Bachs Johannes-Passion, das Johannesevangelium und das

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Bachs Johannes-Passion, das Johannesevangelium und das
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
(Erschienen in: Zutrauen zur Theologie. 60-FS f. Christof Gestrich. Hg. v. A.-K. Finke/J. Zehner,
Berlin 2000, S. 250-272.)
Bachs Johannes-Passion, das Johannesevangelium und das Problem
christlicher Judenfeindschaft*
1. Die Judenchöre in der Johannes-Passion
Johann Sebastian Bach hat in seiner Johannes-Passion den Text der johanneischen
Passionsgeschichte (Kap. 18–19) vollständig aufgenommen. Hier wie da
erscheinen damit als Gruppe, die das Drama der Passion Jesu entscheidend
mitbestimmt, die Juden, die unerbittlich den Tod Jesu fordern und dem Präfekten
Pilatus – so stellt es der Evangelist Johannes dar – jeden Weg versperren, den
Nazarener freizulassen1. Im Fall von Bachs Johannes-Passion kommt als
besonderes Merkmal hinzu, daß der Part der Juden von Bach musikalisch und
über diese musikalische Seite kompositorisch ausgesprochen pointiert ausgestaltet
ist. Die Juden fallen – ebenso wie die Gruppe der Kriegsknechte oder römischen
Soldaten – in die Kategorie der Menge (lat. turba), und entsprechend sind ihre
Worte wie auch die der Soldaten chorisch vertont. Bach hat diesen sog.
Turbachören, vor allem insoweit sie Worte der Juden aufnehmen, außerordentlich
viel Aufmerksamkeit zugewandt. In Übereinstimmung damit stellen sie, wie ein
Kenner der Forschungslage geurteilt hat, „das meistdiskutierte Problem in Bachs
Johannes-Passion“ dar2. Zwölf der insgesamt vierzehn Turbachöre sind „durch
* Der Beitrag enthält die redigierte und hier und da ergänzte Fassung eines Vortrags, der am 2.
April 1995 in der Paulus-Kirchengemeinde in Berlin-Zehlendorf im Vorfeld einer Aufführung von
Bachs Johannes-Passion gehalten wurde. Die Vortragsveranstaltung, zu der auch Chor und
Orchester eingeladen waren, beruhte auf einer Initiative des die Aufführung leitenden Kantors
Cornelius Häußermann, der auch die Aufnahme des am Ende beigegebenen Kurztextes in das
Programmheft förderte.
1
Zur Verbindlichkeit des „im Prinzip auch die musikalische Ordnung“ bestimmenden
biblischen Berichtes für die Oratorische Passion s. A. DÜRR, Die Johannes-Passion von Johann
Sebastian Bach (dtv 4476), München /Kassel 1988 = ²1992, 112. Die Johannes-Passion weist
insgesamt nur zwei Einschübe in den johanneischen Text auf, Mt 26,75 (nach Joh 18,27) und
(ursprünglich) Mk 15,38 bzw. (später) Mt 27,51f. (nach Joh 19,30). Vgl. a.a.O., 53, und
ausführlicher DERS., Der Passionsbericht des Johannes in Bachs Deutung – aus der Sicht des
Musikwissenschaftlers, in: U. PRINZ (Hg.), Johann Sebastian Bach, Johannes-Passion BWV 245.
Vorträge des Meisterkurses 1986 und der Sommerakademie J.S. Bach 1986, Kassel u.a. 1993,
166–185, hier 169ff. Dem genannten dtv-Band Dürrs ist ein Textheft beigegeben, nach dem im
folgenden aus der Johannes-Passion zitiert wird.
2
A. DÜRR, Johannes-Passion (Anm. 1), 80.
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
ein Netz von musikalischen Korrespondenzen miteinander verknüpft“3. So hat
Bach für eine Reihe von Chören einen instrumentalen Modellsatz geschaffen,
einen gleichbleibenden Rahmen, in den die jeweiligen aktuellen Chorsätze
eingefügt sind, und außerdem hat er Entsprechungen im Vokalpart von je zwei
Chorsätzen hergestellt4. Der dadurch erreichte Effekt ist eine „betonte
Einheitlichkeit“ in der Darbietung der Turbachöre5.
Die Deutung der seit dem 19. Jahrhundert thematisierten Wiederholungen der
Judenchöre ist in den letzten Jahrzehnten durch eine vielzitierte Arbeit von
Friedrich Smend aus dem Jahr 1926 bestimmt worden6. Smend hatte die
geschlossene Symmetrie der von ihm als „Herzstück“ bezeichneten Satzfolge von
„Nicht diesen, sondern Barabbam“ bis „Schreibe nicht: der Juden König“ in ihrer
chiastischen Anordnung um den Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“
aufgewiesen7, den Choral aufgrund seiner Scharnierstellung in diesem
Zusammenhang als „Mittelpunkt des ganzen Werkes“8 verstanden und die 1926
begründete Sicht später weiter ausgebaut und verfeinert. Ohne Bestreitung der
symmetrischen Anlage der Satzfolge in dem sog. Herzstück sind in jüngerer Zeit
Zweifel an der Stringenz der Smendschen Gesamtsicht laut geworden, begründet
von Werner Breig9 und aufgenommen von Alfred Dürr10, der im Gefolge dieser
3
W. BREIG, Zu den Turba-Chören von Bachs Johannes-Passion, in: Geistliche Musik. Studien
zu ihrer Geschichte und Funktion im 18. und 19. Jahrhundert = Hamburger Jahrbuch für
Musikwissenschaft 8 (1985), 65–96, hier 65; vgl. DÜRR, Johannes-Passion (Anm. 1), 80.
4
A. DÜRR, Johannes-Passion (Anm. 1), 80.
5
A.a.O., 73.
6
F. SMEND, Die Johannes-Passion von Bach. Auf ihren Bau untersucht, in: DERS., BachStudien, Kassel u.a. 1969, 11–23.
7
Vgl. die zusammenfassende Skizze „Das Herzstück der Passion“ (a.a.O., 22). Der Abfolge:
Chorpaar „Nicht diesen, sondern Barabbam“/ „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig“ (a), Chor
„Kreuzige, kreuzige“ (b) und Chor „Wir haben ein Gesetz“ (c) entsprechen nach dem Choral
„Durch dein Gefängnis“ spiegelbildlich der Chor „Lässest du diesen los“ (c), „Weg, weg mit dem!
Kreuzige“ (b) und das Chorpaar „Wir haben keinen König“/ „Schreibe nicht: der Juden König“ (a).
8
A.a.O., 19.
9
W. BREIG, a.a.O. (Anm. 3), 65ff.
2
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Kritik und nach ihrer Vertiefung „die durch drei Arien und ein Arioso
hervorgehobene Todesstunde Christi“ für den „Höhepunkt des Werkes“ hält11.
Da die zuvor hervorgehobenen Merkmale der Judenchöre im sog. Herzstück, um
das es hier vor allem geht, im Rahmen dieser Debatte nicht in Frage gestellt
werden, mag es mit dem bloßen Hinweis auf sie sein Bewenden haben.
Während sich Musikwissenschaftler traditionell anscheinend mit einer relativ
formalen Beschreibung des Sachverhaltes begnügen, wie er eingangs im Anschluß
an Alfred Dürr skizziert wurde, hat Dagmar Hoffmann-Axthelm in einem bereits
vor etlichen Jahren veröffentlichten und jüngst noch einmal einem breiteren
Leserkreis vorgelegten Beitrag plausibel gemacht, daß sich mit dem angedeuteten
Kompositionsverfahren bemerkenswerte und durchaus problematische
Akzentuierungen verbinden12. Nach ihren Ausführungen hat Bach mit dem
angedeuteten Verfahren bei den Turba- oder Judenchören eine musikalischrhetorische Figur angewandt, die in seiner Zeit als perfidia, als Hartnäckigkeit,
bezeichnet wurde. Der Begriff perfidia, verstanden im Sinne von verstocktem
Unglauben, aber war zugleich in christlicher, auch Bach bekannter Tradition das
Etikett, mit dem man seit Jahrhunderten das Verhalten der Juden angesichts ihrer
Ablehnung Jesu Christi versehen hatte13. Bach habe damit – so HoffmannAxthelm – die traditionelle antijüdische Polemik gezielt aufgenommen,
10
A. DÜRR, Johannes-Passion (Anm. 1), 111ff.146ff.; DERS., Passionsbericht (Anm. 1), 182ff.
11
A. DÜRR, Johannes-Passion (Anm. 1), 123.
12 D. HOFFMANN-AXTHELM, Bach und die Perfidia iudaica. Zur Symmetrie der Juden-Turbae
in der Johannes-Passion, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 13 (1989), 31–54. Der
Beitrag wurde, durch Musikbeispiele veranschaulicht, am 10. April 1993 im 3. Programm des
Senders Freies Berlin ausgestrahlt. Unter dem Titel „Die Judenchöre in Bachs Johannes-Passion.
Der Thomaskantor als Gestalter lutherischer Judenpolemik“ ist er in einer Kurzfassung
wiedergegeben in: FrRu NF 2 (1998), 103–111. In allen wesentlichen Teilen sind die Beiträge
sachlich identisch. Gewisse Unterschiede in der Akzentuierung von Folgerungen werden am
gegebenen Ort hervorgehoben werden (s. unten, S. 2f.). Im folgenden wird jeweils auf die beiden
schriftlich veröffentlichten Fassungen (Juden-Turbae/1989; Judenchöre/1997) verwiesen.
13 Ihren bekanntesten Niederschlag fand sie in der jahrhundertelangen, inzwischen ersetzten
Karfreitagsbitte „für die ungläubigen Juden“ (perfidis Iudaeis). Siehe dazu J. HENNIG, Die
Stellung der Juden in der Liturgie, in: W.P. ECKERT / L. EHRLICH (Hg.), Judenhaß – Schuld der
Christen? Versuch eines Gesprächs, Essen 1964, 173–190; D. HOFFMANN-AXTHELM, JudenTurbae (Anm. 12), 33f. (mit weiterer Lit.).
3
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musikalisch zur Geltung gebracht und sich im Rahmen seiner musikalischen
Verkündigungstätigkeit bewußt in diese Tradition eingereiht14. Die frohe
Botschaft von der Gnade Gottes im Leiden Christi sei dezidiert verbunden mit
einer musikalisch ausgeprägten Darstellung der Juden als ungläubig, blind und
verstockt, so daß Bach nicht nur mit Friedrich Smend einer „der gewaltigsten
Söhne der lutherischen Kirche“, sondern „auch ein gewaltiger Gestalter
lutherischer Judenpolemik“ gewesen sei15: „Die Bewußtmachung der dunklen
Kehrseite des Werkes“ – so resümiert die Verfasserin – „bereitet Schmerzen.
Denn diese gewaltigen Zeugnisse protestantischer Kirchenmusik entstanden auf
einem Boden, aus dem sich letztlich auch die Kräfte nährten, die zur bisher
größten Menschheitskatastrophe geführt haben.“16
Gewiß ließe sich der angesprochene Zusammenhang bei einer eingehenderen
Erörterung des unleugbaren Anteils von ‚Theologie und Kirche‘, genauer von
Theologen und anderen Christen, am tödlichen Verrat an den Juden in unserem
Jahrhundert angesichts der Transformation der religiösen Judenfeindschaft in
politischen Antisemitismus (bei gleichzeitigem Andauern der ersteren) im 19. und
20. Jahrhundert differenzierter beschreiben. Aber keine dieser Differenzierungen
brächte jenen Anteil aus der Welt, und insofern ist die Feststellung der Verfasserin
auch in jener allgemeinen Form wahr. Ihren Freimut lernt man um so mehr
schätzen, wenn man sich vor Augen hält, daß das von ihr behandelte Problem
religiöser Judenfeindschaft in Bachs Johannes-Passion in dem bereits
anmerkungsweise erwähnten, zweihundert Seiten umfassenden Sammelband zu
dieser Passion17 trotz vieler Bezugnahmen auf die Judenchöre Bachs und auf die
Juden im Johannesevangelium weder ein Haupt- noch ein Nebenthema ist, einen
kurzen Passus von Dürr ausgenommen18.
14
DIES., Juden-Turbae (Anm. 12), 50–53; DIES., Judenchöre (Anm. 12), 108–110.
15
DIES., Juden-Turbae (Anm. 12), 53; DIES., Judenchöre (Anm. 12), 110.
16 DIES., Judenchöre (Anm. 12), 110; DIES., Juden-Turbae (Anm. 12), 54 (mit unwesentlich
abweichendem Wortlaut im ersten Satz des Zitates).
17 U. PRINZ (Hg.), a.a.O. (Anm. 1).
18
Siehe dazu unten, S. 2.
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Zur Würdigung der These der Verfasserin über die perfidia Iudaica ist im übrigen
zuvor bewußt die Charakteristik „plausibel“ gewählt, da eine weitergehende
Beurteilung den musikwissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen der
Verfasserin vorbehalten bleiben muß. Um so wichtiger scheint die folgende
Ergänzung: Sollten gravierende Einwände gegen die – anscheinend bisher nicht
diskutierte – These geltend gemacht werden können, könnte dies zwar zu einer
Revision der Feststellung führen, Bach habe die Judenchöre mit Hilfe jenes
perfidia-Motivs musikalisch ausgestaltet. Es würde jedoch nichts an dem Problem
des antijüdischen Charakters der Chöre ändern, und zwar einmal aufgrund der
engen textlichen Anlehnung an die johanneische Passionsgeschichte und zum
anderen in Anbetracht des schwerlich von der Hand zu weisenden Bildes
fanatisierter Juden, das die Chöre auch musikalisch geradezu aufzwingen19.
Die Richtigkeit ihrer These vorausgesetzt, kommt dem Nachweis HoffmannAxthelms besonderes Gewicht zu, daß Bach die Aussagen über die Juden in der
johanneischen Passionsgeschichte nicht nur formal aufgenommen und
intensiviert, sondern auch inhaltlich äußerst problematisch akzentuiert hat. In
welchem Verhältnis steht seine Rezeption der Aussagen zum vierten Evangelium
selbst? Hat dieses Evangelium seiner Anlage und Art nach ein antijüdisches
Gefälle, und stellt es damit einen heiligen Text dar, der, sich selbst und seinen
Hörern und Lesern einst und jetzt überlassen, ungerechte, mehr noch, feindliche
Einstellungen gegenüber den Juden begründet oder fördert? Aus naheliegenden
Gründen ist diese Frage an das Evangelium als ganzes und nicht nur an seine
Passionsgeschichte im engeren Sinne zu richten. Denn zum einen ist das
19 Vgl. die folgende Feststellung W. BREIGS (a.a.O. [Anm. 3], 87), die um so mehr Gewicht
hat, als seine Deutung der Judenchöre in eine andere Richtung geht (s. dazu unten, S. 2): „Der
Passionsbericht dieses Evangeliums [sc. Joh] zeichnet sich durch zahlreiche Gruppenreden aus; sie
häufen sich besonders in der Darstellung des Prozesses vor Pilatus. Bach hat diese Eigenschaft des
Textes in seiner Komposition betont und verstärkt.“ Er verdeutlicht dies durch die statistische
Feststellung (88), Bach habe – abweichend von anderen – die Pilatusszene so proportioniert, „daß
in den Bibeltext-Sätzen die Chöre, obwohl ihr Anteil am Textumfang nur knapp 12% beträgt (nach
Maßgabe der Silbenzahl), an der Komposition mit mehr als 60% beteiligt sind – eine Dominanz,
die durch die große vokal-instrumentale Besetzung der Turbae noch verstärkt wird. Und
schließlich tut Bach ein übriges, um die beherrschende Position der Chöre in diesem
Werkabschnitt zu verstärken, indem er gerade in der ersten Phase des II. Teils der Passion nur sehr
sparsam betrachtende Sätze einfügt.“
5
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Verhältnis zu den Juden im ganzen Evangelium präsent, so daß sich die
Passionsgeschichte im Blick auf dieses Thema nicht vom übrigen Evangelium
trennen läßt. Und zum anderen reicht die johanneische Leidensgeschichte in
einem ganz bestimmten Sinne sehr viel weiter zurück als der Erzählabschnitt Kap.
18–19, der im allgemeinen als Passionsgeschichte bezeichnet wird und der
entsprechend auch von Bach als Text aufgenommen ist. Aus beiden Gründen soll
die Aufmerksamkeit zunächst dem Johannesevangelium als ganzem und
besonders dem Zusammenhang des übrigen Evangeliums mit der
Passionsgeschichte im traditionellen Sinne (Kap. 18–19) gelten.
2. Zu Aufbau und Gefälle des vierten Evangeliums
Etwas zugespitzt, aber der Sache nach zutreffend, sind die Evangelien bereits vor
hundert Jahren als eine „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“
bezeichnet worden20. In der Tat stellt etwa die Passionsgeschichte des
Markusevangeliums, zumal wenn man sie mit dem Einzug Jesu in Jerusalem in
Mk 11 beginnen läßt, den längsten geschlossenen Zusammenhang des
Evangeliums dar, insgesamt ein Drittel des Stoffes. Das, was vorangeht, ist
spätestens von Kap. 8 an durch die drei Leidensweissagungen in Kap. 8, 9 und 10
deutlich auf diesen letzten Teil hingeordnet. Selbst vorher findet sich vereinzelt
eine Anspielung auf den Ausgang des Geschicks Jesu (3,6). Matthäus ist Markus
in dieser Anlage gefolgt. Lukas hat die Zuordnung dadurch verstärkt, daß er Jesus
bereits nach einem guten Drittel seines Evangeliums gezielt Jerusalem als Ort
seines Todes ansteuern läßt (9,51).
Die hier erkennbare enge Ausrichtung des Wirkens Jesu auf Jerusalem hat sich im
Johannesevangelium noch einmal erheblich verstärkt. Während Jesus in den drei
synoptischen Evangelien als Erwachsener nur ein einziges Mal nach Jerusalem
zieht, im Zusammenhang mit seinem Martyrium, begibt er sich nach Johannes
gleich zu Beginn ein erstes Mal dorthin (2,13ff.), wenig später ein weiteres (5,1),
dann alsbald ein drittes Mal (7,10) und von da an, d.h. bereits ab Kap. 7, hält er
sich mehr oder weniger nur noch in Jerusalem und Umgebung auf21. Die
20 M. KÄHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus
(1892; ²1896), Neudr. München 1953, 60 Anm.
21 Selbst wenn der Ort „jenseits des Jordans“ von 10,40 im Norden bzw. Nordosten zu suchen
wäre, wie teilweise angenommen wird, würde der wenige Zeilen umfassende Ausflug dorthin
(10,40–42) ebensowenig etwas an der johanneischen Fixierung auf Jerusalem von Kap. 7 an
ändern wie die Notiz über den zeitweisen Rückzug aus der Stadt in 11,54.
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Erzählung über die sog. Tempelreinigung durch Jesus, die bei den Synoptikern
Bestandteil seines letzten Aufenthaltes in Jerusalem ist, ist von Johannes gleich in
den ersten Jerusalembesuch verlegt. Ebenso begegnet die Erzählung vom Einzug
Jesu in die Stadt sehr viel früher als bei den anderen, d.h. bereits nach gut der
Hälfte des Evangeliums in Kap. 12. Kap. 13 handelt bereits vom Abend der
Gefangennahme Jesu in der Nacht vor seinem Tod. Ein Drittel dieses
Evangeliums, Kap. 13–19, spielt damit im Zeitraum von weniger als 24 Stunden
vor der Hinrichtung des Nazareners in Jerusalem. Deutlicher läßt sich die
Orientierung des Johannesevangeliums an dem Zentrum Jerusalem und an dem,
was dort mit der Passion Jesu geschieht, schwerlich veranschaulichen. Die Stadt
des Tempels ist der Ort der Provokationen Jesu (2,13ff.; 5,1ff.), damit Ort der
Konflikte und des in ihnen begründeten Leidens und Sterbens.
Nachhaltigen Ausdruck findet dieser Zusammenhang in einer Aussagenkette, die
sich von Kap. 5 an geradezu monoton bis hin zu Kap. 11 erstreckt, d.h. bis
unmittelbar vor den Einzug Jesu in Jerusalem: Kaum hat Jesus in Kap. 5 sein
erstes Wunder in Jerusalem getan, einen Gelähmten am Sabbat geheilt, ihm
geboten, am Ruhetag sein Bett zu tragen, und weiter sein Recht, die Sabbatruhe zu
verletzen, mit seiner Gottessohnschaft begründet, und schon heißt es, „die Juden“
hätten ihn nicht nur verfolgt, weil er am Sabbat geheilt habe, sondern ihn zu töten
gesucht, weil er Gott seinen Vater genannt und sich Gott gleich gemacht habe
(5,17f.). Und von da an ist bei Johannes das Bestreben „der Juden“, Jesus
umzubringen, gewissermaßen der rote Faden, der sich durch die folgenden Kapitel
hinzieht22. Dem Auftakt in Kap. 5 entspricht das Ende dieses Zusammenhangs in
Kap. 11. Hier gibt der Hohepriester Kaiphas im Anschluß an das Wunder der
Erweckung des Lazarus im Synedrium zu erwägen, es sei besser, daß ein Mensch
für das Volk stürbe, als daß das ganze Volk zugrunde gehe, woraufhin dann die
definitive Absichtserklärung der obersten Gerichtsbehörde erfolgt, Jesus zu töten
(11,47–53). Dieser Schluß von Kap. 11 ist im übrigen noch einmal ein Beispiel
für die Intensität, mit der die Passionsgeschichte im vierten Evangelium über
weite Teile des Evangeliums zerdehnt worden ist. Im Unterschied zu den
Synoptikern, die zwei Phasen des Prozesses gegen Jesus bzw. zwei Prozesse,
einen ersten vor dem Hohenrat, einen zweiten vor Pilatus überliefern, enthält die
johanneische Passionsgeschichte im engeren Sinne (Kap. 18–19) nur den Prozeß
vor Pilatus. Es scheint, daß die synoptische Szene mit dem Synedrium bis an das
22 Vgl. als Stellen, die die Absicht von Gefangennahme und Tötung hervorheben oder auf sie
anspielen, 7,19f.25.30.32.45–52; 8,20.28.37.40.44.59; 10,31–33.39.
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Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Ende von Kap. 11 vorgezogen ist. Allerdings ist dieser Abschnitt bei Johannes
von sehr eigener Kontur: Der ‚Angeklagte‘ ist in dieser ‚Verhandlung‘ seiner
Sache überhaupt nicht anwesend, und so wird auch kein Urteil im genauen Sinne
des Wortes formuliert, sondern eine Absicht bekundet.
Dies alles mag an Hinweisen genügen, um zu verdeutlichen, in welch
außerordentlichem Maße das Johannesevangelium von Anfang an als
Passionsevangelium gestaltet worden ist23. Im Rahmen dieser gezielten
Gestaltung – etwa zwei Generationen nach den Ereignissen selbst – ist im
Unterschied zu den anderen Evangelien auffällig häufig nicht unterscheidend,
differenzierend, von den Kontrahenten Jesu die Rede, vielmehr wird immer
wieder allgemein und verallgemeinernd von „den Juden“ als seinen Gegnern
gesprochen. Dieser ebenso hervorstechende wie problematische Zusammenhang
bedarf besonderer Erörterung.
23 Siehe in diesem Sinne bereits F. OVERBECK, Das Johannesevangelium. Studien zur Kritik
seiner Erforschung. Aus dem Nachlaß hg. v. C.A. BERNOULLI, Tübingen 1911,
284f.292ff.314ff.406, beispielhaft 285: Das vierte Evangelium „macht [,] indem es Jesus von
Anbeginn an auch schon in Judäa auftreten läßt, und zwar im heftigsten Kampfe, die ganze
evangelische Geschichte zur Passionsgeschichte. Faßt man das ganze johanneische Evangelium
nur als eine verbreiterte Passionsgeschichte auf, so ist auch die Stellung der Tempelreinigung darin
begreiflich 2,11ff.“ (Hervorh. F.O.)
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Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
3. Die Juden im Johannesevangelium
Bei Matthäus, Markus und Lukas erscheinen Jesus und seine Anhängerinnen und
Anhänger wie selbstverständlich als Glieder des jüdischen Volkes, ungeachtet
ihrer besonderen Konturen und Anschauungen und auch unbeschadet aller
Spannungen und Konflikte, von denen die Evangelisten erzählen. Haben Jesus
und die Jünger mit anderen Gruppen zu tun, so werden diese näher bezeichnet,
wie etwa als Pharisäer, als Jünger Johannes des Täufers, als Herodianer,
Sadduzäer, Hohepriester usw. Eine verallgemeinernde und distanzierte Rede von
den Juden begegnet bei den Synoptikern nur ganz am Rande24. Weil sie Jesus
und seine Jüngerinnen und Jünger innerhalb ihres Volkes ansiedeln, darum
unterscheiden sie sie von den anderen, indem sie sie gruppenspezifisch benennen.
Das bedeutet nicht, daß die Synoptiker nicht auch verallgemeinernd reden. Aber
dies geschieht in der Weise, daß dann generalisierende Aussagen über bestimmte
Gruppen gemacht werden, wie z.B. über die Pharisäer.
Dies alles stellt sich im Johannesevangelium erheblich anders dar. Dort begegnen
überhaupt nur drei deutlicher hervortretende Gruppen – die Jünger Johannes des
Täufers, die sich zumindest teilweise alsbald Jesus anschließen, die Pharisäer und
die Hohenpriester. Um so häufiger ist in der bereits angedeuteten Weise von „den
Juden“ die Rede, insgesamt etwa siebzigmal. Einmal davon abgesehen, wie dies
im einzelnen geschieht, ist an diesem Tatbestand abzulesen, daß sich im
Johannesevangelium die Perspektive erheblich verschoben hat. Sie ist nicht länger
mehr oder weniger innerjüdisch. Vielmehr blicken diejenigen, deren
Auffassungen in diesem Evangelium zum Ausdruck kommen, von außen auf das
Judentum, genauer auf die Teile des Judentums, die sich nicht zu Jesus halten.
Dieser Standortwechsel gilt für alle Aussagen des Johannesevangeliums über die
Juden, ganz gleich, wie sie inhaltlich gefüllt sind. Ungeachtet dessen ist innerhalb
dieser Aussagen noch einmal zu unterscheiden. Bei etwa der Hälfte der Stellen ist
die Verwendung des allgemeinen Begriffs „die Juden“, den Standortwechsel
einmal dahingestellt, sachgemäß und unproblematisch – so etwa, wenn es heißt,
Nikodemus sei „einer aus der Oberschicht der Juden“ gewesen (3,1) oder zu jener
Zeit habe „ein Fest der Juden“ stattgefunden (5,1), oder aber wenn von den
„Hohenpriestern der Juden“ (19,21) die Rede ist. Denn auch wenn hier von außen
oder aus einer deutlichen Distanz zum Judentum gesprochen wird, so sind doch
24 Außer der in den synoptischen Passionsgeschichten (und Mt 2,2) wie bei Johannes
begegnenden Bezeichnung Jesu als „König der Juden“ sind nur noch Mt 28,15; Mk 7,3 und Lk
7,3; 23,51 zu nennen – alles unpolemische Stellen.
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Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Bezeichnung und Bezeichnetes deckungsgleich. Vergleichen ließe sich dies etwa
damit, daß jemand heutzutage von einem bestimmten Minister nicht nur als
Außenminister, sondern als ‚Außenminister der Deutschen‘ spräche. Dies würde
signalisieren, daß in diesem Fall nicht aus einer Binnenperspektive, vielmehr
entweder von einem übergeordneten, vergleichenden Standpunkt oder aber aus
einer anderen nationalen Zugehörigkeit heraus geredet würde.
Neben dieser zwar auffälligen, aber dennoch unproblematischen allgemeinen
Redeweise von „den Juden“ gibt es im Johannesevangelium eine ganz andere, von
der all dies nicht mehr gilt, die vielmehr höchst problematisch, ja, destruktiv ist.
Sie umschließt all jene Stellen, an denen das, was bezeichnet wird, und die
Bezeichnung selbst nicht mehr deckungsgleich sind, sondern auseinanderklaffen.
An diesen Stellen wird entsprechend verallgemeinernd von „den Juden“
gesprochen, obwohl es jeweils nicht die Juden sind, sondern allenfalls einzelne
oder bestimmte Gruppen aus dem Volk, die jeweils zu Wort kommen. Es ist in
diesen Fällen immer noch zu fragen, ob die jeweilige Aussage selbst dann, wenn
diese Spannung im Begriffsgebrauch gegeben ist, sachlich zutreffende Elemente
enthält, aber das ist eine zweite Frage. Als Beispiele für den problematischen
Sprachgebrauch sollen zunächst einige wenige aus dem Evangelium insgesamt,
sodann insbesondere solche aus der Passionsgeschichte folgen.
Ein besonders gravierender Zusammenhang, in dem bereits alles an Problemen
versammelt ist, was sich mit einer solchen verallgemeinernden Redeweise
verbindet, ist der bereits berührte Abschnitt Joh. 5,10–18. In ihm heißt es nach der
Heilung des Gelähmten am Sabbat, „die Juden“ hätten den Geheilten anschließend
verhört (5,10–13), „die Juden“ hätten Jesus verfolgt, weil er die Sabbatruhe
verletzt habe (5,15f.), und „die Juden“ hätten ihn, nachdem er ihnen mit dem
Hinweis auf seine Vollmacht als Gottessohn geantwortet habe, mehr noch zu töten
gesucht (5,17f.). Obwohl die Problematik solcher Rede für jeden Unvoreingenommenen auf der Hand liegt, erscheint die Schwelle zu ihrer kritischen
Würdigung vielfach unverändert hoch, aus welchen Gründen auch immer.
Deshalb mag sie durch eine Verfremdung verringert werden: Mit millionenmal
mehr Gründen könnte man im Hinblick auf die Zeit von 1933–1945 sagen: ‚Die
Deutschen haben die Juden in den KZs umgebracht‘ – und würde man es
behaupten, so dürfte man zumindest unter Deutschen des heftigsten Protestes
gegen eine solche Verallgemeinerung sicher sein. Beansprucht man in diesem Fall
das Recht und die Pflicht differenzierter Rede, so bedeutete es blanke Willkür,
würde man beide in dem Augenblick außer Kraft setzen, in dem es um die
Rezeption von Teilen der Heiligen Schrift geht. Zwar findet sich im
Johannesevangelium auch die ausdrückliche Identifizierung Jesu als Juden durch
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Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
die Samaritanerin am Brunnen (4,9) und seine – wohl in erster Linie auf ihn selbst
bezogene – vielzitierte Aussage: „Das Heil (die Rettung) kommt von den Juden“
(4,22). Doch so großes Gewicht diese Stellen zu gewinnen vermögen, wenn man
sie programmatisch auffaßt und entsprechend entfaltet, so wenig hat es die in
ihnen bekundete Überzeugung im vierten Evangelium vermocht, dessen
destruktive Rede von „den Juden“ zu verhindern.
Der zuvor noch einmal aufgenommene Abschnitt Joh 5,1–18 bildet, so hatte sich
gezeigt, den Auftakt eines Zusammenhangs im Johannesevangelium, durch den
sich das hier gleich zu Beginn in Kap. 5 Dargelegte als roter Faden hinzieht, so
daß das ganze vierte Evangelium mehr oder weniger als Passionsgeschichte oder
Passionsevangelium konzipiert ist. Weil diese Einheit zwischen Evangelium und
Passionsgeschichte besteht, kann das Augenmerk im folgenden dieser selbst
gelten.
4. Die Juden und die Passionsgeschichte im vierten Evangelium
Hier und da scheint es zwar in der johanneischen Leidensgeschichte, als würde
der Evangelist in der Frage nach der Beteiligung jüdischerseits am Tod Jesu
differenzieren. So heißt es zunächst und anscheinend anders als in Kap. 5,
Beauftragte (Diener) von Hohenpriestern und Pharisäern und eine römische
militärische Einheit hätten Jesus verhaftet und nicht etwa „die Juden“ (18,12–14).
Und ebenso scheint dem Evangelisten an zwei Stellen der johanneischen
Passionsgeschichte bei der Schilderung des Hin und Her zwischen Pilatus, Jesus
und „den Juden“ an einer Differenzierung gelegen: Es seien, so sagt er dort, „die
Hohenpriester und die Diener“ gewesen, die gerufen hätten: „Kreuzige, kreuzige
ihn“ (19,6), und es seien „die Hohenpriester“ gewesen, die das letzte Pilatus
bedrängende Wort gesprochen hätten, bevor dieser Jesus zur Kreuzigung
ausgeliefert habe (19,15). Aber von diesen beiden Stellen abgesehen ist stets in
jener verallgemeinernden Weise, wie sie aus Kap. 5 bekannt ist, von „den Juden“
als Akteuren die Rede: „Die Juden“ sind es, die die Freilassung des Barabbas und
nicht diejenige Jesu fordern (18,38–40), „die Juden“ sind es, die urteilen: „Wir
haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muß er sterben“ (19,7), „die Juden“ sind
es, die Pilatus mit dem Ruf in die Ecke drängen, falls er Jesus freilasse, sei er kein
Freund des Kaisers (19,12), und „die Juden“ sind es, die zum zweitenmal rufen:
„Weg, weg (mit ihm), kreuzige, kreuzige ihn!“ (19,15) Und wie um es
zweifelsfrei zu machen, daß es hier um das Festklopfen einer Kollektivschuld
geht, sagt Pilatus bei Johannes zu Jesus: „Dein Volk und die Hohenpriester haben
dich mir ausgeliefert!“ (18,35) Kollektivschuld aber ist in der Regel eine
11
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
zerstörerische Kategorie. Sie verallgemeinert, verdammt, verhärtet und lähmt,
statt nach dem zu fragen, was war, und sich dem zu stellen, was war, und so ein
Stück Freiheit zu gewinnen.
Was also läßt sich historischer Kritik standhaltend über die Passion Jesu sagen,
wenn es denn so ist, daß das Johannesevangelium sie in einer späten, äußerst
problematischen und so nicht nachvollziehbaren Weise darstellt? So zu fragen legt
sich auch angesichts der erheblichen Unterschiede in der Darstellung der Passion
durch die vier Evangelisten nahe. So fehlt, wie bereits angedeutet, bei Johannes
z.B. ein erheblicher Teil der Passionsgeschichte der anderen, nämlich die Szene,
in der Jesus von dem obersten jüdischen Gericht, dem Synedrium, verhört und
verurteilt (Matthäus/Markus) oder nur verhört wird (Lukas). Bei Johannes gibt es
nur eine kurze Verhörszene vor dem nichtamtierenden Schwiegervater des
amtierenden Hohenpriesters Kaiphas, das Synedrium ist in dieser Phase nicht
mehr beteiligt (18,12–14.19–24)25. Selbst wenn Markus/Matthäus, Lukas und
Johannes in diesem Zusammenhang wie teils auch an anderen Stellen der
Passionsgeschichte verschiedene Wege gehen, so stimmen sie doch in einem
bemerkenswerten Zug überein: Niemand von den ehemaligen Jüngern und
späteren Auferweckungszeugen war bei dem, was nach der Verhaftung geschah,
dabei – selbst ein Petrus folgte nur bis in den Vorhof und verleugnete sich und
seinen Meister. Das, was an prozeßartigen Vorgängen überliefert ist, ist alles
Rekonstruktion, und ein beträchtlicher Teil dieser Rekonstruktion dürfte so
einzuschätzen sein wie die bei den Synoptikern überlieferte Szene des Gebetes
Jesu in Getsemane: Die Jünger schlafen, Jesus betet, und obwohl niemand
gegenwärtig ist, weiß die Gemeinde später, was er gebetet hat. Damit ist nichts
über und gegen die Wahrheit dieses Gebetes gesagt, aber sie liegt auf einer
anderen Ebene als der der Berichterstattung. Das wenige, was sich über die
Passion Jesu historisch einigermaßen verläßlich sagen läßt, läßt sich entsprechend
rasch bündeln:
1. Jesus ist gekreuzigt worden, und das heißt, da dies eine römische Strafe für
kriminelle und politische Aufrührer war, er ist aufgrund eines Urteilsspruchs des
damaligen römischen Präfekten über Judäa und Samaria, Pontius Pilatus,
25 Zu 11,47–53 s. oben, S. 2. Obwohl es reizvoll wäre, weitere Eigenheiten der johanneischen
Passionsgeschichte wie z.B. den Umgang mit dem Komplex Getsemane/Gebet Jesu in 12,27–33
und Kap. 17 zu besprechen, würde dies den Rahmen des Beitrags sprengen. Vgl. zur ganzen
johanneischen Passionserzählung außer den gängigen Kommentaren die gründliche
monographische Untersuchung von A. DAUER, Die Passionsgeschichte im Johannesevangelium.
Eine traditionsgeschichtliche und theologische Untersuchung zu Joh 18,1–19,30, München 1972.
12
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
hingerichtet worden, der, gemessen an außerbiblischen Berichten über ihn, in
allen vier Passionsgeschichten tendentiös, d.h. bei weitem als zu rechtschaffen
denkend oder als zu christenfreundlich, dargestellt ist26.
2. Die Anschuldigung „König der Juden“, die nach allen vier Evangelien
öffentlich gemacht und ans Kreuz geheftet wurde, deutet darauf hin, daß Jesus
beschuldigt wurde, politisch-messianische Zielsetzungen zu verfolgen.
3. Für politische Ambitionen Jesu gibt es keine klaren Indizien, wohl aber dafür,
daß er sein Wirken in einem unpolitisch-messianischen Sinne verstanden hat
(Exorzismen, Reich-Gottes-Verkündigung). Ebenso scheint es nach Ausweis der
Erzählung über seine handgreifliche Aktion im Tempelbezirk, daß er vor einer
Protestaktion nicht zurückscheute, die die öffentliche, hier die priesterliche
Ordnung störte.
4. Da eine Aktion im Tempelbezirk die Interessen priesterlicher Kreise berührte,
scheint die Annahme historisch plausibel, daß Jesus von diesen Kreisen oder von
Mitgliedern des ihnen nahestehenden Hohenrats an Pilatus ausgeliefert oder bei
ihm angezeigt wurde. Der für die Kreuzigung ausschlaggebende Schuldspruch
war in jedem Fall Sache des Präfekten.
Die Gründe, die gegen die Auffassung sprechen, es handle sich bei dem von den
Synoptikern, speziell Matthäus und Markus, geschilderten Prozeß vor dem
Hohenrat um eine historisch verifizierbare Darstellung, brauchen hier nicht im
einzelnen aufgelistet zu werden. Sie sind bereits vor Jahrzehnten knapp und
präzise von Eduard Lohse gebündelt27 und unlängst noch einmal, unter Einschluß
neuerer Literatur, ebenso eindrücklich von W. Stegemann zusammengestellt und
ergänzt worden28. Stegemann erwägt gegen Ende seines Beitrags drei
Möglichkeiten einer (administrativen, nicht juridischen) Beteiligung jüdischerseits
am Ende Jesu und als vierte die einer allein römischen Befassung mit dem
26 Zur historischen Gestalt des Pilatus und seinem Wirken s. die Untersuchung von J.-P.
LÉMONON, Pilate et le gouvernement de la Judée. Textes et documents, Paris 1981.
27 E. LOHSE, Zur Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Christi, Gütersloh 1964, 71ff.
28 W. STEGEMANN, Gab es eine jüdische Beteiligung an der Kreuzigung Jesu?, in: KuI 13
(1998), 3–24. Vgl. auch die beiden weiteren Beiträge zum Thema in diesem Band: N. RUBELIGUTHAUSER, Er starb. Und die Gewalt seines Todes wiederholte sich (25–45); CHRISTINA KURTH,
Der Prozeß Jesu aus der Perspektive jüdischer Forscher (46–58).
13
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Nazarener29. Seine diesbezüglichen, an der kurzen Notiz des römischen Autors
Tacitus über die Hinrichtung Jesu unter Pontius Pilatus orientierten Überlegungen
lassen seinen Schluß, daß es historisch möglich sei, „daß Jesus ohne jüdische
Beteiligung von den Römern gefangengenommen und hingerichtet worden ist“30,
als gerechtfertigt erscheinen. Dies nötigt, wenn man eine begrenzte Beteiligung
im oben genannten Sinne annimmt, um so mehr zum Vermerk des hypothetischen
Charakters auch dieser Annahme.
Ungeachtet aller Einwände hat freilich auch die traditionelle Sicht, die in der
Schilderung des Markus als des ältesten der Synoptiker eine mehr oder weniger
verläßliche Berichterstattung sieht, nach wie vor ihre Anhänger, dazu sehr
unterschiedliche wie z.B. den christlichen Theologen Otto Betz31 und den
jüdischen Juristen Chaim Cohn32. Wie O. Betz glaubt, die markinische
Darstellung der Sitzung des Hohenrats im wesentlichen bewahrheiten zu können,
rechnet auch Ch. Cohn mit einer Nachtsitzung des Hohenrats und der Erörterung
christologischer Fragen – allerdings habe die Sitzung allein das Ziel gehabt, den
Inhaftierten, zuletzt vergeblich, von seinem brisanten Messiasanspruch
abzubringen, der sein sicheres Ende im bereits vorgesehenen Prozeß vor Pilatus
bedeuten mußte. Die Untersuchungen von Betz und Cohn verdeutlichen damit,
welche interpretatorischen Spannungsbögen möglich sind, wenn man die Szene
vor dem Hohenrat zu einer mehr oder weniger, ganz oder teilweise verläßlichen
Grundlage macht, die sie aufgrund ihrer ganz anderen als historischen Interessen
schwerlich ist33.
29
W. STEGEMANN, a.a.O. (Anm. 28), 17ff.
30
A.a.O., 21.
31 O. BETZ, Probleme des Prozesses Jesu, in: ANRW II, 25.1, Berlin/ New York 1982, 566–
647.
32 CH. COHN, Der Prozeß und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, Frankfurt a.M. 1997.
33 Der literarisch-theologische, d.h. historische Unergiebigkeit signalisierende Charakter der
Passionsgeschichten in den Evangelien ist zuletzt überzeugend nachgezeichnet von GUDRUN
HOLTZ, Der Herrscher und der Weise im Gespräch. Studien zu Form, Funktion und Situation der
neutestamentlichen Verhörgespräche und der Gespräche zwischen jüdischen Weisen und
14
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Wie aber ist dann eine verallgemeinernde und problematische Darstellung der
Passion Jesu wie die des Johannesevangeliums zu erklären?
5. Hintergründe der johanneischen Sicht
Die auffällig verallgemeinernde Rede von den Juden im Johannesevangelium ist
seit langem beobachtet, und entsprechend gibt es eine Reihe von Erklärungen für
sie34. Zwei verbreitete und ausgesprochen unterschiedliche Deutungen mögen zur
Veranschaulichung der Wege dienen, auf denen man dem Phänomen
beizukommen gesucht hat.
Die erste – man mag sie eine symbolische nennen – legt die Kluft zwischen der
Realität einerseits und der verallgemeinernden Rede von den Juden andererseits
wie folgt aus: Gemeint sei mit den religiös diskriminierenden Aussagen über die
Juden bis hin zu ihrer Verteufelung (8,44) nicht das tatsächlich existierende
Fremdherrschern, Berlin 1996. Weitere neuere Literatur zum Thema des Prozesses ist bei W.
STEGEMANN (a.a.O. [Anm. 28]) sowie bei CH. COHN (a.a.O., [Anm. 32], Bibliographie v. Chr.
Wiese, 493–518) genannt.
34 Zur Forschungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert s. R. LEISTNER, Antijudaismus im
Johannesevangelium? Darstellung des Problems in der neueren Auslegungsgeschichte und
Untersuchung der Leidensgeschichte, Bern/Frankfurt a.M. 1974, 17–67, und T.L. SCHRAM, The
Use of Ioudaios in the Fourth Gospel. An Application of some Linguistic Insights to a New
Testament Problem, Diss. theol. Utrecht 1974, 147–205. Die seit diesen Arbeiten bis 1985
erschienenen Beiträge zum Thema sind aufgelistet bei G. VAN BELLE, Johannine Bibliography
1966–1985. A Cumulative Bibliography on the Fourth Gospel, Leuven 1988, 405–407. Aus der
nachfolgenden Zeit s. vor allem die herausfordernden Ausführungen des jüdischen Autors M.
BRUMLIK, Johannes: das judenfeindliche Evangelium, in KuI 4 (1989), 102–113, sowie die
differenzierte Antwort von E. STEGEMANN, Die Tragödie der Nähe. Zu den judenfeindlichen
Aussagen des Johannesevangeliums, a.a.O., 114–122; ferner D.M. SMITH, Judaism and the Gospel
of John, in: J.H. CHARLESWORTH (Hg.), Jews and Christians. Exploring the Past, Present, and
Future, New York 1990, 76–96 (mit wichtiger Diskussion 97–99); D. NEUHAUS (Hg.),
Teufelskinder oder Heilsbringer – die Juden im Johannes-Evangelium, Frankfurt a.M. ²1993, darin
bes.: K. WENGST, Die Darstellung „der Juden“ im Johannes-Evangelium als Reflex jüdischjudenchristlicher Kontroverse (22–38); DERS., Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus.
Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 41992, bes. 55–74; M. RISSI, „Die Juden“ im
Johannesevangelium, in: ANRW II 26.3, Berlin/New York 1996, 2099–2141 (weitere Lit.); K.
HEINRICH, Wie eine Religion der anderen die Wahrheit wegnimmt. Notizen über das Unbehagen
bei der Lektüre des Johannes-Evangeliums, in: ZRG 49 (1997), 345–363; N.A. BECK, Mündiges
Christentum im 21. Jahrhundert. Die antijüdische Polemik des Neuen Testaments und ihre
Überwindung, Berlin 1998, 339–371.
15
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Judentum, „das jüdische Volk nicht in seinem empirischen Bestande, sondern in
seinem Wesen“35, so daß „die Juden“ „überhaupt nicht als empirisches Volk
genommen [sind], sondern als ‚stilisierte Typen‘“36. Der Gebrauch des Terminus
sei der Sache nach identisch mit der Verwendung des Begriffes „die Welt“ im
Johannesevangelium37. „Die Juden“ und „die Welt“ würden allein danach
beurteilt und definiert, wie sie sich zu Jesus verhielten. Wenn von ihnen gesagt
würde, sie seien vom Teufel (8,44), so sei dies in streng theologischem Sinne als
Umschreibung dafür gemeint, daß sie eben ihr Dasein nicht in Gott wählten, wie
Jesus ihn offenbart, sondern im Antigöttlichen38. In diesem Sinne sei die
dualisierende Darstellung der Juden im vierten Evangelium Niederschlag der
christlichen Gewißheit, daß es nur ein Volk Gottes geben könne39, und somit
„das vierte Evangelium einer der frühesten Versuche, den Absolutheitsanspruch
des Christentums theologisch zu fixieren“40.
Damit scheinen zwar die Aussagen des Johannesevangeliums zu einem
nennenswerten Teil zutreffend umschrieben zu sein. Aber mit dieser
Umschreibung ist nur bestätigt, daß das Johannesevangelium antijüdische
Tendenzen hat. Denn eben dies – eine typisierte Darstellung des Judentums, die
auf dessen reale Existenz keine Rücksicht nimmt – ist seit je Kennzeichen einer
antijüdischen Darstellungsweise gewesen. Es wird allein von den eigenen
theologischen Interessen und Normen her diktiert, was das Judentum theologisch
ist oder zu sein hat. Als wesentliches Kennzeichen der jüdischen Religion gilt
dabei, daß sie „ihr Wissen um Gott pervertiert hat“41.
35
R. BULTMANN, Das Johannesevangelium, Göttingen 161959, 59.
36 E. GRÄSSER, Die antijüdische Polemik im Johannesevangelium (1964/65), in: DERS., Der
Alte Bund im Neuen. Exegetische Studien zur Israelfrage im Neuen Testament, Tübingen 1985,
135–153, hier 145; vgl. auch (sachlich auf derselben Linie) DERS., Die Juden als Teufelssöhne in
Joh 8,37–47 (1967), a.a.O., 154–167, hier 164.
37 R. BULTMANN, a.a.O. (Anm. 35), 59.204.213.500.508 u.ö.
38
A.a.O., 265; E. GRÄSSER, Polemik (Anm. 36), 146f.; DERS. Teufelssöhne (Anm. 36), 159ff.
39
E. GRÄSSER, Polemik (Anm. 36), 152.
40
A.a.O., 153.
41 A.a.O. unter Berufung auf Bultmann, allerdings ohne Stellenangabe. Als ausführlichere
Darstellung und Kritik der zusammengefaßten Position s. P. VON DER OSTEN-SACKEN, Leistung
und Grenze der johanneischen Kreuzestheologie, in: EvTh 36 (1976), 154–176, hier 165–172.
16
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Die zweite Erklärungsweise sucht die johanneische Darstellung stärker von den
sozialen und politischen Voraussetzungen der Gemeinschaft am Ende des 1.
Jahrhunderts her zu erklären, die hinter dem Johannesevangelium steht42. Diese
Gemeinschaft stellt eine judenchristliche Minorität in einer mehrheitlich jüdischen
Umwelt in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n.Chr. dar. Sie
erfährt mit ihrer Botschaft über Jesus Christus von der Majorität her eine spürbare
Ablehnung (etwa in Gestalt des Ausschlusses aus der Synagoge)43, und diese
schmerzliche Erfahrung ist es, die in der antijüdischen Entfaltung ihrer Botschaft
ihren Niederschlag findet. Das Nein, das der Gemeinde in ihrer Gegenwart
widerfährt, wird zum Steuerungsmechanismus für die Darstellung der Juden in der
Geschichte Jesu. Ihre Belastung mit der Schuld am Tode Jesu geht bei Johannes
und in den übrigen Evangelien mit einer zunehmenden Entlastung des Pilatus
einher44. Diese Entlastung des bei Johannes von den Juden geradezu verbal
strangulierten Pilatus steht unverkennbar im Dienst der christlichen Gemeinde:
Der Römer wird mehr und mehr zum Zeugen für die Unschuld des als politischen
Aufrührers verurteilten Jesus, und mit ihrem Herrn und Meister wird zugleich die
Gemeinde selbst von dem Verdacht befreit, sie habe in seiner Nachfolge
antirömische Bestrebungen45.
42 Diese Seite spielt zwar auch in der zuvor dargestellten Position eine gewisse, wenn auch
deutlich sekundäre Rolle. So urteilt E. GRÄSSER, Polemik (Anm. 36), 151: „Die Kämpfe zwischen
Kirche und Synagoge zur Zeit des Verfassers haben wohl gestaltend mit auf die Darstellung dieser
Auseinandersetzung gewirkt ... Das primäre Motiv für die antijüdische Polemik geben jedoch
nicht sie ab. Das liegt vielmehr in der theologischen Reflexion des Joh über Jesu Gekommensein
als Krisis der Welt.“ (1. Hervorh. E.G., 2. v.d.O.-S.)
43 Vgl. Joh 9,22; 12,41; 16,2. Die Annahme, daß der an diesen Stellen vorausgesetzte
Synagogenausschluß in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem – jüdischer Tradition nach
gegen Ende des 1. Jahrhunderts in das jüdische Hauptgebet aufgenommenen – sog. Ketzersegen
steht, wird aufgrund der Text- und Überlieferungsverhältnisse zunehmend in Frage gestellt. Vgl.
zur Sache (mit weiterer Lit.) P. VON DER OSTEN-SACKEN, Katechismus und Siddur, Berlin ²1994,
266–269; U. SCHNELLE, Das Evangelium nach Johannes, Leipzig 1998, 9f.
44 Vgl. in diesem Sinne z.B. die in Anm. 34 genannten Arbeiten von E. STEGEMANN und K.
WENGST, deren historische Konkretisierung dieser Position im einzelnen hier auf sich beruhen
bleiben kann.
45 Siehe dazu bereits E. LOHSE, a.a.O. (Anm. 27), 90. Die unzweideutige Entlastung des Pilatus
spricht klar gegen die Deutung von L. STEIGER, „Wir haben keinen König denn den Kaiser!“
Pilatus und die Juden in der Passionsgeschichte nach dem Johannesevangelium mit Bezug auf
Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach. Oder die Frage nach dem Antijudaismus, in: MuK 64
17
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Aufs ganze gesehen erscheint die zweite Erklärung als historisch plausibler, weil
sie die vermutlichen sozialen und politischen Verhältnisse stärker ins Auge faßt,
obwohl auch die erstgenannte Deutung soziale Faktoren wie den
Synagogenausschluß mit in Rechnung stellt. Die wesentliche Differenz dürfte
deshalb eher in der Beurteilung der johanneischen Rede von den Juden liegen, die
von den Vertretern der erstgenannten Auffassung aufgrund ihres vermeintlich rein
theologischen, stereotypen Charakters im wesentlichen als legitim, von den
Vertretern der zweiten aufgrund ihrer destruktiven Implikationen als
problematisch angesehen wird. Die Vertreter der zweiten Auffassung vermögen
des weiteren, weil sie ihre historische Erklärung nicht theologisch überhöhen, im
ganzen einsichtiger und nachvollziehbarer zu machen, warum die Gemeinde so
harsch reagiert: Einer bedrängten Minderheit läßt sich bei einem ausgeprägten
Sinn für Gerechtigkeit in der Regel leichter Verständnis entgegenbringen als der
sie bedrängenden Mehrheit.
Allerdings sind die sozialgeschichtlichen Aspekte dennoch um theologische zu
ergänzen46. Denn im Hintergrund der angedeuteten Spannungen steht fraglos ein
ebenso echter wie schwieriger religiöser Konflikt, der zumindest angedeutet
werden soll: Im Wirken und Reden Jesu geschieht nach Johannes eine letztgültige
Offenbarung des einen Gottes, wie er in den heiligen Schriften Israels bezeugt ist.
So steht im Zentrum der Botschaft des Johannesevangeliums die Verkündigung
(1994), 264–271: Er meint, Johannes wolle die Passion als „ein Gemeinschaftswerk ‚der
Menschen‘“ (264), von Juden und Heiden (=Pilatus), darstellen (264ff.). Steigers Beitrag besteht
de facto in meditativen theologischen Überlegungen dazu, wie mit dem (von ihm allerdings
bestrittenen) johanneischen Antijudaismus umzugehen ist. Zur von ihm geteilten Auffassung, die
Juden verrichteten mit ihrem Verhalten in der Passion den Heilswillen Gottes (266), bzw. sie
stünden „im Dienst der Wahrheitsüberlieferung“ (ebd.), s. unten, S. 2f. Wer nach Steigers
apologetischen Ausführungen zu Johannes eine erfrischende, sachlich-polemische Herausforderung nicht scheut, die an das mit Johannes gegebene Problem heranführt, findet sie in dem
bohrenden Beitrag von K. HEINRICH, a.a.O. (Anm. 34).
46 Die Frage, ob die historische Situation oder die theologische Reflexion als der primäre
Faktor zu veranschlagen ist, dürfte sich angesichts der Quellenlage schwerlich noch hinreichend
klar entscheiden lassen. Man mag immerhin fragen, ob es sich überhaupt um eine sinnvolle
Alternative handelt, da historische Phänomene in der Regel dialektischer verlaufen oder auch
verwickelter sind, als daß sie durch eine solche Alternative in ihrer Komplexität erfaßt werden
könnten.
18
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
der Einheit Gottes mit Jesus von Nazaret als seinem Sohn47. Diese Botschaft von
der Einheit Gottes mit diesem einen besonderen Menschen ist für Juden in der
Regel nicht nachvollziehbar und annehmbar. Sie sehen darin eine Antastung der
Einzigkeit des biblischen Gottes. Denn er hat sich jüdischer Auffassung gemäß
zwar seinem Volk offenbart und will sich auch den Völkern der Welt bekunden,
aber er bindet sich nicht in dieser ausschließlichen Weise an einen einzigen
Menschen. Wenn deshalb im Johannesevangelium das Bekenntnis zu Jesus als
„(mein) Herr und (mein) Gott“ laut wird (20,28), so ist dies für Juden eine Rede
von Gott, der sie nicht zu folgen vermögen. Dieses Verständnis findet im vierten
Evangelium darin seinen Ausdruck, daß von jüdischer Seite aus der Vorwurf
erhoben wird, Jesus mache sich – mit seinem Selbstverständnis als Sohn Gottes in
der Einheit mit dem Vater – selber zu Gott bzw. zum Sohn Gottes. Das
Johannesevangelium läßt „die Juden“ diesen Vorwurf, wie wir gesehen haben,
gleich in Kap. 5 erheben, und er erstreckt sich dann bis in die Passionsgeschichte
selber (19,7).
In der skizzierten Weise treffen damit am Ende des 1. Jahrhunderts zwei Welten
aufeinander: das Bekenntnis zur Einheit Gottes mit Jesus von Nazaret auf
christlicher und die Bestreitung dieser Einheit auf jüdischer Seite. Wenn aber nun
im Johannesevangelium dieser Konflikt als Grund für die Tötung Jesu angegeben
und außerdem sein Tod auf dieser Linie im entscheidenden „den Juden“ angelastet
wird, so wird eine Auseinandersetzung, wie sie erst am Ende des 1. Jahrhunderts
zu finden ist, um zwei Generationen in die Zeit Jesu zurückdatiert und in der
bereits erörterten fragwürdigen Weise ein ganzes Volk für eine einzelne Tat
verantwortlich gemacht. Jener christologische Konflikt aus der Frühzeit ist
entsprechend aus seiner Zeit am Ende des 1. Jahrhunderts heraus zu interpretieren.
Er hat so, wie ihn Johannes darstellt, keinen Ort in Leben und Wirken des
Nazareners und in diesem Sinne keine ‚Vergangenheit‘, wohl aber eine ‚Zukunft‘,
47 Vgl. die ebenso knappe wie treffende, nicht zuletzt von Joh 2,13ff. geleitete Charakteristik
von F. OVERBECK, a.a.O. (Anm. 23), 408: „Das 4. Evangelium beruht auf einer ganz bestimmten
Voraussetzung über den Ort Gottes [,] und sie ist zugleich auch die Voraussetzung für die
Charakteristik der Juden durch den Evangelisten: dieser Ort ist Jesus.“ Vgl. auch die von Overbeck
unabhängige Aufnahme von Motiv und Text durch JOHANNA RAHNER, „Er aber sprach vom
Tempel seines Leibes“. Jesus von Nazaret als Ort der Offenbarung Gottes im vierten Evangelium,
Bodenheim 1998.
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Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
insofern er in bestimmter Weise bis heute hin seine Fortsetzung hat48. Man wird
diesem Konflikt einst und jetzt wohl nur unter einer Voraussetzung gerecht
werden: wenn man nicht nur die christliche Botschaft als die Wahrheit auffaßt und
verteidigt, sondern wenn man zugleich fragt, warum sie für die jüdische Seite
nicht nachvollziehbar ist. Erst mit solchem Fragen ist man auf der Ebene eines
Gespräches, in dem der andere – gerade auch als Zeuge seiner
Wahrheitsgewißheit – zu Wort kommt. Erst in einer solchen offenen Begegnung
vermag entsprechend auch etwas von der Realität jüdischer religiöser Existenz,
ihrem Reichtum und ihren Grenzen, erkennbar zu werden.
An dem zuvor durch Kursivierung hervorgehobenen Sachverhalt scheitert im
übrigen eine Sicht, wie sie jüngst – ‚Antijudaismus‘ bei Johannes überhaupt
bestreitend – Udo Schnelle in seinem Kommentar dargelegt hat49. Seinem Urteil,
die Juden würden „nicht aufgrund ihres Wesens negativ beurteilt, sondern nur,
wenn sie (wie andere Menschen auch) unter der Macht des Unglaubens
verharren“50, steht ihre Charakterisierung im Prozeß vor Pilatus massiv entgegen.
Schnelles Klärung des Problems ist entsprechend nur eine Scheinlösung:
„Urheber der Tötung Jesu ist eine fremde, widergöttliche Macht: der Teufel. Er
agiert direkt durch Judas (Joh. 13,2; 14,30), der über eine römische Kohorte
verfügen kann (Joh. 18,3). Der Teufel macht Teile der Juden unfrei, sie wollen
Jesus töten und werden so zu ‚Teufelskindern‘ (Joh 8,44).“51 Judas spielt, wie oft
vermerkt, bereits in 18,1–11 eine Statistenrolle und erscheint im folgenden nicht
mehr, wohl aber treten „die Juden“ nicht nur ohne Hinweis, daß es sich um
„Teile“ von ihnen handele, als die in den Vordergrund, die Jesus ausliefern;
vielmehr werden sie im oben zitierten Sinne ausdrücklich als Totalität benannt:
48 Vgl. dazu etwa C. THOMA /M. WYSCHOGROD (Hg.), Das Reden vom einen Gott bei Juden
und Christen, Bern /Frankfurt a.M. 1984, sowie P. VON DER OSTEN-SACKEN /M. WYSCHOGROD,
Auferstehung im jüdisch-christlichen Dialog. Ein Briefwechsel, in: EvTh 57 (1997), 196–209.
49 U. SCHNELLE, a.a.O. (Anm. 43), 163–166.
50
A.a.O., 166.
51
Ebd.
20
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
„Dein Volk...“52. Darüber hinaus wäre zumindest im Horizont der Gegenwart, in
der auch historische Kommentare ihren Ort haben, das Bestreben zu
problematisieren, Menschen zu diabolisieren, nur weil sie nicht den eigenen
Glauben teilen („unter der Macht des Unglaubens verharren“), selbst wenn es nur
um „Teile“ des Ganzen geht53.
52 Vgl. auch die dem korrespondierende Aussage „der Juden“ in 18,30 und dazu unten, S. 2.
Mit Hilfe einer ähnlichen Linie wie U. Schnelle hat im übrigen bereits G. THEIßEN (Antijudaismus
im Neuen Testament – ein soziales Vorurteil in heiligen Schriften, in: J. THIERFELDER /W.
WÖLFING [Hg.], Für ein neues Miteinander von Juden und Christen, Weinheim 1996, 77–97)
plädiert: Satan – Judas – Römer – jüdische Aristokratie würden als die für den Tod Jesu
Verantwortlichen gezeigt (94f.). So ergeben sich entsprechende Fragen an seine Position.
Allerdings hat Theißen ein klares Gespür dafür, daß heilige Texte „gefährliche Texte“ sind (96,
vgl. 77), weil sie auch „fragwürdige Urteile, verzerrte Wahrnehmungen, allzu menschliche
Vorurteile“ enthalten (ebd.). Nur wird nicht recht deutlich, worin sie in diesem Fall nach THEIßEN
bestehen. Als hilfreicher erscheinen seine Ausführungen in seinem früheren Beitrag: Aporien im
Umgang mit den Antijudaismen des Neuen Testaments, in: E. BLUM / CHR. MACHOLZ /E.W.
STEGEMANN (Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff),
Neukirchen-Vluyn 1990, 535–553, hier 547f. (Joh) sowie 550–553 (Anschluß an diejenigen, die
für eine Sachkritik an neutestamentlichen Antijudaismen plädieren).
53 Wie bedenkenlos der vierte Evangelist in der Passionsgeschichte formulieren kann, zeigt im
übrigen auch die Aussage 19,16: „Da übergab er [Pilatus] ihn ihnen, damit er gekreuzigt würde.
Sie nahmen nun Jesus in Empfang.“ Jeder Lesende oder Hörende muß zunächst annehmen, bei
„ihnen“ und „sie“ handele es sich um „die Juden“, die unmittelbar vorher genannt sind, und sie
seien es, von denen Jesus nun auch gekreuzigt würde. Erst in den folgenden Versen – eindeutig
erst in 19,23 – wird klar, daß es „die Soldaten“ waren, denen er von Pilatus ausgeliefert wurde.
Warum der Evangelist das Mißverständnis zuläßt, erscheint zumindest als rätselhaft.
Ungeachtet der als problematisch hervorgehobenen Elemente im Johannesevangelium gibt dieses
Evangelium in anderen als den verhandelten Zusammenhängen an einer erstaunlichen Zahl von
Stellen eine besondere sachliche Nähe zum Judentum zu erkennen, z.T. selbst oder gerade in
kontroversen Zusammenhängen. Vgl. dazu u.a. W.A. MEEKS, “Am I a Jew?” – Johannine
Christianity and Judaism, in: J. NEUSNER (Hg.), Christianity, Judaism and Other Greco-Roman
Cults (FS M. Smith) I, Leiden 1975, 163–186; H. THYEN, „Das Heil kommt von den Juden“, in: D.
LÜHRMANN /G. STRECKER (Hg.), Kirche (FS G. Bornkamm), Tübingen 1980, 163–184; E.
STEGEMANN, a.a.O. (Anm. 34); P. VON DER OSTEN-SACKEN, Der Wille zur Erneuerung des
christlich-jüdischen Verhältnisses in seiner Bedeutung für biblische Exegese und Theologie, in:
JBTh 6 (1991), 243–267, hier 257ff.; K. WENGST, Gemeinde, a.a.O. (Anm. 34); J. RAHNER, a.a.O.
(Anm. 47), 195ff.
21
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
6. Das lastende Problem der Judenchöre
Das Johannesevangelium enthält die Auffassungen und die Darstellungen einer
Minderheit, die unter einer ihr ablehnend gegenüberstehenden Mehrheit lebt.
Gerade wenn es sich so verhält, dann ist dies um so mehr Grund zur Behutsamkeit
im Umgang mit diesem Evangelium. Denn spätestens seit dem 4. Jahrhundert ist
die christliche Gemeinde nicht mehr die Minderheit gegenüber dem Judentum,
sondern nun selbst in einer wachsenden Übermacht. Sie hat diese Machtposition
im Verhältnis zum Judentum in einer oft bedrückenden, teilweise blutigen Weise
zur Geltung gebracht. Sie hat sich dabei – und hier beginnen die Dinge auf dem
Kopf zu stehen – mit dem Johannesevangelium legitimierend einer Schrift
bedient, die aus einer Zeit stammt, in der sie selbst als Minderheit Anfeindungen
ausgesetzt war. Löst man das Johannesevangelium von seiner Zeit ab und
überträgt es ohne Berücksichtigung gravierender Unterschiede dieser Art in die
Gegenwart, so ist entsprechend dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet: Es wird zu
einem antijüdischen Faktor oder einer antijüdischen Waffe.
Johann Sebastian Bach hat mit seiner vollen, ja, anscheinend noch bekräftigenden
Aufnahme der Aussagen gegen die Juden in der johanneischen Passionsgeschichte
teil an dem antijüdischen Gebrauch des vierten Evangeliums und seiner
Leidensgeschichte Jesu. Zwar scheint es, als habe Bach mit dem Choral „Wer hat
dich so geschlagen?“ geradezu ein Gegengewicht gesetzt. Denn dort wird in der
Antwort auf diese Frage ein christliches Schuldbekenntnis laut, das das Verhalten
des einzelnen Christen mit dem der Täter von damals zusammenschließt: „Ich, ich
und meine Sünden, / Die sich wie Körnlein finden / Des Sandes an dem Meer, /
Die haben dir erreget / Das Elend, das dich schläget, / Und das betrübte
Marterheer.“ Und es scheint nahezuliegen, diesen Choral hervorzuheben, um die
Behauptung antijüdischer Züge in Bachs Johannes-Passion zurückzuweisen54.
54 So jedenfalls nach Ausweis mancher Diskussion über christliche Judenfeindschaft. In diesem
Sinne scheint auch die in FrRu 4 (1998), 318, mitgeteilte Leserzuschrift von Michael
Fischer / Freiburg zum Beitrag von D. HOFFMANN-AXTHELM (Judenchöre [Anm. 12]) gemeint zu
sein, der mit Blick auf seine Diplomarbeit zur Sache über seine „anderen Ergebnisse“ schreibt:
„Die Texte der Johannes-Passion thematisieren gar nicht die Juden, sondern die Sünder und damit
die Christen. Die konkret im Gottesdienst versammelte Gemeinde soll durch die musizierte
Passion predigthaft angesprochen werden. Ähnliches gilt für die lutherische Theologie: Im
Mittelpunkt stehen der leidende Christus und der sündige Mensch, nicht aber die Juden.“ Schade
nur, daß „die Juden“ hier wie da dauernd genannt werden und hier wie da Juden und Christen nicht
mitgeteilt wird, daß sie trotzdem gar nicht gemeint seien. Nebenher mag man im übrigen, nimmt
22
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Freilich trägt diese Brücke nur ein kurzes Stück. Denn mit dem Schlußchoral
„Ach, Herr, laß dein lieb Engelein“ wird der, der sich schuldig bekannt hat,
hineingenommen in eine tröstliche, die Schuld transzendierende Bewegung („...
Herr Jesu Christ, erhöre mich, / Ich will dich preisen ewiglich!“), während die
Juden – unausgesprochen – als Schuldige allein zurückbleiben55.
Mit der hervorgehobenen Teilhabe Bachs an dem antijüdischen Gebrauch des
Johannesevangeliums soll kein Urteil über ihn gefällt werden. Auch Dagmar
Hoffmann-Axthelm hat sich mit Bedacht eines solchen Urteils enthalten. Es
genügt, die Zusammenhänge aufzuzeigen, in denen er steht und in die er zu stehen
kommt, damit wir in die Lage versetzt werden, uns zu verhalten. Aber selbst hier
wird zuletzt jeder für sich nach Maßgabe seines Gewissens entscheiden müssen,
wie er mit allem Dargetanen umgeht. Gerade um diesen Freiraum zu wahren,
möchte ich Implikationen des Dargelegten zu einem bestimmten Teil subjektiv
verdeutlichen.
man die Ausführungen der Zuschrift wörtlich, einen gewissen Zweifel haben, ob Johannes-Passion
und lutherische Theologie der bemerkenswerten Unterscheidung „nicht die Juden, sondern die
Sünder und damit die Christen“ folgen würden.
55 Vgl. in diesem Sinne – wenn auch ohne Reflexion auf die Situation der Juden – die
Ausführungen von M. DIBELIUS, Individualismus und Gemeindebewußtsein in Joh. Seb. Bachs
Passionen (1948), in: DERS., Botschaft und Geschichte II, Tübingen 1953, 359–380, hier bes. 368:
„... die Choräle wollen in erster Linie nicht Kunstleistungen sein, sondern Stimme der idealen
Gemeinde, von der anwesenden Gemeinde als ihr Besitz anerkannt und gewissermaßen im
geheimen mitgesungen.“ Zum Schlußchoral s. entsprechend 369: „... als Choral ist er trotz des
Ichstils ein Gemeindebekenntnis. Und wenn die Mittelstimmen die Seligkeit ausmalen (bei den
Worten ‚in Abrahams Schoß‘), so ist das nicht subjektive Verzückung, sondern kollektives
Bekenntnis.“ Pfarrer i. R. Peter Klemm/Berlin danke ich für den Hinweis auf den Aufsatz von
Dibelius als Bekräftigung der oben dargelegten Auffassung. Vgl. auch die Ausführungen von
ELKE AXMACHER über den „traditionsgebundene[n], fromme[n] Kirchenchrist[en]“ als Hörer, an
den sich ein Libretto wie das der Johannes-Passion wendet: „Aus Liebe will mein Heyland
sterben“. Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert,
Neuhausen/Stuttgart 1984, 161 (s. zur Sache ebenfalls 197, dort unter Bezug auf Dibelius). Es ist
im übrigen schade (und nicht als Kritik gemeint), daß Axmacher bei ihrer Behandlung der
Johannes-Passion die Judenchöre nicht in ihre Untersuchung eingeschlossen hat. Es wäre
interessant, wie sich die Chöre von ihrer tragenden hermeneutischen Erkenntnis zur Oratorischen
Passion her darstellen würden (154f.): „Die Kluft zwischen dem Damals und dem Heute braucht
der Betrachtende nicht zu fürchten und nicht von sich aus zu überspringen, denn sie wird von dem
Geschehen selbst her überwunden, indem es sich repräsentieren läßt vom Wort.“ (Hervorh. E.A.)
23
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Wie vielen anderen sind mir viele der Choräle, die Bach aufgenommen hat, von
früh an vertraut und entsprechend ans Herz gewachsen. Aber in Kenntnis der
Problematik des Johannesevangeliums und in Kenntnis der verhängnisvollen und
vielfach tödlichen christlichen Judenfeindschaft gesellt sich zu der Freude an
ihnen Bedrückung angesichts der Unerbittlichkeit, ja, wohl auch des Fanatismus,
wie er in den Turbachören musikalisch gebündelt ist und zum Ausdruck gebracht
wird als vermeintliche Einstellung „der Juden“, also des ganzen Volkes. Zwar hat
Werner Breig die Deutung zu begründen gesucht, die Einfügung der Turbachöre
in eine planvolle Ordnung gebe zu erkennen, daß die Juden gleichsam als Mittler
zum Heil im Plan Gottes verstanden seien, so daß „die Juden“, „obwohl
vordergründig aus eigenem Impuls handelnd, aus übergeordneter Perspektive als
Vollführer des Heilsplanes bezeichnet“ würden56, und Alfred Dürr ist ihm in
dieser Sicht gefolgt57. Sie dürfte sich freilich, obwohl Bach sich hier angeblich
von den Intentionen des vierten Evangeliums leiten läßt, weder im Hinblick auf
Johannes noch im Blick auf Bach halten lassen.
Was Johannes angeht, so ist die Stellung der Juden in diesem Zusammenhang
bestenfalls für einen Moment ambivalent. Zwar heißt es in 11,51, Kaiphas habe
mit seinem Vorschlag, es sei besser, einer stürbe für das ganze Volk als das Volk
selbst, (unbewußt) den Tod Jesu für Israel und die Völker prophezeit. Und ebenso
hält der Evangelist in 18,32 fest, die Juden hätten das Ansinnen des Pilatus, sie
sollten Jesus selbst richten, mit dem Hinweis auf ihre fehlende juridische
Kompetenz deshalb abgelehnt, damit das Wort Jesu über seine Todesart
(Erhöhung am Kreuz, vgl. 12,32f.) erfüllt würde. Aber nach Johannes werden die
Juden dadurch am Ende keineswegs entlastet. Eine solche Entlastung wird
vielmehr im entscheidenden Augenblick, in der Schlußphase des Prozesses,
Pilatus zuteil, während die Juden im selben Atemzug gerade belastet werden. Dies
ist der Fall, wenn Jesus den Römer mit den Worten aufklärt: „Du hättest keine
Macht gegen mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben worden wäre; deshalb
hat der, der mich dir ausgeliefert hat (ho paradous me soi), größere Sünde“
(19,11). Denn dies sind nach dem Zusammenhang von Kap. 18–19 für Johannes
unzweifelhaft „die Juden“ (soi paredookamen auton, 18,30), die damit in die
traditionelle Rolle des Judas eingerückt werden58. Was aber Bach betrifft, so läßt
56
57
W. BREIG, a.a.O. (Anm. 3), 88–91, hier 89.
A. DÜRR, Johannes-Passion (Anm. 1), 122.
58 W. BREIG (a.a.O. [Anm. 3], 88f.) nimmt zwar auf dieses Jesuswort Bezug, ohne allerdings
die Aussage über die größere Sünde zu berücksichtigen.
24
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
eine Beobachtung Dürrs in anderem Zusammenhang Zweifel daran aufkommen,
daß der Thomaskantor die Juden als (unfreiwillige) Verwirklicher des
fortschreitenden göttlichen Heilsplanes habe darstellen wollen. So macht Dürr im
Rahmen der Entfaltung seiner These, das entscheidende Gewicht falle in der
Johannes-Passion auf die Betrachtung der Todesstunde Jesu59, für diese Sicht die
Rahmenteile der Passion geltend, die solcher Betrachtung gewidmet seien,
während „die inneren Partien der Passion mitsamt der Mehrzahl der Turbae als ein
stetig fortschreitender, allenfalls durch eben diese Turbae retardierter
Handlungsabschnitt erscheinen“60. Wenn aber der Charakter der Turbachöre zu
der durch die Kursivierung hervorgehobenen Einschränkung nötigt, daß sie die
Handlung in diesem Teil verzögern – und das ist in der Tat der Eindruck, der sich
viel eher aufdrängt –, wie sollten sie dann gleichzeitig als Mittel der Teilhabe der
Juden an der (fortschreitenden) Heilsverwirklichung verstanden werden können?
Nicht zuletzt drängt sich in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob die
emotionsgeladene Art der Vertonung überhaupt den geringsten Raum für eine
solche Deutung der Juden als Teilhaber an der Durchführung des göttlichen
Planes bietet. Ja, selbst wenn sie zuträfe, bliebe im Hinblick auf die Gegenwart
nach zweihundert Jahren historischer Erforschung der Bibel und nach den
Erkenntnissen über die destruktiven Auswirkungen religiöser Judenfeindschaft
das Dilemma bestehen: Es sind nicht „die Juden“ gewesen, die den Tod Jesu
gefordert und herbeigeführt haben, und weil es sich so verhält, darum darf man sie
aus den genannten Gründen auch nicht so darstellen, weder literarisch noch
musikalisch.
Die katholische Kirche hat vor etwa vierzig Jahren das Gebet „für die ungläubigen
Juden“ (perfidis Iudaeis) in ihrer Karfreitagsliturgie durch eine Neuformulierung
dieses Gebetsteils ersetzt61. Da es Kassetten und CDs gibt, die nur die Choräle
aus der Johannes-Passion von Bach enthalten, mag man privatim einen Weg
finden, sich an Teilen der Johannes-Passion zu erfreuen. Wenn man die ganze
Johannes-Passion aufführt, spielt man wohl zumindest mit dem Feuer. Denn wo
ist die Gewähr, daß die emotional hochgeladenen Turbachöre nicht doch in der
Einstellung bestärken, die wir wohl aufs ganze gesehen noch längst nicht hinter
uns haben – unsere jahrhundertealte religiöse Ablehnung und Diskriminierung der
59
Siehe dazu oben, S. 2.
60
A. DÜRR, Johannes-Passion (Anm. 1), 123 (Hervorh. v.d.O.-S.).
61
Siehe oben, S. 2 mit Anm. 13.
25
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Juden, die sich zudem allzu leicht mit anderen, politischen antijüdischen Einstellungen vermischen.
Damit soll noch einmal die von Dagmar Hoffmann-Axthelm in ihrem Beitrag
berührte Frage nach einer Verbindung zwischen der traditionellen christlichen
religiösen Judenfeindschaft und der Judenverfolgung und dem Mord an den Juden
Europas in der Nazi-Zeit aufgenommen werden. Man kann ganz gewiß nicht
sagen, es führe ein mehr oder weniger direkter Weg von den Evangelien,
insbesondere von den Passionsgeschichten, oder auch allgemein von der
christlichen religiösen Judenfeindschaft in die Konzentrationslager. Ein solches
Urteil würde ignorieren, daß sich der Antisemitismus Hitlers und seiner
Mitverbrecher pseudo-politisch, pseudo-ökonomisch und pseudo-biologisch
begründet hat. Es würde damit außer acht gelassen, daß sich spätestens vom
frühen 19. Jahrhundert an die religiöse Judenfeindschaft – ohne damit allerdings
aufzuhören – gesamtgesellschaftlich gesehen in säkulare Judenfeindlichkeit
verwandelte: „Der alles entscheidende Wendepunkt hin zum Schlechteren sind
jene Jahrzehnte zwischen 18. und 19. Jahrhundert, in denen überkommene
Stereotypvorstellungen sich rapide zu einem ‚modernen‘, nachreligiösen
Vorurteilssystem verdichteten, das programmatisch antrat und alle Gegenkräfte
hinter sich ließ, die bislang im religiösen Sektor immer wieder gegen eine nur
noch ungehemmt entfesselte Judenfeindschaft gewirkt hatten.“62 Freilich wird
62 J. HEIL, Kompilation oder Konstruktion? Die Juden in den Pauluskommentaren des 9.
Jahrhunderts, Hannover 1998, 389 (vgl. überhaupt 386-388 sowie 36f. [Anm. 2: Lit.]), und
ausführlicher hierzu DERS., „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ – Begriffe als
Bedeutungsträger, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), 92–114, bes. 104ff.; s.
ferner R. RÜRUP, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen
Gesellschaft, Göttingen 1975, 74ff.; H.A. STRAUSS /N. KAMPE (Hg.), Antisemitismus. Von der
Judenfeindschaft zum Holocaust (1985), Nachdr. Bonn 1988, 16f. (Einl. der Hg.); CHR.
HOFFMANN, Christlicher Antijudaismus und moderner Antisemitismus. Zusammenhänge und
Differenzen als Problem der historischen Antisemitismusforschung, in: LEONORE SIEGELEWENSCHKEWITZ (Hg.), Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und
kirchliche Programme Deutscher Christen, Frankfurt a.M. 1994, 293–317 (Darstellung
verschiedener Forschungsansätze und Thesen), sowie das Vorwort der Herausgeberin dieses
Bandes, VII–XXI. Vgl. zur Sache außerdem die Sammelbände: H.O. HORCH (Hg.), Judentum,
Antisemitismus und europäische Kultur, Tübingen 1988; CHRISTINA VON BRAUN / L. HEID (Hg.),
Der ewige Judenhaß. Christlicher Antijudaismus, Deutschnationale Judenfeindlichkeit, Rassistischer Antisemitismus, Stuttgart /Bonn 1990; G.B. GINZEL (Hg.), Antisemitismus.
Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute, o.O. 1991; W. BENZ /W. BERGMANN
26
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
man, auch wenn es in diesem Sinne „spätestens nach der Wende zum 19.
Jahrhundert zu einer regelrechten Emanzipation der Judenfeindschaft vom
religiösen Fundament kam“63, die beide Phasen verbindende Teilhabe von
Christen und christlichen Theologen an diesem Prozeß mit zu beachten haben64.
Und was die jüngere Zeit angeht, so ist zweierlei mit zu bedenken: Die meisten
von denen, die in der Nazizeit mehr oder weniger unmittelbar mit
Judenverfolgung und Judenermordung zu tun hatten, waren zumindest formal
Kirchenangehörige. Das große Schweigen und Gewährenlassen der meisten
anderen Christen, die Kirche im Widerstand eingeschlossen65, aber dürfte nicht
ohne jenes jahrhundertealte und christlicherseits immer wieder neu eingeprägte
Vorurteil zu erklären sein: Das, was den Juden an Unrecht und Unheil widerfährt,
gebührt ihnen so, weil ihnen damit im tiefsten ein von ihnen selbst durch die
Kreuzigung Jesu heraufbeschworenes Geschick widerfährt. Es hat ja selbst dann
noch, als die grauenhaften Verbrechen bereits bekannt waren, grauenhafte
christliche Stimmen gegeben, die Auschwitz als Strafe für diese vermeintliche
Schuld der Juden meinten bezeichnen zu können. Anders gesagt: Wenn man – wie
es auf christlicher Seite mit Blick auf die Juden geschehen ist – über Jahrhunderte
hin an einer Gemeinschaft so gut wie kein gutes Haar und nichts Liebenswertes
läßt, dann ist es schwerlich verwunderlich, wenn Menschen gleichgültig bleiben
und wegschauen, sobald dieser Gemeinschaft Unrecht angetan wird. Kann man
sich doch vor sich selbst aufs leichteste scheinbar mit eben jener Ausrede
beruhigen: Es gebührt ihnen so – wie abwegig eine solche Ausrede auch ist.
(Hg.), Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Freiburg i.Br. u.a.
1997.
63 J. HEIL, Kompilation (Anm. 62), 389; vgl. DERS., Begriffe (Anm. 62), 105.
64
Siehe hierzu W. DANTINE, Frühromantik – Romantik – Idealismus, in: K.H. RENGSTORF /S.
KORTZFLEISCH (Hg.), Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und
Juden II, Stuttgart 1970, 177–221, darin besonders anschaulich der Abschnitt über die „Christlichdeutsche Tischgesellschaft“ von 1811 (208–211), zu der der „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“
Friedrich Schleiermacher (199–202) gehörte und von der Juden ausgeschlossen waren. Vgl. auch
die – das 19. und 20. Jahrhundert umschließende – These von CHR. HOFFMANN, „daß alle – auch
die traditionellen – Formen der antijüdischen Argumentation, sobald sie öffentlich kommuniziert
wurden, die jeweils aktuellen judenfeindlichen Bestrebungen und Agitationen unterstützten“
(a.a.O. [Anm. 62], 313, sowie überhaupt die Thesen 311–314).
65 Siehe W. GERLACH, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Berlin
²1993.
27
VON
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
7. Praktische Konsequenzen
Wenn man die Johannes-Passion Bachs aufführt, spielt man mit dem Feuer
judenfeindlicher Stimmungen66. Läßt sich etwas tun, um dieses Feuer zumindest
auf kleiner Flamme zu halten?
Dagmar Hoffmann-Axthelm hat in der Rundfunk-Fassung ihres Beitrags für
folgenden Weg plädiert:
„Es ist schwer, die wohl größte Musik, die wir besitzen, auch nur entfernt
verbunden zu wissen mit diesem Grauen [sc. der Konzentrationslager]. Trotzdem
meine ich, wir sollten die judenfeindliche Botschaft, die Bach in seine Passionen
einkomponiert hat, mithören. So könnten wir diese Werke gleichsam als
Meditationsmusik hören, als eine Musik, die uns Raum zu geben vermag für
Gefühle des Schmerzes und der Trauer über all das, was Menschen auf dem
Boden der Polarisierung von Liebe und Haß, der Aufteilung in Täter und Opfer, in
Gute und Böse anderen Menschen angetan haben und immer noch und immer
wieder antun.“67
Dies könnte eine Möglichkeit sein, allerdings fällt es schwer, der hier ins Auge
gefaßten Transformation des Problems der Judenfeindschaft ins Allgemeinmenschliche68 in allen Teilen zu folgen. Denn so problematisch die
kritisierte „Aufteilung in Täter und Opfer“ in vielen Fällen sein mag, so sind
gerade die nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden (und anderen
Gruppen), die den Anlaß für Hoffmann-Axthelms Beitrag gegeben haben, ein
66 Den hohen Grad der Wahrscheinlichkeit, daß in diesem Zusammenhang Vorurteile bestätigt
werden, veranschaulichen die von W. STEGEMANN (a.a.O. [Anm. 28], 4) in Erinnerung gerufenen
Ergebnisse einer Repräsentativerhebung des EMNID-Instituts von 1992 zur Frage, welche
Meinung die Befragten zur Rede der Bibel „von einer Schuld der Juden am Tod Jesu“ hätten:
„39% der Befragten sprachen sich in irgendeiner Form für die Schuld der Juden am Tode Jesu aus,
nur 23% dagegen. Dieser Prozentsatz erhöht sich signifikant bei den Kirchgängern. So stimmten
60% der katholischen Kirchgänger und 48% der evangelischen der Schuldthese zu.“ (Unter
Verweis auf M. ROTHGANGEL, Empirische Überlegungen zur Behandlung der Passionsgeschichte
im Evangelischen Religionsunterricht, in: W. KRAUS [Hg.], Christen und Juden. Perspektiven einer
Annäherung, Gütersloh 1997, 119–141, hier 121).
67 DIES., Manuskript der Sendung (Anm. 12), 22.
68 In diesem Sinne ist auch der in diesem Manuskript noch folgende Schlußabschnitt (22f.)
gehalten.
28
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Geschehen, bei dem die Unterscheidung (und in diesem Sinne auch die
Aufteilung) in Täter und Opfer stets der unverrückbare Ausgangspunkt bleiben
müssen wird und die Frage nach einem möglichen Zerfließen der Grenzen sich
allenfalls von Mal zu Mal stellen läßt. Es scheint deshalb eine wohlbedachte
Entscheidung, daß die Verfasserin in der letzten Fassung wieder an den Anfang
zurückgekehrt und wie in der ersten Version im engeren Sinne bei der Sache
geblieben ist. In den beiden schriftlich veröffentlichten Fassungen stehen so
anstelle des zitierten Schlußsatzes die beiden Sätze (im Anschluß an das Stichwort
„Meditationsmusik“):
„Wir könnten sie hören im Andenken an die ungezählten Juden, die in zwei
Jahrtausenden christlich-jüdischer Geschichte im Namen Christi und anderer
gekreuzigt worden sind. Mit der alljährlichen Aufführung von Bachs Passionen
bietet sich uns, die wir durch Bachs Musik so reich beschenkt worden sind, die
Gelegenheit, beim Erleben dieser Musik die Bewußtseinsarbeit Felix Mendelssohns fortzusetzen und in Trauer, Demut und Versöhnungsbereitschaft unserer
‚jüdischen Abstammung‘ zu gedenken.“69
Will man solches Gedenken erreichen, so bedarf es der Vorarbeit in den
Gemeinden, um das faktische Problem bewußt zu machen, wie auch immer die
Vorarbeit im einzelnen geschieht. Was aufs leichteste, mit einem Minimum an
Aufwand, möglich ist, ist ein auf das Problem hinführender knapper Text im
Programmheft. Das Beispiel eines solchen Textes soll deshalb die Überlegungen
abschließen:
69 D. HOFFMANN-AXTHELM, Judenchöre (Anm. 12), 111; vgl. DIES., Juden-Turbae (Anm. 12),
54. Allerdings wäre der Begriff „Umkehrbereitschaft“ vielleicht angemessener als
„Versöhnungsbereitschaft“, da letztere wohl eher der adäquate Begriff für ein weiterführendes
Handeln auf jüdischer Seite wäre. Mit dem letzten Satz des zitierten Schlusses stellt die
Verfasserin eine Beziehung zum Anfang ihres Beitrags in der ersten und dritten Fassung her, dem
Bericht des Sängers und Schauspielers Eduard Devrient über einen übermütigen und für ihn sonst
nicht bezeichnenden Ausbruch des (als Kind getauften) Mendelssohn-Enkels Felix MendelssohnBartholdy: Im Vorfeld der von ihm (zusammen mit Devrient) betriebenen Wiederaufführung der
Matthäus-Passion Bachs habe er von dem seltsamen Zufall gesprochen, „daß es ein Komödiant
und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen“
(Juden-Turbae, 31; Judenchöre, 104; der Bericht Devrients mit dem Ausspruch des Komponisten
nach M. GECK, Die Wiederentdeckung der Matthäus-Passion im 19. Jahrhundert, Regensburg
1967, 32).
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Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Jesus, Pilatus und die Juden im Johannesevangelium
Pontius Pilatus, ein rechtlich denkender römischer Beamter, der einen Justizmord zu
verhindern sucht,
Jesus, der unbeirrt seine Passion durchschreitet bis hin zum sieghaften Ruf: „Es ist
vollbracht!“,
„die Juden“ als Menge, die unerbittlich Jesu Tod fordert und den Römer so lange in die
Enge treibt, bis ihm scheinbar kein anderer Ausweg bleibt als das Todesurteil –
so stellt es das vierte Evangelium dar und so im Anschluss an dieses Evangelium Johann
Sebastian Bach in seiner Johannes-Passion, und so ist es historisch falsch.
Pilatus erscheint in nicht-christlichen Quellen als teils schwankender, teils rücksichtsloser
römischer Provinzverwalter, der schließlich aufgrund unerträglicher Willkürherrschaft
von seinem Posten abberufen wird.
Jesus stirbt in den anderen Evangelien mit einem anderen Ruf auf den Lippen – bei
Markus und Matthäus ist es Psalm 22,2: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?“, bei Lukas Ps 31,6: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“
Historisch greifbar bleibt der römische Präfekt Pilatus, der Jesus aufgrund der falschen
Anschuldigung, ein politischer Aufrührer zu sein, in einem Schnellverfahren aburteilt und
anschließend hinrichten lässt. Es scheint, dass die Anschuldigung – nach provokativem
Verhalten Jesu im Tempelbezirk – aus priesterlichen Kreisen oder von Mitgliedern des
ihnen nahestehenden Hohenrats erhoben worden ist.
Wenn die Evangelien es so darstellen, als habe Pilatus Jesus für unschuldig erklärt und als
läge die „eigentliche Schuld“ an dessen Tod auf jüdischer Seite, ja, bei „den Juden“, so
kommen darin Interessen einer späteren Zeit, lange nach Jesu Tod, zum Zuge. Die
christliche Gemeinde, die sich im Römischen Reich ausbreitet, ist mit dem Odium
behaftet, sie würde einem von Rom verurteilten Aufrührer anhängen. Um sich zu
entlasten, präsentiert sie den Römer Pilatus als vermeintlichen „Zeugen“ für Jesu
Unschuld und damit zugleich für ihre eigene Integrität. „Die Juden“ aber vermögen um so
leichter pauschal angeschuldigt zu werden, als sich die Wege von Christen und Juden
bereits zu trennen begonnen haben.
Je weiter die Zeit voranschreitet, desto maßloser werden auf christlicher Seite die
Anschuldigungen und die Ausdeutungen der vermeintlichen „Schuld der Juden“. Für alles
und jedes, was dem jüdischen Volk widerfährt, muss sie als Erklärungsgrund herhalten; ja
mehr noch, man meint aus der angeblichen Schuld der Juden ein Recht ableiten zu
können, sie zu diffamieren, zu diskriminieren und von Mal zu Mal ihrer Rechte zu
berauben. Bach hat die vermeintliche Todesforderung „der Juden“ in der Johannes30
Peter von der Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion …
Passion musikalisch besonders akzentuiert und sich damit in die jahrhundertealte
Tradition eingereiht, sie mit dem Vorwurf der Schuld am Tode Jesu zu belasten.
Erst nach den furchtbaren Massenmorden am jüdischen Volk im 20. Jahrhundert, von
Menschen unseres Volkes begangen, ist man aufgeschreckt. Die Kirchen – katholische
wie evangelische – haben mit Entsetzen wahrgenommen, dass ihre eigene
jahrhundertelange Verleumdung der Juden den Boden mitbereitet hat, auf dem diese
Verbrechen möglich wurden und geschahen.
Wenn heute durch alte oder neue Musikstücke der falsche Eindruck erneuert wird, als
hätten „die Juden“ Jesu Tod gefordert und bewirkt, dann geschieht dies unter
Aufopferung der historischen Wahrheit: So war es nicht!
Damit ergibt sich die unabweisbare und schwierige Aufgabe, das in vielem so leuchtende
Evangelium nach Johannes an diesen dunklen Stellen seiner antijüdischen Aussagen neu
zu buchstabieren und es neu für die christliche Seite zu gewinnen, ohne der jüdischen zu
schaden.70.
[Der letzte Absatz ist seit der Drucklegung wie vorstehend ergänzt bzw. redigiert.]
70 Der Text wurde, wie eingangs hervorgehoben, im Programmheft der Zehlendorfer
Aufführung von 1995 abgedruckt. Er ist hier – nicht zuletzt aufgrund einer dankenswerten
Zuschrift von Prof. Helmut Kubitza/Berlin – leicht redigiert und für den Nachdruck noch einmal
am Ende neu formuliert.
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