwaltung gab es im 13.
Jh., doch erst im Hundertjährigen Krieg erlangte
der Vorstand der Kaufmannsgilde (prévôt des
marchands) größeren Einfluß. 1420-36 war Paris
in englischer Hand. In den Religionskriegen hatte
die Stadt, deren Bürgerschaft zu der kath. Partei
hielt, eine Schlüsselstellung; 1572 war Paris
Schauplatz der Bartholomäusnacht; 1648 brach
hier der Aufstand der Fronde aus. Mit dem Sturm
auf die Bastille begann 1789 die französische
Revolution; gleichzeitig konstituierte sich die um
bürgerliche Mietglieder erweiterte Stadtregierung
zur Kommune, die seit 1792 von Jakobinern beherrscht wurde (1794 aufgelöst). Die zentralistischen Verwaltungsreformen des napoleon. Konsulats und des Empires stärkten die Stellung von
Paris als Hauptstadt. In den Freiheitskriegen
wurde die Stadt 1814/15 von den Verbündeten
eingenommen. Im Deutsch-Frz. Krieg kapitulierte Paris am 18.1.1871, erhob sich aber im Aufstand
der Kommune. Im 1. Weltkrieg durch die Marneschlacht gerettet, war Paris von 1940 bis 1944 von
deutschen Truppen besetzt. Der deutsche Stadtkommandant D. von Choltitz verhinderte die von
Hitler beabsichtigte Zerstörung.
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