Altern in unserer Gesellschaft Die Altenheime sind voll von

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Altern in unserer Gesellschaft Die Altenheime sind voll von
Altern in unserer Gesellschaft
Die Altenheime sind voll von den einsamsten Menschen, niemand, wirklich niemand besucht
diese lebenden Toten noch. Umsorgt von Pflegern, die unter Zeitdruck unwillig ihrer Arbeit
nachkommen, dämmern sie vor sich hin, wissend, dass auch bei ihrem letzten Atemzug keine
sie liebende oder ihnen zumindest in Zuneigung verbundene Person an ihrem Bett sitzen wird.
Allein werden sie sterben, total allein.
Darüber sind wir schockiert, auf der anderen Seite wollen wir Erfolg haben, aktiv sein, lustig,
ein abwechslungsreiches Leben führen. Wo soll denn in diesem Karriere- und
Vergnügungszirkus so ein alter Mensch Platz haben? Ist es nicht unser aller Ziel, so
unabhängig wie möglich zu sein, niemanden zu brauchen, glückselig alleine zu sein?
Die Freiheit, sich zu trennen, wenn etwas nicht mehr stimmt, führt doch schon vor dem Alter
zu langen Perioden von Einsamkeit. Oft ist das Leben „die Suche“ nach dem perfekten
Partner. Es gibt kein WIR, das sich in Jahren entwickelt.
Es gibt tollen Sex und gute Affären. Die Leben laufen nebeneinander her, nicht miteinander.
Das ist sehr abwechslungsreich und auch unterhaltsam, aufregend, erregend, faszinierend.
Aber dann kommt schleichend das Alter und jetzt nützt einem die Affäre nichts, wenn die
Krebsdiagnose kommt und die Haare ausfallen. Barbara Rudnik klagte in einem Interview
darüber, dass sie mit ihrem Krebs keinen Mann mehr fand. Aber wie denn auch? Das kann
doch nur jemand tragen, mit dem uns schon vorher viel verbunden hat. Mit dem man Spaß
und Pflichten teilte. Nicht nur Amüsement. Nicht nur Unverbindlichkeit. Vielleicht hat man
Glück und die Affäre kommt mal wieder vorbei, wenn es uns besser geht…
Und noch etwas später gibt es auch keine Affären mehr, weil Männer sich früher
verabschieden aus dieser Welt. Dann sitzt man da im Greisenhaus und muss sich von schlecht
gelaunten Pflegekräften den Löffel in den Mund schieben lassen. Als Single, und vor allem
als kinderloser Mensch muss man sich darüber im Klaren sein, dass es entweder eine
funktionierende Wahlfamilie gibt, wo freiwillig und unbezahlt Pflichten übernommen werden
oder man sollte doch lieber in die Schweiz fahren, falls bis dahin der Giftcocktail in
Deutschland noch nicht erlaubt ist. Aber er wird erlaubt werden, schon alleine aus
Kostengründen. Wie soll denn diese Armee von einsamen, alten, unglücklichen Menschen
versorgt werden? In späteren Jahrhunderten vielleicht einmal von Robotern, aber in naher
Zukunft? Die Kinder, die früher selbstverständlich diese Pflicht erfüllten, denn Pflicht war es
immer und Pflichten haben noch nie Spaß gemacht, diese Kinder finden es doch heute immer
selbstverständlicher, dass man die Eltern „ins Heim gibt“. Was für eine Formulierung.
Totalverlust von Würde und Autonomität. Als Kinderlose kann man wenigstens nicht „ins
Heim gegeben“ werden. Die Angst vor dem Alter und vor dem Sterben in dieser Gesellschaft
sitzt uns im Nacken, denn wir wissen, dass die Entscheidung, wenn der Kopf noch klar ist,
den letzten Trip in die Schweiz anzutreten, nicht einfach ist. Und dann ist man plötzlich im
Horrorszenario angekommen, man liegt fest, am Tropf, kann nicht mehr fahren, aber noch
ewig vor sich hindämmern dank des flüssigen Fluchs, der unaufhörlich in die Speiseröhre
rinnt. All diese Leben im Zwischenreich auf den letzten Endstationen unserer Sehnsüchte sind
grauenerregend anzusehen. Ich frage mich oft, welche Motive Menschen dazu treiben,
AltenpflegerIn zu werden? Sind das wirklich die besten Gründe? Oder tobt sich da der
Sadismus unserer Gesellschaft aus? Die Frauen und Männer, die „die Alten“ waschen,
kämmen, ihnen die Medizin geben, die Stützstrümpfe an- und auszuziehen, den Hintern
abwischen, die Beine einreiben, das Erbrochene entfernen, sind in den meisten Fällen
unfreundlich, herablassend, scheinen ihre Arbeit zu hassen. Warum haben sie sich dafür
entschieden? Weil das der einzige Bereich ist, wo der Arbeitsplatz sicher ist? Weil man dort
so viele hilflose „Kunden“ hat, die sich nicht wehren können? Das Argument, dass sie
überfordert sind, kann doch nicht der einzige Grund sein, warum diese Pflegekräfte so durch
und durch unsympathisch wirken, so fehl am Platz bei einer Tätigkeit, die doch eigentlich
Herzenswärme erfordert. Ihre Arbeit ist ja nicht geistig anspruchsvoll. Waschen, eincremen,
Puls kontrollieren, alles einfache Verrichtungen. Hier käme es mehr auf den Charakter an.
Altmodisch ausgedrückt auf die „Herzensbildung“. Um Bildung scheint es aber nicht zu
gehen. Warum sind diese Pflegekräfte so unangenehm, warum habe ich immer das Gefühl, sie
toben ihren eigenen Lebensfrust an ihren „Kunden“ aus?
Ist es der menschliche Spiegel, in den sie täglich bei ihrer Arbeit schauen, der sie aus
Entsetzen vor der Wahrheit unseres Endes so hässlich werden lässt? Wir müssten von
Assistenz- und nicht von Pflegekräften reden, das wäre weniger entwürdigend. Unsere
Erwartungen an die „Pflegekräfte“ klaffen so ungeheuerlich auseinander mit der Realität, die
diese ganze Lüge von der Unabhängigkeit unbeschönigt zeigt.
Ein Leben zu führen wie die Eisbären, die fast ihr ganzes Dasein über Einzelgänger sind,
einsam durch Eiswüsten streifen, erfährt im Alter seine unerbittliche Grenze. Wilhelm Buschs
Ausspruch „Wer einsam ist, der hat es gut. Ist keiner da, der ihm was tut“, greift nicht mehr.
Wir kommen dem Menschen nicht mehr aus, er zeigt seine unschöne, gereizte Fratze.
Unser Körper macht uns brutal die Grenzen unserer Freiheit und Eigenständigkeit bewusst.
Wir können, falls wir niemanden im Alter haben, der uns aus Zuneigung hilft, bisher mit nicht
mehr als diesem unwirschen „mit dem Waschlappen Abreiben“ rechnen. Diese PflegeMenschen haben ja berufsmäßig nur mit der Last zu tun, die wir jetzt sind, weil wir uns in
einem System der Einzelkämpfer nicht mehr behaupten können. Berufsmäßig liebevoll zu
sein ist anscheinend unmöglich. Und vielleicht ist genau das die krankhafte Erwartung, die
eine individualistische Gesellschaft nie einlösen kann. Es fängt schon früh an damit, wie
Kinder betreut werden. Man muss sich nur mal in der U-Bahn oder im Bus die Gesichter der
50-60jährigen Erzieherinnen anschauen, die mit einem Trupp Kinder unterwegs sind, ein
nackter Horror. Dieser genervte Ton, dieser gereizte Blick, diese Müdigkeit in den Augen!
Das brauchen Kinder sicher nicht. Es sind so unglaublich viele kleine Wesen durch diese
Erzieherinnen-Leben gegangen, wie soll da irgendwas von Herz übrig bleiben? Aber darum
geht es doch! Dieses schier Unmögliche zu schaffen, ohne persönliche Bindung liebevoll zu
sein, zumindest freundlich, geduldig. Was für eine irrsinnige Herausforderung! Dafür müsste
es Diplome geben, Doktortitel. In unserer Gesellschaft bekommen diese Berufe allerdings
keine Anerkennung, AltenpflegerIn kann man im Schnellverfahren lernen. Erzieherin verlangt
kein Studium. Es sind ja auch keine intellektuellen Beschäftigungen und nur diese Art der
Bildung kennen wir. Hier handelt es sich ja nur um die „Pflege der Alten“ oder „Betreuung
der Kinder“, das eine wie das andere scheinbar unwichtig. Unsere tiefe Verachtung von
Abhängigkeit, von Bedürftigkeit kommt hier zum Ausdruck. Gesund, aktiv, unabhängig, im
Herzen egoistisch und auf Erfolg getrimmt, das ist das Idealbild des Menschen.
Wir leben in dem Bewusstsein, dass wir die Kinder dieser Gesellschaft gestressten
Erzieherinnen überlassen, die Alten erschöpften, unfreundlichen Pflegerinnen, aber wir, in der
Lebensmitte, wir wollen vor allem unser Leben genießen und so werden auch wir in die Falle
tappen, irgendwann in der Ausweglosigkeit sitzen, wenn, ja wenn wir nicht unsere Kraft
darein setzen, dass es anders wird. Sehr viel anders. Denn sonst ist es wohl immer noch der
beste Weg, in die Schweiz zu fahren, auch wenn es vielleicht manchmal zu früh ist. Aber
wenn man erst einmal den Greifarmen der Pflegekräfte ausgeliefert ist, die Sonde im Magen
sitzt, dann kann man keine Fahrkarte mehr kaufen, dann ist man der gruseligen
Gnadenlosigkeit dieser zutiefst kalten, erbarmungslosen Gesellschaft ausgeliefert, und zwar
bis zum bitteren Ende.