Die Inland-Mission nach 1945 - Bund Freier evangelischer

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Die Inland-Mission nach 1945 - Bund Freier evangelischer
100 Jahre Inland-Mission
Ernst-Wilhelm
Erdlenbruch
Die Inland-Mission nach 1945
Das Erbe des Krieges
Mai 1945: Unser Land und halb Europa lagen in
Trümmern – auch viele Gemeindehäuser vor allem in Westdeutschland, dem damaligen Kerngebiet der FeG, waren zerstört oder beschädigt.
Viele Plätze blieben leer: sechs Millionen Deutsche
waren an den Fronten, durch Bomben oder auf der
Flucht, zu Tode gekommen. Ich erinnere mich an
eine kleine Gemeinde in Hessen, in der acht Jahre
nach dem Krieg ausschließlich Frauen, Kinder und
ein paar alte Männer zum Gottesdienst kamen: die
Ehemänner der Frauen waren alle im Krieg geblieben. Können so geschwächte Gemeinden Mission
treiben?
In Westdeutschland wurde natürlich dort weitergearbeitet, wo vor dem Krieg bereits das Evangelisationswerk tätig war. Aber die Gemeinden, die in
Ostpreußen, Hinterpommern und Schlesien entstanden waren, wurden durch Flucht und Vertreibung
zerstört, und die in Mitteldeutschland erlebten, wie
sie der Eiserne Vorhang immer stärker abriegelte.
Der Krieg und seine Folgen brachten neue Herausforderungen. Menschen mussten eine Heimat suchen,
weil ihr Zuhause zerstört war oder sie von Haus und
Hof vertrieben wurden. Für Christen ist es dann
selbstverständlich, auch eine neue „geistliche Heimat“ zu finden und Kontakt mit lebendigen Christen
in Kirchen, Gemeinden oder Gemeinschaften am
neuen Wohnort aufzunehmen. Aber dann zeigte sich,
dass es in Deutschland „weiße Flecken“ gab, in denen
wiedergeborene Christen dünn gesät waren.
oben:
Hans Metzger erhält
vom Bund seinen ersten
VW-Käfer als Dienstwagen,
1952
rechts:
Peter Strauch lädt
zur Zeltveranstaltung ein,
ca. 1979
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Mission unter Flüchtlingen …
Viele Flüchtlinge aus Ostpreußen und Pommern kamen über die Ostsee nach Holstein. Gerade in Ostholstein fanden sich geflüchtete Christen zusammen,
aber hier war ein solcher „weißer Fleck“. Der ebenfalls geflüchtete Gemeinschaftsprediger Gerhard
Plehn sammelte diese „verlorenen Schafe“. Gemeinden entstanden in Lensahn, Heiligenhafen und Neustadt /Holstein.
Hier fand das Evangelisationswerk eine neue Aufgabe. Ein junger Pastor (Bernhard Geisler) wurde in
Heiligenhafen eingesetzt, später noch einer in Neustadt (Jürgen Meyerhoff). In Lensahn konnte eine
„Schweden-Kapelle“ aufgebaut werden; der Schwedische Missionsbund hatte uns Deutschen einige transportable Holzkirchen geschenkt. Auch in Heiligenhafen und Neustadt konnten Häuser gekauft werden, in
denen Pastoren wohnten und in denen Gemeindeveranstaltungen stattfanden. In diesen kleinen Gemeinden entwickelte sich lebendiges Gemeindeleben – ich
habe das selbst in einem Praktikum im Herbst 1953
dort erlebt.
Bis Mitte der 60er Jahre fanden in jedem Sommer
Einsätze unserer Missionszelte statt. In der Regel waren ein paar Dutzend junger Christen dabei, die beim
Auf- und Abbau halfen, zum Zelt einluden und das
Programm mitgestalteten. Im Winter kamen evangelistisch begabte Pastoren, um in Evangelisationswochen Menschen zum Glauben zu rufen. Ich selbst
vergesse nicht, wie ich Anfang der 60er Jahre in der
„Burgstube“ des Schlosses Güldenstein bei Lensahn
evangelisiert habe; das war möglich, weil ein Gemeindeglied dort als „Schweinemeister“ beruflich tätig war.
Allerdings blieb es schwer, Zugang zu den Herzen
der Einheimischen zu gewinnen. Noch auf lange
Zeit blieben diese Gemeinden wirkliche „FlüchtlingsGemeinden“: Sie verloren immer wieder gerade die
jungen Mitglieder, weil es in diesen ländlich geprägten kleinen Orten wenig Möglichkeiten zu Arbeit und
Ausbildung gab. Aber: diese Gemeinden leben bis
heute. 1968 wurde in Lensahn die Holzbaracke durch
einen formschönen Massivbau ersetzt, und bald danach wurden Lensahn und Heiligenhafen selbstän-
oben:
Zelt-Mission in Stemmen,
1959
rechts:
Einweihung des
Gemeindehauses in Hage,
November 1961
dig, Neustadt schloss sich an die Freie evangelische
Gemeinde in Norddeutschland an und erlebte nach
schwierigen Zeiten einen erstaunlichen Auf bruch
im letzten Jahrzehnt.
… und Ausgebombten
Ostholstein war zwar das größte, aber nicht das einzige
neue „Missionsfeld“ der Nachkriegszeit. In Ostfriesland entdeckte der Hamburger Pastor und Evangelist
Wilhelm Haselhorst in Upgant-Schott bei Marienhafe
ein Barackenlager mit Menschen, die in Emden ausgebombt waren. Hier war geistliche und materielle
Betreuung nötig. In einer Baracke wurde ein Kindergarten eröffnet, der bis Mitte der 70er Jahre bestand.
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100 Jahre Inland-Mission
Die Inland-Mission
nach 1945
Kinder konnten ihre Schulferien in „nahrhaften“ Gegenden des Hessenlandes verleben. Wilhelm Haselhorst zog mit seiner Familie im November 1950 in
ein neuerbautes Häuschen der damaligen Kreisstadt
Norden; in zwei großen Wohnräumen, durch eine
Schiebetür verbunden, fanden Gottesdienste und Bibelstunden statt. Als allerdings um 1964 das Lager
aufgelöst wurde und diese Menschen ihr eigenes
Häuschen bauen konnten, lief die kleine Gemeinde
im Marienhafe allmählich auseinander. Inzwischen
waren aber Gemeinden in Norden und dem benachbarten Dorf Hage entstanden. Im nahen Aurich kam
es erst um 1980 zur Gemeindebildung.
Das dritte „Missionsfeld im Inland“ während der
Nachkriegszeit wurde der Harz und sein Umland.
Dort lebten einzelne Christen, die die Freien evangelischen Gemeinden kannten und um Hilfe baten. Hier
geschah „Pioniermission“ durch den früheren ChinaMissionar Hans Metzger, der nach Langelsheim bei
Goslar zog und in seinem Wohnzimmer Menschen
unter Gottes Wort sammelte. Als ich im Sommer 1953
mit ein paar anderen Studenten unseres Seminars
zu einem Missionseinsatz im Harz war, lernten wir
etwa ein Dutzend kleiner Kreise von Gläubigen kennen. Die Versammlungen fanden in Wohnzimmern
statt (in einem Fall in einem Schlafzimmer; Bohlen
zum Sitzen waren zwischen die auseinandergerückten Betten gelegt.). Wir erlebten aber auch massiven
Widerstand gegen das Evangelium bei Besuchen von
Haus zu Haus und bei einigen Abendversammlungen mit jungen Leuten in einem Wohnheim einer
der Eisenerzgruben im Vorharz: Als unsere jungen
Besucher zuviel Unsinn machten, zitierte Hans
Metzger erzürnt das Wort aus der Geschichte von
Sodom und Gomorra: „Es war ihnen lächerlich“ und
wies sie alle sehr nachdrücklich an die frische Luft.
Zwar wurde Ende der 60er Jahre in Langelsheim
eine kleine Kapelle errichtet und ein Wohnhaus für
die Pastorenfamilie, doch die jungen Leute aus der
kleinen Gemeinde zogen in die Ballungsgebiete, um
dort Arbeit zu finden, die Alten gingen ins Altersheim. – Für kurze Zeit versuchte ein uns nahestehender amerikanischer Missionar weiterzuarbeiten,
aber am Ende mussten die Gebäude verkauft werden.
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Inzwischen waren im Raum des Harzes in den Städten Goslar und später auch in Osterode kleine Gemeinden entstanden. Dazu kamen Kontakte nach Hannover und Hildesheim. Dort begann 1958 Pastor Oskar
Achenbach seinen Dienst, und gerade in Hannover
entstand aus kleinen Anfängen in einer Baracke in
der Landschaftsstraße eine Großstadtgemeinde, die
immer stärker wuchs und Anstoß für eine neue Missionsstrategie wurde – aber davon ist später die Rede.
Hildesheim erhielt erst 1969 einen eigenen Pastor und
später auch ein eigenes Haus, vorher traf man sich
in einer Schreinerwerkstatt. In dieser katholischen
Bischofsstadt dauerte es viel länger, bis die kleine Gemeinde wuchs; heute ist sie längst selbstständig und
konnte einen schönen, geräumigen Neubau erstellen.
Mitte der 70er Jahre schloss sich in Bad Gandersheim eine kleine Gemeinde unserem Bund an, die
auch zeitweise die Hilfe der Inland-Mission brauchte. Die Gemeinde in Salzgitter entstand Anfang der
80er Jahre, zunächst von Hildesheim her unterstützt.
Und als 1990 die FeG Göttingen gegründet wurde,
kamen junge Familien des Gründungskerns aus den
Gemeinden Hannover und Hildesheim hinzu. Im eigentlichen Harz entfaltete die Missionsarbeit wenig
sichtbaren Erfolg – aber von hier aus entstand ein
Netz von Gemeinden im südlichen Niedersachsen.
Missionarischer Aufbruch
Dass die Bundesgemeinschaft in der zunächst
schwierigen Nachkriegszeit diese Herausforderungen annahm, lag auch an der eindrucksvollen Führungspersönlichkeit von Bundespfleger Albert Fuhrmann, der bis zu seinem frühen Tod 1964 für das
„Evangelisationswerk“ verantwortlich war. Er konnte
die Gemeinden begeistern! Ich höre ihn noch auf einer Konferenz im Hessischen die Zuhörer mit dem
Zinzendorf-Vers mitreissen: „Wir woll’n, und was wir
woll’n, das geht …!“ Aber er brachte viel persönlichen
Einsatz ein. Nach Diensten im Hamburger Raum fuhr
er auf der Rückreise zu seinem Wohnsitz in Solingen
immer den weiten Umweg über Ostholstein, um mit
den dortigen Mitarbeitern in Kontakt zu bleiben.
Die Missionstrupps
Unser Bund erlebte damals einen eindrucksvollen
missionarischen Aufbruch unter jungen Menschen.
Es entstand der „Stoßtrupp Hessenland“, eine Gruppe junger Männer aus unterschiedlichen Berufen, die
in ihrer Freizeit die Gute Nachricht durch Lieder und
Zeugnisse weitergaben, zunächst in benachbarten
Dörfern, dann aber entdeckten sie die Möglichkeiten
und Herausforderungen in Holstein, Ostfriesland und
ganz besonders im Harz. Schlüsselperson war Alfred
Friede, Schneidermeister aus Banfe im Wittgensteiner
Land, später Pastor. Auch in anderen Bundeskreisen
bildeten sich solche „Missionstrupps“; von MoersSchwafheim am Niederrhein aus kam es zu missionarischen Einsätzen in Ostfriesland; die Niederrheiner
kauften ein Grundstück in Marienhafe, auf dem nach
Auflösung des Lagers „Upgant-Schott“ unser Kindergarten für weitere zehn Jahre seinen Platz fand (eine in
Köln entbehrliche „Schwedenkapelle“ wurde in Marienhafe aufgestellt und zweckentsprechend umgebaut).
Zelt-Mission
Weil die „Missionstrupps“ nicht immer unter freiem
Himmel arbeiten konnten und sich nicht immer geeignete Räume fanden, wurden zwei „JugendmissionsZelte“ durch Spenden der Jugend unseres Bundes beschafft. Das erste wurde im Frühjahr 1957 eingeweiht,
das zweite 1959. Diese Zelte kamen mit Missionstrupps, aber auch mit normalen Evangelisten und mit
Missionsfreizeiten zum Einsatz, gerade auch in den
oben genannten Missionsgebieten. Paul Lenz hatte
sich als damaliger Leiter der Bundesjugendarbeit stark
für die Anschaffung der Zelte eingesetzt. Als zwei
Zelte im Einsatz waren, wurde ein Zeltleiter nötig: Der
erste „Leiter der Zelt-Mission“ war von 1960 bis 1965
Paul Lenz. Gott hat diesen begabten und begeisternden Evangelisten gebraucht, um viele Menschen zum
Glauben an Jesus zu rufen. 1964 konnte er das große
Tausend-Personen-Zelt, die „Membranhalle“, einweihen; nun konnte die Zelt-Mission auch in Großstädten
und gemeindlichen Ballungsgebieten arbeiten.
von oben:
Paul Lenz in Zelt 2
Einweihung von Zelt 1,
am 30.6.1957
in Wolfgruben
Zelt 2 am 1.5.1960
Zelt 3, 1964
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100 Jahre Inland-Mission
Neuanfang „Inland-Mission“
Die Inland-Mission
nach 1945
Im Sommer 1964 starb plötzlich Albert Fuhrmann;
auch der Reisedienst von Paul Lenz ging zu Ende,
weil seine Familie, vor allem eine schwerbehinderte Tochter, den Vater brauchte. Zugleich zeigte sich,
dass eine Neuorientierung der Gemeindegründungsarbeit nötig war.
Aus den missionarischen Anfängen unter Flüchtlingen und Evakuierten waren inzwischen an manchen Orten relativ normale Gemeinden geworden, vor
allem in Ostholstein, aber auch in Norden und Hage.
Anderswo stagnierte die Arbeit. Die Bundesgemeinschaft spürte das, und das Interesse am „Evangelisationswerk“ ließ spürbar nach. Offene Türen ergaben
sich in Großstädten. Die kleine Gemeinde in Hannover wuchs spürbar. In Münster, der westfälischen
Landeshauptstadt, schloss sich ein Kreis von Christen
um Karl Weiß an unseren Bund an und wurde zum
Kern einer Gemeindeaufbauarbeit, in die Hellmut
Lenhard als Pastor einstieg. Zugleich schienen sich
in München durch den Einsatz von Hermann Schürenberg (damals noch Pastor in Nürnberg) Türen
zu öffnen (darüber unten mehr). Der neue Schwerpunkt hieß: Gemeindegründung in Großstädten.
Bis dahin lautete die Strategie: „Gemeinden dort
gründen, wo es wenig oder keine Gemeinden gläubiger Christen gibt“, in den „weißen Flecken“ unseres Landes. Nun kam der andere Schwerpunkt dazu:
„Gemeinden gründen, wo die meisten Menschen leben, die noch ohne Verbindung zu Jesus sind“ – und
das waren die entkirchlichten großstädtischen Ballungsgebiete
Im Februar 1965 trafen sich in Witten drei Mitglieder der Bundesleitung: Geschäftsführer HeinzAdolf Ritter, Bundespfleger (heute „Bundessekretär“)
Karl-Heinz Knöppel, Seminarrektor Friedhelm Sticht
und drei Mitglieder des Bundesrates (die Pastoren
Hermann Schürenberg, Rudolf Ahrens und ErnstWilhelm Erdlenbruch), um einen neuen Anfang für
die missionarische Arbeit unseres Bundes im eigenen Land zu erarbeiten. Damals wurde die „InlandMission“ neu geboren.
oben und Mitte:
Straßeneinsatz im Harz
rechts:
Missionseinsatz 1953 in
Langelsheim
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Das neue Konzept
Das neue Konzept sah vor:
1. Enge Verbindung von Zelt-Mission und Gemeindegründung (der neue Zeltleiter wurde ein Jahr später auch Leiter der Inland-Mission).
2. Neuer Schwerpunkt der Gemeindegründung sollen die großstädtischen Ballungsgebiete sein.
3. Weiterbetreuung der bisher entstandenen Gemeinden hin zu Selbständigkeit.
4. Missionarische Gemeindeschulung: Hilfen für die
bestehenden Gemeinden und ihre Mitglieder zu
missionarischem Leben und Handeln (daraus entstanden die jährlichen „Holzhausen“-Tagungen,
später die Tagungen „Lebendige Gemeinde“).
Der Bundesrat der FeG berief im Frühjahr 1965 in
Opladen Ernst-Wilhelm Erdlenbruch, den Schreiber dieser Zeilen, zum Zeltleiter. Im Oktober 1966
folgte in Haiger auch die Berufung zum Leiter des
Gesamtbereiches „Inland-Mission“. Nun konnte es
losgehen …
von oben:
Einweihnung vom Kindergarten und Gemeindehaus
Marienhafe, August 1965
Hilfe aus Nordamerika
Christen aus USA und Kanada sahen es nach dem
Zweiten Weltkrieg als ihre Aufgabe, dem durch
Hitler verführten und durch den Krieg zerstörten
Deutschland zum christlichen Glauben zurückzuhelfen. Einigen begegneten wir in den 60er Jahren
im niedersächsischen Raum. Es waren Missionare
aus Gemeinden der Evangelical Free Church (EFC) in
USA und Kanada. Die ersten waren wohl das Ehepaar
Reimer. Sie gründeten die schon erwähnte Gemeinde
in Bad Gandersheim und ein Kinderheim. David und
Amanda Heinrichs begannen missionarisch in Osterode zu arbeiten. Dort entdeckten sie einen kleinen
Kreis von Christen, der vom FeG-Pastor in Langelsheim betreut wurde. Die EFC hatte große Pläne: im
Vorharz, nahe Bad Gandersheim, kauften sie Schloss
Hachenhausen, um dort eine Bibelschule zu beginnen. Aber der Start und die Ausweitung der Arbeit
in unserem Land erwies sich für die EFC schwerer
als gedacht. Es kam zur Zusammenarbeit mit dem
Kindergarten UpgantSchott (Sommer 1965: die
Lagerbaracken weichen
neuen Siedlungshäusern)
Bund Freier evangelischer Gemeinden. Schloss Hachenhausen wurde mit unserer Hilfe wieder verkauft,
nachdem die Bibelschullehrer einige Jahre mit unserem Seminar in Ewersbach zusammen gearbeitet
hatten. Beide Bünde schlossen eine Kooperationsvereinbarung, nach der die amerikanischen Missionare im Bereich unserer Inland-Mission tätig wurden.
Zunächst führte David Heinrichs die beiden kleinen
Kreise in Osterode zu einer lebensfähigen Gemeinde
zusammen. Die Zusammenarbeit gewann an Bedeutung, als unsere Missionsarbeit den Schritt nach Süddeutschland wagte.
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100 Jahre Inland-Mission
Über die Mainlinie
Die Inland-Mission
nach 1945
Der Bund Freier evangelischer Gemeinden war bis zum Ende des zweiten Weltkrieges eine fast ausschließlich „norddeutsche“ Angelegenheit. Die Kerngebiete
lagen im Rheinland, in Westfalen und im
Hessischen, 1936 kam das Hamburger Gemeindewerk (heute „FeG in Norddeutschland“) dazu. Jenseits der „Main-Linie“ gab
es Freie evangelische Gemeinden nur
in Stuttgart, in den badischen Dörfern
Hochstetten bei Karlsruhe, Hoffenheim
nahe Heidelberg, sowie in Worms im
heutigen Rheinland-Pfalz. Seit den 30er
Jahren entstand in Nürnberg die erste
FeG im späteren Freistaat Bayern. Durch
missionarische Kontakte über die Grenze
hinweg zum schweizerischen Thayingen
war in Singen am Hohentwiel Gemeinde entstanden. Durch die missionarische
Arbeit von Pastor Paul Heilmann kam
es zu Anfängen in Baden-Baden. Beide
brauchten und erhielten Hilfe durch das
Evangelisationswerk (später: „Inland-Mission“). Der eigentliche Schritt über die
Main-Linie und darüber hinaus über die
Donau (Bayern würden vom „WeißwurstÄquator“ reden) geschah, als in München
Gemeinde entstand. Das ist auf‘s Engste
mit Hermann Schürenberg und seiner
Frau Elfriede verbunden.
von oben:
Heinz Müller, Evangelist und Leiter der
Zelt-Mission
Plakat: Einladung zur Zelt-Mission
1966 in Nürnberg
Vor dem Alphof
v.l.n.r: Laverne Busenitz (US-Missionar),
Heinrich Mann, Wolfgang Kegel (Bibelkreis Füssen), 1971 in Füssen (Allgäu)
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Es begann im Intercity
Damals gab es in Fernzügen Schreib-Abteile mit Zugsekretärinnen. Ein Christ, Mitglied der Nürnberger
Gemeinde, wo Schürenberg damals Pastor war, hatte
im Schreib-Abteil zu tun und sah, dass dort eine Bibel
lag. Er sprach die Zugsekretärin an. Das Gespräch verlief ähnlich, wie vor 2.000 Jahren zwischen Philippus
und dem Kämmerer aus dem Mohrenland: „Lesen Sie
die Bibel?“ – „Ja“. – „Verstehen Sie sie?“ – „Nein, leider nicht …“ – Er lädt sie in die Nürnberger Gemeinde ein, sie kommt, lernt Schürenberg kennen, kommt
zum Glauben, und dann irgendwann: „Warum gibt
es eine solche Gemeinde nicht in meiner Heimatstadt
München? Ich helfe Ihnen gerne, sie aufzubauen“.
Das war der Anstoß für Hermann Schürenberg, über
München nachzudenken, für München zu beten und
schließlich konkrete Schritte zu tun. Er wagte, einen
Hörsaal im Deutschen Museum zu mieten, ließ auf
eigene Kosten einige hundert Plakate drucken und
kleben – und Gott schenkte, dass Menschen kamen,
hörten und zum Glauben fanden.
Ich weiß noch, wie Schürenberg bei einer Evangelistenkonferenz in Solingen-Aufderhöhe Ende 1963
davon berichtete. Das schlug ein wie eine Bombe.
Denn in den 60er Jahren zählte die „kritische Theorie“ der sogenannten „Frankfurter Schule“ mehr als
die biblische Botschaft von Jesus. Die Offenheit der
Nachkriegsjahre war im Wirtschaftswunder untergegangen und wurde nun von einer kritischen Jugend
massiv hinterfragt. Die Türen für das Evangelium
schienen sich zu schließen. Aber dann diese großartige Münchener Erfahrung!
Ein Bibelkreis entstand, die Abende im Deutschen
Museum wurden Jahr um Jahr wiederholt. Schürenbergs zogen nach München, es kam im Dezember
1968 zur Gemeindegründung, zu Gottesdiensten im
Haus des CVJM, und schließlich konnte das Gemeindehaus in der Mozartstraße erworben und umgebaut
werden. Das alles ist nachzulesen im (leider wohl
vergriffenen) Büchlein von Hermann Schürenberg
„Erfahrungen mit Gott im Werden einer Großstadtgemeinde“. Für die Inland-Mission hieß das: in Bayern
scheinen sich bisher verschlossene Türen zu öffnen!
Jugendzentrum Augsburg: Tischtennis und Eismaschine
Familie Heinrichs, bis 1968 in Osterode tätig, suchte nach ihrem Heimaturlaub ein neues Arbeitsfeld
in Deutschland. Dieses öffnete sich in Augsburg.
Martha Goertzen, bis dahin Lehrerin an einer Bibelschule, kam mit nach Augsburg. Sie hatte durch eine
Freizeit Kontakte zu Schwesternschülerinnen aus
Augsburg erhalten. So begann die missionarische Arbeit dort mit einem Jugend-Zentrum mit Eismaschine und Tischtennis im Hintergebäude der Gaststätte
Prinz Eugen. Als es zur Gemeindegründung kam,
gehörten etwa zwanzig junge Leute und drei ältere
Damen dazu. Während Hermann Schürenberg gleich
das Vertrauen anderer Kirchen und Gemeinden fand,
wurde David Heinrichs mit seinen jungen Leuten in
Augsburg in der Allianz zunächst kritisch gesehen.
Eine Art Beschwerde wurde an den Hauptvorstand
der Deutschen Evangelische Allianz gerichtet; sie
landete zum Glück beim damaligen Vorsitzenden,
unserem FeG-Bundesvorsteher Wilhelm Gilbert, der
in seiner brüderlichen Art dann auch in Augsburg
vermitteln konnte.
Von Augsburg ins Allgäu
Als Familie Heinrichs 1972 für ein Jahr nach Kanada
ging, trat Erhard Meyer, vom Theologischen Seminar
kommend, in die Augsburger Arbeit ein. Er blieb in
Augsburg, als Heinrichs zurückkehrten: ein deutschamerikanisches Team entstand. Aber Meyer fand seine eigentliche Aufgabe weiter südlich. Seit 1970 gab es
Kontakte zu kleinen Gruppen gläubiger Christen im
Allgäu. In Kaufbeuren, Memmingen und Kempten
waren durch die missionarische Arbeit engagierter
Christen „Missions-Gemeinden“ entstanden. Dazu
gehörten Zweigarbeiten in Nachbarorten und eine
„Jünger-Schule“ in Mattsies, später in Türkheim. Über
Lothar Blum (Geisweid) und den damaligen Bundespfleger Karl-Heinz Knöppel ergaben sich Kontakte
zur Inland-Mission. Es kam zu wiederholten Begegnungen. Wir führten gemeinsam Zelteinsätze durch.
Als diese Gruppe den kleinen Bibelkreis in Schwab-
münchen nicht mehr betreuen konnte, sprang Erhard
Meyer ein. Im Sommer 1973 wurden dort die ersten,
sehr bescheidenen Gemeinderäume eingeweiht. Im
nächsten Jahr bat auch eine kleine Gruppe im weiter
südlich gelegenen Buchloe um Mitbetreuung. Damals zog Familie Meyer nach Buchloe. Erhard Meyer
hatte die Gabe, das Vertrauen sehr unterschiedlich
geprägter Christen zu gewinnen und mit ihnen zu
arbeiten. Als sich der Missionskreis in Kauf beuren
1978 an unseren Bund anschloss, bat er ausdrücklich
um Erhard Meyer als ihren Seelsorger. Damals sagten
ihm Kollegen, die Sinn für Humor hatten: „Erhard,
sei vorsichtig, irgendwann landest du im Bodensee!“
Sie haben Recht behalten. Nachdem er von 1986 bis
1998 die Gemeinde Kempten und später die Zweigarbeit in Lindenberg (Westallgäu) aufgebaut hatte, ist
er jetzt in Lindau am Bodensee tätig. Erhard Meyer
wurde unser „Missionar im Allgäu“.
Am Fuß der Zugspitze
Am Ende der 60er Jahre schien die Zelt-Mission
an einem Tiefpunkt: die Bänke waren zu hart, das
Programm zu schlicht, die Verkündigung zu wenig
zeitgemäß. Das kleinste Zelt sollte 1970 stillgelegt
werden. Dann kam es doch zum Einsatz: einmal in
Augsburg als „Schub-Verstärkung“ für die dortige Gemeindegründung, außerdem in Schwabmünchen in
Verbindung mit der schon erwähnten Jüngerschule
Mattsies. In den folgenden Jahren war unser kleinstes Zelt den ganzen Sommer in Bayern. Speziell für
diesen Bereich wurde dann 1974 die „Kreuzwelle“ angeschafft, das quadratische Zelt mit den vier Spitzen
und den überschweren Ankern. Dadurch ergaben sich
Kontakte zu Christen an unterschiedlichen Orten. Es
wurde klar, dass wir uns zumindest an einigen Orten selbst um die Nacharbeit kümmern mussten. Das
sollte Pastor Fritz Weidemann nach Abschluss seiner
Seminarausbildung übernehmen.
Wo sollte er wohnen, wo sein Arbeitsschwerpunkt
sein? Wir trafen uns im Frankfurter Hauptbahnhof:
Fritz Weidemann, Hermann Schürenberg als „Bayern-Experte“ und ich. Schürenberg überzeugte uns
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100 Jahre Inland-Mission
Die Inland-Mission
nach 1945
damals, dass man nicht irgendwo anfangen dürfe,
sondern nur an einem zentralen Ort, und das war seiner Meinung nach die Kreisstadt Garmisch-Partenkirchen mit ihrem fast weltstädtischen Flair. Bis dahin
(und auch später noch) hatten wir in der Regel nach
dem „Mazedonien-Prinzip“ gearbeitet: wenn jemand
uns sagte: „Komm herüber und hilf uns“ (wie damals
der Mann aus Mazedonien zu Paulus im Traumgesicht
sprach), dann war das ein Signal, dass hier eine offene
Tür war. Das hat sich auch fast immer bestätigt. Der
Start in Garmisch-Partenkirchen wurde gelegentlich
als eine Art „Fallschirmspringer-Einsatz“ bezeichnet:
„Streiter Christi“ werden – bildlich gesprochen – „allein hinter den feindlichen Linien abgesetzt“. Das ist
deutlich schwerer, als wenn ein Kern von Christen vor
Ort mitarbeitet und seine Kontakte einbringt, aber in
Garmisch hat es geklappt. Im Sommer 1975 gingen
Fritz und Marieluise Weidemann zusammen mit der
jungen Krankenschwester Mechthild Blecker nach
Garmisch. Vorträge in einem Hotel über Glaubensfragen, später auch Einsätze des Missionszeltes und
viel persönliches Nachgehen führten immer wieder
zu neuen Kontakten. Der kleine Gottesdienstraum
in der Von-Brug-Straße und später das Ladenlokal in
der Herbststraße wurden zu eng. Schließlich konnten
drei miteinander verbundene ältere Häuser gekauft
werden. Zwei wurden abgebrochen, eins total umgebaut. Dem heutigen schmucken Gemeindezentrum
in der Hindenburgstraße sieht niemand mehr die
Altbauten an – eine herausragende Leistung des Architekten Lantelme. Seit die Gemeinde eine richtige
„Kirche“ ihr eigen nannte, gewann sie immer mehr
das Vertrauen der Einheimischen.
Ein Flüchtling als Missionar
Gleichzeitig mit Garmisch kam es zu einem gemeindlichen Anfang in der Kleinstadt Peiting. Das
wurde ausgelöst durch das Ehepaar Kahl. Alfred
Kahl war schon Rentner, als ich ihn 1973 bei einem
Zelteinsatz im benachbarten Schongau kennen lernte. Als Flüchtlinge waren Kahls von Schlesien nach
Bayern gekommen. Sie waren gläubige Christen aus
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der Gemeinschaftsbewegung. Zunächst wohnten sie
in Kochel, dort kamen sie mit Hermann Schürenberg
in Kontakt. Alle ihre fünf Kinder waren in Reichgotteswerken aktiv. Eins von ihnen war beruflich in der
„Herzogsägmühle“ tätig, einem umfangreichen Werk
der Inneren Mission nahe Peiting. So zogen Kahls
nach Peiting. Alfred Kahl begann bald, an jedem Wochenende christliche Schriften zu verteilen, zuerst
bei den evangelischen Mitbürgern, dann auch bei
katholischen. Sie fanden Kontakt zur Bibelgemeinde
in Schongau, einem kleinen Kreis von Menschen, die
der amerikanische Missionar Ron Furst gesammelt
hatte. „Aber in Peiting muss eine FeG entstehen“,
sagte Alfred Kahl sehr nachdrücklich.
Als Test führte der damaZwei Modelle
lige Zeltevangelist und spätere Leiter der Allianz-Mission,
der Mission:
Heinz Müller, in einem Kino
in Peiting gemeinsam mit eiMazedonien-Prinzip
nem Team der „Christussänger“ einen evangelistischen
und FallschirmAbend durch. Das Kino war
voll besetzt! Im nächsten
springereinsatz
Jahr fand in Peiting ein Zelteinsatz statt. Ein Ladenlokal
konnte gemietet werden. Dort begann Fritz Weidemann mit Gottesdiensten und Bibelstunden. Man bedenke, dass Peiting immerhin ca. fünfzig Kilometer
von Garmisch entfernt lag. Aber aus Peiting und dem
Nachbarort Schongau kamen Menschen unter Gottes
Wort, die Arbeit wuchs. Alfred Kahl war Vaterfigur
unter meist jüngeren Menschen. Als die Räume zu
klein wurden, siedelte die Gemeinde nach Schongau
über – zunächst in den ehemaligen „Königreichssaal“
der Zeugen Jehovas, dann ins frühere Arbeitsamt.
1978 übernahm Pastor Dieter Schwehn diese Arbeit.
Ron Furst zog von Schongau fort und ermutigte die
Besucher seiner Gottesdienste, sich unserer Gemeinde anzuschließen. Im hohen Alter siedelten Kahls in
ein Altersheim des Gemeinschafts-Diakonieverbandes nach Marburg über, wohin auch Beziehungen
durch ihre Kinder bestanden. Dort sind sie später
heimgegangen.
Perlenkette am Oberrhein
Wir hatten vor, in Südbayern das Netz von Gemeinden
zu verdichten, um den Menschen möglichst nahe zu
kommen. Erhard Meyer übernahm 1978 die Betreuung der Kaufbeurer Missionsgemeinde, die damals
zur FeG wurde, und begann ein paar Jahre später in
Bad Wörishofen mit Gottesdiensten. Ein Neubeginn
nach einer Zeltarbeit in Landsberg durch den heutigen Leiter der Inland-Mission, Erhard Michel, musste
nach drei Jahren abgebrochen werden. Weitergehende Pläne verschoben sich um längere Zeit. 1987 zog
Erhard Meyer nach Kempten. Ein „Probelauf“ von
mehreren Monaten zeigte, dass hier eine offene Tür
wartete. Mit ihm arbeiteten ein ansässiges älteres
Ehepaar und ein „Gründungsteam“, ein junges Ehepaar aus Köln, eine junge Frau aus Wuppertal, eine
Familie „jüngeren Mittelalters“ aus Lörrach – das war
ein fast idealer Start.
Aber der Schwerpunkt der Gemeindeneugründungen verschob sich ungewollt an den Oberrhein.
Wieder erlebten wir das „Mazedonien-Prinzip“: Ein
Christ aus Freiburg hatte wiederholt im Bundes-Verlag in Witten zu tun. Jedes Mal bedrängte er die Verantwortlichen im Bundeshaus: „Warum gründet ihr
keine FeG in Freiburg? Unsere Stadt braucht das!“
Ich bekam den Auftrag, das zu prüfen. Tatsache war:
Es gab dort, wie in jeder größeren deutschen Stadt,
eine Reihe evangelikaler Kreise, und es gab niemanden, der eine Art Gemeindekern für eine FeG hätte
werden können. Der Mann, der uns rief, zog bald von
Freiburg weg.
Fast wäre alles geplatzt, weil sich lange Zeit keine
Wohnung fand. Doch dann entstanden Kontakte in
Freiburg, ein Hauskreis bildete sich. Gottesdienste
begannen in einem früheren Bäckerladen. Die 50
Stühle waren bald besetzt. Man musste in den Saal
eines Altenheimes umziehen. Dann wurde eine Büroetage im Dachgeschoss eines Parkhauses angemietet. Die Gemeinde erlebte ein boomartiges Wachstum. Studenten und junge Akademiker kamen, aber
auch Menschen ganz unterschiedlicher Berufe.
Damals wurden zwei Vorwürfe gegen solche Gemeindeneugründungen laut. Der erste hieß, es gäbe
doch am Ort eine ganze Reihe von Kirchen und
Gemeinden, Gemeinschaften, christlichen Werken und Hauskreisen; warum denn noch eine neue
Gemeinde?
Unsere Antwort war: Freiburg hatte ca. 180.000
Einwohner. Die lebendigen Christen in all diesen
Gruppierungen zählten insgesamt bei großzügiger
Berechnung 3.000, höchstens 5.000 Menschen. Diese wiederum hatten Kontakt zu etwa 10.000 Nichtchristen. 165.000 bleiben übrig – wer hilft ihnen, Jesus und damit ihr ewiges Heil zu finden? Wir waren Die Chormusik –
überzeugt: neue Gemeinden sind nötig.
früher ein wichtiges Element
in der Evangelisation
Freiburg und die „Freiburger Rechnung“
Damals ergab sich kurzfristig, dass die Japan-Missionare Helmut und Otti Plenio aus gesundheitlichen
Gründen nicht mehr nach Japan ausreisen konnten.
Sie wünschten sich, in Deutschland missionarisch zu
arbeiten und irgendwo „am Nullpunkt anzufangen“.
In Freiburg war das gegeben: am Ort gab es keinen
Kern von Christen für die zu gründende Gemeinde, und auch kein Gründungsteam war verfügbar.
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100 Jahre Inland-Mission
Die Inland-Mission
nach 1945
sich gegenseitig und beteten füreinander. Die älteren
für die neuen Gemeinden, aber auch die neuen für
die älteren. Besonders wenn Bau- oder Umbaumaßnahmen nötig wurden, waren fleißige Hände aus Patengemeinden einen große Hilfe.
Der zweite Vorwurf lautete, die neuen Gemeinden
zögen ja nur Menschen, die schon Christen wären,
von ihrer bisherigen geistlichen Heimat ab. Das habe
mit Mission nichts zu tun. Wir haben damals die Gemeindeunterlagen in mehreren jungen Gemeinden
sorgfältig durchgearbeitet und fanden, dass beispielsweise in Freiburg über mehrere Jahre ca. fünfzig Prozent der neuen Gemeindeglieder in der Gemeinde
zum persönlichen Glauben an Jesus gefunden hatten;
in unserer Gemeinde in Garmisch war es ähnlich. Inwiefern das allerdings auch heute noch gilt, wo die
„Wanderung“ zwischen verschiedenen Gemeinde für
viele Christen zum Normalfall geworden ist – das ist
eine m.E. sehr ernstzunehmende Frage.
Fette Jahre …
Das leidige Geld
oder: Was Wachstum kostet
Lörrach und die Frage nach der Abwerbung
Wenn irgendwo eine neue Gemeinde entsteht, kommt
es dann nicht zwangsläufig dazu, dass sie den am
Ort schon bestehenden Kirchen und Gemeinden
die Mitglieder abwerben muss, weil doch fast alle
Christen irgendwo ein geistliches Zuhause haben?
Dass dies nicht zwangsläufig ist, zeigte sich auch
in Lörrach, 60 Kilometer südlich Freiburg nahe der
Schweizer Grenze. Dort beschloss ein Hauskreis
ziemlich gleichzeitig mit dem Beginn unserer Arbeit
in Freiburg, zu einer Gemeinde zu werden. Sie wollten für ihre Kinder eine geistliche Heimat schaffen,
in ihrer Stadt missionarisch arbeiten, und begannen
bald mit Gottesdiensten. Zunächst half Helmut Plenio von Freiburg aus. Der eigentliche „GründungsPastor“ dieser Gemeinde wurde Wolfgang Kegel.
Auch hier gab es Rückfragen seitens der anderen Kirchen und Gemeinden: Muss das sein? Die Gemeinde
fand eine angemessene Antwort. Sehr bald nach dem
Start rief sie eins unserer Missionszelte, und verhältnismäßig viele Menschen suchten im Zelt Seelsorge.
Im Blick auf die nötige Nachbetreuung fragte man
jeden, zu welcher Kirche oder Gemeinde er denn
eine Beziehung habe, und dorthin vermittelte man
dann seelsorglichen Kontakt. Nur solche, die das
nicht hatten – und die gab es auch – wurden weiter
von unserer Gemeinde betreut. So wuchs Vertrauen
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zwischen den „alten“ Gemeinden und der neuen FeG.
Der Gemeinde hat diese Selbstlosigkeit nicht geschadet: auch Lörrach erlebte bald ein starkes Wachstum.
Nach einigen Provisorien (einen Gottesdienstraum
musste die Gemeinde aufgeben, weil das Bauamt ihn
sperrte), konnte 1985 ein schöner, praktischer Neubau erstellt und eingeweiht werden.
Gebet öffnet Türen
Ich bin in den 80er Jahren bei einem Besuch in einer
winzigen Gemeinde im Innern Spaniens gefragt worden, ob sie nicht auch für uns in Deutschland beten
können, und wenn ja, wofür. Meine Antwort: „Beten
Sie für drei neue Gemeinden in den Großstädten
am Oberrhein und für drei Gemeinden dort in kleineren Orten!“ Gott hat auf diese und andere Gebete
gnädig geantwortet. Inzwischen sind zunächst in
Heidelberg, dann in Mannheim und Karlsruhe
große, blühende Gemeinden entstanden. Weitere auch in kleineren Orten wie die Gemeinden in
Bad Säckingen und Müllheim, in Emmendingen
und Kehl, in Ettlingen und Bad Schönborn. Einige
davon sind bereits „Töchter“ der neuen Großstadtgemeinden.
Wie kam das Geld zum Unterhalt der Mitarbeiter zusammen, für die Mieten der Gemeinderäume und für
missionarische Aktivitäten? – Wie alles Geld in unserem Gemeindebund: Durch Spenden der Bundesgemeinden und von einzelnen Christen. Fast überall brachten die zunächst wenigen Christen an den
Einsatzorten überdurchschnittlich hohe Anteile auf.
Die „Tropfensammler“-Sammelbüchsen, gedacht für
Münzen und kleinere Geldbeträge (eben für „Tropfen“) fanden sich in vielen FeG-Familien. Jedes Jahr
kamen hier ständig wachsende, fünfstellige Beträge
zusammen. Aber als sich in der 70er Jahren immer
neue Türen öffneten, waren neue Wege nötig.
Patenschaften
Als die Arbeit in Garmisch begann, stellten sich spontan die Gemeinden Gießen (die damals am stärksten
wachsende Gemeinde im Bund) und Schalksmühle
(eine unserer ältesten Bundesgemeinden) für Garmisch als Patengemeinden zur Verfügung. Für
Schongau taten sich fünf Gemeinden aus dem Dietzhölztal zusammen. Viele andere Gemeinden folgten
in den nächsten Jahren. Sie übernahmen verbindlich
einen bestimmten Anteil an den laufenden Kosten.
Mitglieder der Gemeinden engagierten sich in Garmisch bei evangelistischen Aktionen, sie besuchen
Dass die Inland-Mission in den 70er Jahren so stark
wuchs, war kein Zufall. In den 60er Jahren erlebten
wir, dass die Nachkriegsjahre mit ihrer Offenheit für
das Evangelium endgültig vorbei waren und man in
Deutschland den christlichen Glauben zunehmend
kritisch sah. Das lähmte auch die Gemeinden. Aber
Gott schenkte einen neuen Aufbruch, den man an
der EURO70-Evangelisation von Billy Graham in
Dortmund festmachen kann, durch Kabel übertragen in andere deutsche Städte, am ersten Jugendkongress „Christival“ 1976 in Essen und am Lausanner
Kongress für Weltmission 1974. Als Folge dieses Kongresses wurden Evangelisation und Gemeindegründung Schwerpunkt unserer Bundesarbeit. Und weil
die Netto-Einkommen in Deutschland stiegen, wuchsen auch die Spenden, und Jahr um Jahr konnte die
Inland-Mission neue Mitarbeiter einsetzen.
So ging 1975 Udo Vach ins Saarland, wo ein kleiner
Kreis von Christen in Lebach dringend auf Hilfe wartete. 1978 zog er nach Saarlouis um; auch dort war eine
Gemeinde entstanden, die sich nun unserem Bund anschloss. 1980 begann eine Gemeindeaufbauarbeit in
der Landeshauptstadt Saarbrücken, und später kamen
St. Wendel und die Universitätsstadt Homburg dazu.
In Nordbayern entstand von Nürnberg her eine Gemeinde in Erlangen; dorthin konnten wir 1978 Gerd
Ballon entsenden. In Würzburg begann gleichzeitig
der US-Missionar und spätere Professor für Missionswissenschaft Edward Rommen. Auf ihn folgte
1971 Erhard Michel. Ein wenig abgelegen, nahe dem
Bayerischen Wald, begann in Neumarkt/Oberpfalz
auch ein Amerikaner, Norman Thomson. Diese Neuanfänge rund um Nürnberg profitierten von der Mitverantwortung und der Hilfe seitens der Gemeinde
Nürnberg und ihres Pastors Hermann Weigel.
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links:
Wolfgang Kegel und
Heinrich Mann,
Missionsfreizeit Werlau,
August 1968
rechts:
Zelt-Mission in Hannover,
1964
100 Jahre Inland-Mission
… und magere Jahre
Die Inland-Mission
nach 1945
von oben:
Zelt-Mission mit Missionsfreizeit Sommer 1967 in
Bacharach, Zeltversammlung
Gerd Ballon wird als erster Pastor der Inland-Missionsgemeinde Erlangen eingeführt, links: Hermann Weigel,
September 1977
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Aber wie einst bei Joseph in Ägypten folgten auf die
„fetten Jahre“ dann „magere Jahre“ im Blick auf die Finanzen unseres Bundes; der Bund konnte keine neuen
Stellen finanzieren. Trotzdem konnte in den schwierigen Jahren 1981 bis 1984 alljährlich ein neues Arbeitsfeld in Angriff genommen werden. Zusammen mit
vier Familien, die dort wohnten, finanzierte 1981 die
benachbarte große Gemeinde Simmern/Hunsrück
einen Neubeginn in Wittlich/Eifel. 1982 konnte ein
junger Pastor nach Titisee-Neustadt entsandt werden,
wo aus einer Teestube Gemeinde entstanden war. Die
Gemeinde Singen/Hohentwiel, nahe dem Bodensee,
hatte über siebzig Kilometer Entfernung diesen Neuanfang unterstützt und wurde nun „Muttergemeinde“
für die neue Pastorenstelle, zusammen mit mehreren
Patengemeinden. 1983 konnten wir in Detmold einen
Pastor einsetzen. Hier hatte schon Jahre früher eine
Familie, die aus unseren Gemeinden kam, mit Hilfe
benachbarter FeG-Pastoren versucht, eine Gemeinde
zu starten; der Kreis war jedoch klein geblieben. Aber
eine halbe Planstelle war mit Hilfe von mehreren Patengemeinden finanzierbar. Die andere Hälfte wurde
von der Nachbargemeinde Bad Salzuflen aufgebracht,
die sich selbst damals keinen „ganzen“ Pastor leisten
konnte. Lauter Notlösungen, aber aus allen diesen
Anfängen sind – manchmal nach ersten mühevollen
Jahren – schöne, lebendige Gemeinden geworden.
Dann kamen wieder „fette Jahre“. 1984–86
konnten wir in Salzgitter und Aurich, in Radolfzell,
in Lebach und schließlich in Kempten neu beginnen. Wieder folgten magere Zeiten, die Veränderungen im Bundes-Verlag forderten alle Kräfte unserer
Bundesgemeinschaft. Dann ging es weiter vorwärts.
Die Neuanfänge am Oberrhein und auch in Aschaffenburg wurden möglich, 1990 kamen Koblenz
und Göttingen, Starnberg, Eschweiler/Jülich und
Mechernich(Eifel) dazu. Aber da wussten wir schon,
dass eine ganz neue Herausforderung auf uns zukam: Die Mauer war gefallen.
Ernst-Wilhelm
Erdlenbruch,
1987
„Weltmission in Weltstädten“
Anstöße von Amerika
Im Dezember 1987 nahm Ernst-Wilhelm Erdlenbruch
an einer „Church planting School“, einer Konferenz
für Gemeindegründung und Mission, der Evangelical Free Church of America (EFC) in Minneapolis teil.
Dort wurden ihm drei Missionare vorgestellt, die die
EFC 1988 nach Deutschland aussenden wollte: David Larson, Gary Reynolds und Larry Dolence. Über
ihre Einsatzorte sollten Gespräche zwischen dem
Feldleiter der EFC in Deutschland, Craig Ott, und
der Leitung der Inland-Mission stattfinden. Auf der
Konferenz wurde stark betont, die Mission der EFC
wolle ihre Kräfte in Zukunft in „World Class Cities“
bündeln, also in Millionenstädten, die zugleich nationale Ballungszentren seien. Dies seien die wichtigsten Missionsgebiete der Zukunft.
In Deutschland gab es drei solcher Zentren: Berlin, damals noch geteilte Stadt, Hamburg, das durch
die FeG Hamburg (heute „Stiftung FeG in Norddeutschland“) ausreichend abgedeckt war, und München, das man zu der Zeit die „heimliche Hauptstadt
Deutschlands“ nannte.
Im Großraum München hatte sich trotz oder
vielleicht gerade wegen der starken katholischen
Prägung große Offenheit für den Aufbau einer FeG
gezeigt. Die heutige Gemeinde München-Mitte, die
erste FeG in Südbayern, war aus kleinsten Anfängen
erstaunlich gewachsen. Die erste Tochtergemeinde in
Ottobrunn (heute FeG München-Südost) entwickelte
sich gut. Sie hatte seit 1986 mit Burkhard Rein einen
eigenen Pastor, der von München-Mitte mitfinanziert
wurde. Es gab Gemeindeglieder und Hauskreise in
Orten der benachbarten Landkreise.
Aber an eine personelle Verstärkung im Großraum München durch die Inland-Mission war nicht
zu denken. Die Gemeinde in der Mozartstraße war
inzwischen selbständig und gehörte dadurch nicht
mehr zum Arbeitsbereich der Inland-Mission. Die
Gemeindegründungsprojekte am Oberrhein in Heidelberg, Karlsruhe und Mannheim erforderten gute
Mitarbeiter und kosteten Geld.
Es lag daher nahe, die US-Missionare zur
Gründung von Tochtergemeinden im Großraum
München einzusetzen, wo Pastor Hermann Weigel
damals noch als erfahrener Begleiter von US-Missionaren zur Verfügung stand. Ein entsprechendes
Gespräch fand am 18. Januar 1988 in München statt.
Teilnehmer waren Hermann Weigel, Ernst-Adolf Pötz,
damals Pastor im benachbarten Fürstenfeldbruck,
Craig Ott, Feldleiter der EFC-Mission in Deutschland,
und Ernst-Wilhelm Erdlenbruch. Damals zeichneten
sich drei geographische Schwerpunkte ab:
1 Der Münchener Osten (anknüpfend an zwei
lebendige Hauskreise in Grafing und in Poing),
2 der Landkreis Dachau im Nordwesten von
München mit einem Hauskreis in Röhrmoos und
3 das Umfeld von Fürstenfeldbruck im Westen
von München.
Für die beiden ersten Bereiche sollte die FeG München und ihr Pastor verantwortlich sein, für die dritte Gustav Adolf Pötz in Fürstenfeldbruck. Dementsprechend zog die Familie Reynolds nach Baldham,
östlich von München. Familie Larson zog in die Nähe
von Fürstenfeldbruck. Beide begannen, die deutsche
Sprache zu lernen.
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100 Jahre Inland-Mission
Die Inland-Mission
nach 1945
Der Mensch denkt, …
Die erste Änderung dieser Pläne ergab sich durch
Schwierigkeiten der Familie Dolence mit einem ihrer Söhne. Schulische Probleme führten dazu, dass
er in der Black Forrest Academy in Kandern im Südschwarzwald eingeschult wurde (ein englischsprachiges Gymnasium für Missionare in Europa) und nicht,
wie sonst üblich, in einer deutschen Schule. Die Familie wohnte in Lörrach, betreut von Pastor Wolfgang
Kegel, um dort Deutsch zu lernen.
Im weiteren Verlauf ergab sich, dass die Familie
Dolence wegen der schulischen Probleme dort bleiben
musste. Larry Dolence baute unter Mithilfe durch Kegel von Lörrach aus die FeG Bad Säckingen auf. Leider
war die Familie nur für begrenzte Zeit in Deutschland.
Weil ihr ältester Sohn, der in die USA zurückgekehrt
war, dringend seine Eltern brauchte, mussten sie ihren Einsatz in Deutschland schon 1991 beenden.
Gary Reynolds, der schon in vorgerücktem Alter
war, gelang es nicht, sich die deutsche Sprache so weit
anzueignen, dass er zu Verkündigung und Seelsorge
in der Lage war. Er versuchte dann, in München eine
englischsprechende Gemeinde aufzubauen, beteiligte
sich später in einer schon bestehenden englischsprachigen Münchener Gemeinde und kehrte Mitte der
90er Jahre in die USA zurück. David Larson wurde von
Gustav Adolf Pötz in die Bemühungen einbezogen, im
Raum Fürstenfeldbruck eine Tochtergemeinde aufzubauen. Geplant war das zunächst in Gröbenzell, aber
dort entstand zwischenzeitlich eine Zweigarbeit der
Landeskirchlichen Gemeinschaft München. Dann
wurde eine Gründung in Germering ins Auge gefasst, hier sollte Larson beteiligt werden. Leider zeigte
sich, dass er von seiner Begabung und theologischen
Ausbildung her an Grenzen stieß. Er hat dann Pötz in
einzelnen Bereichen der Gemeindearbeit in Fürstenfeldbruck entlastet, damit dieser Freiräume hatte, in
Germering zu arbeiten. Nachdem sich von Kempten
her ein Ansatz für den Aufbau einer Tochtergemeinde in Sonthofen ergab, zog Larson dorthin, um dort
einige Jahre mit Pastor Erhard Meyer zuarbeiten, bis
er nach USA zurückkehrte. Allerdings musste die Arbeit in Sonthofen später wieder eingestellt werden.
40
… aber Gott lenkt
Die drei US-Missionare sind alle nicht zu Gemeindegründern in der „World Class City“ München bzw.
ihrem Umfeld geworden. Trotzdem – Gott hat Gebete
erhört, und diese drei damals angedachten Gemeinden sind inzwischen entstanden. Ein Zwischenschritt
war, dass Craig Ott, damals Missionar und Feldleiter
der EFC in Deutschland (heute Professor für Missionswissenschaft), 1990 nach München zog, um neben seinen Aufgaben als Feldleiter mit Hilfe der Muttergemeinde Mozartstraße die FeG München-Nord
aufzubauen. Diese Gemeinde besteht jetzt über zehn
Jahre, ist erfreulich gewachsen und hat schöne Räume am Frankfurter Ring. Pastor ist Gerd Ballon. Ott
wohnte in Unterschleißheim und bekam Kontakt zu
Christen, die zumeist zur Gemeinde Mozartstraße
gehörten und sich in Hauskreisen im Dachauer Land
trafen. Er half ihnen, seit 1997 in Markt Indersdorf
eine Gemeinde aufzubauen, die sich zunächst „FeG
Dachauer Land“ nannte, jetzt FeG Markt Indersdorf.
Sie hat seit einigen Jahren mit Markus van Oehsen,
einen eigenen Pastor. Im Münchener Osten kam es
im Jahr 2002 zum Start einer Zweiggemeinde in
Markt Schwaben. Beteiligt waren und sind vor allem
der Hauskreis in Poing, der bisher zur „Mozartstraße“ gehörte, und ein aktiver Rüheständler, Pastor
i.R. Helmut Plenio, der in Markt Schwaben seinen
Wohnsitz fand. In Germering wurde von Fürstenfeldbruck aus durch den jeweiligen Pastor und durch
engagierte Gemeindeglieder kontinuierlich weitergearbeitet, auch durch Krisen hindurch. Die Tätigkeit
des Zeltmachers Carsten Finger und die Anmietung
eigener Gemeinderäume in 2001 sind Schritte, die
inzwischen zu einer selbständigen Gemeinde geführt haben.
Die Mauer fällt:
Heidenmission in Ostdeutschland
Am 9. November 1989 öffnete sich in Berlin die Mauer
zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland. Wenige Wochen später war ich zu einem Predigtdienst
in der Ostberliner FeG Adlershof. Der damalige Bundesvorsteher der FeG in der DDR, Johannes Schmidt,
fragte mich öffentlich: „Wird die Inland-Mission nun
auch in unserem Land neue Gemeinden gründen?“
Meine Antwort war: „Ja – wenn ihr uns ruft“: Der
erste Ruf kam im Frühjahr 1991 von Dresden.
Dresden: Mit vier Besuchern fing alles an
In Dresden gab es jahrzehntelang eine unserer Gemeinden, bis im Frühjahr 1945 die Stadt durch Bomben zur Wüste wurde. Der Rest der Gemeinde wich
in die Nachbarstadt Radebeul aus. Von dort aus versuchte Pastor Johannes Hummel, in Dresden neu zu
beginnen. „In DDR-Zeiten war das unmöglich“, sagte er. Nach der Wende suchte er monatelang einen
Raum für Gottesdienste und fand ihn in einer früheren Gastwirtschaft, die jetzt als Frühstücksraum
einer Schule diente. Am 14. April 1991 fand der feierliche Eröffnungsgottesdienst statt. Vierzig bis fünfzig Besucher aus ost- und westdeutschen Gemeinden
waren anwesend. Am Sonntag darauf kam die „Stunde der Wahrheit“. Außer dem Pastor und ein paar
Freunden und Verwandten aus Radebeul war eine
Frau aus Dresden gekommen. Aber Hummel hatte Geduld und arbeitete weiter. Im Oktober kamen
schon acht Personen zum Gottesdienst. Heute nach
sechzehn Jahren hat die Gemeinde durch die intensive Arbeit der Pastoren Eberhard Schnepper und
Ulrich Mann sowie der Gemeindehelferin Jutta Seip
etwa achtzig Mitglieder und eine Zweigarbeit in Radeberg.
von oben:
Der Umbau des „Stadels“
zum Gemeindehaus der FeG
Augsburg
Lautsprecherwerbung für
die Zelt-Mission mit Missionsfreizeit im Sommer 1979 in
Neustadt
Chemnitz: auch hier Nachbarschaftshilfe
So wie von Radebeul aus ein Anfang im nahen Dresden möglich wurde, so hat auch Pastor Hanns-Stefan
Schmidt von dem Dorf Auerswalde aus, im zehn Kilometer entfernten Chemnitz, das lange Zeit „KarlMarx-Stadt“ hieß, eine Gemeinde gegründet. Eins
seiner Gemeindeglieder, ein lediger junger Mann,
wohnte dort. In seiner Mini-Wohnung traf man sich
im Hauskreis. Räume für Gottesdienste fanden sich
im „Fritz-Hecker-Haus“, benannt nach einem „Heiligen des Kommunismus“. Dort fand am 12. Juli 1992
der erste Gottesdienst statt. Die Pastorenfamilie zog
in die Stadt um. Es kam zur Gemeindegründung.
Aber die Arbeit in der Industriestadt, wo immer mehr
Arbeitsplätze verloren gingen, erwies sich als wesentlich schwieriger als in den Landeshauptstädten Dresden und Erfurt.
41
100 Jahre Inland-Mission
Die Inland-Mission
nach 1945
Erfurt: Was ein Traktat bewirkt
Leipzig: Menschen machen Fehler, Gott hilft weiter
Im Herbst 1990 erhielt ich zwei Anrufe. Die Gemeinde Gießen wolle sich finanziell und personell hinter
einen neuen Schwerpunkt der Inland-Mission stellen. Und in Fulda gebe es einen jungen Pastor, der
Kontakte nach Erfurt habe und Hilfe suche. Ein Erfurter Ehepaar hatte nach der Wende an der offenen
Grenze neben viel anderem gedruckten Papier auch
ein frommes Blättchen in die Hand bekommen. Das
hatte Wirkung. Zuerst kam die Frau zum Glauben,
dann der Mann. Sie suchten Kontakt zu Christen. In
Erfurt gelang das nicht. Über die Herausgeber des
Blättchens bekamen sie Kontakt zu einer kleinen
Gemeinde in Fulda. Einer der dortigen Mitarbeiter
begann in ihrer Wohnung in einem Plattenbau in
Erfurt einen Hauskreis. Aber man spürte: In Erfurt
mit seinen damals 200.000 Einwohnern muss mehr
geschehen! So war man froh, mit der Inland-Mission
zusammenarbeiten zu können.
Im Frühjahr 1991 zog Pastor Dierk Lohrengel
nach Erfurt, gleichzeitig zwei Familien aus Gießen,
deren beruflicher Weg dorthin führte. Gottesdienste begannen in einem Altenzentrum. Die Gießener
Gemeinde half bei regelmäßigen Straßeneinsätzen
und Evangelisationen. Im Oktober 1992 wurde die
Gemeinde mit damals neun Mitgliedern gegründet.
Von Gießen her konnte das 400 Jahre alte „SchillerHaus“ gekauft und sehr schön renoviert werden. Hier
zog im März 1993 die Gemeinde ein. Es sei schon
vorweggenommen: bald reichten diese Räume nicht
mehr. Nachdem man zeitweise in Mieträumen unterkam, hat die Gemeinde seit 2002 am Gothaer Platz
ein eigenes, zweckmäßig umgebautes Zuhause.
In Leipzig, dieser großen und lebendigen sächsischen Stadt, muss missionarisch gearbeitet
werden! Das war gemeinsame Überzeugung
der Leitungsgremien unseres Gemeindebundes.
Was dann geschah, war „exemplarisch“ für Fehler,
die möglich sind. Nach Leipzig wurde ein junger
Gemeindegründer mit einer doppelten Aufgabe aus
Westdeutschland geschickt. Er sollte eine kleine Gemeinde betreuen, die seit zweieinhalb Jahrzehnten
bestand. Mit ihr sollte er gemeinsam in Leipzig missionarisch arbeiten. Beide Seiten waren voll guten Willens. Aber die Gemeinde brachte ihre DDR-Erfahrungen mit, der Pastor hatte westdeutsche Vorstellungen.
Sie wollten weiterarbeiten, wie sie gewohnt waren, er
wollte neue Wege wagen. Dazu kamen Unterschiede
des Temperaments und die emotionalen Ressentiments zwischen „Wessis“ und „Ossis“. Irgendwann
kam es zur Trennung. Man handelte nach dem Rat
Abrahams: „Willst du zur Rechten, so will ich zur Linken“. Tröstlich ist, dass in neuen Räumen mit einem
Teil des „alten Kerns“ eine neue Gemeinde entstand.
Dazu kamen immer neue Menschen aus Leipzig und
Umgebung und aus dem Westen. „Spannungen zwischen Ossis und Wessis gibt es bei uns nicht mehr“,
sagte Jahre später jemand aus dieser Gemeinde. Und
Gott war wirklich gnädig. Heute zählt die Gemeinde
siebzig Mitglieder und ca. 150 Gottesdienstbesucher
und hat 2003 großzügige neue Räume im berühmten „Ring-Cafe“ bezogen.
Auch an anderen Orten im Osten öffneten sich
Türen. Der Schweizer Eckehard Büchi, gebürtig aus
Halle an der Saale, arbeitete nach der Wende missionarisch in seiner Heimatstadt. Daraus entstand
die FeG Halle an der Saale. Die „Mission in Norddeutschland“, ein Arbeitszweig der Hamburger FeG,
gründete eine Gemeinde in Schwerin und arbeitet
missionarisch in der kleinen Gemeinde Barth an der
Ostsee. Ein Brückenschlag von der FeG Falkensee bei
Berlin nach Potsdam wurde versucht, gelang aber zunächst nicht. In Potsdam entstand erst Jahre später
eine FeG.
Was haben die fast fünf
Jahrzehnte missionarischer
Arbeit erbracht?
Der Bund Freier evangelischer Gemeinden hat
die „Mission im eigenen Land“ als eine seiner
Hauptaufgaben entdeckt.
An einzelnen Stellen gelang es, vom Krieg entwurzelten Menschen eine neue Heimat im Glauben und in der Gemeinde zu schenken.
Zweimal sind „kulturelle Grenzen“ durch Gründung neuer Gemeinden überschritten worden:
zwischen dem mehr protestantisch geprägten
Norden und dem mehr katholisch geprägten Süden und Südwesten, und zwischen der vom „Namen-Christentum“ geprägten alten BRD und den
entchristlichten neuen Bundesländern.
Eine Freikirche, die faktisch auf zwei oder drei
Bundesländer beschränkt war, entwickelte ein
Netz von Gemeinden, das allmählich unser ganzes Land abdeckt. Das ist wichtig in einer Zeit
wachsender Mobilität.
Die neuen Gemeinden wurden in mancher Beziehung zu einer Herausforderung für die älteren
„Traditions-Gemeinden“, und diese wiederum
lernten viel von ihnen im Blick auf missionarisches Engagement und lebendiges Gemeindeleben.
von oben:
Missionseinsatz in Bremerhaven
ErnstWilhelm
Erdlenbruch
Straßenversammlung
Mit dem Evangelisationswagen unterwegs
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