Gentleman - Horse Connect

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Gentleman - Horse Connect
THEMA DES MONATS
Scharren, Treten, Beißen – viele
Unarten unserer Pferde sind
hausgemacht, denn sie tun in der
Regel das, was wir ihnen sagen.
Sie reagieren auf unsere innere
Haltung. Ist diese synchron mit
unserem Verhalten, können Pferde
uns verstehen. Schwierig wird
es, wenn wir zweideutige Signale
aussenden oder von Emotionen
beherrscht werden. Dabei ist es
leicht, Unarten vorzubeugen –
aber auch, sie abzustellen
Text und Fotos: Ilja van de Kasteele
Problem: Mein Pferd setzt sich regelmäßig auf den Hintern und hat schon zig
Halfter zerrissen.
Aus der Sicht des Pferdes:
Es fühlt sich in seiner Freiheit eingeengt.
Es steht mit dem Kopf vor der Wand und
kann sich nur durch Losreißen befreien.
Es hat nie gelernt, einem Druck nachzugeben und sich richtig führen zu lassen.
Das hilft:
Fangen Sie an, Ihr Pferd halfterführig zu
machen, und bringen Sie ihm bei, den
Release zu suchen (Übungen zum richtigen Führen Seite 55.) Nehmen Sie ein
Knotenhalfter und einen langen Strick
und legen Sie diesen über den Anbindebalken. Halten Sie das Ende in der Hand
und geben Sie nach, wenn das Pferd
nach vorne geht oder irgendwie seine
Füße bewegt. Am besten, Sie vermeiden das Anbinden an einer Mauer oder
Wand. Pferde entspannen sich mehr,
wenn sie freien Blick haben.
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Suchen Sie sich einen freistehenden
großen Baum und binden Sie Ihr Pferd
an einem starken Ast an, so dass es sich
in alle Richtungen bewegen und auch
schauen kann. Stellen Sie andere anbindefreudige Pferde in seine Nähe und
vertrauen Sie auf die Energie der Herde.
Wenn keine Bäume in der Nähe sind,
üben Sie das Gleiche an einem Anbindebalken (nicht auf Asphalt, Schotter o.Ä.).
Als sehr gute Methode hat sich das Anbinden mehrerer Pferde in der Reithalle
und auf dem Reitplatz erwiesen. Die
Pferde sind ein Teil des Geschehens in
der Bahn und sind so positiv abgelenkt.
Das Angebundensein wird so nicht als
Drill, sondern als Möglichkeit gesehen,
dabei sein zu können. Für Herdentiere
ist das sehr wichtig! Gleichzeitig können
Sie so das Scharren beheben.
Es gibt Pferde, die sich trotz dieser Maßnahmen einfach nicht anbinden lassen,
aber kein Problem haben, ohne Zwang
stillzustehen. In solchen Fällen ist man
gut beraten, es dabei zu belassen.
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THEMA DES MONATS
Problem:
a) Das Pferd beißt und schnappt,
während ich mich in seiner Kopfregion
aufhalte. Es stupst mich ständig an und
wühlt in meinen Taschen. Wenn ich es
wegschicke, kommt es ständig wieder
an und sucht nach Leckerlis.
b) Beim Anbinden und Führen schnappt
es nach mir und zappelt herum.
c) Beim Satteln legt es oft die Ohren an
oder schnappt nach mir.
Aus der Sicht des Pferdes:
a) Das Pferd fühlt sich bedrängt, wenn Sie
sich in seiner Kopfregion aufhalten. Sie
versperren ihm die freie Sicht, die es als
Fluchttier braucht. Aus Pferdesicht ist dieses Verhalten respektlos. Pferde, die aus
der Hand gefüttert werden, lernen, den
Raum des Menschen zu betreten, weil sie
dafür belohnt werden. Sie glauben, dass
das der Platz ist, wo Menschen sie gerne
haben wollen. Sie verstehen nicht, warum
sie heute eingeladen und morgen unsanft
weggeschickt werden.
b) Das Pferd war lange in der Box und
hat Energie für zehn. Es hat keine Lust
auf Gehorsamsspielchen, sondern will
sich endlich bewegen.
c) Ein Pferd, das mit angelegten Ohren,
Schnappen oder Beißen auf den Sattel
reagiert, will damit sagen, dass es eventuell Schmerzen hat. Das kann mit dem
Sattel selbst oder der Art, wie Sie reiten,
zu tun haben.
d) Das Pferd hat so gut wie keinen
Sozialkontakt und zeigt deutliche
Verhaltensauffälligkeiten.
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Das hilft:
Zeigen Sie Ihrem Pferd Respekt, indem Sie
seinen natürlichen Raum achten. Vermeiden Sie es, im direkten Blickfeld Ihres
Pferdes zu stehen, und unterlassen Sie das
Füttern aus der Hand. Halten Sie sich stattdessen in Widerristhöhe auf. Das hilft Ihrem
Pferd, sich in angemessenem Abstand zu
entspannen. Prüfen Sie Ihr Sattelzeug und
achten Sie auf Reaktionen Ihres Pferdes, die
auf Schmerz hindeuten. Lassen Sie es im
Zweifelsfall von einem Physiotherapeuten
untersuchen. Sorgen Sie dafür, dass Ihr
Pferd täglich mindestens fünf Stunden Auslauf hat – am besten im Herdenverband. Bei
notorischem Schnappen hilft der Block (Bild
rechts). Ziehen Sie einfach den Ellbogen
hoch, wenn Ihr Pferd nach Ihnen schnappen
möchte. Bleiben Sie dabei emotionslos und
beachten Sie Ihr Pferd nicht weiter.
Problem: Mein Pferd ist stur, es lässt
sich nicht führen. Es lässt sich ziehen
und bleibt ständig stehen. Auch mit Gerte bekomme ich es nicht ans Laufen. Es
frustriert mich und macht mich wütend.
Mein Pferd überholt mich ständig und tänzelt um mich herum. Selbst mit Kette kann
ich es nicht kontrollieren. Mein Pferd war
schon draußen, überholt mich aber immer
noch und nimmt mich gar nicht wahr.
Aus der Sicht des Pferdes:
Ihre Beziehung beruhte schon immer auf
Missverständnissen. Ihr Pferd hat keine
Motivation, Ihnen zu folgen. Weil es
gewöhnlich das reflektiert, was Sie auf es
projizieren, muss es sich stur zeigen. Es
tut alles, um dem Bild, das Sie von ihm
haben, zu entsprechen. Es kann nur das
zurückgeben, was es empfängt. Das Pferd
war noch gar nicht auf der Wiese, seine
Kumpels sind draußen, und es will endlich
laufen. Das Gefühl von Sicherheit ist ein
Grundbedürfnis unserer Pferde. Wenn es
sich mit Ihnen nicht sicher fühlt, muss es
sich um sich selber kümmern. Erst wenn
es bei Ihnen Ruhe und Beständigkeit
findet, kann es sich mit Ihnen entspannen
und Ihnen vertrauen.
Das hilft:
Seien Sie sicher, dass Sie ein Ziel haben,
wenn Sie Ihr Pferd führen. Sie stehen
ein bis zwei Meter seitlich vor Ihrem
Pferd. Gehen Sie los, nicht schlurfend,
sondern voller Energie. Wenn Ihr Pferd
nicht gleich folgt, lassen Sie den Strick
langsam durch Ihre geschlossene Hand
gleiten (siehe Übungen Seite 58). Dabei
bauen Sie leichten Druck auf. Sobald Ihr
Pferd nachgibt, öffnen Sie die Hand und
geben ebenfalls völlig nach. Kommen Sie
ans Ende des Stricks, ohne dass Ihr Pferd
antritt. Bleiben Sie auf keinen Fall stehen,
sonst erzieht Ihr Pferd Sie dazu, wann Sie
stehen bleiben sollen. Gehen Sie stattdessen in einem Bogen seitwärts nach
rechts oder links und halten Sie dabei den
Druck aufrecht. Es kann sogar sein, dass
Sie schließlich in die entgegengesetzte
Richtung gehen. Sobald Ihr Pferd vorwärts denkt, also bereit ist nachzugeben,
geben Sie ebenfalls nach. Wenn Sie gehen,
sollte Ihr Pferd immer seitlich hinter Ihnen
sein. Dabei ist es nicht entscheidend, wie
groß oder klein der Abstand ist (es sei
denn, Ihr Pferd beißt, siehe linke Seite).
Sollte Ihr Pferd überholen wollen, lassen
Sie es an sich vorbei und wechseln Sie
sofort die Richtung. Oder Sie versperren
ihm mit einer Gerte den Weg. Seien Sie
ruhig, beständig, rücksichtsvoll und klar
in Ihrem Umgang mit dem Pferd. Das gibt
ihm die nötige Sicherheit, um sich mit
ihnen zu entspannen.
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THEMA DES MONATS
Problem: Mein Pferd gibt nur widerwillig seine Hufe. Es fällt manchmal
fast hin und hat mich hinten auch schon
öfters gekickt. Beim Schmied wird es
immer sediert.
Aus der Sicht eines jungen Pferdes:
a) Es hat sein Gleichgewicht noch nicht
gefunden. Sowohl der Schmied als auch
ich sind viel zu ungeduldig und verlangen, dass es sein Bein gleich über einen
längeren Zeitraum hochhält, obwohl das
vorher nie geübt wurde.
b) Es hat auch Probleme, wenn man sein
Bein anfasst. Wenn es auf drei Beinen
steht, kann es nicht mehr weglaufen,
und das macht ihm Angst.
c) Es kann nicht stillstehen, weil es zu
viel Energie hat.
Aus der Sicht eines älteren Pferdes:
Es hat Probleme mit seinem Ischias und
kann besonders seine Hinterbeine nicht
lange hochhalten. Wenn jemand es dazu
zwingt, tritt es.
Das hilft:
Arbeiten Sie mit Ihrem Pferd vor dem
Üben am Boden, um so überschüssige
Energie loszuwerden. Achten Sie darauf,
dass das Pferd geschlossen, also ausbalanciert steht, bevor Sie die Hufe aufheben. Das Pferd sollte sich an allen vier
Beinen berühren lassen, ohne Widerstand
oder Unwohlsein zu zeigen. Anfangs
nur kurz die Hufe anheben und sofort
wieder loslassen. Das hilft dem Pferd,
nicht panisch zu werden. Bei Pferden,
die zum Ausschlagen neigen: Nehmen
Sie ein zweites, etwa fünf Meter langes
Führseil. Gewöhnen Sie Ihr Pferd daran,
sich vom Seil überall berühren zu lassen.
Halten Sie dazu Ihr Führseil in der einen,
das zweite Seil in der anderen Hand.
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Reiben Sie es erst mit dem Seil am Hals
und Körper ab. Schwingen Sie das Seil über
seinen Rücken, dann an seine Vorderbeine,
dann an seine Flanke und Hinterbeine. Je
selbstverständlicher Sie das machen, desto
selbstverständlicher ist es für Ihr Pferd. Der
Führstrick muss dabei locker durchhängen.
Sollte es sich bewegen, lassen Sie es –
aber ohne mit dem Schwingen des Seils
aufzuhören. Erst wenn Ihr Pferd wieder
stillsteht, hören auch Sie auf, das Seil zu
schwingen. Toleriert Ihr Pferd das Seil
am ganzen Körper, machen Sie an dem
einen Ende eine Schlaufe, die Sie um das
Fesselbein (zunächst eines Vorderbeins,
später eines Hinterbeins) legen. Stehen Sie
im 45-Grad-Winkel seitlich vor Ihrem Pferd.
Ziehen Sie den Strick jetzt auf Spannung
und warten Sie, bis Ihr Pferd mit dem
Bein nach vorne nachgibt. Dann geben Sie
auch vollständig nach (Release). Üben Sie
anfangs im Stand, später im Schritt. Gerade
bei den Hinterbeinen neigen Pferde dabei
zunächst zum Ausschlagen. Halten Sie
dabei das Seil leicht auf Spannung, bis sich
Ihr Pferd beruhigt und den Hinterhuf in die
von Ihnen gewünschte Richtung setzt.
Bei Verdacht auf Ischiasprobleme den
Physiotherapeuten hinzuziehen. Auf keinen
Fall wütend werden und das Pferd für sein
Wegziehen oder Kicken bestrafen!
Problem: Mein Pferd klebt an seinen
Artgenossen und seinem Stall. Nur
mit größter Kraftanstrengung gelingt
es mir, es davon zu lösen. Wenn ich
mit ihm an der Hand spazieren gehe,
wiehert es ständig und ist überhaupt
nicht bei mir. Sobald wir wieder zurückgehen, wird mein Pferd sehr dominant
und hat mir schon oft den Strick aus der
Hand gezogen.
Aus der Sicht des Pferdes:
Es fühlt sich wohl mit seinen Kumpels
und sicher in seinem Stall. Ihr Pferd findet bei Ihnen kein Gefühl der Sicherheit.
Es fühlt sich ohne sein vertrautes Umfeld allein, und das macht ihm Angst.
Es hat keine Motivation, Ihnen zu folgen. Das, was Sie ihm bieten, ist nicht
kompatibel mit seinen Bedürfnissen. Es
braucht eine richtige Aufgabe, die es
fordert. Nur Spazierengehen reicht ihm
nicht – das langweilt Ihr Pferd.
Das hilft:
Bieten Sie Ihrem Pferd einen Anreiz,
sich mit Ihnen aus seiner Komfortzone
zu bewegen. Seien Sie kreativ, geben
Sie ihm eine Aufgabe. Wenn Ihr Pferd
in seinem gewohnten Umfeld bleiben
möchte und sich weigert, Ihnen zu folgen,
beschäftigen Sie es dort. Sie bestrafen es
nicht für seinen Ungehorsam, sondern
ermutigen es, Ihnen zu folgen. Bauen Sie
verschiedene „Oasen“ (Lob, Ruhe, Futter,
andere Pferde) abseits seines Umfeldes
und machen Sie es ihm schmackhaft, bei
Ihnen zu sein. Entfernen Sie sich anfangs
auf kurze Distanzen vom Stall bzw. seinen
Kollegen und erhöhen Sie die Distanz und
die Frequenz stückweise.
UNSERE EXPERTIN
Michaela Kölbl ist seit knapp
20 Jahren Trainerin für
Westernreiten und Horsemanship. Während mehrjähriger
Aufenthalte in den USA hat
sie bei vielen bekannten
Horsemen arbeiten und lernen
können, unter anderem auch
bei Joe Wolter. Die 42-Jährige
wohnt in Essen. Sie gibt Einzelunterricht,
kann aber auch für Seminare gebucht werden.
www.horsemanship-mk.de
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THEMA DES MONATS
Mein Pferd steht am Anbinder und
scharrt in einer Tour. Ich kann mich
nicht mit meinen Stallkollegen unterhalten, ohne dass mein Pferd scharrt.
Aus der Sicht des Pferdes:
Sie quatschen in einer Tour mit Ihren
Stallkollegen und lassen Ihr Pferd wie
bestellt und nicht abgeholt stehen, während alle anderen schon längst ihr Futter
bekommen haben. Seine Blase drückt.
Es will endlich etwas tun und muss sich
stattdessen gefühlte drei Stunden „hübschen“ lassen.
Ein Stallkollege hält das eine Ende des
Stricks, Sie das andere.
• Ziehen Sie plötzlich ruckartig am
Strick, warten Sie kurz und rucken Sie
dann erneut. Wiederholen Sie die Übung
mehrmals. Beobachten Sie dabei Ihren
Partner. Tauschen Sie die Rollen. Sie
werden feststellen, dass Sie bereits
nach wenigen Malen versteifen, weil
Sie einen heftigen Ruck erwarten, selbst
wenn dieser dann nicht kommt. Genauso
empfindet Ihr Pferd, wenn Sie ruckartig
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am Zügel oder am Führstrick ziehen. Auf
dieses Gefühl kann man nicht entsprechend reagieren.
• Bauen Sie jetzt starken Druck auf und
halten Sie das Seil – egal wie Ihr Partner
darauf reagiert – stetig mit diesem Druck
auf Spannung. Tauschen Sie auch hier
wieder die Rollen. Auch hier werden
Sie nicht verstehen, was eigentlich
gefragt wird. Sie werden allerdings ab
einer gewissen Zugstärke mit Gegenzug
antworten.
• Ziehen Sie jetzt mit leichtem Druck
am Seil und geben Sie vollständig nach
(Release, siehe Kasten S. 60), sobald Ihr
Partner nur darüber nachdenkt, dem Zug
in Ihre Richtung nachzugeben. Tauschen
Sie auch hier die Rollen. Experimentieren Sie dabei mit verschiedenen Zugstärken, auch mit geschlossenen Augen.
Dabei kommt es nur auf Ihr Fühlen an.
Sie werden feststellen, dass Sie bereits
nach kurzer Zeit förmlich nach dem
Release suchen.
Das hilft:
Vermeiden Sie voreilige Schlüsse. Nicht
jedes Scharren resultiert aus Ungehorsam.
Lassen Sie Ihr Pferd nicht achtlos links
liegen, während Sie sich ausgiebig mit
anderen Dingen beschäftigen. Wenn möglich, vermeiden Sie es, zur Futterzeit zu
kommen. Oder lassen Sie es ein Häppchen
fressen, damit es weniger Stress hat.
Wenn es viel Energie hat, verzichten
Sie auf lange Putzorgien und geben Sie
Ihrem Pferd etwas zu tun. Arbeiten Sie es
am Boden oder reiten Sie es stattdessen.
Beobachten Sie, ob Ihr Pferd vielleicht
Wasser lassen muss, und führen Sie es in
die Box oder auf weichen Boden. Wenn Ihr
Pferd nicht gerne alleine ist, ist es ratsam,
es mit anderen anzubinden. Das gibt ihm
etwas Ruhe.
Wenn das Scharren eine Marotte geworden ist, probieren Sie den Überraschungseffekt. Binden Sie Ihr Pferd da an, wo
Sie es aus der Distanz sehen können.
Nehmen Sie einen kleinen Kieselstein
und werfen Sie ihn auf seine Hinterhand
oder in seine Richtung, wenn es scharrt.
Es wird sein Scharren mit anfliegenden
Kieselsteinen in Verbindung bringen. Oft
verschwindet das Problem auch, wenn
wir den Fokus einfach davon wegnehmen und es ignorieren.
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THEMA DES MONATS
Problem: Mein Pferd erschreckt sich
vor Geräuschen, Gegenständen und
schnellen Bewegungen. Es ist nicht
mehr kontrollierbar und würde am
liebsten weglaufen.
Problem: Mein Pferd tänzelt und bekommt Panik, sobald ich mit dem Wasserschlauch oder Fliegenspray ankomme. Ich wasche das Pferd jetzt immer
mit dem Schwamm ab.
Aus der Sicht des Pferdes:
Pferde sind Fluchttiere und haben
gelernt, auf sich achtzugeben. Auch
wenn sie schon sehr lange bei den
Menschen sind, reagieren sie immer
noch mit Flucht, wenn sie vor etwas
Angst haben.
Pferde geraten in Panik, wenn Sie von
ihnen verlangen, dem „Schreckgespenst“ frontal zu begegnen. Pferde
haben einen toten Winkel vorne am
Kopf und können da nichts sehen.
Sie müssen alles von beiden Seiten
sehen, da jedes Auge ein eigenes Bild
empfängt.
Aus der Sicht des Pferdes:
Es hat gar kein Problem mit Wasser, aber
mit dem Schlauch. Es ist ihm unangenehm, an einem kalten Tag mit kaltem
Wasser abgespritzt zu werden. Es wird
fest angebunden und gezwungen, sich
überall – auch im Gesicht – abspritzen zu
lassen. Das Geräusch der Sprayflasche
macht ihm Angst. Es bekommt Panik,
wenn es dabei angebunden wird und
nicht weg kann.
Das hilft:
Seien Sie sich darüber im Klaren, dass
Sie ein Tier haben, dessen Natur es ist,
sich manchmal zu erschrecken.
Zwingen Sie Ihr Pferd nicht, frontal auf
das Ungeheuer zuzusteuern, sondern
erlauben Sie ihm, den Angst einflößenden Gegenstand von beiden Seiten
jeweils mit dem linken und dem rechten Auge zu sehen (Augenwechsel).
Führen Sie Ihr Pferd dazu im Zickzack
an das Hindernis heran. Erlauben Sie
ihm immer, seine Füße zu bewegen.
Es darf sich dabei allerdings nicht
umdrehen und versuchen zu flüchten.
Gönnen Sie ihm zwischendurch auch
eine Pause, sobald es Anzeichen von
Entspannung zeigt.
Timing: Davon hängt es ab, ob und wie
gut Ihr Pferd versteht, was Sie von ihm
möchten. Beispiel Rückwärtsrichten. Sie
üben am Strick knapp unter dem Halfter
Druck nach hinten aus (siehe auch Feeling). Sobald Ihr Pferd „rückwärts“ denkt
und sein Gewicht nach hinten verlagert,
geben Sie nach. Schlechtes Timing: Sie
geben erst nach, nachdem Ihr Pferd
einen oder sogar mehrere Schritte gemacht hat.
Feeling: Sie müssen ein Gefühl für Ihr
Pferd entwickeln, um festzustellen,
wann es Ihre Idee aufgreift und Ihrer
Frage antwortet. Beispiel Führen: Sie
ziehen leicht am Führstrick. Sie müssen fühlen, wann Ihr Pferd bereit ist,
vorwärts nachzugeben. Das ist nur eine
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Gewichtsverlagerung, ein minimales
Nachgeben. Feeling können Sie sehr gut
in Partnerübungen entwickeln (siehe
Kasten Seite 58).
Emotion: Sie können (müssen) Ihr Pferd
lieben. Aber Wut, Angst, Trauer, die sich
gegen Ihr Pferd richtet, haben in der
täglichen Arbeit keinen Platz. Ihr Pferd
meint mit seinem Verhalten niemals Sie
persönlich – deshalb sollten auch Sie Ihr
Pferd niemals persönlich meinen.
Spirit: Jede Reaktion Ihres Pferdes geht
letztendlich darauf zurück, dass es den
Abend noch so unversehrt erleben will,
wie der Morgen angefangen hat. Sprich:
Es will überleben, um jeden Preis. Versuchen Sie immer, Ihre Arbeit aus der Sicht
Ihres Pferdes zu sehen.
Release: Sie haben Druck aufgebaut. In
dem Augenblick, in dem Ihr Pferd richtig
auf diesen Druck antwortet, nehmen Sie
den Druck sofort völlig (sehr wichtig)
weg – Sie geben einen Release –, der
Strick hängt locker durch. Nach kurzer Zeit wird Ihr Pferd diesen Release
suchen und immer darauf bedacht sein,
dass der Strick locker durchhängt – aber
nur, wenn Sie konsequent sind.
Flag: Eine Gerte mit einer kleinen Fahne
oder Tüte am Ende dient als Verlängerung Ihres Armes. Zur Desensibilisierung, aber auch als Verstärkung, um von
Ihrem Pferd die richtige Antwort auf Ihre
Frage zu bekommen. Bevor Sie mit der
Flag arbeiten, müssen Sie sicher sein,
dass Ihr Pferd keine Angst davor hat.
Das hilft:
Das Pferd weder bei Sprayflasche noch
Schlauch anbinden, sondern Strick
locker in der Hand halten. Gehen Sie
mit Ihrem Pferd auf den Reitplatz. Sie
brauchen einen langen Wasserschlauch,
mit dem Sie mitgehen können, falls
Ihr Pferd sich bewegt. Halten Sie den
etwa fünf Meter langen Führstrick in
der einen, den Wasserschlauch oder die
mit Wasser gefüllte Sprühflasche in der
anderen Hand. Schauen Sie entspannt
auf den Boden und besprühen oder
wässern Sie den Boden seitlich vom
Pferd. Wenn es sich bewegt, darf es
das, solange es mit dem Kopf bei Ihnen
bleibt. Möchte es sich wegdrehen und
flüchten, verhindern Sie das unter allen
Umständen, auch wenn dies starken
Druck aufs Seil bringt – Hauptsache,
Sie geben sofort wieder nach, sobald
Ihr Pferd nachgibt. Hören Sie mit dem
Sprühen/Wässern erst auf, wenn Ihr
Pferd stehen bleibt, nicht solange es
sich noch bewegt. Akzeptiert es das
Sprühen ins Nichts, fangen Sie an der
Sattellage beziehungsweise am Widerrist an. Immer erst, wenn es ruhig und
entspannt bleibt, gehen Sie zum nächsten Körperteil über: die Beine, den Hals,
die Brust. Nach Möglichkeit nicht das
Pferd im tiefsten Winter mit eiskaltem
Wasser abspritzen. An einem heißen
Sommertag ist eine Dusche eine Wohltat. Abspritzen im Gesicht vorsichtig
mit leichtem Wasserstrahl üben. Dabei
darauf achten, dass kein Wasser in die
Ohren kommt.
Wenn Sie anfangen, Ihrem Pferd den Respekt zu zollen, den Sie von ihm erwarten, verschwinden viele Probleme von selbst. Wenn Sie weniger an Ihren Techniken arbeiten
und vielmehr Ihr Timing und Feeling perfektionieren, wird sich Ihre Beziehung zu
Ihrem Pferd deutlich verbessern. Beobachten ohne Wertung ist eine Grundvoraussetzung für Problemlösung und hilft Ihnen, Ihre Emotionen zu Hause zu lassen.
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