Vortrag Betroffenenvertreter - Gottfried Wörishofer

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Vortrag Betroffenenvertreter - Gottfried Wörishofer
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10. Fachtagung für Pflege in der Akutpsychiatrie, 14.01 – 16.01.2015 Kloster Irsee
Vortrag des Betroffenenvertreters am 14. Januar 2015, 14.30 Uhr
Gottfried Wörishofer
Sehr geehrter Raueiser, sehr geehrter Herr Hollick, sehr geehrte Damen und Herren,
[Vorstellung des Referenten, entfällt in der Veröffentlichung]
Bevor ich beginne, erlauben Sie mir zwei Vorbemerkungen. Erstens: Es erwartet Sie nun ein
Abriss von 6 Themen, die zwar als einzelne unterscheidbar sind, aber wie im Blick durch ein
Kaleidoskop zusammengehören. Diese Themen sind:
Wie wird eine Psychose erlebt?
Die Aufnahme.
Gewalt – Zwang – Fixierung.
Abstürzende Entgleisung.
Haltung gewinnen.
Zur Zwangsbehandlung.
Zweite Vorbemerkung: Es kann sein, dass es nicht in jedem Fall gelingt, eine moralische
Wertung zu vermeiden, manchmal mag sie angebracht sein, in der Regel aber ist sie unangebracht. Es geht darum, die Sache vorwärts und nicht die Moralkeule in Stellung zu bringen.
Es steht mir auch nicht an, Ihnen Ratschläge zu erteilen. Gleichwohl werden Sie da und dort
einen dringenden Wunsch hören.
1. Wie wird eine Psychose erlebt?
Zu lange würde es dauern, Ihnen ein persönliches Beispiel zu schildern. Es ließe sich auch
nicht annähernd so erzählen, wie eine wahnhafte Psychose eigentlich erzählt werden müsste.
Im Stil nämlich einer Opernpartitur, vielstimmig untereinander geschrieben. Assoziationen,
Gedanken, vermeintlichen Erwartungen, die man sich einbildet, Ereignisse die fehlgedeutet
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werden usw., bilden eine komplex-verschränkte Gleich-zeitigkeit, die sich vom NurUngewöhnlichen zum total anderen Empfinden und Verhalten steigert. Sie kennen das alle –
von außen, von dem her was beobachtbar ist.
Worauf ich hinaus will, ist ein Phänomen, welches auf der Akutstation wohl am meisten
Schwierigkeiten bereitet und als Kennzeichen schwerer Psychosen, d. h. schizophrener
Wahrnehmungen und Wahnsysteme gelten kann. Ich nenne es mal „die Geschlossenheit der
Eigenwelt.“ Neben der normalen Bedeutung von Welt, an der wir alle teilhaben, selbst bei
krassesten Meinungsverschiedenheiten, bildet sich in dieser Psychose eine eigene Bedeutung
von Welt aus, welche auswuchernd, dominant und schließlich zu einer total anderen Bedeutung eingeschlossen wird! Oder anders gesagt: die wahr ist! Wer sich in einer Welt bewegt,
die von sonst niemandem geteilt wird, steht zwangsläufig auch in der Wahrheit(!) und..... hat
Recht! Hat eine Mission, deren Wahrheit zu verteidigen und womöglich auch durchzusetzten
ist. Jemand auf den dieses Phänomen zutrifft, wird deshalb im zwischenmenschlichen Kontakt häufig empfunden als: ungeduldig bis gereizt, rechthaberisch und beratungsresistent,
angespannt bis zornig, gerührt oder rührend, verletzend, aggressiv oder auch voller Angst.
Bei vielleicht gesteigerter Intelligenz, Wachheit und Präsenz, kann er/sie als brillant und ungewöhnlich erlebt werden. Andererseits aber auch als dunkel, unerreichbar, misstrauisch, ja
unberechenbar usw.
Zweifellos ist diese Lebenslage von einem Willen geprägt. Die Freiheit dieses Willens jedoch, darf bezweifelt werden, und das obwohl man sich vielleicht so frei fühlt wie sonst nie.
Die betreffende Person – das deckt sich mit meiner Psychosen-Erfahrung – ist mit keiner
Alternative ausgestattet – außer der, die gerade gelebt wird. Diese ist einzig und total, hat die
Konsenswelt längst aus den Augen verloren, ja vergessen. Der Verlust dieser Freiheit ist
gleichbedeutend mit dem Verlust der Reflexionsmöglichkeit: Herausgehen aus der Situation,
durch Übersicht in Ruhe betrachten, Abwägen und wenn nötig auch entscheiden. Entscheiden aber, setzt immer eine Zweiheit, einen Zweifel gewissermaßen, voraus, der jedoch – ohne
es zu merken – entbehrt wird.
Mir ist keine therapeutische Gesprächsführung bekannt, die im ambulanten Setting die sog.
Einsichtsfähigkeit, in absehbarer Zeit wenigstens, soweit wieder herstellen könnte, dass Einwilligungsfähigkeit bestünde. Diese Gesprächstechnik würde ich ohne Zögern für den Nobelpreis vorschlagen. Wenn es trotz allen Widrigkeiten manchmal geschieht, dass jemand
schlussendlich doch freiwillig in die Klinik geht und vorübergehend Neuroleptika nimmt,
dann wegen der Beziehung zu einem geliebten oder auch geachteten Menschen, jedenfalls
nicht aufgrund einer „Gesprächstechnik.“ Andererseits: In der Psychiatrie ist Alles möglich –
auch das Gegenteil.
2. Die Aufnahme (eines solchen Patienten)
Josef K. wird nicht ohne Grund mit hinterrücks angebrachten Handschellen zur Klinik
transportiert. Während der halbstündigen Fahrt frägt ihn einer der beiden Polizisten, ob er,
K., nicht doch mit Ihm sprechen wolle. Im Laufe der Zeit und aufgrund seiner Freundlichkeit
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bekommt Josef K. den Eindruck, dass es der Polizist gut mit ihm meine. Und das obwohl er
im Polizeirevier einen mannshohen Ficus Benjamini von der Theke gestoßen hatte.
Auf dem Flur der geschlossenen Station angekommen, sieht Josef K. als erstes ein Bett mit
eingezogenen Gurten. Der freundliche Polizist ist noch dageblieben. Er sagt zu den Schwestern: „Er hat versprochen keine Schwierigkeiten zu machen.“ Josef K. steht mit dem Rücken
zur Wand. Im Laufe der Zeit kommen mehr und mehr Männer in weißen Anzügen hinzu, –
umstehen ihn im Halbkreis, – rücken näher. Gleich wird es geschehen, denkt Josef. Rasch
zunehmend steigt in ihm die Angst auf, dass er gleich überwältigt werden wird. Dem Näherkommen der überwältigenden Gewalt wird durch nichts zu entgehen sein. Er wird aufgefordert, sich auf das Bett zu legen. Im Herandrängen der Männer schießt ihm das Blut in den
Kopf. Der Kopf denkt noch: „Lass es geschehen......“ Im gleichen Moment spürt er wie ihm
die Füße befestigt werden. Plötzlich durchfährt Josef K. eine jähe Widerstandshandlung und
ein Schrei der Empörung. Die Pfleger und auch die Schwestern weichen erschrocken zurück.
Der Polizist ermahnt Josef K., sein Versprechen zu halten. Im erneuten Vordringen der Pfleger ergibt sich K.. Mit sicher-festem Zugriff wird ein Bauchgurt angelegt, hinter dem Rücken
eine Handschelle gelöst und das freiwerdende Armgelenk in die Manschette geschnallt.
Am Kopfende steht ein Pfleger mit gelockten Haaren und legt Josef K. seine Hand auf die
Schulter; besser gesagt: zwischen Brust und Schulter, – beruhigt ihn. Als auch der zweite
Arm fixiert ist, vernimmt Josef K. erleichtertes Aufatmen der Anwesenden. – Im Nu verlaufen sich die Beteiligten wieder und eine Schwester schiebt sein Bett in den Wachraum. - Dort
ist es still. Aus der hell erleuchteten Kanzel dringt ein wenig Licht durch halb geschlossene
Jalousien. K. sieht jenseits der Scheibe, wie Krankenschwestern hantieren und miteinander
sprechen. Außer dem Summen einer Neonröhre und den Geräuschen, die vom Rascheln der
Bettdecke verursacht werden, hört er nichts. Nach einer endlos scheinenden Zeit kommt ein
Pfleger, reicht ihm einen Becher mit Flüssigkeit und sagt: „Hier, – schlucken Sie das.“ - Josef
K. überkommt eine gewisse Dankbarkeit.
Den Polizisten und den Pfleger mit den gelockten Haaren wird Josef noch lange in Erinnerung behalten. Bis heut´ eigentlich. Dieses Beispiel trage ich manches Mal vor. Zugegeben,
es liegt schon eine Weile zurück, überholt ist es deswegen nicht, wie mir andere Betroffene
versichern.
3. Gewalt – Zwang – Fixierung.
Man könnte sich eine andere Dynamik vorstellen. Hätte man Josef K. in die Kommunikation
einbezogen, hätte man zunächst mehr gesprochen und weniger gehandelt. Man hätte vorweg
erkennen müssen, dass eine tragende Beziehung zu dem Polizeibeamten besteht und ihm fürs
Erste eine überleitende Rolle zubilligen müssen. D.h., zunächst hätte das Pflegepersonal in
Anwesenheit des Patienten eine transparente Verhandlung mit dem Beamten führen können,
die im Hinblick auf die Einbeziehung des Josef K. gestaltet wird. Falls dieser erweiterte Dialog gelänge, wäre die Anwendung der Zwangsmaßnahmen u. U. zu verhindern gewesen. Ein
mit dem Patienten ausgehandeltes Arbeitsbündnis könnte beidseitige Gewaltfreiheit vereinbaren, und es bestünden durchaus Chancen, dass es vom Patienten eingehalten werden kann.
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Bei derlei Spekulationen fällt ins Auge, wie der Konjunktiv überhandnimmt: „Hätte“, „wäre“, „könnte“ usw. Letzten Endes hat man diese Dinge aber nicht in der Hand und es wird
kaum eine zündende Methode geben, physische Gewalt in jedem Fall zu verhindern. Ich
möchte deshalb im Weiteren von dem Fall ausgehen, dass sie erfolgen muss – aus welchen
Gründen auch immer. Weiter möchte ich davon ausgehen, dass sie – aufs Ganze gesehen –
schonend für den Patienten und gleichermaßen im Sicherheitsinteresse der Pflegepersonen
durchgeführt wird.
Im Vergleich zur polizeilichen Gewaltanwendung müsste ein klarer Unterschied hervortreten. Für den Patienten sollte erkenn- und spürbar werden, dass die Motivation für das Vorgehen und die Art und Weise der Durchführung eine medizinisch-therapeutische ist, dass sie
einem Kranken gilt. Und nicht einem Verbrecher. Versuchsweise könnte man die Gewaltanwendung und Fixierung des Patienten mit einer OP im Somatischen Krankenhaus vergleichen; und zwar hinsichtlich der Nachsorge. Vorausgesetzt freilich man denkt nicht, die Arbeit sei erledigt, wenn K. fixiert im Wachraum liegt. Sicherheitstechnisch ist das zwar richtig, aber es ist nicht hinreichend, ja überhaupt nicht, therapeutisch gedacht. Würde man weiter nichts tun, trifft der Spruch zu: „Operation gelungen, Patient tot.“ Aus vielen Gesprächen
mit Betroffenen weiß ich, dass sie unter Fixierungen noch lange Zeit zu leiden haben (ohne
jetzt das Wort „traumatisiert“ zu strapazieren). – Die erste Maßnahme, um einen Genesungsprozess einzuleiten, wäre die Sorge für den fixierten Patienten, der ja nichts mehr aus sich
selber heraus und für sich tun kann. Zudem bringt die Arretierung der Gliedmaßen ein total
verändertes Zeitempfinden mit sich, die Zeit wird lang oder – anders gesagt – vergeht nicht,
bei gleichzeitiger Zunahme der Ungeduld. All die unappetitlichen Sachen die vielen Patienten schon widerfahren sind, will ich hier gar nicht aufzählen. Professionell, was in diesem
Fall auch mit „menschlich“ gleichzusetzten ist, wäre, wenn Frisch-Fixierte wie FrischOperierte behandelt und gepflegt würden.
Nur wie? Der Patient liegt wahrscheinlich nicht automatisch friedlich im Bett, nur weil er
fixiert wurde, er wird über solch eine „Hilfsmaßnahme“ zunehmend empört sein, beschimpft
Schwestern und Pfleger vielleicht. Und ausgerechnet von Ihnen erwartet man in dieser
Situation eine fürsorgliche Zuwendung? Klingt paradox, – wäre aber nötig. Nötig wäre in der
Tat eine umsorgende Zuwendung, wie man sie einem Frischoperierten z. B. ohne Weiteres
und gerne zukommen lässt: Bett aufschütteln, eine kleine Massage, Lockerung einer Fessel,
ohne viel Aufhebens kommen, wenn gerufen wird, ein kleines Gespräch, auch dann, wenn
der Patient nicht die Logik abendländischer Vernunft einzuhalten vermag. Das basale Wie
der Kommunikation nämlich, die Melodie, versteht er (oder Sie) umso besser. – Im
Ressentiment empfindend, wird von den Schwestern und Pflegern erwartet, ihre
Bestrafungsimpulse herunter zu dimmen und freundlich Achtung zu pflegen, denn nur so
kann der Patient eine – unabwendbare – Zwangsmaßnahme im Nachhinein als „notwendig“
hinnehmen. Gewiss eine pflegerisch-professionelle Herausforderung, die hoffentlich nicht als
Zumutung, sondern eher als berufliche Erfüllung verstanden wird. Disziplinarische,
unangemessene, demütigende Maßnahmen bieten nämlich keine Chance zur späteren
Akzeptanz, sie führen vielmehr zum Beziehungsabbruch mit der Psychiatrie. Sie behindern
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eine selbstkritische Reflexion des Geschehenen und verdunkeln damit die langfristige
Perspektive des Patienten.
Die Gewaltanwendung gegen einen Kranken, selbst wenn keinerlei Zweifel an ihrer
Notwendigkeit besteht, bleibt ein die Person verletzender Eingriff und Übergriff, eine
Kränkung, ja vielleicht gar eine Entwertung der Person. Leider ist dieser Zusammenhang nur
schwer zu sehen, weil man ihn eben nicht mit den Augen, sondern nur mit dem Geist und der
Seele, sehen kann. Ich verstehe Psychiatriepflege als den Versuch, ein Seelen- und
Geistesvermögen einzubringen, das bereit ist, etwas zu sehen, was nicht zu sehen ist. Das hat
überhaupt nichts mit Betulichkeit oder einer ständigen Gefühlsschwangerschaft zu tun, dafür
muss man nicht viertelstundenlang an der Bettkante sitzen und Händchen halten. Obwohl
auch das in manchen Situationen angebracht sein mag. Die Verletzung – und das ist nun
keine Privatmeinung von mir, sondern vielfach von Kollegen aus dem Selbsthilfebereich
bestätigt – besteht in der Abwertung der Person die mit der erfahrenen Überwältigung, –
mehr noch aber mit der Erkrankung selbst, ursächlich verbunden ist. Diesen Aspekt der
Erkrankung nenne ich im existenziellen Sinne:
4. Abstürzende Entgleisung
„Die Fixierung“, schrieb Piet C. Kuiper, ein Holländischer Psychiater, der selber
Psychiatriepatient war, „die Fixierung ist nicht das eigentlich schreckliche, sondern die
Tatsache, dass sie notwendig ist.“ Ein Widerspruch zum vorher Genannten ist das nicht,
sondern eine Vertiefung. Im Klartext heißt das, wenn ich aus der Psychose erwache, langsam
die Realität wieder am Horizont heraufdämmert, über Tage hinweg Stück für Stück zur
Gewissheit wird, dass ich nicht mehr Herr im eigenen Haus gewesen bin, dass ich Dinge
getan habe, bei deren bloßer Erinnerung ich mich nachträglich in Grund und Boden schäme,
die eine Pein verursachen, die meiner Erfahrung nach durch nichts zu überbieten ist, wenn
also dieses unaussprechliche geschehen ist, der Verstand mich verlassen und der Wahn die
Herrschaft übernommen hat, wenn Du als Mensch erwachst nachdem Du wochenlang voll
und ganz z. B. der gekreuzigte Jesus Christus warst, oder Ähnliches, dann bist Du nahezu
kein Mensch mehr und zwar in erster Linie vor Dir selbst, kein Mensch mehr.
Das ungefähr, meint „abstürzende Entgleisung“, die erfahren wird als Erniedrigt-Sein, als
auf mich selbst herabschauen. Das Erniedrigt-Sein hat keinen Verursacher, schon gar nicht
die Pflegenden, – das zu behaupten oder auch nur zu denken –, wäre völliger Unsinn.
Eigentümlicher weise nützt es aber auch wenig, wenn man gesagt bekommt: „Das ist eine
Krankheit.“ Überdies noch „eine Krankheit wie jede andere.“ Das ist sie gerade nicht – mag
sie auch besser behandelbar sein als vor 40 Jahren. An der Tatsache, dass ich die
Beherrschung meiner Selbst verloren habe, ändert es nichts, es ändert auch nichts an der
starren Kette aus Peinlichkeit, die mich schlussendlich so weit bringt, dass Sie als
Schwestern und Pfleger mich zwingen und ins Bett fesseln müssen. Die Kette aus
Peinlichkeit ist ungleich peinigender als alle Ledergurte.
Der Begriff „Abstürzende Entgleisung“ ist wie alles was man auf diesem Gebiet sagen kann,
nicht ganz zureichend, er nennt aber wenigstens ein Herab und herunter, einen Fall, einen
Ab-fall, ein Ab-fälliges und meint eigentlich ein Erniedrigt-Sein durch das eigene Auf-sich5
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Herabschauen. Man betrachtet sich in der Weise des Abfälligen. Man spricht abfällig mit
sich. Ich spreche mich schuldig vor einem Gerichtshof, den ich selbst einberufen habe, bin
gezeichnet mit einem Stigma auf der Innenseite der Stirn.
5. Haltung gewinnen
Wegen diesem – letztlich – Unaussprechlichen, aus keinem anderen Grund, ist es absolut
unprofessionell, wenn Krankenschwestern und Krankenpfleger dem Patienten in der gleichen
Weise begegnen, wie er sich selbst: Wenn Sie ihm in der Weise des Abfälligen begegnen. Sofern Sie Psychiatriepflegende sind, sollte Ihr professionelles Streben darin bestehen, das
Auf-Sich-Selbst herabsehende Erniedrigt-sein ausgleichen zu wollen. Diese Haltung nenne
ich mit einem Wort: Zuvorkommende Hochachtung. Evtl. wirkt es befremdlich. Es
unterscheidet sich jedenfalls – mit Absicht – von der methodisch-professionellen Begrifflichkeit.
Hochachtung: Ein veraltetes Wort, das vielleicht nicht zufällig im Aussterben begriffen ist.
Die Älteren unter Ihnen werden Sich daran erinnern, dass man früher einen Brief noch mit
„Hochachtungsvoll, Ihr....“ beendet hat. Den Jüngeren wird das eher unbekannt sein. Das
macht aber nichts. Jeder Mensch weiß im Grunde genommen, was damit gemeint ist. Das ist
sozusagen ein Qualitätsstandard den man nicht abzuhacken braucht – wenn man ihn hat. Ich
gehe aber davon aus, dass Sie – salopp gesagt – diese menschliche Qualität bereits erfahren
durften.
Zuvorkommend-Sein heißt z. B. un-gerufen kommen, eben zuvor-kommen. Dem Rufen zuvor
kommen. Kommen, obwohl der andere noch nicht gerufen hat. Einen Wunsch erfüllen, den
der andere hat, aber noch nicht geäußert hat. Ja sogar: einen Wunsch erfüllt zu bekommen,
der erst gewünscht wird, wenn er erfüllt ist. Es braucht gewiss keine Belehrung darüber, was
Zuvorkommenheit meint. Auch das kennt jeder Mensch.
Die Abwertung der Person kann nur durch ihre Aufwertung ausgeglichen, man könnte auch
sagen: geheilt werden. Die Aufwertung der Person, oder anders ausgedrückt: ihre
Hochachtung, ist die adäquate seelenpflegerische Haltung – aus meiner Sicht. Gleichzeitig ist
diese Haltung – und das ihr entspringende Handeln – ausgesprochen professionell zu nennen
und verdient jede Anerkennung. Professionell ist sie deshalb, weil einzig sie dem Problem
angemessen ist. Im Übrigen fällt sie einem ja nicht in den Schoß, sondern muss der einfachen
und naheliegenden Routine aus Nachlässigkeit, Geringschätzung und Abwehr abgerungen
werden. Eine Haltung der zuvorkommenden Hochachtung müsste quasi stets neu, bei jedem
Patienten wieder, errungen werden. Die hat man nicht ein für alle Mal griffbereit wie ein
Stethoskop in der Tasche, oder bereitliegend wie eine Basisdokumentation.
Seit wir, – die Münchner Psychiatrie-Erfahrenen – ein Verein sind, haben auch wir es mit
Erkrankungen von Mitgliedern und Leistungsträgern, zu tun. Es ist alles andere denn ein
Spaß, wenn jemand absolut nicht mehr, weder emotional, noch verstandesmäßig erreichbar
ist. Und trotzdem müssen wir von ihm z. B. den Büroschlüssel zurückhaben; oder wollen ihn
von öffentlichen Auftritten fernhalten. Das Schlimmste dabei sind die Aggressionen, die einem entgegen geschleudert werden, nicht wirklich absichtlich, sondern als Ausdruck der
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Krankheit. Aber macht das noch einen Unterschied? Trifft einen die eine Beleidigung weniger als die andere? Da frage ich mich oft, wie gehen Pflegekräfte auf einer Akutstation damit
um, wo das ja viel häufiger vorkommt? Der Mensch ist schließlich nicht dazu geschaffen,
ständig mit Angriffen auf die affektive oder – noch schlimmer – die körperliche Unversehrtheit rechnen zu müssen.
„Ist das“, fragen Sie sich wahrscheinlich „mit der „zuvorkommenden Hoch-achtung“ nicht
der blanke Hohn, – eine Zumutung? Bei dem Stress auf Station und den vielen nervigen
Patienten!“
Sie haben Recht, es ist, wenn nicht der Hohn, so doch eine hohe Anforderung, welche aus
einem ungeheuren Dilemma entspringt.
Und trotzdem möchte ich die Anforderung mindestens als Erwartung, Wunsch und Hoffnung
aufrechterhalten. Aber nicht so, als könnte man ihr ständig und überall gerecht werden. Das
scheint mir unmöglich. Aber gibt sie Ihnen nicht für die Aufgabe der Seelenpflege eine
Strebensrichtung – ein Maß? Sie sind keine bloßen Verwalter von Diagnosen oder
gefährlichen Gegenständen, was ungefähr aufs selbe rausläuft. Für mein Verständnis arbeiten
Sie weit unter ihren Möglichkeiten, wenn Sie sich im alten Stil auf Medikamente verteilen
beschränken und nur als Aufsichtspersonen verstehen. Diese Dinge gehören zu Ihren
beruflichen Aufgaben, gewiss. Pflege erschöpft sich nicht mehr darin, sie bliebe denn
unterhalb des Niveaus an dem sie sich selber misst. Heißt Pflege doch: Sich sorgen...., sich
kümmern,...., sich annehmen. Damit gehört Pflege schon rein etymologisch in den gleichen
Bedeutungsbereich wie Therapie. „Therapie“ nämlich, heißt ursprünglich nichts anderes
als....: Pflege, Sorge. Von Ihnen möchten wir Patienten, dass Sie sich an das Hohe erinnern,
das in Ihrem Beruf angesprochen ist. Von Ihnen wünschen wir uns, dass Sie Therapeutinnen
und Therapeuten sind.
Therapie meint hier in erster Linie die Art und Weise wie das, was Sie tun müssen, getan
wird – ist eine Begegnungsart und Begegnungsweise. In dieser Begegnungsweise
entscheidet sich, ob Sie im Leben eines Menschen Bedeutung erlangen oder gesichtslos
bleiben. Es ist keineswegs das Privileg der Ärzte, „lebens“–wichtig zu sein. Auch ein Arzt
kann in der Psychiatrie seine Aufgabe verfehlen und für den Patienten ziemlich
bedeutungslos bleiben, mag er im Sinne der Betriebsamkeit noch so viel funktionale Macht
besitzen. Die drängendste Not des Patienten hält sich nicht an die kurze Zeit der Visite. Sie
meldet sich eher in schlaflosen Nächten und sucht dann eine Geste der Offenheit, nur in
Form der schlichten Frage vielleicht: „Wie geht´s?“ Dabei ginge es nicht mal um den Auftakt
zu einem langen problemorientierten Gespräch. Das Therapeutische läge in der Frage selbst,
in der Partizipation die in ihr zum Ausdruck kommt. Die Frage ist, ob Sie den Patienten als
jemanden sehen, der um 23.00 Uhr das Raucherzimmer zu verlassen hat oder als jemanden
der z. B. während seiner Psychose die Beziehung zur Familie zerstört hat, und dem es auf
eine schlafraubende Weise langsam klar wird.
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6. Zur Zwangsbehandlung
Eingangs sprach ich davon, dass bei bestimmten Psychosen aus dem schizophrenen
Formenkreis eine Behandlungsbereitschaft – ausschließlich durch Gesprächsführung – nicht
zu erlangen ist. Ohne weiteres leuchtet ein, dass bereits wenige unbehandelte Patienten eine
Station zum Kippen bringen können. Dadurch schlägt die gesamte Stimmung um, der Ton
wird rauer, es kommt vermehrt zu Fixierungen, höre ich, Aggressionen und Tätlichkeiten
gegen Pflegepersonen, aber auch gegen andere Patienten, nehmen zu. – Ich finde das, um es
auf den Punkt zu bringen: – unerträglich. Der Gesetzgeber hat vor 2 Jahren, vielleicht in
guter Absicht, aber auch etwas blauäugig gemeint, er müsse die „sprechende Psychiatrie“
etablieren und die Selbstbestimmung retten. Beides sind ehrenwerte, ja unverzichtbare Ziele.
Man hat jedoch weder einen gangbaren Weg aufgezeigt, noch hat man diesen Weg mit den
notwendigen Mitteln ausgestattet. Im Gegenteil: Es ist zu befürchten, dass sich die
Personalsituation in der Pflege durch das Pauschalierte Entgeltsystem Psychiatrie und
Psychosomatik (PEPP) weiter verschlechtert. In manchen Bereichen und für bestimmte
Patienten wird sich die Änderung des BTG zum Vorteil auswirken, für andere Patienten zum
Nachteil. Jetzt bleiben eben andere Patienten im Regen stehen und ich meine, es sind jene,
die „nicht von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen sind“ wie im
Gesetz gefordert wird.
Ich weiß nicht wie groß der Personenkreis ist, auf den dies in etwa zutrifft (das ist auch nicht
meine Fragestellung). Ich persönlich gehöre jedenfalls dazu und muss der Realität in die Augen schauen: Über kurz oder lang führte mich die Eigenart meiner Psychose ausnahmslos in
die Klinik. Das ist – für mich gesprochen – richtig und gut so. Meistens war die Situation vor
der Aufnahme bereits dermaßen zugespitzt, dass die Unterbringung als Erlösung empfunden
wurde. Beim letzten Aufenthalt, vor 9 Jahren, wurde ich ohne Hinzuziehung eines Richters
und ohne Zögern neuroleptisch behandelt; irgendwann später, anscheinend während einer
Tiefschlafphase, hat ein Richter das Ganze noch für gut geheißen. Die juristische Seite war –
und ist es bis heute – für mich weitgehend irrelevant, schon nach 3 Wochen konnte ich nämlich entlassen werden. Nach der neuen Rechtslage, würde das Verfahren vermutlich bedeutend länger dauern. Anzunehmen ist, dass frühestens nach 14 Tagen die juristischen Voraussetzungen geschaffen sind, um mit einer richterlich genehmigten Behandlung zu beginnen.
Es kann aber auch 4 – 6 Wochen dauern, wie ich von einigen Ihrer Kollegen im Isar-AmperKlinikum gehört habe. An diesem Punkt müsste man m. E. – ohne das Gesetz zu missachten–
ansetzen und den Zeitraum bis zur Zwangsbehandlung deutlich verkürzen. Dazu bedürfte es
einer engen Zusammenarbeit von Betreuungsgericht und Klinik. [Werdenfelser Weg]
Um einer bestimmten Gruppe von Patienten willen, darf die Möglichkeit der Unterbringung
und ärztlichen Zwangsmaßnahme nicht außer Acht gelassen werden, vielmehr muss sie als
notwendig bezeichnet werden. Sie ist insofern auch human, als ihre Unterlassung weitaus
schlimmere Folgen haben kann als ihre Anwendung. Da ich mit dieser Meinung eine quasi
„politische Aussage“ treffe, muss ich dazu sagen, es handelt sich um eine deutliche Minderheitsmeinung unter den Psychiatrie-Erfahrenen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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