Reisen - Donostia / San Sebastián 2016 Europako Kultur Hiriburua

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Reisen - Donostia / San Sebastián 2016 Europako Kultur Hiriburua
Reisen
Verwundete
Schönheit
Die baskische Stadt San Sebastián
ist traumhaft, aber traumatisiert. Sie
litt jahrzehntelang unter der Gewalt
der ETA-Terroristen. Nun möchte sie
als europäische Kulturhauptstadt
beweisen, dass Kultur Versöhnung
ermöglichen kann
18 | NZZ am Sonntag | 10. April 2016
Die spanische Küstenstadt
San Sebastián mit ihren beiden Buchten, der Mündung
des Flusses Urumea und
dem bewaldeten Berg
Urgull mit Christus-Statue.
schöne Häuser. Und ihre rund
180 000 Bewohner feiern das
Leben, wann immer sie können,
zum Beispiel in Maria Christinas
Palacio Miramar. Dieser macht sei­
nem Namen alle Ehre: Er bietet
einen phantastischen Blick über
den Golf. Mittlerweile ist er im
Besitz der Stadt und wird gerne
von Paaren gemietet, die sich hier
das Jawort geben wollen.
Das klingt nach Idylle pur –
wären da nicht die 30 Jahre Terror,
welche die jüngste Geschichte der
Stadt geprägt haben. 94 Menschen
hat die baskische Terroristengruppe
ETA (Euskadi Ta Askatasuna, bas­
kisch für «Baskenland und Frei­
heit») in der Stadt getötet, auf offe­
ner Strasse, bei Sprengstoffanschlä­
gen oder mit Autobomben. Keine
andere baskische Stadt hat so sehr
unter der Gewalt der Separatisten
gelitten. Erst 2011 kam es zum Waf­
fenstillstand. Seitdem verarbeiten
die Bewohner die Vergangenheit
und beginnen, die Zukunft zu
gestalten – mit Kultur zum Beispiel.
2016 ist San Sebastián Kultur­
hauptstadt Europas, gemeinsam
mit der polnischen Stadt Breslau.
Beim Programm geht es nicht nur
um Vernissagen, Premieren und
Einweihungen; San Sebastián
nutzt den Titel, um zu einem
friedlichen Zusammenleben zu
finden. Man will der Welt zeigen,
dass Theater, Musik und Kunst
eine wirksame Therapie bei der
Überwindung von Gewalterfah­
rung sind. Unter dem Motto «Kul­
tur als Werkzeug der Versöhnung»
finden mehr als 100 Projekte und
fast 500 Einzelaktionen statt. Lei­
ter Pablo Berástegui muss mit
einem relativ geringen Budget von
48,7 Millionen Euro haushalten,
ist aber vom gesellschaftlichen,
finanziellen und touristischen
Erfolg überzeugt. «Wir bieten
keine grossen Namen und keine
Neubauten», sagt er. «Wir laden
die Besucher ein, die Stadt und
ihre Menschen kennenzulernen.»
Diese verbringen die spärlichen
Sonnentage am liebsten draussen.
In der kleinen Altstadt zwischen
Hafen und Fluss essen sie gerne
Tapas in alten Schenken und rus­
tikalen Bars: appetitanregende
warme oder kalte Delikatessen,
die mit einem Zahnstocher
(«Pintxo») auf einer Weiss­brot­
scheibe festgehalten werden.
FOTO: JAVIER LARREA / SAN SEBASTIAN TOURISM
S
an Sebastián strahlt Ele­
ganz und Lebensfreude
aus. Traumhafte Orte gibt
es in der atemberaubenden
Stadt viele. Ihre Küstenlinie wird
von zwei Buchten und einer Fluss­
mündung gebildet, begrenzt wird
sie von grünen Hügeln. In einer der
Buchten liegt die bewaldete Insel
Santa Clara, direkt gegenüber dem
vornehmen Paseo de la Concha,
der an der weitläufigen Sandbucht
entlangführt – ein Landschafts­
maler hätte es nicht besser hinbe­
kommen.
Das dachte wohl auch Maria
Christina von Habsburg-Lothrin­
gen, als sie Ende des 19. Jahrhun­
derts die spanische Stadt zum
Sommersitz des Königshauses
machte. Mit der Regentin, der Gat­
tin und frühen Witwe von König
Alfonso XII., hielt jedes Jahr die
Madrider High Society Einzug in
San Sebastián, die vor der Hitze der
Hauptstadt an die kühle Biskaya
floh. Örtliche Köche, Schneider
und Schuhmacher, Fischer, Bau­
meister und Winzer profitierten
vom kaufkräftigen Publikum. Bis
heute ist die Stadt bekannt für
gutes Handwerk, gute Küche und
10. April 2016 | NZZ am Sonntag | 19
GPS San Sebastián
Stadt der 16 Sterne
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Santa Clara
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ziergang ein. Bei Flut erlebt man
hier ein tolles Schauspiel: Wäh­
rend der Fluss dem Meer entgegen­
strömt, drängt das Meer mit hohen
Wellen in sein kanalisiertes Bett.
43° 19'
19 N | 1° 59'
59 W
Seit rund 40 Jahren entwer­
fen Contxu Uzkudun und ihre
Töchter schlichte, elegante Mode.
Auch in den angrenzenden Stras­
sen San Martzial, Loyola, Arrasate
und Txurruca kann man gut shop­
pen. Dort findet man schöne Tex­
til­ oder Lederwarengeschäfte.
Calle Elkano 7; minimil.es
8: Insel Santa Clara
Das bewaldete Inselchen mit­
ten in der Bucht wird zwischen
Juni und September vom Hafen
aus mit kleinen Motorbooten
angefahren. Eine Badebucht und
ein Terrassenlokal warten auf die
Besucher.
motorasdelaisla.com
9: Spa La Perla
1000 m
Die nordspanische
Stadt liegt am
Golf von Biskaya.
Drei Sandstrände,
eine traumhafte
Altstadt und gutes
Essen zeichnen
sie aus; 2016 zudem
viele Kulturanlässe
1: Hotel María Cristina
Das beste Haus in der Stadt.
Von seinen stilsicher renovierten
Zimmern aus hat man das Meer
und die Flussmündung im Blick.
DZ mit Frühstück ab 300 €;
Paseo República Argentina 4;
hotel-mariacristina.com
2: Hotel Londres
Noch mehr Belle Epoque:
Auch dieses Hotel aus dem Jahr
1905 hat eine Toplage: Es steht
direkt in der grossen Bucht La Con­
cha. Hier steigt seit je so ziemlich
alles ab, was Rang und Namen hat,
alter Adel ebenso wie Kinostars.
DZ mit Frühstück ab 300 €;
Calle Zubieta 2; hlondres.com
3: Kokotxa
In der Altstadt, direkt hinter
dem Hafen, gibt es kreative Regio­
nalküche mit einem Michelinstern.
Insgesamt sind in den Restaurants
der Stadt 16 Sterne verteilt. Spezia­
lität und Namensgeber sind hier
die Kokotxas de merluza en su pil
pil: Seehecht­Kiemenbacken mit
Chili und Knoblauch.
Menu etwa 80 € / Person;
Calle del Campanario 11;
restaurantekokotxa.com
20 | NZZ am Sonntag | 10. April 2016
4: Bodegón Alejandro
Andoni Aduriz gehört zu den
besten Köchen der Welt. Sein
Restaurant Mugaritz liegt ausser­
halb der Stadt. Einfacher und
genauso gut geht es in Aduriz’ rus­
tikalem Stadtrestaurant, einer ehe­
maligen Weinschenke mit Wand­
kacheln und Massivholz, zu.
Menu ab 48 € / Person; Calle Fermín
Calbetón 4; bodegonalejandro.com
5: Restaurante Gandarias
Hier biegt sich schier der Tre­
sen unter den Tellern mit Pintxos
(baskische Tapas. Bild: gefüllter
Seeigel). Wer im «Gandarias» gegen
13 oder 20 Uhr eintritt, erlebt
Einheimische bei Bier oder Wein.
Der Klassiker «Gilda» stammt aus
den 1940er Jahren: ein Spiess aus
Sardellen, Oliven und sauer ein­
gelegten Chilischoten. Ebenfalls
empfehlenswerte Bars in der Nähe:
La Viña, La Cuchara de San Telmo,
A Fuego Negro oder Martínez.
Calle 31 de Agosto 23;
restaurantegandarias.com
6: Paseo de Jesús María
Leizaola
Der Boulevard mit dem unaus­
sprechlichen Namen lädt zum Spa­
Selten hat man das Glück,
eine Thalassotherapie direkt auf
dem Strand zu geniessen. In dem
modernen Spa kann man mit Blick
auf die Bucht im Meerwasser­
jacuzzi liegen oder den Effekten
einer Peelingmassage nachspüren.
Paseo de La Concha; la-perla.net
10: Museo San Telmo
Ein Kloster aus dem 16. Jahr­
hundert und ein moderner Anbau
bilden seit 2011 dieses Museum
der baskischen Gesellschaft. Es
zeigt Prunk, Kunst und Handwerk
von der Frühgeschichte bis heute.
Plaza Zuloaga 1;
santelmomuseoa.com
11: Tabakalera
Die ehemalige Zigarettenfa­
brik am Flussufer ist frisch reno­
viert und vergrössert. Sie dient vor
allem als Veranstaltungsort aller
Kultursparten.
Duque de Mandas 52; tabakalera.eu
12: Kursaal
Seit 1999 wird das Doppelge­
bäude des spanischen Architekten
Rafael Moneo als Kongresspalast
und Auditorium genutzt. 2016
gibt es hier viele Veranstaltungen,
die man allein schon wegen des
Gebäudes besuchen sollte.
Avda. de Zurriola 1; kursaal.eus
Brigitte Kramer
Frieden festigen mit Kultur
Kunst aus dem 20. Jahrhundert
erleben kann man am Fuss des
Igeldo-Berges, der die ConchaBucht begrenzt. Dort steht seit 1977
die Skulptur Peine del Viento
(Windkamm) des baskischen Bild­
hauers Eduardo Chillida. Er hat die
dreiteilige Skulpturengruppe in die
Brandung montiert. Die Wellen
brechen sich an den gebogenen,
verrosteten Formen, dazwischen
stossen Wasserfontänen und Luft­
ströme durch Löcher im Boden
nach oben. Ein echtes Naturschau­
spiel mit kulturellem Mehrwert.
Kulturtouristen hat San Sebas­
tián schon lange viel zu bieten: Im
September läuft das internationale
Filmfest, dessen Preis, die Goldene
Muschel, zu den begehrtesten
Filmpreisen Europas zählt. Im Juli
findet das Jazzfestival statt, und im
August und September veranstal­
tet die Stadt seit 1939 die Klassik­
wochen Quincena Musical. Dazu
kommen jetzt Veranstaltungen des
Fest­jahres wie die umfangreiche
Ausstellung «1516–2105. Tratados
de Paz» (Friedens­verträge), die ab
Mai bis Jahresende im Museo San
Telmo, im städtischen Kulturzen­
trum Koldo Mitxelena Kulturunea
und an sieben weiteren Orten der
Stadt historische Friedensprozesse
und deren künstlerische Darstel­
lung präsentiert. Im benachbarten
Dorf Getaria zeigt das Museum
Cristóbal Balenciaga bis 18. Sep­
tember eine Ausstellung mit
Spitzenkreationen des baskischen
Modedesigners, und vom 28. Mai
bis zum 5. Juni wird das World Pup­
pet Festival in San Sebastián zum
ersten Mal in Europa ausgetragen.
Am Festprogramm mitgewirkt
hat Inesa Aristimuño. Die Soziolo­
gin betreut den Themenbereich
Frieden, in dem es um die künstle­
rische Auseinandersetzung mit
Begriffen wie Menschenrechte,
Würde, Integration oder Respekt
geht. Sie gehört zum grossen
­Organisationsteam, das seit 2012
zusammenarbeitet und bis 2018
bestehen bleibt. Das Konzept ist
einfach und mutig zugleich: Es
wird in einen Prozess bürgerlicher
Ermächtigung eingebaut, der
Demokratie und Frieden nach
Ablauf des Kulturjahrs weiter festi­
gen soll. Die Bürger sind dabei
nicht nur Konsumenten, sondern
aktive Gestalter. Seit zwei Jahren
bastelt die Stadt am Programm, mit
Vereinen, Künstlern und Kollekti­
ven, «die an sich nicht unbedingt
miteinander reden würden», so
Aristimuño. Für sie sei die Heran­
gehensweise schwierig, aber wirk­
sam: «Die Vorbereitung ist eine
Schule des Friedens.»
Bei der Ausstellung «Ohne Orte,
ohne Zeit» etwa werden Ende des
Jahres Gedichte, Zeichnungen oder
Skulpturen von Gefängnis­insassen,
Heimbewohnern oder Patienten
psychiatrischer Kliniken ausge­
stellt. Begleitet werden die Werke
von narrativen Texten, die Sozial­
arbeiter und Therapeuten derzeit
erstellen. Sie sollen verdeutlichen,
wie Menschen mit Ausgrenzung
und der damit oft einhergehenden
Persönlichkeitsspaltung umgehen.
«Für die meisten ist Kunst der ein­
zige Weg, die eigene Würde zu wah­
ren», sagt Aristimuño.
Problemlösung auf der Bühne
Anschaulich sind auch zwei andere
Programmpunkte: Bei «Theater
Forum», erarbeitet nach dem poli­
tischen, interaktiven Theater des
Brasilianers Augusto Boal aus den
1970er Jahren, geht es um Kunst,
Selbsterfahrung und gespielte Pro­
blemlösung. Seit Monaten touren
zwei Darsteller durch die Region
und proben mit Zuschauern Kon­
fliktbewältigung im Alltag. Die
Schauspieler treten in Senioren­
zentren, Schulen oder Stadtteil­
häusern auf. Das Publikum steht
auch auf der Bühne. Erwünscht
seien Tränen, Umarmungen, Wut­
ausbrüche, sagt etwa die Schau­
spielerin Elena Aranbarri: «Wir
wollen Mauern des Misstrauens
einreissen.» Auch das Tanzprojekt
«Five Days to Dance» der Kompa­
nie De Loopers setzt auf Versöh­
nung und die Überwindung von
Vorurteilen. Die Gruppe aus Bre­
men hat jüngst an einem Gym­
nasium der Stadt einen Dokumen­
tarfilm ­darüber gedreht, wie
90 Jugend­liche gemeinsam eine
Choreografie er­arbeiten.
Eine Stadt wie San Sebastián
kann es sich erlauben, beim euro­
päischen Titel der Kulturhaupt­
stadt zuerst an die eigenen Leute
zu denken. Doch das Programm
bietet gleichzeitig Touristen die
Gelegenheit, hinter die schöne Fas­
sade zu blicken. «Wir brauchten
eine kollektive Herausforderung,
um dem Terrorismus etwas ent­
gegenzusetzen», sagt Ex-Bürger­
meister Odón Elorza über die
Gründe für die Bewerbung als Kul­
turhauptstadt. Erste Effekte sind
bereits zu spüren: Angehörige von
Opfern und Tätern blicken sich
beim Theaterspiel erstmals in die
Augen, und Jugendliche aus zerris­
senen Familien stehen strahlend
auf der Bühne. Brigitte Kramer
Auf einen Blick
Website der Kulturhauptstadt
dss2016.eu
Tourismusbüro der Stadt
sansebastianturismo.com,
facebook.com/sansebastian.
turismo/
Internationales Jazzfestival
heinekenjazzaldia.com
Internationales Filmfestival
sansebastianfestival.com
Balenciaga-Ausstellung in Getaria
cristobalbalenciagamuseoa.com
Tanzprojekt «5 Days to Dance»/
Kompanie De Loopers
de-loopers.eu
Man will der Welt zeigen,
dass Theater, Musik
und Kunst eine wirksame
Therapie bei der
Überwindung von
Gewalterfahrung sind.
Ganz oben: Plakat für das edukative Schulprojekt der Tanzakademie De Loopers.
Oben: Auch im Museo San Telmo werden im Festjahr 2016 künstlerische Arbeiten gezeigt.
10. April 2016 | NZZ am Sonntag | 21
FOTOS: ALAMY, PD
Auch eine Tapa, spanisch für
«Deckel», kann so ein üppig beleg­
tes Brötchen sein oder eine kleine
Portion eines warmen Haupt­
gerichtes. Für Hobbyköche bieten
die beiden Markthallen La Bretxa
und San Martín eine Unmenge an
Zutaten aus der Region, unwahr­
scheinlich frischen Fisch und
­Meeresfrüchte oder Obst, Gemüse
und Hülsenfrüchte, die im milden
Klima des Baskenlandes hervor­
ragend gedeihen und ein Geheim­
nis der baskischen Küche sind.
Rund um den Igeldo-Berg gehen
die Einheimischen gerne joggen,
bei starker Brandung bekommen
sie dabei auch den einen oder
anderen Spritzer ab. Sie sitzen aber
auch im Terrassencafé des Kon­
gress- und Kulturzentrums «Kur­
saal», um dem Spiel der Wellen
zuzusehen; direkt vor dem
Gelände mündet der Fluss Urumea
ins Meer. Oder sie flanieren in der
ruhigen Concha-Bucht und genies­
sen neben den Blicken aufs Meer
die weitgehend intakten Häuser­
fassaden aus dem 18. und 19. Jahr­
hundert. San Sebastián ist gespickt
mit Belle-Epoque-Architektur, die
bis heute an die goldenen MariaChristina-Jahre erinnert.