Frédéric Chopin: „Paris ist alles, was du willst!“
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Frédéric Chopin: „Paris ist alles, was du willst!“
layout5 02.05.2003 16:47 Uhr Seite 1 Das literarische Reisemagazin — Thema: Paris — eine Beilage der Süddeutschen Zeitung — Heft 1, November 2000 mosaik Paris Frédéric Chopin: „Paris ist alles, was du willst!“ layout5 02.05.2003 16:47 Uhr Seite 2 Roman 08 Peter Handke Die Stunde der wahren Empfindungen Die Schilderung zweier Tage im Leben des Gregor Keuschnig Reisebericht 16 Hans Scherer An Heines Grab Eine Besichtigung des Cimetière de Montmartre 20 Hans Scherer Hotels, die einen Umweg lohnen Informationen zu Hotels in Paris Adressbuch 28 Hans Scherer 31 Sascha Schmidt Assoziationen zu Restaurants, Cafés, Theater in Paris 2 11/00 mosaik layout5 02.05.2003 16:47 Uhr Seite 3 Inhalt Essay 32 Graham Greene Der Mann, der den Eiffelturm stahl Der Transport des Eiffelturms aufs Land und wieder zurück Autoren 36 Biographie der Autoren Reiseservice 38 Internetadressen zum Thema Paris Adressen von Touristeninformationszentren Lexikon 40 geschichtliche Zeittafel, Informationen zur Wirtschaft, kulturelle Höhepunkte Stadtplan 41 und ein Plan für öffentliche Verkehrsmittel 11/00 mosaik 3 layout5 02.05.2003 16:47 Uhr Seite 4 Blick auf Sacrè Coeur, Montmartre layout5 02.05.2003 16:47 Uhr Seite 5 layout5 02.05.2003 16:47 Uhr Seite 6 layout5 02.05.2003 16:47 Uhr Seite 7 Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, Sie halten die erste Ausgabe von mosaik in der Hand, das neue literarische Reisemagazin. Sie finden es künftig einmal im Monat in dieser Zeitung. mosaik will Sie in jeder Ausgabe in Form von Romanen, Reiseberichten, Geschichten und Essays über ein anderes Gebiet oder eine andere Stadt informieren. Besonders in den Romanen erlangen Sie Kenntnisse auf eine persönliche Art und Weise. Ihnen werden neben der eigentlichen Handlung sehr gute Beschreibungen der Schauplätze geboten, so dass Sie auf den Wegen der Literatur eine Stadt oder ein bestimmtes Gebiet besichtigen können. Neben guten Beschreibungen bekommen Sie grundlegende Informationen zu Hotels und Restaurants in Form von Reiseberichten. Reisetipps werden Ihnen außerdem über Adressen von Touristeninformationszentren im In- und Ausland und über Adressen von ausgesuchte Internetseiten geboten. Dort können Sie sich auch über aktuelle Themen in der jeweiligen Stadt oder dem jeweiligen Gebiet informieren. Das Thema dieser Ausgabe ist die Stadt Paris. Sie werden unter anderem den Protagonisten Keuschnig in dem Roman „Die Stunde der wahren Empfindungen“ von Peter Handke einen Tag lang durch Paris begleiten können. Hans Scherer berichtet über seinen Besuch auf dem Cimetière de Montmartre. Sascha Schmidt erzählt, welche Assoziationen er hatte, als er in sein Adressbuch schaute und eine Adresse von einem Restaurant in Paris fand, in dem er vor Jahren mal war. Dazu auf der letzten Seite ein Stadt- und Metroplan, damit Sie den Spuren der Literatur folgen können. 11/00 mosaik 7 layout5 02.05.2003 16:47 Uhr Seite 8 layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 9 Roman Peter Handke Die Stunde der wahren Empfindungen Diese Schilderung zweier Tage im Leben des Gregor Keuschnig, Pressereferent der österreichischen Botschaft in Paris, setzt ein mit einem langen Traum, in dem Keuschnig „jemanden getötet hatte“; dieser Traum bewirkt bei ihm das Gefühl, er gehöre „nicht mehr dazu“. Aufgrund dieses Gefühls nimmt Keuschnig alle Ereignisse und Verhaltensweisen als eingespielte Konventionen wahr, auf die er nur mit Ekel und Überdruß reagieren kann. Erst als er in der Stunde der wahren Empfindungen „drei Wunderdinge“ sieht – ein Kastanienblatt, ein Stück von einem Taschenspiegel und eine Kinderzopfspange, eröffnet sich ihm die „Idee eines Geheimnisses“, die er später, als sein Kind von einem Spielplatz entführt worden zu sein scheint, auch für anwendbar hält: „Indem ihm die Welt geheimnisvoll wurde, öffnete sie sich und konnte zurückerobert werden.“ layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 10 E r verhielt sich so unverfänglich wie möglich: kaufte zum ersten Mal Blumen für die Freundin. Ein Beobachter würde aufhören, ihn auffällig zu finden, wenn er ihn in dieses Blumengeschäft treten sähe. Er war nur einer unter vielen, beschäftigt mit Alltäglichem, so sorglos, daß er Blumen kaufte. Wie jemand ganz Beliebiger stieg er mit dem Blumenstrauß den Montmartre hinauf. In den von einer Markthalle zur anderen wechselnden Gerüche der Rue Lepic wurde er undefinierbar: Fische, Käse, dann der Flanellgeruch von Anzügen, die in der Sonne standen, und unvermutet zog ihn der Geruch von Weißbrot aus der offenen Tür einer Bäckerei in die Erinnerung hinein, nicht in die eigene, sondern eine neue erweiterte und verbesserte, bei der das Flächige vor ihm räumlich wurde. Niemand hier schien unentschlossen, von sich selber belastet: zwischen diesen Leuten, die er nie kennen würde, fühlte er sich aufgenommen. Penibel streifte er sich vor der Wohnung der Freundin die Schuhe ab, wobei er schadenfroh lachte – gegen wen? – Aber er von innen die sich nähernden Schritte hörte, wußte er nicht mehr wo hinschauen bei dem Gedanken, daß es gleich wie immer wäre, schamlos, und daß sie einander erkennend anlächeln würden. Noch war es nicht zu spät, er konnte schnell die Treppe weiter hinaufsteigen. Bewegungslos blieb Keuschnig stehen Fuß an Fuß, bis wie üblich die Tür aufging – nur daß die Lächerlichkeit ihn jetzt fast tötete. Er ließ sich nichts anmerken. Im ersten Moment war verwirrt gewesen, daß Beatrice ihn wirklich sofort erkannte. Plötzlich hatte er Angst, sie das nächste Mal nicht wiederzuerkennen, und versuchte, sich die Einzelheiten ihres Gesichts einzuprägen, oder ein besonderes Merkmal. In der Küche tranken sie Kaffee, und er schaute ihr zu wie sie die Crème Caramel aus dem Kühlschrank nahm, damit sie nicht so kalt wäre, wenn die Kinder dann nach Hause kämen. Sie setzte sich wirklich ihm gegenüber, außer Reichweite, ganz wie er es sich gewünscht hatte, und spitzte sorgfältig stumpfgewordene Stifte, Bleistifte für das ältere Kind, Farbstifte für das Kind, das noch in die École maternelle ging. Indem er ihr zuschaute, glückte es ihm, sich allmählich in den Anblick zu vertiefen. Er hörte, wie vor dem geöffneten Fenster in der stillen Straße das Wasser im Rinnstein floß. Es gluckste an manchen herausragenden Steinen, und je länger er zuhörte, desto weiter erstreckte sich die Umgebung hin, und das fließende Wasser wurde zu jenem Bach, dessen glucksende Wellen eine fast vergessene Begebenheit erzählten. Sie verließen gemeinsam die Wohnung. Sie nahm den Aufzug, er ging die Treppe hinunter, auf der Straße trafen sie sich wieder und trennten sich zugleich, Beatrice mit einem ernsten, aber unbekümmerten Gesicht, ohne Worte, als sei das weitere schon geregelt. Bis dann, bis morgen. Und heute? Er würde zur Arbeit zurückkehren; um sechs im Elyséepalast an einer Pressekonferenz zum Regierungsprogramm teilnehmen; um neun bei sich zu Hause mit einem österreichischen Schriftsteller, der gerade Paris wohnte, zu Abend essen (eine der in seinem Budget vorgesehene sit- layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 11 Roman zenden Veranstaltungen): und nachher wohl müde zum traumlosen Schlafen. Ein volles Programm, dachte er dankbar, kein freier Moment, alles geregelt bis zum Ausschalten der Nachttischlampe gegen Mitternacht. Zumindest heute war jede Minute schon vorgesehen; keine gefährlichen überflüssigen Bewegungen; die Wonnen eines vollen Terminkalenders – Und wirklich kam er sich bei diesem Gedanken wonnig umhegt vor. Unbesorgt konnte er also die Augen heben, und die Welt lag vor ihm, als hätte sie bis jetzt nur auf ihn gewartet. D ie Luft war so klar, daß man von dem Hügel aus nach allen Seiten über den Rand von Paris hinausschauen konnte, wo es schon wieder grün wurde. Es war ein Gesamtbild, das an kein Durcheinander mehr denken ließ; jede nochso widerspenstige Einzelheit dem Pauschaleindruck untergeordnet. Das war ihm jetzt recht, denn er wollte an nichts erinnert werden. Bei diesem Blick aufs Ganze, an dem auch nach dem ersten Hinschauen nichts Besonders war, konnte er sich selber nach außen atmen, bis nichts Lästiges von ihm übrigblieb. Als Keuschnig gegen sechs auf den Platz trat, um zur Pressekonferenz in den Elyséepalast zu gehem, blieb er plötzlich stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Er wurde angriffslustig gegen die ganze Welt. „Jetzt habe ich dir's gezeigt!“ sagte er. "Ich werde dich noch unterkriegen." – Mit geballten Fästen lief er auf die Invalidenbrücke zu, überquerte unbekümmert um die Autos den Quai d'Orsay. Es drängte ihn, auf der Stelle einen Widerstand zu brechen und sich an etwas zu beweisen. Er war jetzt sicher, es gab noch etwas auszurichten – aber wo? Die Münzen klimperten in der Tasche beim Laufen, und er lief nur noch schneller, rannte, verfolgte. Wenigstens kurze Zeit hatte er das Gefühl, allmächtig zu sein und auf die Welt hinunterschauen zu können. Sie war für ihn bestimmt gewesen, und jetzt drang er in sie ein, um die abgefallenen Dinge zu sich zu bekehren. „Da bist du ja, Seine!“ sagte er gönnerisch, während er über die Brücke lief. „Fließ nur so nichtssagend weiter – ich werde dein Geheimnis schon noch herauskriegen!“ Dann dachte er: Ich erlebe ja etwas, – und auf einmal freute er sich und ging langsamer. Er hatte plötzlich Lust zu zeichnen: und zeichnete mit dem Finger das Pickelhaubendach des Grand Palais in die Luft, an dem er auf dem Weg durch die Avenue Franklin D. Roosevelt gerade vorbei ging. In Paris war gewöhnlich der Himmel zu sehen, auch ohne daß man den Kopf hob: sogar beim Geradeausschauen erschien er am Ende vieler Straßen. So fiel Keuschnig auf, daß inzwischen Wolken am Himmel waren, sehr weiße, unbewegliche Streifen hoch oben, und darunter, ziemlich tief und quer zu den Streifen, durch die Nähe etwas dunkler wirkende Wolken, die sehr schnell knapp über die Dächer zogen und deren Formen sich veränderten, bevor er sie wahrnehmen konnte. Warum wird mir der Himmel jetzt auffällig? dachte er. Er fiel ihm eigentlich nicht auf, er sah ihn nur, beteiligt, ohne Hintergedanken. Einige Schritte lang beschäftigt er ihn, und zwar ausschließlich, so daß er nachher dachte: Ich möchte erreichen, diese selbstlosen und doch ausgefüllten Momente, wo man nichts extra beobachtet, wo einem aber auch nichts entgeht, länger auszuhalten. Trotzdem machte ihn schon layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 12 der nächste Blick auf die Wolken wieder verdrossen. Er wollte nichts mehr sehen. Verschwinde endlich – alles! Er ging in der Mitte des Gehsteigs mit den Händen in den Hüften und hatte Lust, jemanden anzupöbeln. Ausweichen, ihr Sinnreichen! Er würde einer Frau nur ein Wort zurufen, und sie müßte ihr Leben lang daran denken. Das Wort finden, auf das kein einziger mehr eine Antwort wüßte! Erinnerung kam ihm: Schulkinder in Turnhosenstanden in einer Reihe, davor zwei, die Spielführer, die abwechselnd die Namen derer aus der Reihe, davor zwei, die Spielführer, die abwechselnd die Namen derer aus der Reihe nannten, die sie in ihrer Mannschaft haben wollten. Die Genannten traten heraus – wobei die guten Spieler O ben am Ende des Champs Elysées stand nur noch ein Motiv, der Triumphbogen, und unten vom Rond Point aus blickte man durch ihn durch auf nichts als den westlichen Himmel, der in dem Belag der weitgestreckten Avenue widerschien." Wäre man weiter hinaufgegangen, hätte man dahinter die Kräne gesehen, mit denen immer noch neue Häuser zu dem Vorort La Défense dazugestellt wurden." – Ich nehme wahr wie für jemand andern! dachte Keuschnig. Es war aber eine kurze Ablenkung. Mit der Bewegung, mit der er dann vom Gehsteig in den Drugstore an der Avenue Matignon einbog, kam er sich auf einmal, wenigstens fürs erste, gerettet vor. Schon das Einbiegen – die Tatsache, daß er aus dem bedrückenden Geradeaus ausscherte – war wie ein Einkehren gewesen, und als er durch den Drugstore ging und sich fortbewegte unter vielen anderen, in einem von ihm unabhängigen Rhythmus von Stocken, Ausweichen, Weitergehen, nur noch Drugstore-Bewegungen ausführte – mitmachen: da konnte er sich vorstellen, ein ganz anderes Leben zu führen, frei nach dem Drugstore-Gefühl, in dem alles so problemlos wurde. „Ja, ich werde ein neues Leben anfangen!“ sagte er, laut, als ob es sich um etwas Dringendes handelte, und eine schnell vergeben waren. Dann standen nur noch die Nichtskönner verlegen aufgereiht: bitte, nenn endlich meinen Namen! Noch der vorletzte kam davon – nur nicht der allerletzte sein, allein stehenbleiben müssen. Dagegen hier die zerknüllten Papierservietten auf den ketchupverschmierten Tellern, die jungen, allein sitzenden Frauen davor, die über den geöffneten Handtaschen ihre Liebesbriefe wiederlasen: in diesem Durcheinander galt kein Spiel mehr, wo jemand der letzte sein mußte. Keuschnig kaufte sich an dem Bücherstand drei Reiseführer. Er wolte sie von vorn bis hinten lesen. Noch etwas, an das ich mich halten kann, dachte er. Und dann trat er wieder auf die Straße hinaus. Dieser schmieriger Drugstore mit den zertretenen Pommes frites auf dem Fußboden und den Zeitschriften , die alle schon Eselsohren hatten! Der Himmel bewölkte sich beim Zuschauen – während er an der Kreuzung stand. Er versuchte, sich an das neue Gefühl zu erinnern, mit dem er gerade noch eingebogen war. Welches Einbiegen? Plötzlich erinnerte er sich an nichts mehr; auch an nichts andres. Er konnte zwar alles aufzählen, sich aber an nichts erinnern. Er hatte die Tatsachen behalten, aber nicht die Gefühle. layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 13 Roman layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 14 A ls er über den jetzt, Ende Juli, leeren Kinderspielplatz am Carré Marigny .ging, war der Himmel schon ganz be. deckt. Es blies ein starker, kalter Wind, und die Kastanienbäume rauschten, daß man die Autos auf den Champs Elysées nicht mehr hörte. Kleine morsche Zweige spritzten auf den Boden. Die Pferde an dem Kinderkarussell waren den Sommer über mit Säcken und Plastikhüllen verdeckt und mit dicken Stricken zugeschnürt. Es wurde ziemlich dunkel; Keuschnig war auf dem Carré, Staub wehte ihm in die Nase. Der Wind blies jetzt so stark, daß er plötzlich eine grausige Angst bekam und sich nicht mehr beherrschen konnte. Er lief zu dem Telefon an einer Bushaltestelle der Avenue Gabriel und rief an: Agnes war da – sie hob selber ab, biß beim selbstvergnügten Antworten ein Bonbon durch. blinkten die Pfützen im Sand. Die Tauben waren weggeflogen in die Bäume. Er saß auf der ausgebreiteten Zeitung und schaute geradeaus, um nichts Besonderes zu bemerken. Auf dem Boden war alles so nahe. Nur das dunkle Laub der Kastanienalleen, dahinter noch die Dachspitze des Grand Palais und weiter rechts die Spitze des Eifelturms: das beengte nicht. Die Sonne ging unter, und im nächsten Moment begannen die Gegenstände wie von sich aus zu scheinen, Im Weitergehen fiel ihm ein, daß er gerade Angst gehabt hatte. Ein Gefühl; – erinnere dich. Wie war das gewesen? Die Muskel und Sehnen im ganzen Körper hatten sich mit einem Schlag verhärtet, zu einer eigenen Struktur wie zu einem zweiten Skelett. Ja, hatte er die Angst gefühlt. Ich muß alle Gefühle neu entdecken! dachte er. Er setzte sich am Carré Marigny auf eine Bank neben dem Kinderspielplatz und hoffte auf den Zufall, der ihm endlich eine Möglichkeit zeigen würde, über sich nachzudenken; denn sooft er absichtlich zu überlegen versuchte, glaubte er den eigenen Gedanken nicht mehr – es waren nicht seine eigenen. Wie meistens in Paris hatte der Regen bald aufgehört, und in der letzten Sonne während es im Luftraum zwischen ihnen gleichzeitig dämmrig wurde. Eine Zeitlang leuchteten die Gegenstäde so stark, als ob sie sich selber in Energie zerstrahlten. In dem flimmernden Zwielicht sah Keuschnig keine Einzelheiten mehr. Ein anderes System hatte sich herabgesenkt. Dann verschwand das Leuchten, aber die Gegenstände blieben gleich hell, strahlten nur nichts mehr aus, und das Dämmerlicht zwischen ihnen wurde wieder zu Tageslicht. – Und diese Licht wollte jetzt nicht vergehen. – Er hatte auf einmal eine Vorstellung von vielen gleichzeitigen Vorgängen in den verschiedenen Pariser Stadtteilen: im Touristenviertel St. Germain-des-Près wurden die Pizzas auf den Tellern herumgezerrt, und die hungrigen Touristen hatten schon vor mehren Restaurants entschlußlos die Speisekarten gelesen; im Arbeiterviertel Ménilmontant tranken die Arbeiter ihr Feierabendbier in einem richtigen layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 15 Roman Arbeiterbistro, das „Au rendez-vous de chauffeur“ hieß, und wo sich auch heute wieder einige Intellektuelle eingefunden hatten; im Ausländerviertel Belleville standen die Schwarzen gruppenweise, einige in Burnussen, mit Bierdosen in der Hand ohne zu reden unter dem freien Himmel; im Reichenviertel Auteuil wurden die Söhne und Töchter der Großbürger von den Obern in den englisch gepolsterten Pubs gefragt, ob sie französisches oder ausländisches Bier trinken wollten; – und überall in der Stadt flimmerten unbenutzte Flipperautomaten, rasselten und klingelten die benutzten, rauschen die Platanen und Kastanien an den Boulevards, schlingerten zwischen den Métrowaggons während der Fahrt die schwarzen Koppelschläuche, schauten einander Liebespaare in die Augen, lagen in den immer noch bestehenden Wimpys die aufgeweichten Zwiebelringe unter den Hamburgers – und das alles, dachte Keuschnig, während er mit brennenden Augen in das immer gleichbleibende Licht starrte. Dann hatte er ein Erlebnis – und noch während er es aufnahm, wünschte er, daß er es nie vergessen würde. Im Sande zu seinen Füßen erblickte er drei Dinge: ein Kastanienblatt; ein Stück von einem Taschenspiegel; eine Kinderzopfspange. Sie hatten schon die ganze Zeit so dagelegen, doch auf einmal rückten diese Gegenstäde zusammen zu Wunderdingen. – “Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?“ layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 16 Hans Scherer 16 11/00 mosaik layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 17 Reisebericht An Heines Grab Den Friedhof von Montmartre vermutet man, ohne ihn zu kennen, neben Sacré-Coeur. Ein Irrtum. Dort gibt es keinen Friedhof. Es war wohl der letzte schöne Spätsommertag. Von unten leuchtete Paris in diesem unverwechselbaren Goldton. Das Licht verwandelte die Wände mit den blassen Reklamebildern in Gemälde mit magischen Zeichen. Unmittelbar unter der Place du Tertre, auf der die Touristen sich um die Plätze vor den Cafés stritten, Haufen Volks, begegnete man in den abschüssigen Gassen nur noch wenigen Menschen. Ein paar kleine Mädchen spielten Ball an einer Mauer, die einen Park mit hohen Bäumen umgab. Es war ein kompliziertes Spiel:Bevor die Mädchen den an die Wand geschlagenen Ball auffangen durften, mußten sie drei Pirouetten drehen. Das kleinste der drei Mädchen verpaßte keinen Ball; es drehte sich wie eine Spielzeugpuppe. Von fern her brummte und summte der immerwährende Lärm von Paris wie eine Hintergrundmusik, die die Stille schützt. Ich ging immer weiter nach unten. Bin ich eigentlich noch auf dem Montmartre? Der Berg lag hinter mir. Die Straßen waren eben geworden. Ich frage fünf, – sechsmal nach dem Friedhof, da ich annahm, ich hätte den Eingang verpaßt, wurde aber immer weiter gewiesen. Bis ich plötzlich auf der Straßenbrücke der Rue de Maistre stand und den Friedhof unter mir sah. Das ist unmittelbar vor der Place Clichy. Überall hätte ich den Friedhof erwartet, nur nicht hier. Eine Nekropole im Zentrum der Lebenden. 11/00 mosaik 17 layout5 18 02.05.2003 11/00 mosaik 16:48 Uhr Seite 18 layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 19 Reisebericht An Heines Grab Diese absurde, grün angemalte Brücke über den Gräbern.Ein Dach für die Toten und Lebensader zugleich. Das Grab von Heinrich Heine liegt im Bezirk 27. Ich hielt Ausschau nach der hohen Säule, die man mir als Erkennungszeichen beschrieben hat, als ich neben mir plötzlich ein dünnes Stimmchen hörte: „Suchen Sie etwas, mein Herr?“ Ich suchte nach dem Stimmchen, drehte mich um, suchte unter der Brücke. Ein Gnom? Ein Wurzelgeist? Auf einer Bank entdeckte ich die Zwergin. Eine kleingewachsene PlastiktütenLady inmitten ihres Hausstandes, ihre Füße reichten knapp bis an die Kante der Sitzfläche. „Das Grab von Heine“, sagte ich. „Das ist ganz einfach“, sagte sie mit fröhlichem Augenblinzeln, „sehen Sie dort die weiße Säule? Das ist es“. Etwas verstört stand ich vor dem Grab. Unter dem Namen Heinrich Heine befindet sich in auffallend kleinen Lettern die Inschrift Frau Heine. Auf dem Sockel steht das berühmte Gedicht: „Wo wird einst des Wandermüden/ letzte Ruhestätte sein?“ Vor der Säule lag ein Strauß frischer bunter Astern. Ich ging zurück zur Bank der Zwergin. „Sie haben mir sehr geholfen, Madame. Ich muß mich bei Ihnen bedanken“, sagte ich. „Aber ich bitte sie mein Herr“, sie kicherte verlegen, „aber das ist doch selbstverständlich, kein Grund, ich bitte Sie.“ Sie hatte eine Litanei solch abwehrender Höflichkeitsformeln in ihrem Sprachfundus, dabei gelang es ihr allerdings nicht zu verheimlichen, daß jedes Dankeswort ihr schmeichelte. Sie strahlte und sie schien glücklich... 11/00 mosaik 19 layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 20 Hotels, die einen Umweg lohnen von Hans Scherer Blick auf das Hotel in der Passage Joffroy layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 21 Reisebericht Auf der Mitte der breiten Fußgängerbrücke, die von der Académie Francaise über die Seine zum Louvre führt, blieb er stehen und sah den Fluß hinauf und hinunter. Hinter den Türmen von Notre-Dame, die er wie eine Erscheinung über der Spitze der Île de la Cité sah, zog sich in quellenden Wolken ein Gewitter zusammen. Auf der anderen Seite des Flusses schillerten in gleißend silbernem Sonnenlicht die Kuppeln des Grand Palais und des Petit Palais. Er konnte die Augen nicht lassen von diesem prachtvollen, unglaublichen Bild: Warum bin ich bloß nur so spät gekommen, dachte er. Jahrelang hatte er die Reise nach Paris hinausgezögert. Fast die ganze Welt hatte er schon gesehen, aber Paris hatte er ausgelassen bis zu dieser dummen, kleinen Busreise, auf der er sich nun befand und die eher als Scherz gedacht war: Er sollte eine Billig-Busreise buchen und nüchtern berichten, was geschieht; freitags hin, sonntags wieder zurück. Für den Freitagabend, also unmittelbar nach der Ankunft, war eine Sonderfahrt Paris Illuminé vorgesehen. Für Samstag, als hätte man sich nach dem halben Tag schon sattgesehen an Paris, konnte man nach Entrichtung eines Preisaufschlages an einem Ausflug nach Versailles teilnehmen. Das Busprogramm läuft ohne Änderung auch heute noch so ab. Der Reiseführer, der vermutlich finanziell an dem Aufpreis beteiligt war, empfahl den Versailles-Ausflug wärmstens, so billig käme man vermutlich nie mehr dorthin. Alle machten mit. Nur er scherte aus und mußte sich daraufhin später von seiner Nachbarin im Bus, Frau Bürgel aus Hofheim im Taunus, sagen lassen, er glaube wohl, etwas Besonderes zu sein. Aber wenigstens einen Tag wollte er sich ungestört seiner Paris-Seligkeit hingeben. Im Café sitzen, Zeitung lesen, durch die Straßen laufen, sich für den Abend ein Restaurant suchen - für Museen blieb keine Zeit. Es war das Leben, wie er es sich vorgestellt hatte und wie er es aus hundert Romanen und Filmen über Paris kannte. Daß es das alles wirklich gibt. Darum war er so spät gekommen, weil er Angst vor einer Enttäuschung hatte, weil er sich vor der Wirklichkeit gefürchtet hatte. Aber nun stand er auf der Brücke und es kam ihm vor, als sei er endlich angekommen. Das Hotel der Busgruppe, zwei Übernachtungen, befand sich, malerisch und geradezu extravagant pariserisch am Boulevard Montmartre im dritten oder vierten Hinterhof der Passage Jouffroy. (Hôtel Chopin, 14, bd. Montmartre, Tél 0142 54 56 58, D8) Heute, so war kürzlich in einem neuen Paris-Führer zu lesen, soll das Hotel im Jugendstil renoviert sein und, immer noch zu zivilen Preisen, als kleines Juwel der Pariser Hotelkultur gelten. Davon konnte man damals wahrhaftig nicht sprechen. Nach der Ankunft des Busses schleppten die Touristen mit erwartungsvollem Herzklopfen ihr Gepäck durch die zwei oder drei Hinterhöfe der Passagen. Man mußte sich wundern, wieviel sie für die zwei Übernachtungen mitgebracht hatten. Aber wer achtet darauf? Was war das für ein buntes Treiben in der Passage. Es gab ein Spezialge- 11/00 mosaik 21 layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 22 schäft für Spazierstöcke. Es gab Antiquariate aller Art, für Notenblätter, für alte Aktien, für Ballettbücher. Es gab Geschäfte für künstliche Blumen, für Parfum in mundgeblasenen Flakons, für alte, doch gebrauchsfähige Füllhalter, für altes Silber, für Bilderrahmen. Es gab Galerien und kleine Handwerksbetriebe wie Druckereien oder eine Werkstatt für abenteuerliche Hüte. Am Ende eines Innenhofes lag das Hotel. Das erste, das ihm auffiel war die streng blickende Chefin mit kurz geschorenem Kopf, die mit einer rauhen, tiefen Stimme sprach – und prompt eine blaue Gauloise nach der anderen rauchte. Es kam ihm vor, als kenne er sie aus einem Jean Gabin-Film. Sein Zimmer lag in der obersten Etage des schmalen Hauses, in der fünften oder sechsten also. Im Zimmer mit den knirsche – den Dielen war er an den Wänden entlang gelaufen wie eine Katze, die ein neues Haus inspiziert. Es gab ein großes Bett, auf dem ein schwellendes Plumeau lag. Es gab einen windschiefen Schrank, der nur mit Ziehen und Reißen zu öffnen war, einen altertümlichen Nachttisch, einen kleinen Sessel, in dessen Polster eine der Sprungfedern herausstand, und in der Mitte des Zimmers einen zu großen Tisch, so daß Stühle keinen Platz mehr hatten. Aber was war das alles gegen das kleine Fenster und den Blick dadurch! Das Fenster lag oberhalb eines Schieferwulstes an der Außenwand des Hauses und gewährte tatsächlich einen traumhaften Pariser Blick. Man sah über die Innenhöfe der Passage hinweg. Rechts war die Spitze der Oper und vorne, halbrechts, der Eiffelturm. Ganz weit vorne das Hochhaus auf dem Montparnasse. Es war alles wunderbar. Genauso hatte er es sich vorgestellt... ... Fast bei jedem späteren Besuch in Paris wohnte er in einem anderen Hotel, und er war nun oft hier – fünf, sechs Mal im Jahr. Im Hotel Bersoly`s in der Rue de Lille wohnte und arbeitete er allerdings ein halbes Jahr. (Hôtel Bersoly`s, 16, Rue de Lille, Tél.0142 56 45 45, F7) Das Bersoly`s ist handtuchschmal, aber mindestens sieben Stockwerke hoch. Auf jeder Etage befinden sich drei Zimmer, die nach französischen Dichtern benannt sind. Er wohnte im Zimmer Victor Hugo, was ihn, kostentreibend, veranlaßte, eine Hugo-Gesamtausgabe zu erwerben. Der immer geduldige Hausmann, ein Vietnamese, der die Zimmer in Ordnung hielt, ließ sich für ein paar Franc bestechen, sein Zimmer immer als erstes zu machen, daß er auch am Morgen darin arbeiten konnte. Dann saß er an seiner für das kleine Zimmer übergroßen Schreibmaschine – Computer waren damals noch Raritäten – und dachte sich immer neue Geschichten über Paris aus oder er schrieb darüber, was er am Abend erlebt hatte. Jeden Tag eine Paris-Geschichte, das hatte er sich vorgenommen. Das war nicht immer einfach. Aber um sein Gelübde zu erfüllen, drehte er, so kam es ihm vor, ganz Paris, Prozesse, Museen, die Métro, die Straßen, die Menschen, die Mode, das Essen, Bücher und Zeitungen, ganz Paris eben, durch die „Wurstmaschine“ seiner Erzählungen. Der Frühstücksraum des Hotels lag bei vielen der kleinen alten Pariser Hotels im Keller, 22 11/00 mosaik layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 23 Reisebericht gestützt von dicken Holzbalken. Ein gemütlicher Raum, in dem man sich wohlfühlte. Es gab nur wenige Tische, so daß man meistens mit mehreren Gästen zusammen an einem Tisch saß. Später, nachdem er Paris, mehr gezwungen als freiwillig, wieder verlassen hatte, ging er nie wieder ins Bersoly`s. Die Zeit war so schön, daß er sie nicht auf diese halbherzige Weise, als Gast sozusagen, verlängern wollte. Erst in den letzten Jahren wohnte er immer wieder in dem kleinen Hotel Danemark in der Rue Vavin auf dem Montparnasse. (Hôtel Danemark, 21, Rue Vavin, 0142 43 26 93 78, G7) „Hier kennt man mich“, sagte er, „hier kenne ich mich aus – die dicke Wirtin mit ihrem hübschen Sohn und dem alten, freundlichen Mann, der das Frühstück serviert – es liegt praktisch an der Métro, es ist sauber und relativ preisgünstig, vor allem, es gibt einen schönen Schreibtisch im Zimmer.“ Die Beschränkung auf ein Hotel ließ ihn jedoch auch fragen: „Ob ich alt werde?“ Die Frage war überflüssig. Denn zwischen seinen Aufenthalten im Hotel Danemark, das er zu seinem Stammhotel erklärte, erlaubte er sich immer wieder Seitensprünge in die Hotels anderer Reviere und anderer Klassen. So alt war er also doch noch nicht. Denn, zumindest in seinen Augen, beweist nichts mehr jugendlichen Vorwitz, als die Lust, unbekannte Stadtviertel kennenzulernen. Der beste Weg des Kennenlernens: Man wohnt darin. Das Hotel Bedford in der Rue de l'Arcade, nicht weit vom Gare Saint-Lazare zwischen dem Boulevard Haussmann und der Madeleine, gehört zu seinen frühesten Wohnungen in Paris. (Hôtel Bedford, 17, Rue de l'Arcade, 0142 25 68 23, D6/7) Heute ist es ein reines Touristenhotel, seinem Namen entsprechend von Briten bevorzugt. Unvergeßlich ist der Aufzug des Hotels, an dem nichts Besonderes wäre, wenn er nicht über eine eigene Automatik verfügte, daß die Aufzugtür sich auf jeder Etage, von Geisterhand bewegt, öffnet. Sie öffnet sich nicht einfach so, sondern unter leidvollem Stöhnen und Ächzen: Bitte sehr, wenn es denn sein muß, daß man mitfühlt mit der Tür und sich am liebsten bei ihr entschuldigen möchte. Das Hotel Bedford spielt nach George D. Painter eine wichtige Rolle in der Biographie des späten Marcel Proust, der hier im letzten Jahr des ersten Weltkriegs zwei junge amerikanische Soldaten besuchte. Seinem Freund Walter Berry berichtete er in einem Brief, daß er das Hotel nicht gekannt habe und sich zuerst nach dem Weg habe erkundigen müssen. Das kann nur ein absichtsvoller Irrtum sein. Denn nur drei Häuser weiter in der Rue l'Arcade befindet sich das Hotel Marigny, heute noch erkennbar an dem großgeschriebenen „Lift“ in der Leuchtreklame – als garantiere ein Lift die hohe Qualität des Hauses –, das Proust sehr genau kannte. Hier befand sich ein legendäres Knaben-Bordell, das in Proust Recherche als „Jupiens Bordell“ erscheint. Dieser Jupien, in Wirklichkeit Albert Le Cuziat, der Besitzer des Hauses, stand vorher in Diensten des 11/00 mosaik 23 layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 24 Fürsten Radziwill, eines der vielen Vorbilder des Fürsten von Guermantes, und war mit Proust befreundet. Zwar spricht Proust in seinem Romanwerk alle diesbezüglichen Aktivitäten dem Baron de Charlus zu, Painter weiß jedoch, daß Proust eigene Erlebnisse im Hotel Marigny an orgiastischer Begeisterung die geschilderten Erlebnisse des Barons weit übertrafen. Prousts Höllenfahrt, wie Georges D. Painter schreibt. Das betrifft vor allem das letzte Kriegsjahr 1917, das an gleichsam sinnlicher Verzweiflung in Paris ein Pendant zum Jahr 1871 gewesen sein muß. Heute geht es im Hotel Marigny recht bürgerlich, wenn nicht gar spießig zu. Der Patron spricht zwei „Sätze“ deutsch: „Guten Morgen“ und „Wie geht es Ihnen?“ Das sagt er immer wieder und kommt sich dabei sehr lustig vor. Die Dame des Hauses im stregen, grauen Schneiderkostüm, aussehend wie die Aufseherin eines Mädchenpensionates, etwas blaustrümpfig, bekommt einen roten Kopf, wenn man sie nach Proust befragt. Das Herz schlägt ihr bis zum Halse, „aber nein, nein“, das sei alles ganz anders gewesen. „Stimmt es also nicht, daß Proust seine Möbel aus der großen elterlichen Wohnung dem Knaben-Bordell geschenkt hat“, fragte er. „Um Himmels Willen, nein, Proust hat hier nur ein paar Tage gewohnt, bis seine neue Wohnung fertig war.“ „Also doch“, sagte er, was sie irritierte. Da schloß sich der Aufzug, der deutlich angezeigte „Lift“, in dem er stand. Sie wäre ihm am liebsten nachgelaufen, um richtigzustellen, Proust und seine Eigenheiten hätten mit ihrem Hause nichts, aber auch gar nichts zu tun. Merkwürdigerweise fügte es sich, daß er zwei Monate später schon wieder in Prousts Nachbarschaft wohnte, diesmal im Hotel Waldorf-Florida am Boulevard Malesherbes, das exakt gegenüber der einstigen, großen Wohnung Prousts liegt. (Hôtel Waldorf-Florida, 12 bd. Malesherbes, 0142 23 56 23, D6) Das Hotel ist ein schönes altes Jugendstilhaus, sehr gepflegt, aber laut: Der Lärm von ganz Paris dringt durch die schmalen Fenster und man kann sich nur schwer vorstellen, daß Prosts Phantasien beim Aufwachen, die er im ersten Kapitel seines Romanwerkes beschreibt, in dieser Straße ihren Ursprung haben sollten. – Nachdem das Zimmermädchen alle deine preisgünstig eingekauften Getränkevorräte, mit denen er den Kühlschrank gefüllt hatte, Morgen für Morgen aus dem Kühlschrank nahm – die billigen Getränke hatten in dem teuren Hotelkühlschrank nichts verloren, betrachtete er dies als unfreundlichen Akt und mied das Hotel fortan. Eine Erinnerung an das Hotel Waldorf-Florida amüsiert ihn allerdings noch heute... Einmal wohnte er im Hotel Grand Hommes am Panthéon, nur des Namen wegen, einmal in dem Hotel über dem Gare de l'Est, nur weil er vorher noch nie in einem Bahnhofsgebäude gewohnt hatte. (Hôtel du Panthéon, 19, pl. du Panthéon, Tél 0143 54 32 95, C/D9) 24 11/00 mosaik layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 25 Reisebericht Seine Wohnung im Hotel Lutetia am Boulevard Raspail, Ecke Rue de Sèvres, im Mittelpunkt des VI. Arrondissements, war dagegen von anderem Zuschnitt. (Hôtel Lutetia, 45, bd. Raspail, Tél. 01 45 49 68 68) Das Hotel ist leider ziemlich teuer; das ist fast das einzige, das dagegen spricht. In dem Hanser-Buch Hotel Lutetia nennt Willi Jasper das Hotel im Untertitel Ein deutsches Exil in Paris, das ist eine lange, nicht immer erfreuliche Geschichte. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatten die Deutschen zu dem Hotel mit der imposanten Belle-Epoque-Fassade eine besondere Zuneigung. Es ist nicht die verspielte, von Schmuckelemente überladene BelleEpoque, sondern die mächtige, fast burgenartige. Würde es noch eines Beweises bedürfen, daß die Belle-Epoque, wie der Jugendstil übrigens auch, wandlungsfähig war, das Hotel Lutetia liefert ihn. Vor 1933 war das Hotel ein Treffpunkt der Intellektuellen, Henri Matisse, André Gide, Joséphine Baker, General de Gaulle, der im Lutetia seine Hochzeitsnacht verbrachte. Nach 1933 wurde das Hotel Stammquartier für deutsche Exilanten, die es sich leisten konnten. Klaus und Heinrich Mann, Egon Erwin Kisch, Willy Brandt, Ernst Toller und viele andere. Weil auch in Deutschland bekannt war, daß Lutetia von Exilanten bevorzugt wurde, quartierte sich auch der deutsche Geheimdienst, die Gestapo, hier ein. 1940 schlug Admiral Canaris hier die Zelte seiner Abwehrzentrale auf. Man muß nicht unbedingt den Gedanken Jaspers folgen, der in der Arbeit von Canaris und Ernst Jünger etwa den Versuch sieht, „den Nationalsozialismus in Paris salonfähig zu machen“. Das Hotel war jedenfalls offen für die Intellektuellen aller Richtungen. Nach der Befreiung von Paris trafen sich in den Salons des Hotels Überlebende aus den Konzentrationslagern. Zu allen Zeiten war das Hotel eine Signalstation des Geistes. Über die sehr modische Dekoration der Hotelhalle von heute läßt sich streiten. Sie ist etwas glatt und geschmäcklerisch geraten. Für sie spricht immerhin, daß sie originell ist, eine Eigenschaft, nach der man in anderen Pariser Hotels lange suchen muß. In der geschichtsträchtigen Halle zu sitzen, Kaffee oder Tee oder den Apéretiv zu „nehmen“, dabei geruhsam den verhaltenen, stets nobel gedämpften Betrieb zu beobachten, ist einer der interessantesten Momente, die Paris zu bieten hat. Nein, das Lutetia ist immer noch kein Touristenhotel. Der gepfefferte Zimmerpreis erscheint fast als Schutzgebühr, eine kluge Überlegung der Inhaber. Seitdem er das Lutetia kennt, verfolgt ihn der Gedanke, in so einem Hotel seinen Lebensabend zu verbringen, – wenn er es sich leisten kann. Für einen Café au lait in der Halle des Lutetia lohnt sich fast eine ParisReise. 11/00 mosaik 25 layout5 02.05.2003 16:48 Uhr Seite 26 layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 27 layout5 28 02.05.2003 11/00 mosaik 16:49 Uhr Seite 28 layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 29 Adressbuch ... Heute wird es von vielen Touristen besucht. Um Plätze muß man kämpfen, und es hat viel von seinem Zauber verloren. Aber man muß es erlebt haben. Früher befand sich dort, wo heute das Angélina an der Rue de Rivoli liegt, das berühmte Rumpelmayer, das ebenfalls literarische Spuren hinterlassen hat. Als Spezialität gilt noch immer die Trinkschokolade, die über einen komplizierten, altmodischen Apparat tatsächlich von einem schmelzenden Schokoladenriegel in die Tasse tropft. Früher gab es für das Trinken der Schokolade gottweißwelche medizinische Begründungen, sie beruhige, sei Nervennahrung, Anregung, selbst als Aphrodisiakum wurde sie (wie schlichtweg jede Speise) gehandelt. Heute wissen wir, daß der dickflüssige Sud der Schokolade nur Sünde ist. Gerade darum sollte man sie sich einmal leisten... ... Zwei Restaurants, in denen man ein hervorragendes Essen in einem interessanten historischen Abiente erleben kann. Das erste ist das Le Jules Verne auf der zweiten Etage des Eiffelturms. Bestimmt bietet es die schönste Aussicht auf Paris, und das Essen ist gut – man staunt fast darüber, weil das Essen in vielen Aussichtsrestaurants jämmerlich schlecht und teuer ist. Dort zu sitzen und zu speisen, Paris zu seinen Füßen, hat etwas unwirklich Traumhaftes. Ich erinnere mich vor allem an ein Bild von außen: In einer tiefschwarzen Nacht stand ich vor dem Eiffelturm und sah nach oben zu den strahlend hell erleuchteten Restaurant, wo man wie in einem Schattenbild die wehenden Schwalbenschwänze der Kellnerfräcke sah; silberne Platten und Champagner wurden aufgetragen. Das andere Restauant, in dem Raum und Essen sich harmonisch ergänzen, ist das Grand Véfour am nörd- lichen Ende des Palais Royal. Wie man weiß, wurde das Palais Royal als eine Spielerei des Herzogs von Orléans zwischen 1781 und 1784 geplant und erbaut. Überflüssig war die prachtvolle Anlage, die ursprünglich als Verwaltungszentrum von Paris gedacht war, von Anfang an. Als Verwaltngszentrum waren das Palais und seine Nebenbauten nie in Betrieb, eher als Vergnügungszentrum. Schon während der Revolution hatte sich dort ein Bordell – und Restaurantviertel installiert, dessen nicht umstrittener Höhepunkt das Restaurant Le Grand Véfour war. Künstler und balzacsche Banquiers mit zolaschen Dirnen waren hier Stammgäste. Die Räume sind mit einer unvorstellbaren plüschigen Pracht ausgestattet. Neopompejanisches aus der Frühzeit des 19. Jahrhunderts. Nach dem zweiten Weltkrieg, 1948, erhielt das Restauant einen neuen Besitzer, der das inzwischen etwas heruntergekommene Lokal wieder sternenwüdig machte. Jean Cocteau entwarf die Menu-Karten, die alte, rheumakranke Colette war hier die Königin. 1983 brannte das Restaurnt nach einem terroristischen Anschlag nahezu völlig aus. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, daß diejenigen, die das Gebäude später erwarben und renovierten, auch die waren, die vorher die Bomben geworfen hatten. Heute ist das Restaurant zwar wieder im alten Glanz eröffnet, aber der Schatten des Anschlags liegt immer noch über dem Haus. Ich war vor dem Brand zu einem Essen dort eingeladen. Es war ein unvergeßliches Erlebnis. Die roten Samtbänke tragen Schilder mit den Namen der einstigen Stammgäste, die hier früher gesessen haben. Ob sie Schilder die Wahrheit verraten, weiß ich nicht. Ich speiste jedenfalls auf dem Platz mit der "Reservierung" für Victor Hugo... Le Train Bleu im Gare de Lyon ist ein Restaurant, das vorwiegend durch die Einrichtung seiner Räume besticht, weniger durch das Essen. Wie so viele großartige Gebäude in Paris ist es eine Hinterlassenschaft der Weltausstellung von 1900. Der Train Bleu ist, genaugenommen, nichts anderes als ein Bahnhofsrestaurant, wenngleich das prachvollste auf der Welt. Warum es „in seiner Zeit“ so pompös eingerichtet worden ist, hat seinen Grund darin, daß vom Gare de Lyon aus einst, 11/00 mosaik 29 layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 30 vor der Fliegerei, die lebenslustige Gesellschaft von Paris im Winter und im Sommer für ein paar Wochen oder auch nur für ein paar Tage an die Côte d'Azur fuhr und sich vorher mit einem Souper im Train Bleu von ihren Freunden verabschiedete. Der Schlafwagen brachte sie dann nach Nizza oder Cannes oder Antibes. Die Geschichte des Bahnhofs und eben dieser Reise in den Süden kann man auf den riesigen Fresken der Schalterhalle studieren. Ich habe schon oft Freunden in Paris den Train Bleu gezeigt und gleichsam vorgeführt. Alle waren begeistert, ... ... Das Restaurant Le Proscope an der Rue l'Ancienne Comédie, gegründet 1689, wie es im Wirtshauswappen heißt, nennt sich selbst „das älteste der Welt“, wobei man allerdings nicht genau weiß, worauf sich dieses „älteste“ bezieht. Restaurant, Café - beides ist umstritten. Neuerdings hat man sich darauf geeinigt, das Procope sei das älteste Eiscafé von Paris, obwohl mir das Eis dort nie als etwas besonderes aufgefallen ist. Es war jedenfalls das Stammlokal Voltaires. Er konnte hier arbeiten – sein mächtiger Schreibtisch steht heute im Restaurant als Museumsstück – und dabei mit einem Auge auf die Alte Komödie schielen, die genau gegenüber lag. Wenn sein dort gespieltes Stück dem Ende zuging, gab man ihm ein Zeichen, so daß er rechtzeitig auf die Bühne eilen konnte, um den Applaus entgegenzunehmen. Noch heute übrigens sind im Sommer die Plätze auf den Balkon mit Blick auf das Getriebe von Saint-Germain die begehrtesten. Abgesehen von dem Schreibtisch und Voltaires Stuhl – auf den ich mich mal heimlich gesetzt habe – enthält die Einrichtung des ungewöhnlich großen, vielräumigen Lokals nicht viele originale Stücke... 30 11/00 mosaik ... Meine Sympathie für die Closerie des Lilas am Boulevard Montparnasse wechselt von Besuch zu Besuch. Sowohl die Qualität des Essens als seltsamerweise auch die Atmosphäre wechselt, was gewiß schon einen Minuspunkt bedeutet. Die Closerie, ein einstiges Ballhaus, das seinen Namen des vor ihr stehenden Fliederbäumen verdankt – die lila Farbe setzt sich in den Smokingjacken der Kellner fort –, gehört wie nahezu alle Pariser Restaurants von Geschichte zu den literarischen Stammcafés. Hier saßen Théophile de Banville, Émile Zola, Paul Cézanne und die unzertrennlichen Brüder Goncourt, der Versoffene Verlaine und später Hemingway... ... Bei Lucas Carton gegenüber der Église de la Madeleine fällt mir als erstes Pariser Tempel der Kochkunst ein. Gegründet wurde das Restaurant 1732. Es gab Hoch-Zeiten und Niedergänge. Die Pariser haben dem Lokal zum Beispiel lange nicht vergessen, daß es während des Zweiten Weltkrieges das Lieblingsrestaurant der Deutschen Besatzungsoffiziere war. Der heutige Besitzer jedoch, Alain Senderens, führt das Restaurant und seine Küche so souverän, daß irgendwelche pseudopolitische Zweifel an der Integrität des Hauses nicht aufkommen. Senderens ist wahrscheinlich der zur Zeit beste Koch in Frankreich. Wie kein anderer verkörpert er den intellektuellen Anspruch französischer Küchenkunst... layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 31 Adressbuch Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. Wir waren noch Studenten, frisch verliebt, hatten kein Geld und verbrachten ein Wochenende in Paris, der Stadt der Liebe. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dich zum Essen einzuladen. Es sollte romantisch sein und klein und auch nicht zu viel kosten. So viele Wünsche auf einmal sind schwer zu erfüllen, aber nicht in Paris. Wir hatten den Vormittag auf dem Père Lachaise verbracht, dem Friedhof der Berühmtheiten. Du wolltest zu Chopin und Bizet und ich zu Jim Morrison und Oskar Wilde. Wie Abenteurer sind wir über die riesige Anlage gezogen und haben Inschriften entziffert. Natürlich hatten wir keine Karte dabei, so war es doch ein wenig mühevoll, die gewünschten Gräber zu finden. Mittags aßen wir Baguette und Käse und tranken Wein. Wir hatten stilvoll in einem Supermarkt eingekauft und saßen nun unter den Bäumen im Parc des Buttes Chaumont. Erstaunlich, dass ich mich noch an die Namen erinnern kann. Auf merkwürdigen Wegen führtest Du mich dann zum Montmatre und wir besichtigten die Sacrè Coeur. Langsam stellte sich nun wirklich der Hunger ein. Ein Freund hatte uns als Geheimtipp ein Restaurant hier in der Nähe verraten. Gut und günstig und wirklich romantisch. Naja, allein die Suche war ein Erlebnis wert. Links von Sacrè Coeur die Rue du CardinalGuibert entlang bis links die Rue St.-Rustique kommt. Hier hinein und bis zum Ende durch. Dort wieder links in die Rue Poulbot. Sie endet in einem kleinen Hinterhof mit ein paar Bäumen in der Mitte. Zwischen den Hauswänden und den Bäumen waren Lichterketten und Girlanden gespannt und darunter standen kleine und große Tische mit Klappstühlen. Die bunten Kerzen gaben das Ihrige und vor uns lag wohl das schönste Restaurant (Chez la Mère Justine) von Paris . Gut vielleicht erscheint es auch nur Verliebten als das schönste aber romantisch war es auf jeden Fall. Wir setzten uns an einen Ecktisch unter einen Ahornbaum und ein kleiner Junge brachte uns die Karte. Unser Freund hatte nicht gelogen, es war günstig. Einen Salat für 15 FF, Brot für 5FF und das ganze Menü bestehend aus Salat, Suppe, Brot, ein Fleischgericht, Käse und Süßspeise gab es für 90 FF. Das erscheint viel, ist aber für Pariser Verhältnisse recht wenig. Zu den Gäten zählten Künstler und Studenten. Ein buntes Völkchen, das lachte und ohne Unterlass redete. Das Essen war wirklich gut und später erfuhren wir, dass die Mutter unseres kleinen Kellners selbst kochte und den Betrieb ihrerseits von ihrem Vater übernommen hatte, der ihn wiederum von seiner Mutter erbte, die dem Restaurant seinen Namen gab. Es war ein wirklich gelungener Abend. Das Olympia – an den großen Boulevards gelegen, auf dem Teilstück zwischen Oper und St-Madeleine – sieht von außen wie ein heruntergekommenes Kino aus. Innen erreicht man über einen breiten, immer breiter werdenden Gang den großen Saal, das Allerheiligste französischer Unterhaltungsmusik. An dieser Stelle müßte man über die merkwürdig zurückgebliebene französische Musik reden. Jüngere Leute, Nicht-Franzosen, können über französische Musik nur spöttisch lächeln. Die Schlager klingen wie aus den sechziger Jahren. Selbst die Musik-Fernsehsender spielen Oldies, Oldies, immer nur Oldies und selbstverständlich französisch gesungen. Diese Verweigerung der Internationalität, die inzwischen durch die Musik in der ganzen Welt üblich geworden, ist eine französische Eigenart, die der Fremde nur schwer versteht. Die Franzosen indes, die jungen und die alten, stört es überhaupt nicht. Allein dieses trotzige Festhalten an den alten Liedern und Sängern macht diese pseudotraditionelle Rückwärtswendung zu einer liebenswerten Eigenschaft. Das Olympia spielt dabei eine nicht zu überschätzende Rolle. Wer einStar werden will in Frankreich, muß zuerst im Olympia auftreten: der Auftritt dort hat eine adelnde Wirkung. Noch wichtiger ist das Olympia für die älteren Künstler, die ein Comeback versuchen. Im Olympia kann man endgültig verabschiedet oder wieder zu den Sternen erhoben werden. 11/00 mosaik 31 layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 32 Graham Greene Der Mann, der den 32 11/00 mosaik layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 33 Essay Es war nicht so sehr der Diebstahl des Eiffelturms, der mir Schwierigkeiten bereitete; es war die Frage, wie ich ihn zurückbringen sollte, bevor ihn irgendwer vermißte. Die ganze Sache war, da muß ich mich loben, hervorragend eingefädelt. Sie können sich gewiß vorstellen, was alles dafür erforderlich war – eine ganze Flotte riesiger Lastwagen, um den Turm zu einem jeder friedlichen, flachen Felder zu transportieren, die man auf dem Weg nach Chantilly sieht. Dort konnte der Turm bequem auf der Seite kiegen. Auf dem Hinweg war an diesem verhangenen Herbstmorgen sehr wenig Verkehr gewesen, und das bißchen konnte man nur als dürftig bezeichnen. Niemand, der versuchte, meine einhundertundzwei sechrädrige Lastwagen zu überholen, merkte, daß sie durch die Last des Turms wie Perlen an einer Kette miteinander verbunden waren. Die Privatwagen scherten für einen Moment aus und probierten vorbeizukommen, doch sobald die Fahrer der Fiats und Renaults dann Lastwagen um Lastwagen sahen, gaben sie einfach auf und schlossen sich der Prozession an. Auf der anderen Seite bescherte ich den Autos, die nach Paris hineinwollten, eine wunderbar freie Fahrt; für sie war die lange Strecke von Chantilly fast eine Einbahnstraße. Sie flitzten vorbei und hatten keine Zeit zu bemerken, daß der Turm so über den einzelnen Lastwagen lag, daß es praktisch keinelei Zwischenräume gab: der Turm fuhr in einer Art Schlafwagen hinaus, der Hunderte von Metern lang war. Ich empfinde eine starke Zuneigung zu dem Turm, und es freute mich, ihn nach all den Jahren des Krieges, des Nebels, Regens und Radars so friedvoll zu sehen. Am ersten Tag, an dem er da ruhte, lief ich um ihn herum, betastete gelegentlich eine Strebe: dem vierten Stock schien ein wenig unbehaglich zu sein, wo er einen seichten und modrigen Nebenfluß der Seine überspannte, und ich ließ ihn anheben. Dann fuhr ich zurück zum Originalstandplatz – ich war immer noch nervös, daß irgend jemand etwas merken könnte. Die großen Betonklötze standen da – mit nichts obendrauf. Sie erinnerten dermaßen an Grabstätten, daß bereits jemand ein Blumengewinde zu Ehren der Helden der Résistance niedergelegt hatte. Einmal fuhr ein Taxi vor, das den letzten Zugvogel des Tourismus enthielt, der hier noch einmal aussteigen wollte, bevor er den Atlantik westwärts überquerte, um dem nahenden Winter zu entkommen. Er hatte ein Mädchen bei sich, und er schwankte Eiffelturm stahl 11/00 mosaik 33 layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 34 ältestes Restaurant in Paris, 1582 La Tour dÀrgent, 15-17, Quai de la Tournelle Tél 0142 69 56 25, F/G8 Graham Greene Der Mann, der den Eiffelturm stahl ein wenig beim Gehen. Er bücke sich, um die Blumen anzuschauen und als er sich wieder aufrichtete, lag ein rosiger Schimmer auf seinen gutrasierten, gepuderten Wangen. „´s ´is ´ne Gedenkstätte“, sagte er. „Comment?“ fragte der Taxifahrer. Das Mädchen warf ein : „Chester, du sagtest, wir können hier zu Mittag essen.“ „Da ist kein Turm“, erwiderte der Mann. „Comment?“ „Was ich sagen will, ist“, erklärte er und schlenkerte mit den Armen, um seine Worte zu unterstreichen, „Sie haben uns zm falschen Platz gebracht. „Er gab sich sogar richtig Mühe: „Ici n´est pas la Tour Eiffel.“ „Oui. Ici.“ „Non. Pas du tout. Ici il n´est pas possible de manger.“ Der Fahrer stieg aus und sah sich um. Ich spürte wieder Nervosität in mir aufsteigen. Es war ja möglich, daß ihm die Abwesenheit des Turmes auffiel. Doch er stieg wieder in sein Taxi und wandte sich traurig 34 11/00 mosaik an mich. „Sie ändern immerzu die Straßennamen“, beklagte er sich. Ich beugte mich vertraulich zu ihm runter. „Sie wollen doch nur ein Mittagessen“, sagte ich. „Bringen Sie sie zum Tour d´Argent.“ Sie fuhren recht fröhlich dvon, und damit war diese Gefahr gebannt. Natürlich bestand immer das Risiko, daß die Belegschaft das öffentliche Interesse auf sich ziehen könnte, aber das hatte ich berücksichtigt. Die Arbeiter und Angestellten wurden wöchentlich entlohnt, und welcher Mann oder Frau wäre wohl so töricht zuzugeben, daß der Arbeitsplatz verschwunden war, bis sie Woche wieder vorbei und das Geld verdient war? Die Cafés in der Nachbarschaft wurden zur Zufluchtsstätte für die Belegschaft, allerdings mochte niemand mit einem Kollengen an einem Tisch sitzen, schon um layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 35 Essay unangenehmen Gespräche aus dem Weg zu gehen. Auf einen Quadratkilometer kam, wie ich nachzählen konnte, eine Uniformmütze; jeder Mann saß seine Dienstzeit zufrieden in einem Bistro ab, trank – je nach Höhe seines Gehalts – ein Bier oder einen Pastis und stand pünktlich von seinem Tisch auf, sobald die Feierabendzeit angebrochen war. Ich glaube nicht, daß sie auch nur verwirrt waren durch das Verschwinden des Turms. Man konnte ihn offenbar ebenso leicht vergessen wie die Einkommensteuer. Besser, gar nicht daran zu denken; wenn man darüber nachdächte, könnte schließlich irgendwer von einem erwaren, daß man etwas unternähme. Die Touristen blieben natürlich die Hauptgefahr. Nachtflieger glauben an einen tiefliegenden Nebel, und das Luftfahrtministerium übermittelte dem Außenministerium mit der „Bitte um Stellungnahme“ etliche Klagen über Radarstörungen – eine neue russiche Waffe im kalten Krieg. Unter Fremdenführern und Taxifahreren sprach sich aber schnell herum, es sei einfacher und weniger kompliziert, Fremde, die nach dem Eiffelturm fragten, zum Tour d´Argent zu fahren. Das Management dort nahm ihnen nicht die Illusionen, und der Blick war an diesen Herbsttagen ebenso gut, und sie waren sehr glücklich, sich für eine Menge Geld pro Person in das Gästebuch einzutragen. Ich pflegte vorbeizuschauen und ihnen zuzuhören. „Ich dachte immer, er sei irgendwie mehr aus Stahl“, sagte einer von ihnen. „Ich glaubte, man könnte durch ihn hindurchsehen.“ Ich erklärte ihm, wie sehr das doch auf das Unternehmen zutreffe, in dem er sich eben befände. Ein Urlaub kann niemals ewig währen, und als ich meinen kleinen Morgenrundgang machte, beschloß ich, daß der Turm wieder in Betrieb gesetzt werden müsse, bevor die dort Beschäftigten auf ihren Lohn verzichten müßten. bei einem Kostümverleiher Polizeiuniformen, Uniformen der Garde mobile, der Garde républicaine und der Académie française ausgeliehen. Die Ablkenkungsmanöver umfaßten eine Versammlung der Poujadisten, eine Revolte der Algerier und die Trauerrede für einen obskuren Theaterkritiker, die ein Freund von mir hielt, der sich als Kulturminister verkleidet hatte. Ich sage „verkleidet“, aber natürlich bestand für ihn nicht einmal die Notwendigkeit, auch nur seinen Namen zu ändern, geschweige denn sein Gesicht, da sich ohnehin keiner erinnerte, wer dieser Minister in Monsieur Mollets Kabinett war. Die Touristen hatten das letzte Wort, und eigenartigerweise war es derselbe Amerikaner, der mit demselben Mädchen in einem Taxi ankam, während ich da am Fuß meines geliebten Turms stand, der im Morgendunst Pirouetten zu drehen schien. Er schaute sich schnell um und sagte: „´s nich der Eiffelturm.“ „Comment?“ „Oh, Chester“, sagte das Mädchen, „wo haben sie uns jetzt wieder hingebracht? Sie machen aber auch gar nichts richtig. Ich bin so hungrig, Chester. Ich habe eben von der Sole Délice geträumt, die wir gegessen haben. „Ich sagte zum Fahrer: „Sie wollen zum Tour d´Argent“, und beobachtete, wie sie wegdüsten. Der Kranz zu Ehren der Helden der Résistance war verwelkt, aber ich steckte eine der vergilbten Blüten in mein Knopfloch und winkte dem Turm ein Lebewohl zu. Ich hätte in Versuchung geraten können, ihn noch einmal zu stehlen. Ich konnte nur hoffen, daß er im Lauf der Zeit noch einmal jemanden wie mich finden würde, der ihm ein wenig Landluft gönnte. Ich versichere ihm, daß es dabei kaum ein Risiko gibt. Niemand in Paris könnte zugeben, daß der Turm fünf Tage lang unbemerkt verschwunden war – genausowenig wie ein Liebhaber sich selbst eingestehen könnte, daß ihm die Abwesenheit seiner Geliebten nicht aufgefallen sei. Dennoch war das Zurückbringen des Turms eine heikle Angelegenheit und erforderte eine Menge Verkehrsumleitungen. Um das zu bewerkstelligen, hatte ich 11/00 mosaik 35 layout5 36 02.05.2003 11/00 mosaik 16:49 Uhr Seite 36 layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 37 Autoren Graham Greene, 2. Oktober 1904 in Berkhampstead geboren. Nach einem Studium im Balliol College in Oxford begann er eine journalistische Laufbahn bei der Provinzzeitung Nottingham Journal. Später trat er in die Nachrichtenredaktion der Times ein und wurde zu Beginn des Krieges Feuilletonredakteur der Wochenzeitung Spectator. Schon in seinen ersten Büchern kündigten sich die Motive seines Gesamtwerks an: Weltliche Macht und göttliche Gnade, Gut und Böse, Verbrechen und Strafe sind die polaren Gegensätze, um die seine Bücher immer wieder kreisen. Peter Handke, am 6. Dezember 1942 in Griffen/Kärnten geboren. Erste literarische Texte für die Internatszeitschrift „Fackel“ im katholischen Knabeninternat Tanzenberg. Ab 1961 Jurastudium in Graz. Während dieser Zeit Anschluß an die Schriftstellergruppe um das „Forum Stadtpark“ und Publikationen in der Zeitschrift „manuskripte“. 1969 Gründungsmitglied des Frankfurter „Verlags der Autorer“. 1973-77 Mitglied der Grazer Autorenversammlung. Lebt zunächst in Graz, dann in Düsseldorf, in den USA, und ab 1979 längere Zeit in Salzburg. Sascha Schmidt, am 15. August 1978 in Offenbach am Main geboren. Er machte 1998 in Bad Kreuznach Abitur und studiert seit 1999 in Wiesbaden an der Fachhochschule Medienwirtschaft. In seiner Freizeit ist er im Vorstand einer regionalen bündischen Jugendbewegung tätig und schreibt Kurzgeschichten und Gedichte. Hans Scherer, am 5. März 1938 in Berlin geboren. Er war Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und zuletzt Kulturkorrespondent in Berlin. 11/00 mosaik 37 layout5 38 02.05.2003 11/00 mosaik 16:49 Uhr Seite 38 layout5 03.05.2003 11:31 Uhr Seite 39 Reiseservice ...im Internet http://www.paris-touristoffice.com http://www.paris.org http://www.pariscope.fr http://www.timeout.co.uk http://www.parisnet.com ...in Deutschland Maison de la France Westendstr. 47 60325 Frankfurt/Main Tel. 0190 / 57 00 25 Fax 01 90 / 59 90 61 ...in Österreich Maison de la France Argentinier Str. 41 a 1040 Wien Tel. 01/503 28 90 ...in der Schweiz Maison de la France Löwenstr. 59 8023 Zürich Tel. 01/211 30 85 Fax 01/212 16 44 ...in Paris Office de Tourisme 127, av. des Champs-Elysées Tél. 08 36 68 31 12 Fax 01 49 52 53 00 Métro: Charles de Gaulle-Etoile Tgl. 9-20 Uhr Informationen über Events, Ausflüge, Stadtrundfahrten; Stadtpläne, Hotel- und Restaurantverzeichnisse und Zimmerreservierungen (ab Zwei-Sterne-Hotels). Filialen in Gare du Nord und Gare de Lyon (Mo-Sa 8-20 Uhr), am Eiffelturm (Mai-Sept. 11-18 Uhr) und im Carrousel du Louvre (10-19 Uhr). 11/00 mosaik 39 layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 40 Lexikon Paris, [frz. par’i] Hauptstadt und größte Stadt Frankreichs, zugleich Département („Ville de Paris“,gegliedert in20Arrondissements),105 km2, (1986) 2,128 Mio. Ew., Agglomeration (1986) 10,25 Mio Ew.; liegt 34 m über dem Meeresspiegel beiderseits der Seine im Zentrum des Pariser Beckens, umgeben von Plateaus (150 bis 200 m ü. M.), deren große Wälder (Forêts de Montmorency, St. Germain, Marly, Rambouillet, Fontainebleau, Sénart u.a.) als Erholungsgebiete dienen. Paris bildet mit den Dép. Seine-SaintDenis, Val-de-Marne, Val-d'Oise, Essone, Hautsde-Seine, Yvelines, Seine-et-Marne die Region Île-de-France. Geschichte. Das gallische oppidum Lutetia Parisiorum auf der Île de la Cité wurde 52 v. Chr. von den Römern, 486 vom Frankenkönig Chlodwig erobert und 508 Hauptstadt des Fränkischen Reiches. Unter den Karolingern sank es wieder zum Grafensitz ab, mit den Kapetingern wurde die Stadt Ende des 10 Jh. Mittelpunkt des französischen Reiches. Sie dehnte sich auf den beiden Seine-Ufern aus, auf dem rechten die „Ville“ mit Händlern und Handwerkern, auf dem linken seit dem 12. Jh. die Universität (Sorbonne). Ansätze zur städtischen Selbstverwaltung gab es im 13. Jh., doch erst im Hundertjährigen Krieg erlangte der Vorstand der Kaufmannsgilde (prévôt des marchands) größeren Einfluß. 1420-36 war Paris in englischer Hand. In den Religionskriegen hatte die Stadt, deren Bürgerschaft zu der kath. Partei hielt, eine Schlüsselstellung; 1572 war Paris Schauplatz der Bartholomäusnacht; 1648 brach hier der Aufstand der Fronde aus. Mit dem Sturm auf die Bastille begann 1789 die französische Revolution; gleichzeitig konstituierte sich die um bürgerliche Mietglieder erweiterte Stadtregierung zur Kommune, die seit 1792 von Jakobinern beherrscht wurde (1794 aufgelöst). Die zentralistischen Verwaltungsreformen des napoleon. Konsulats und des Empires stärkten die Stellung von Paris als Hauptstadt. In den Freiheitskriegen wurde die Stadt 1814/15 von den Verbündeten eingenommen. Im Deutsch-Frz. Krieg kapitulierte Paris am 18.1.1871, erhob sich aber im Aufstand der Kommune. Im 1. Weltkrieg durch die Marneschlacht gerettet, war Paris von 1940 bis 1944 von deutschen Truppen besetzt. Der deutsche Stadtkommandant D. von Choltitz verhinderte die von Hitler beabsichtigte Zerstörung. 40 11/00 mosaik layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 41 11/00 mosaik 41 layout5 02.05.2003 16:49 Uhr Seite 42