angewandte VorgescHicHte

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angewandte VorgescHicHte
1. K api tel
Angewandte
VorGeschichte
Das menschliche Gen zwischen Naturwissenschaft, Öffentlichkeit und Markt
Marianne Sommer
Mit dem Begriff der angewandten Vorgeschichte möchte ich einen in den Analysen des Geschichtsbooms bislang vernachlässigten Aspekt ins Zentrum der
Aufmerksamkeit rücken: Anwendungen einer biologisch fundierten und naturwissenschaftlich rekonstruierten Geschichte. Denn im 21. Jahrhundert sind
Naturwissenschaftlerinnen erfolgreich dabei, sich die traditionelle Deutungsmacht der Historiker als Lieferanten von identitätsstiftenden Herkunftsnarrativen anzueignen. Wenn die angewandte Geschichte sich dadurch auszeichnet,
an althergebrachte Bedürfnisse anzuknüpfen, die durch jüngere Entwicklungen
akzentuiert auftreten, dann scheinen darin insbesondere die Lebenswissenschaften zu reüssieren. Der Anspruch der Naturwissenschaft auf die Wahrheit
darüber, wer wir sind und woher wir kommen, greift mannigfaltig in gesellschaftliche Prozesse der Identitätspolitik ein. Insbesondere die Genetik verspricht
20
eindeutige Antworten und objektives Wissen bezüglich grundlegender Menschheitsträume. Dabei geht das Versprechen über die Machbarkeit von Schönheit,
Gesundheit und langem Leben hinaus. Die Medienpräsenz jener Naturwissenschaften, welche die Evolution des Menschen und der Menschen zum Gegenstand haben, macht deutlich, dass es längst nicht nur die Geschichte humanistischer Provenienz ist, die mit neuen Anwendungen Märkte kreiert. So erzählt
zum Beispiel die Humanpopulationsgenetik von den Ursprüngen und
Geschichten von Klans, Stämmen, Ethnien, Rassen und Nationen.
Im Sinne von »big anthropology«, die auf der Basis der genetischen Variabilität
zwischen lebenden Populationen die evolutionäre Geschichte der Menschheit
rekonstruieren will, geht die anthropologische Genetik auf den Aufruf zum
»Human Genome Diversity Project« (HGDP ) in »Genomics« von 1991 zurück.1
Einer der Initiatoren, der italienische Populationsgenetiker Luca Cavalli-Sforza,
gehört seit den 1960er Jahren zu den Pionieren der humanpopulationsgenetischen Forschung. Er studierte die Beziehungen zwischen Migrationsmustern
und Blutgruppenverteilungen und war auch an der Entwicklung der Methoden
zur ›Stammbaumerstellung‹ beteiligt.2 Das Verständnis des Gens als Geschichtsdokument, welches gar als ›herkömmlichen Geschichtsdokumenten‹ überlegen
postuliert wird, ist denn auch nicht erst das Produkt der genetischen »big
anthropology«. Die Vorstellung, dass die Gene die authentischsten Träger der
menschlichen evolutionären Vergangenheit sind, ging vielmehr der Möglichkeit
deren direkter Analyse voraus. Sie stammt aus den Anfängen der Anwendung
molekularer Verfahren auf die Phylogenese und Evolution der Primaten in Form
von Proteinvergleichen in den 1960er Jahren. Zunehmend beriefen sich die
molekularen Anthropologen auf die größere Objektivität ihrer quantitativ-technischen Verfahren gegenüber einer notorisch von Befangenheit gekennzeichneten physischen Anthropologie.3 Es sollte jedoch bis in die zweite Hälfte der
1980er Jahre dauern, bis die Technologien zur groß angelegten statistischen
Untersuchung der genetischen Diversität der Menschheit zur Verfügung stünden
und damit ein HGDP in den Bereich des Möglichen rückte.
Bis heute sind zahlreiche kleinere und ehrgeizigere Projekte in die Fußstapfen
des HGDP getreten; so etwa das »African Ancestry« Projekt und nationale
populationsgenetische Unterfangen wie das »Irish Origins« Projekt. Von besonderem Interesse für die Betrachtung angewandter Vorgeschichte ist, dass sich
diese mitunter durch die Möglichkeit der öffentlichen Teilnahme auszeichnen.
So verbindet zum Beispiel das »Genographic Project« ein humanpopulationsgenetisches Ganzheitsvorhaben mit dem Markt der genetischen Genealogie. Das
von »National Geographic«, IBM und der »Waitt Family Foundation« unterstützte
Projekt besteht aus drei Teilen: Erstens dem Vorhaben, DNA von indigenen, also
so genannten ›isolierten‹ Populationen zu sammeln und durch deren vergleichende Analyse die evolutionäre Geschichte der Menschheit zu rekonstruieren.
Zweitens hat das Projekt einen kommerziellen Teil, in welchem die westliche
Bevölkerung aufgerufen wird, gegen Bezahlung die eigene DNA analysieren und
in den menschlichen Stammbaum einreihen zu lassen. Aus diesem Geld soll
drittens das Überleben indigener Kulturen unterstützt werden. Hier haben wir
21
es also mit Identität als Ware in neuen Formationen aus Lebenswissenschaften,
Öffentlichkeiten und Märkten zu tun.4
Das mit dem »Genographic Project« assoziierte »Family Tree DNA « Unternehmen ist bei Weitem nicht der einzige kommerzielle Anbieter von genetischen
Vorfahrentests. Die besonders im anglophonen Raum aktiven Firmen wie
»DNA Print Genomics«, »Genelex«, »GeneTree«, »Oxford Ancestors« und
»Relative GeneticsTM« ordnen den individuellen Kunden in den menschlichen,
europäischen oder nationalen Stammbaum ein und geben Auskunft über
ethnische Identität. Gegen Bezahlung und einen Mundabstrich soll der Kunde
erfahren, ob und zu wie vielen Prozenten er »Native American« ist, oder ob er
von der jüdischen Priesterkaste der Kohanim abstammt. DNA -Abschnitte einer
afroamerikanischen Kundin werden zum Beispiel auf Zugehörigkeit zu bestimmten afrikanischen Populationen geprüft. Ein Y- Chromosomentest kann
demgegenüber eine Abstammung von den Wikingern oder den Kelten verraten;
vielleicht gar eine direkte Nachkommenschaft von Dschingis Khan. Aber das
›Archiv ‹ der DNA reicht weit vor solch mythisch aufgeladene ›Väter‹ und ›Völker‹
zurück und ordnet die Kundin im prähistorischen Stammbaum der mitochondrialen Eva ein, unser aller afrikanischer Urmutter. Die Behauptung, dass die Genetik dabei Lücken im historischen Archiv füllt, ist eine gängige Rhetorik. So
erklärt der Gründer und wissenschaftliche Direktor der »African Ancestry Inc.«:
»Science and technology now provides a bridge to the past. Technological
advances in DNA technology now open up new and unprecedented opportunities
for African Americans to fill centuries of old voids in knowledge of their family
history.«5 Weder populationsgenetische Großprojekte zur Rekonstruktion der
irischen ›Völkergeschichte‹ oder der menschlichen Migrationen schlechthin noch
die individualisierte genetische Genealogie sind ohne die Rhetorik des Gens als
Geschichtsdokument denkbar.
Im Folgenden möchte ich die Betrachtungen zur Populationsgenetik als neue
Erscheinungsform der angewandten Vorgeschichte an einem Beispiel vertiefen.
Dabei interessiert insbesondere ihr Verhältnis zu anderen Geschichtsformen.
Die Verstrickung von akademischer Naturwissenschaft, kommerzialisierter
Geschichte und öffentlich-medialer Verbreitung und Partizipation werden am
Beispiel der Forschung, der Publikationen und der »genetic ancestry tracing« –
Firma des renommierten britischen Genetikers Bryan Sykes besonders deutlich.
Seine Genetik ist auch durch die sinnstiftende Funktion für den Konsumenten
angewandt, und damit explizit weltanschaulich perspektiviert.
Bryan Sykes ist
Genetikprofessor am »Institute of Molecular Medicine« der Universität Oxford.
Obwohl er seine Karriere in der medizinischen Forschung begann, ist er zu einem
bedeutenden Populationsgenetiker geworden. Er wandte die von Allan Wilson,
Rebecca Cann und Mark Stoneking in den 1980er Jahren entwickelte Methode, die
zum »African Eve«- Modell der menschlichen Evolution führte, auf europäische
Populationen an.6 Die »African Eve«-Theorie basiert auf der vergleichenden Analyse mitochondrialer DNA -Sequenzen (mtDNA ) von etwa 150 Menschen, die
Populationsgenetik als angewandte Vorgeschichte: »Oxford Ancestors«
23
»African«, »Asian«, »Australian«, »Caucasian« und »New Guinean« Populationen
zugeschrieben wurden. Sie besagt, dass die mtDNA der heute lebenden Menschen auf eine einzige Sequenz vor circa 200.000 Jahren zurückgeht. Diese
mtDNA -Sequenz habe sich im Körper einer hypothetischen Urmutter befunden,
eben der »African Eve«, die zu der Zeit zu den ersten modernen Menschen in
Äquatorialafrika zählte. Etwa vor 100.000 bis 140.000 Jahren hätten Populationen
des modernen Menschen begonnen, von dort den Erdball zu besiedeln. Sykes’
»Seven Daughters of Eve«-Modell nimmt den Faden von da auf. Ebenfalls
aufgrund von mtDNA -Studien gelangte Sykes zu der Theorie, dass die heutige
Bevölkerung Europas auf sieben prähistorische Gründerklans zurückgeführt
werden kann. Da mtDNA nur über die mütterlichen Linien weitergegeben wird,
postuliert er für diese sieben ›Stämme‹ jeweils eine europäische Urmutter,
eben eine von sieben Töchtern der mitochondrialen Eva. Diese ›Stämme‹ haben
ihren Ursprung laut Sykes im Europa vor zwischen 45.000 und 8.500 Jahren.7
Sykes’ Forschung, die auch die Analyse fossiler DNA und genetische Familiengenealogie mit einschloss, stieß auf derartige öffentliche Resonanz, dass er 2001
ein universitäres Spin-off- Unternehmen gründete, dass diese Technologien
der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen sollte. Das Unternehmen mit dem
Namen »Oxford Ancestors« bietet verschiedene Dienstleistungen an. Das
»MatriLineTM «-Paket informiert den Kunden »[…] about their own maternal
ancestry and their place in the family tree of all humanity«,8 während die
»Y-ClanTM« und die »Tribes of BritainTM« Varianten väterlicher Abstammung
eruieren. Die »Tribes of BritainTM«-Analyse ist auf britische Männer beschränkt,
für welche eine keltische, angelsächsische oder Wikinger-Herkunft bestimmt
werden soll. Kunden, die sich zum Beispiel für eine mtDNA -Analyse entscheiden,
erhalten für £ 180 nebst der Sequenzinformation über 400 Basenpaare ein
Zertifikat, welches sie zu Mitgliedern eines der Stämme der sieben Töchter der
Eva macht. Ein weiteres Zertifikat zeigt dem Kunden, wie sich sein europäischer
Klan zu anderen paläolithischen Weltklans verhält und in den Stammbaum der
gesamten Menschheit, von der mitochondrialen Eva ausgehend, einreiht.
Während es dem Kunden bei der genetischen Zuschreibung zu den Kelten oder
Wikingern möglich ist, auf eine Fülle an Büchern, Filmen und anderen Quellen
zur Sinnstiftung zurückzugreifen, ist dies bei der mtDNA -Analyse und der
Identifikation mit einem der sieben Klans der Evatöchter schon schwieriger.
Diese sind Sykes’ Kreationen und der Name und die DNA -Sequenz allein bleiben
daher für den Kunden stumm. Hier greift denn Sykes’ intermediales System.
Er kombiniert die Information auf der Website und die Services von »Oxford
Ancestors«, die sich ihrerseits auf seine akademische Arbeit abstützen, mit Populärliteratur. Sein Buch »The Seven Daughters of Eve« erklärt nicht nur detaillierter
sein theoretisches Modell und seinen praktischen Ansatz, sondern macht die
sieben Töchter der Eva – alles fiktive Gestalten – zu realen, in der Steinzeit lebenden Frauen, indem er diese aufgrund archäologischen Wissens mit individuellen Geschichten versieht.9 Tatsächlich ist diese Strategie so erfolgreich, dass
zahlreiche Leser und Kundinnen fälschlicherweise davon ausgehen, dass Sykes
die Überreste von einst lebenden Frauen gefunden hätte. Als Pendant zu diesem
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Buch, das die mtDNA -Services für den Kunden wertvoll macht, schrieb Sykes ein
weiteres als Begleitlektüre zur Y-Chromosomen-Analyse: »Adam’s Curse.
A Future Without Men«.10 Es erzählt Erfolgsgeschichten von Y-Chromosomen,
die sich durch Gier, Aggression und Promiskuität zu vervielfältigen und bis
heute durchzusetzen vermochten. Es sind dies die Abenteuer von scheinbar
kalkulierenden Molekülen, die es nur so aussehen lassen, als ob Helden wie
Dschingis Khan ihre Eroberungszüge aus freiem Willen unternommen hätten.
Durch seine Bücher gibt Sykes den DNA -Mutationen also Gesichter und
schreibt abenteuerliche Geschichten in Nukleotidsequenzen ein, die für den
Kunden andernfalls wenig informativ wären. Trotz der proklamierten Überlegenheit genetischer gegenüber physisch-anthropologischer, archäologischer und
historischer Geschichtsschreibung scheinen die Geschichten doch von da zu
kommen. Auch machen Bezeichnungen wie »Töchter Evas« deutlich, dass sie
auf einen breiteren kulturellen Wissensfundus zurückgreifen. Eine Beziehung
zwischen Kunde und Produkt wird auch dadurch hergestellt, dass »Oxford
Ancestors«, wie bereits angedeutet, guten Gebrauch vom Internet macht.
Die Firmenwebsite bietet Plattformen, wo Kunden über ihre Erfahrungen mit den
Dienstleistungen sprechen können. Diejenigen Kunden, die sich mit genetisch
ihresgleichen finden möchten, können online die Datenbank nach passenden
DNA -Sequenzen durchforsten. Sykes beschreibt diese Entdeckung genetischer
Verwandtschaft als sehr emotionsgeladen und verbindend; es werden gar
Klanparties organisiert. Die Kunden von Oxford Ancestors sind, indem sie ihre
eigene DNA in die Datenbank einspeisen, sowohl Teil von Sykes wissenschaftlichen Projekten wie von den kommerzialisierten Angeboten, da sie Vergleichssequenzen für neue Analysen liefern. Sehen wir uns diese multiplen Verstrickungen
– und insbesondere das Verhältnis der genetischen zu anderen Geschichtsformen – am Beispiel von Sykes’ 2006 erschienenem populären Buch, »Blood of
the Isles. Exploring the Genetic Roots of Our Tribal History«, abschließend noch
etwas genauer an.
Dabei handelt es sich
analog zu den bereits besprochenen Büchern um ein Begleit- und Synergieprodukt zu einer der »Oxford Ancestors«-Dienstleistungen, nämlich dem »Tribes of
BritainTM«. Die genetischen Daten, die in dieses Buch eingeflossen sind, sind das
Resultat von zehn Jahren DNA -Sammeln durch Sykes’ »Oxford University Team«
in Großbritannien. Nebst den Blut- und Speichelproben, die Sykes und Mitarbeiter von Engländern, Walisern und Schotten über Blutspendedienste, an Schulen
und Messen und über Briefanfrage erhielten (über 10.000), waren auch hier die
Samples der »Oxford Ancestors«-Kunden integrativer Bestandteil der Forschung.
Diese fand innerhalb des »Oxford Genetic Atlas«-Projekts statt, das hauptsächlich durch den »Wellcome Trust« finanziert wurde. Dem Netzwerk aus »Oxford
Ancestors« und Website und Sykes’ »Oxford University Team«, Labor und Publikationen ist im Falle von »Blood of the Isles« noch ein weiteres Element angefügt.
Es wurde eine spezielle Website eingerichtet, die über das Projekt informiert
und ein Formular enthält, mittels welchem die freiwilligen Spender den Code
Gene, Mythen, Geschichte: »Blood of the Isles«
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verlangen können, der es ihnen erlaubt, ihre Daten auf der Website zu identifizieren.11 Die mtDNA - und Y- Chromosomen-Daten des »Genetic Atlas«-Projekts sind
in PDF -Dateien der Website angefügt und unter Copyright verwendbar.
Sykes beginnt »Blood of the Isles« mit dem Satz: »This is the very first book to
be written about the genetic history of Britain and Ireland using DNA as its main
source of information.«12 Er positioniert also die Art der Geschichtsschreibung,
um die es hier geht, und fährt fort: »In Blood of the Isles, I approach the DNA
evidence in the same way as others who write about the past using their different
specialties – material artefacts, written documents, human remains and so on.
The most important thing about the genetic evidence is that it is entirely independent of these other sources.«13 Die genetische Rekonstruktion von Herkunft und
Geschichte antwortet nach Sykes auf ein spezifisches Bedürfnis: »I have experienced the thirst for roots first hand through the company I set up to help people
trace their origins using DNA .«14 Sykes’ Geschichtsschreibung ist also eine Art
Hilfeleistung an die nach Orientierung dürstenden Menschen der Gegenwart.
Während Soziologen hochgestochen von einem Trauma der Entwurzelung
durch das allgegenwärtige Phänomen der Migration in einer globalisierten Welt
sprechen, während sie die Suche nach Ursprüngen als Verlangen nach einem
sinnvollen, moralisch begründeten und authentischen Selbstnarrativ in Anbetracht der Mehrdeutigkeiten und Diskontinuitäten der Moderne deuten, zitiert
Sykes den ›Mann der Straße‹: »I want to be able to tell my children where their
ancestors came from. It gives them a sense of belonging in a world that sometimes moves too fast.«15 Sykes hält sich an die einfach formulierten Fragen des
Alltags und die Geschichte im Gen hält die ebenso unkomplizierte Antwort bereit.
Aber das Bedürfnis nach Wurzeln könnte auch von der ›herkömmlichen‹
Geschichtsschreibung befriedigt werden. An diesem Punkt zieht Sykes seinen
Joker. Sykes’ Geschichte ist nämlich eine organische; DNA -Sequenzen sind
scheinbar ebenso greifbar wie die Bedürfnisse ›des gemeinen Mannes‹:
»[…] a DNA test which roots a person to Scotland or Ireland makes a living
link between descendant and ancestor. It is all the more powerful as this talisman
is carried across the generations in every cell of the body, as it was in the bodies
of ancestors, including the ones who made the journeys ›abroad disease-ridden
ships bound for outlandish colonies‹. It was there.«16
Es geht hier um eine Geschichte, die im Innern jedes Körpers getragen wird;
eine »history within«, wie es auf der Website des »Genographic Projects« heißt.
Wie ein unsichtbares Netz verbinden die Chromosomenfäden die Menschen über
räumliche und zeitliche Distanz. Das Gen als Relikt oder eben Reliquie wird bis
zur Fetischisierung aufgeladen: »[…] to many people, of which I am one, the idea
that within each of our body cells we carry a tangible fragment from an ancestor
from thousands of years ago is both astonishing and profound.«17 Der Gedanke
erregt Ehrfurcht. Gene sind scheinbar direkte Zeitzeugen, und die Geschichte
schreibt sich gleichermaßen im DNA -Code ins organische Weichteil. Damit ist
die Geschichte in Genen auch so alt wie das Gen selbst und Sykes’ spezifische
Geschichte zielt auf eine Zeit lange vor der Bildung der Nationalstaaten ab. Er
schließt daher auch Samples aus der irischen Replik in die Geschichte Großbri26
tanniens ein. Somit befindet sich Sykes mitten im dominanten universalistischen
Diskurs der Humanpopulationsgenetik, und die Botschaft seines Buchs lautet:
»Ours is a shared history.«18
Eine solch einigende Kraft ist dem Mythos eigen, und Sykes bezieht sich in
seiner Interpretation der genetischen Daten immer wieder auf diesen: »But in my
research around the world I have more than once found that oral myths are
closer to the genetic conclusions than the often ambiguous scientific evidence of
archaeology.«19 Das zweite Kapitel von »Blood of the Isles« ist daher eine Rekapitulation der Ideen über die Herkunft der Briten von der König-Arthur-Sage bis
zum Teutonischen Mythos, der schließlich in Gestalt des Arier-Mythos die
Schreckensherrschaft der deutschen Nazis ideologisch untermauerte. Sykes
schließt daraus, dass »[…] the career of a myth depends far less on its factual
accuracy than on its congruence with contemporary political ambition, and the
fervour with which people believe it.«20 Dies wirft die Frage auf, welche spezifischeren gegenwärtigen politischen Ambitionen und menschlichen Leidenschaften Sykes’ eigene Geschichte abholt. Zuerst scheinen die Gene den Mythen
zu widersprechen. Die genetisch fundierte Geschichte unterwandert den Sykes
zufolge höchst aktuellen, wenn auch alten Mythos der Andersartigkeit einer
keltischen Rasse. Dieser Kult der Differenz beruhe auf der gälischen Sprache,
welche den westschottischen, irischen, walisischen, cornwallschen und bretagneschen Kelten gemeinsam ist. Während die Kelten im Westen der britischen
Inseln den »Celtic brand« dazu benutzten, sich vom übrigen Britannien zu
distanzieren und diesen der scheinbaren englischen Dominanz entgegenhielten,
erzählt die Genetik nach Sykes eine einende Geschichte.21
Allerdings ist sich Sykes der affektiven Kraft des keltischen ›Mythos‹ wohl
bewusst. Der ›keltische Separatismus‹ betrachte allein diese Kelten als die Hüter
eines farbigen stammesgeschichtlichen Erbes. Dieses Erbe werde noch dadurch
angereichert, dass die Kelten in ihrer Rolle als europäische Ureingeborene mit
den marginalisierten, aber spirituell und mythisch reichen »Australian Aborigines« und »Native Americans« in Verbindung gebracht würden. Genau diese
Art aufgeladener Herkunftsnarrative eignet sich nun aber besonders gut für das
Business des »genetic ancestry tracing«, in welchem Sykes handelt. Sykes stellt
sich denn auch nicht auf die Seite von Wissenschaftlern, wie etwa des Archäologen Simon James, die den »Celtic brand« eben als Mythos dekonstruieren.22
Sykes’ Frage, ob die Genetik hinter den »Celtic brand« – und die darauf basierenden Gefühle der Ursprünglichkeit – und hinter dessen Marketingmaschine
und Politik zu schauen vermag, bringt eine andere Lösung hervor.
Die Erklärungen zur ›irischen, schottischen, walisischen und englischen DNA ‹
werden im Buch der Einführung in die mythischen und historischen Quellen
jeweils nachgereicht. Die mtDNA erzähle – so Sykes – von einer sehr alten und
kontinuierlichen Geschichte der mütterlichen Linien, die zu großen Teilen auf die
paläolithischen und mesolithischen Inselbewohner zurückzuführen seien.
Neolithische Farmer seien von der iberischen Halbinsel entlang der Atlantikküste
gekommen, hätten aber keineswegs die indigenen mesolithischen Briten ersetzt.
Seither, also während der letzten circa 6.000 Jahre, sei der weibliche Genpool
27
mehr oder weniger intakt geblieben. Sykes bezeichnet diese originale Linie als
»Celtic/Pictish«: »On our maternal side, almost all of us are Celts.«23 Auch
die männlichen Linien seien vorderhand ›keltisch‹ in diesem panbritannischen
Sinne. Sächsische, dänische Wikinger und normannische Y- Chromosomen
(alle germanischer/skandinavischer Herkunft) seien da, aber überall eine
Minderheit.
»Overall, the genetic structure of the Isles is stubbornly Celtic, if by that we
mean descent from people who were here before the Romans and who spoke a
Celtic language. We are an ancient people, and though the Isles have been the
target of invasion and opposed settlement from abroad ever since Julius Caesar
first stepped on to the shingle shores of Kent, these have barely scratched the
topsoil of our deep-rooted ancestry. However we may feel about ourselves and
about each other, we are genetically rooted in a Celtic past. The Irish, the Welsh
and the Scots know this, but the English sometimes think otherwise. But, just a
little way beneath the surface, the strands of ancestry weave us all together as
the children of a common past.”24
Die Genetik unterstützt also die Theorie einer großen Einwanderungswelle
aus Zentraleuropa in den Westen der Inseln nicht. Schotten, Waliser und Iren
sind demnach nicht mit jenen ›Kelten‹ verwandt, die im ersten Jahrhundert vor
Christus von Hallstadt und La Tène Richtung Italien, Griechenland und der
Türkei zogen. Aber Sykes benutzt diese genetisch begründete Einsicht auch nicht
dazu, eine irisch-schottisch-walisische Identität als Kelten zu unterwandern.
Vielmehr macht sich Sykes den emotional und politisch stark aufgeladenen
»brand« zu eigen, um alle Teile der Inseln darunter zu einen: Auch die Engländer
und generell die Ostbewohner sind mehrheitlich Kelten. Der Begriff des Kelten
wird damit Tausende von Jahren in der Zeit zurückgeschoben, eben auf die
paläo- und mesolithischen Ureinwohner der Inseln, die sich friedlich mit den
iberischen Neolithikern gemischt hatten. Dieser Schachzug ist geschickt,
weil Sykes damit die Aura des Werdensmythos der Inselbewohner für sich in
Anspruch nehmen kann, die nicht zuletzt wichtiger Teil der Verkaufsstrategie
von »Oxford Ancestors’ Tribes of BritainTM« ist.
So gelingt es Sykes schließlich, Mythos, Geschichte und wissenschaftliche Sicherheit, Autorität und Objektivität zu einem
Paket zu schnüren. Am Ende steht die neue Geschichtsschreibung, die das Gen
ermöglicht: »My subject has been our history, the history written in our genes.«25
Die Kunst des DNA -Lesens erscheint dabei gleichzeitig als »[…] oblivious to the
prejudice of the human mind«26 und als Quelle jeden Wissens über den Menschen.
Die Gene selbst werden zu Trägern der Ursprungsmythen, Werdensgeschichten
und ›stämmischen‹ Identität der Inselbewohner und damit zu weit mehr als den
Herrschern über deren Körper: »I have introduced you to a new art and a new
language. An art that is written in the codes of our DNA , those unseen architects
of our bodies, even of our souls. It is a new art, not long tested and yet somehow
irresistibly correct.«27 Die Gene bergen demnach die Geheimnisse unserer physischen und spirituellen individuellen Essenz; sie verkörpern aber zudem unser
Lebendige Geschichte, Objektivität und Affekt
28
aller Geschichte vom Anbeginn des Lebens. Sie lassen den Lebensfaden gleich
einer »infinite umbilical cord« nie abreißen. Damit ist die genetische Rekonstruktion eine authentische, weil sie sich auf den Zeitzeugen DNA stützt. Sie ist auch
eine lebendige, die sich wie keine andere zur angewandten Geschichte eignet:
»It is a living history, told by the real survivors of the times: the DNA that still lives
within our bodies. This really is the history of the people, by the people.«28
Dieser Satz, mit welchem Sykes »Blood of the Isles« schließt, verweist nicht nur
auf eines seiner früheren Bücher – »The Human Inheritance«, sondern nimmt die
populationsgenetische Vorstellung des menschlichen Genpools als »our genetic
heritage« auf.29 Ganz im Sinne eines kulturellen Erbes gelte es das genetische zu
bewahren, aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es
bestehe aus einem Fundus an Geschichten von dem ›Volk‹ für das ›Volk‹, die
dennoch die Objektivität und Authentizität der direkten Einschreibung der Natur
und die Autorität einer mathematisierten und technisierten Laborwissenschaft
aufweisen. Daraus ergibt sich die Behauptung einer Überlegenheit der genetischen gegenüber der humanistischen Geschichtsschreibung. Letztere wird der
naturwissenschaftlichen als subjektiv, kulturell gefärbt und lückenhaft, wenn
nicht trocken und leblos (im Gegensatz zu organisch, feucht und lebendig)
entgegengestellt. Wie die geisteswissenschaftliche, so ist auch die genetische
Geschichtsschreibung implizit und – in den hier besprochenen Beispielen angewandter Vorgeschichte – explizit identitätsstiftend. In der Gemengelage aus
Naturwissenschaft, Öffentlichkeit und Markt, welche die angewandte Populationsgenetik kennzeichnet, stehen diese biologisch fundierten Identitäten zum
Verkauf.
1 Cavalli-Sforza, Luca u. a., Call for a World-Wide Survey of Human Genetic Diversity.
A Vanishing Opportunity for the Human Genome Project, in: Genomics 11 (1991), S. 490 – 491.
Ermutigt durch das Humangenomprojekt – und damit einhergehende Fortschritte in
molekularen Methoden, deren Automation und in der Informationstechnologie – wurde das
»Human Genom Diversity Project« lanciert. Es hatte zum Ziel, durch groß angelegte
vergleichende Analysen der genetischen Variation zwischen lebenden Populationen die
Wanderungsgeschichte und den Stammbaum der Menschheit zu rekonstruieren.
2 Vgl. z. B. Cavalli-Sforza, Luca L./Edwards, A. W. F ., Phylogenetic Analysis. Models and Estimation
Procedures, in: American Journal of Human Genetics 23 (1967), S. 235 – 252.
3 Sommer, Marianne, History in the Gene. Negotiations Between Molecular and Organismal
Anthropology, in: Journal of the History of Biology 41/3 (2008), S. 473 – 528.
4 Zum Genographic Project vgl. Nash, Catherine, Mapping Origins. Race and Relatedness in
Population Genetics and Genetic Genealogy, in: Atkinson, Paul/Glasner, Peter/Greenslade,
Helen (Hg.), New Genetics, New Identities, London: Routledge 2007, S. 77 – 100.
5 Kittles, Rick A. / Winston, Cynthia E., Psychological and Ethical Issues Related to Identity and
Inferring Ancestry of African Americans, in: Turner, Trudy R. (Hg.), Biological Anthropology and
Ethics. From Repatriation to Genetic Identity, Albany 2005, S. 209 – 229, hier S. 222.
6 Cann, Rebecca L. / Stoneking, Mark/Wilson, Allan C., Mitochondrial DNA and Human Evolution,
in: Nature 325 (1987), S. 32 – 36.
29
7 Zur Methode vgl. Sykes, Bryan, The Human Inheritance. Genes, Language and Evolution,
8 www.oxfordancestors.com.
9 Sykes, Bryan, The Seven Daughters of Eve, New York 2001.
Oxford 1999.
10 Ders., Adam’s Curse. A Future Without Men, London 2003.
11 www.bloodoftheisles.net.
12 Sykes, Bryan, Blood of the Isles. Exploring the Genetic Roots of Our Tribal History,
London 2006, S. 1.
13 Ebd., S. 2.
14 Ebd., S. 54.
15 Ebd., S. 54.
16 Ebd., S. 54.
17 Ebd., S. 108.
18 Ebd., S. 3.
19 Ebd., S. 21.
20 Ebd., S. 34.
21 Ebd., Kap. 3.
22 Vgl. James, Simon, The Atlantic Celts.
Ancient People or Modern Invention?, Madison WI 1999.
23 Sykes, Blood, S. 281.
24 Ebd., S. 287.
25 Ebd., S. 278.
26 Ebd., S. 278.
27 Ebd., S. 278.
28 Ebd., S. 288.
29 Vgl. z. B. Cavalli-Sforza u. a., Call, S. 490.
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