Kapitel 4 HR Giger

Transcription

Kapitel 4 HR Giger
Kapitel
Nullnummer / Frühjahr 2014 / CHF 12.50 / EUR 10.–
HR Giger – Das grosse Interview
Absinthe – Besuch im Val-de-Travers
Legal Highs – Falsche Perspektiven
El Pepe – oder die Verbesserung der Welt
Albert Hofmann – Ein Gespräch mit
dem LSD-Entdecker
4
Kapitel
2
Drogen
[…] Allgemein weisen Drogen eine bewusstseins- und wahrnehmungsverändernde
Wirkung auf. Traditionell als Genussmittel
verwendete oder als Medikament eingestufte
Drogen werden in der öffentlichen
Wahrnehmung oft nicht als solche betrachtet,
obwohl in geeigneter Dosierung und Einnahmeform ebenfalls Rausch- oder
erheblich veränderte Bewusstseinszustände
auftreten können.
Wikipedia, Stand Februar 2014
3
Kapitel
Kapitel
4
Die Offenbarung des HR Giger
Li I, 1974, 70 x ×97 cm, Acryl und Tusche auf Foto
Seite 16
5
Kapitel
Kapitel
6
«Wenn man im Paradies
lebt, will man ja nicht so
schnell weg»
Seite 32
7
Kapitel
Kapitel
8
I de Schwiiz
Seite 58
Kapitel
Kapitel
Der zweifelhafte Weg in
die schöne neue Welt
Seite 66
11
Kapitel
Kapitel
12
Im Durchgangstal
Seite 86
Lucy’s Editorial
13
Editorial
von David Höner
14
Rausch und Realität
Ein Geleitwort von Herausgeber
Roger Liggenstorfer
16
«Das Leben hat mir vieles
gegeben»
Die Offenbarung des HR Giger
im Interview mit David Höner
29
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46
Die Schattenseite der Kunst
Ein kritischer Blick von
Claudia Müller-Ebeling
«Wenn man im Paradies lebt,
will man ja nicht so schnell weg»
Ein grossartiges Gespräch mit
Albert Hofmann
Ich, Markus Berger,
Visionär & Aktivist
Selbstportrait eines Psychonauten
80
Eine Mutter auf der Suche
nach der Grenze
Iris Disse reflektiert den Drogenkonsum ihres Sohnes
86
Dort, wo die Feen wohnen
Eine Reise mit David Höner zum
Ursprung des Absinthe
92
Vom Malariamittel zum
Tonic Water
HG Hildebrandt erzählt die
Geschichte des Chinins
94
El Pepe oder die Verbesserung
der Welt
David Höner zur Mission des
uruguayischen Präsidenten
José Mujica
Legal Highs
Hans Cousto zu den neuen
psychoaktiven Substanzen
54
Drogenpolitik in der Schweiz
Thomas Kessler zur Kohärenz
in Drogenfragen
58
I de Schwiiz
Der Schweizer Rapper SKOR zur
Befindlichkeit Helvetiens
66
76
100
Der Deutsche Hanfverband
im Fernsehen
Lucy's gratuliert Georg Wurth zum
Gewinn der Millionärswahl auf Pro7
102 Lucy's Mix
104 Lucy’s Bibliothek
111 Ausblick
Die Sehnsucht nach dem Rausch
Marian Bissegger zur Drogenkultur
in unserer Gesellschaft
111 Agenda
1 1 2 Abonnement
1 12 Impressum
14
Auf die Reise gehen
mit Lucy’s
Gibt es das Traumland, wo aus Kohlköpfen Kinder
wachsen, wo eine Wunderbohne in den Himmel
wächst und wo dir der weise Elefantengott mit
dem Rüssel die letzte Kirsche vom Vanilleeis saugt?
Kann die Hexe mit den Tieren tanzen, mit dem
Besen fliegen? Kann ein Tiger Haikus dichten? Ist
das, was man im Dunkeln nicht sieht, hell und
grell? Lebt im Wandschrank wirklich ein Geist, der
am liebsten zur Melodie eines Wanderlieds mit
Murmeln spielt? Woher kommt das Knacken im
Heizkessel, und wohin geht der Lichterglanz der
Weihnachtsbäume übers Jahr?
Überströmende Gefühle beim Betrachten eines
kleinen, grünschimmernden Käfers. Mal tosende
Lebensfreude, dann abgrundtiefe Verzweiflung.
Und aus tiefster Finsternis antworten Stimmen auf
bedeutende und unbedeutende Fragen. Warum ist
die Banane krumm? Existiert Gott? Ist mein Vater
wirklich mein Vater? Bin ich von Ausserirdischen
entführt worden? Haben Lügen kurze Beine, und
wenn ja, im Vergleich zu welchen Tieren?
Meine Güte, das letzte Glas war doch eines zu viel,
oder habe ich schlechtes Aspirin erwischt? Die
haben uns etwas ins Trinkwasser getan! Also die
Strassenbahn rast heute ja geradezu vorbei. Ich
muss mich setzen, nein, stehen, oder besser laufen
oder ganz still liegen… Tauchen? Fliegen?
Oder doch am klügsten mit der Strassenbahn fahren? Ja, wo ist sie denn? Da! – Wo? Schon vorbei!
Drogen sind Alltag. Das Wissen um die Macht der
Drogen ist in jedem bewusst lebenden Menschen
vorhanden. Die gewöhnliche Anwendung, sei es ein
Glas Bier, eine Tabakpfeife oder der Genuss
einer Tasse Kaffee ist fest in unserer Kultur verankert.
Geniessen nennt man diese Konsumgewohnheiten.
Genussmittel ihre Zutaten. Drogen nennt man
die Genussmittel dann, wenn eine Grenze überschritten wird, die üblicherweise angstbesetzt ist.
Doch diese Angst lässt sich – wie die Angst vor
allem, was einen ins Unbekannte gleiten lässt –
durch Neugier überwinden.
Der drogenmündige Mensch weiss um Wirkungen
und Risiken. Er weiss, was er «verträgt». Wir sind
der Meinung, dass die Vielfalt von Angeboten,
legaler und illegaler Art, nach Information verlangt. Im Umgang mit Drogen ist Vorsicht geboten.
Doch wer den Umgang mit Drogen generell verteufelt und kulturellen und sozialen Traditionen
ihre Bedeutung abspricht, begibt sich eher in Gefahr als der bewusste Konsument.
Lucy’s ist kein Drogenratgeber. Auch kein wissenschaftliches Magazin. Es geht uns darum, das
Thema aus verschiedensten Blickwinkeln mit
Reportagen, Berichten und Bildern zu erhellen.
Neue Entwicklungen, Kunst, Musik und Literatur
gehören ebenso zum Spektrum von Lucy’s wie
Drogenpolitik und frühere oder heutige Konsumgewohnheiten.
Die Reise durch das eigene und das kollektive
Bewusstsein ist mehr als ein Zeitvertreib. Davon ist
zu berichten.
D a v i d H ö n e r, Re d a k to r
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G e l e i t w o r t z u L u c y ’s
Geleitwort zu Lucy’s
Rausch und Realität
Text
Ro g e r L i g g e n s to r fe r, H e ra u s g e b e r
Wie bitte? Ein neues Printmagazin im digitalen Zeitalter? Ist das Mut oder
einfach nur die Berauschung durch die Idee, etwas Neues zu schaffen?
Und überhaupt, was soll der Name Lucy’s? Und was hat er mit dem Verlagsprogramm des Nachtschatten Verlags zu tun?
Eingeweihte wissen: Der Name enthält eine Anspielung auf den BeatlesSong «Lucy in the Sky with Diamonds». Die Verbindung zu Albert Hofmanns
Entdeckung scheint klar, vielleicht handelt es sich aber auch um einen
Zufall – wie die Entdeckung von LSD selbst. Den Namen Lucy tragen zudem
die sterblichen Überreste des in Afrika entdeckten ersten Menschen aus
der «First Family» – des eigentlichen Urmenschen, dessen Alter auf rund
3,2 Millionen Jahre datiert wird.
Roger Liggenstorfer vor einem Bild von Fred Weidmann / Foto von Lara von Däniken
Lucy heisst aber auch einfach Licht. Und Licht ins Dunkel der Drogendiskussion zu bringen, ist eines der Ziele von Lucy’s. Seit dem SphinxMagazin, das von 1977 bis 1986 erschien, hat es kaum mehr Zeitschriften
gegeben, die unvoreingenommen über Drogen und Bewusstsein sowie
über traditionelles (schamanisches) Wissen berichteten und sich gleichzeitig
an der Zukunft orientierten. In Zukunft werden wir nämlich psychoaktive
Substanzen bewusst und gezielt einsetzen und ihr Wirkungspotenzial, ob nun
medizinisch oder rekreational, anerkennen. Davon sind wir überzeugt.
Es gibt sehr viele Hanfmagazine, die auch über Ethnobotanik und Schamanismus berichten; sie alle haben schon einiges zur öffentlichen Diskussion
beigetragen, ebenso wie einige esoterische/spirituelle Periodika mit Artikeln
zur traditionellen Ethnomedizin und den zugehörigen Ritualen – mit und
ohne Substanzen. Die Mainstream-Medien berichten zunehmend differenzierter über Drogen und Rausch, da sich die Erkenntnis durchgesetzt hat,
dass Rausch nicht zwingend mit Drogen zu tun haben muss. Es gibt substanzunabhängige Abhängigkeiten, die sogar mehr Schaden anrichten.
Der Geschwindigkeitsrausch zum Beispiel fordert mehr Todesopfer als viele
illegalisierte Substanzen zusammen.
Was Rausch ist, wird verschieden definiert und wahrgenommen. Für
Drogengegner ist der Rausch per se etwas Negatives; legale ‚Genussmittel’
tolerieren sie bestenfalls gerade noch knapp. Weltoffene Menschen dagegen
betrachten den Rausch differenzierter, sie erkennen zahlreiche mögliche
Nuancen und Variationen. Beginnt ein psychoaktiver Zustand beispielsweise
schon am Morgen beim ersten Kaffee oder erst mit dem Glas Wein zum
Mittagessen?
Rausch ist also nicht ausschliesslich substanzorientiert. Rausch ist ein
Urbedürfnis und kaum aus unserer Gesellschaft wegzudenken. Oder anders
ausgedrückt: Was würde passieren, wenn von heute auf morgen keine
Zigaretten, kein Bier, kein Kaffee und keine Psychopharmaka mehr erhältlich
wären? Unvorstellbar!
Es ist Zeit, den Fokus auf unerforschte Bereiche zu richten, kritisch zu hinterfragen, aufzudecken, Berauschendes, Nachdenkliches und Gesellschaftskritisches zu publizieren. Und es ist Zeit, sich den verschiedenen Realitäten
zu stellen und den Rausch (im rituellen Kontext) gesellschaftlich zu akzeptieren. Dazu will Lucy’s beitragen.
Realität ist wohl am schwierigsten zu definieren. Was ist meine, was ist
deine Realität? Woher kommt sie, wohin führt sie uns? Und die alte Frage
nach dem Sinn des Lebens: Was tun wir hier und jetzt in dieser Realität?
In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders (einer meiner Lieblingssätze!) –
und die drogenpolitische Wirklichkeit sieht leider trüb aus: Eine überwiegende
Mehrheit der Menschen berauscht sich gerne und regelmässig. Der Konsum
und Besitz von relativ harmlosen Substanzen kann dabei ins Gefängnis
führen. Weitaus gefährlichere Genussmittel werden dagegen breit beworben
und dürfen legal konsumiert werden. Auch das ist eine Realität – eine, die zu
ändern wäre.
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Kapitel
LK ua cpyi ’t se lI n t e r v i e w
DIE OFFENBARUNG
DES HR GIGER
E i n I nte r v i e w m i t HR G i g e r
Text D a v i d H ö n e r
«Ich kenne niemanden, der die seelische Befindlichkeit der
heutigen modernen Gesellschaft so treffend im Bild festhalten
kann wie er. Wenn in einigen Jahrzehnten vom zwanzigsten
Jahrhundert die Rede sein wird, wird man an Giger denken.»
Oliver Stone
Es ist früh an einem kühlen, regnerischen Novemberabend. Ich stelle das Motorrad ab
vor einem kleinen, bescheidenen Haus mit einem verwilderten Garten. Bäume, ein
Teich voller Laub, ein überwachsener Sitzplatz: ein fast verwunschener Ort inmitten
der wuchernden Glas- und Betongebäude der Vorstadt. (Wie sich später herausstellt,
ist es nur eines von drei miteinander verbundenen Reiheneinfamilienhäusern.)
Zürich-Oerlikon, späte Dämmerung. Hier lebt HR Giger, der Oscar-Preisträger, der
Schöpfer des Alien, der Maler des Necronomicon, einer der bedeutendsten Künstler der
schweizerischen Gegenwart. Ich klingle an der Tür, eine grossgewachsene, gutaussehende Frau öffnet mir, lächelt: Carmen, seine Frau. Danach sitzen wir am Küchentisch
und trinken ein Glas Wein.
Eine ganz allgemeine Frage zuerst: Dein Verhältnis zu Drogen. Sind sie Bestandteil des Lebens?
HR Giger: Ja und nein. Man kann sich selber besser kennenlernen, mit LSD zum Beispiel.
Gekifft habe ich nur selten, ich rauche auch nicht und nehme auch kein Kokain.
Foto: Annie Bertram
Du warst ja befreundet mit Albert Hofmann. Was war das für eine Beziehung?
Wie habt ihr euch kennengelernt?
Wir kannten ihn nur während seiner letzten Lebensjahre, haben ihn drei- oder viermal
besucht. Er war aber auch in unserem Museum in Gruyères. Ich erinnere mich, dass er
mit der Hand über die Bilder gefahren ist und sagte, man könne sich kaum vorstellen,
dass dies nur zweidimensional sei. Auch hat ihm die Bar extrem gut gefallen.
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19
L u c y ’ s I n Kt ear pv i teewl
HR Giger
HR Giger, geboren
1940 in Chur, ist
Schweizer Maler,
bildender Künstler
und Oscar-Preisträger.
Er lebt und arbeitet in
Zürich Oerlikon.
Kapitel
Konntest du mit dem LSD etwas anfangen?
Jeder, der LSD-Erfahrung hat, kann nur bestätigen, wie sehr es
alle Sinne intensiviert. Da ich als Maler vor allem ein visueller
Mensch bin, haben mich vor allem die Farben und die erweiterten, verzerrten Dimensionen begeistert.
Die Welt von HR Giger liegt in vielem ausserhalb unserer
(Normalbürger-)Wahrnehmung. Es ist, als ob du eine Tür
geöffnet hättest. Könnte man sagen, dass dabei die
erweiterte Wahrnehmung mit Hilfe des L S D eine Rolle
gespielt hat?
Das perspektivische Zeichnen hat mich schon als Knabe fasziniert. Natürlich hat mich das LSD nur schon deswegen fasziniert, weil sich meine früh wahrgenommenen «Verzerrungen»
der Perspektiven bestätigt haben.
Gibt es ein Vorher und ein Nachher? Den Blick vor und nach dem Acid?
Unbedingt. Das LSD öffnet Pforten, die «Pforten der Wahrnehmung», wie schon Aldous
Huxley sagte. Es lässt sich nicht beschreiben, man kann es nur selber erfahren.
Kannst Du umschreiben, was diese Eindrücke und Erfahrungen kennzeichnet?
Wie gesagt, es sind die Farben und Formen. Intensiv, leuchtend, plastischer auch. Eine
Art Neon-Glanz verstärkt sie. Alles beginnt zu strahlen, zu leuchten, die Dinge zerfliessen in der Bewegung.
Werden auch die Gefühle und Empfindungen verstärkt?
Du sagst es. Natürlich verstärken sich die emotionalen Zustände. Im Necronomicon
gibt es drei Ölbilder: eine Toilette, den Waschtrog und eine Badewanne. Sie drehen sich
um das Motiv der Vagina dentata (d.h. mit Zähnen), die einen verschlingen will. Es kann
durchaus beängstigend wirken, das gehört dazu.
«Bilder von Geburt und Tod, Sexualität, Folter und anderen
Formen von Gewalt, von körperlichen Ausscheidungen,
satanischen Motiven und religiösen Themen finden sich
nebeneinander oder gehen ineinander über.»
aus «HR Giger and the Zeitgeist of the Twentieth Century»
Sind es neue oder bestehende Ängste?
Es sind bestehende Dinge, die sich auf bestimmte Weise verstärken oder verändern, sie
weisen in eine Richtung. Das kann wie ein Film ablaufen, dazu leuchten die Farben, und
alles verändert sich immerzu. Und die Kontraste verschärfen sich, komplementäre
Farben tauchen auf. Wie gesagt, es lässt sich nicht beschreiben.
Und kannst du eine Idee auch noch verfolgen, wenn du in so etwas eintauchst?
Wirst du nicht abgelenkt, führt es dich irgendwo hin?
Du meinst das LSD? Wenn ich male? Nun, wie gesagt, ich habe nur sehr wenige Male
und nur während einer bestimmten Periode mit LSD gemalt, zudem immer mit einer
sehr geringen Dosis. Andernfalls ist es unmöglich.
Biomechanoid I, 1974, 20 x ×140 cm, Acryl auf Papier auf Holz
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L u c y ’ s I n Kt ear pv i teewl
Also der Weg ist kein direkter. Man nimmt eine Substanz und erst danach, quasi
in der Auswertung, wird es verarbeitet und zum Bild?
Es kann auch direkt funktionieren, man kann, vor allem mit der Spritzpistole, unheimlich schnell reagieren, darauf eingehen, auf die Bewegungen, auf die Farben. Dabei
spielt es keine Rolle, ob man ein Bild oder eine Skulptur entwickelt. Auf diese Bewegungen
einzugehen ist fast wie ein Tanz.
LK ua cpyi ’t se lI n t e r v i e w
«Landschaften aus Babyköpfen haben es mir besonders
angetan. Babys sind schön und unschuldig, und doch sehe ich
sie, in dieser riesigen Anzahl, als eine unheimliche
Bedrohung und als den Anfang von allem Übel. Als Träger
vieler Seuchen sind sie für mich prädestiniert, die
psychischen und organischen Schäden unserer Zivilisation
darzustellen.» aus «HR Giger and the Zeitgeist of the Twentieth Century»
Eine direkte Inspiration?
Und eine inspirierende Kreativität.
Als du mit Zeichnen und Malen angefangen hast, war das auch ein Abbild
dessen, was um dich herum passierte, und der Gesellschaft, in der du lebtest?
Würde ich nicht so sagen ...
Fast braucht es Mut, um diese Bilder zu verstehen.
Mut hilft nicht, etwas besser zu verstehen.
«Erkenntnisse aus der psychedelischen und der empirischen
Psychotherapie haben bestätigt, dass Gigers Verständnis der
menschlichen Psyche dasjenige von Mainstream-Therapeuten,
die die neuen Erkenntnisse noch nicht akzeptiert und in ihre
wissenschaftliche Arbeit integriert haben, bei weitem übertrifft.»
Also deine eigene Welt.
Ich habe mir meine eigene Welt kreiert. Ich bin in Chur aufgewachsen, mein Vater
kam aus Basel, die Mutter aus dem Thurgau. Als junger Mann kam ich nach Zürich an
die Kunstgewerbeschule. Ich bin ein Städter, der Bauernhof war nie meine Welt. So
sind auch meine Bilder städtisch, wenn man so will.
aus «HR Giger and the Zeitgeist of the Twentieth Century»
Zeigen sie uns auch eine Zukunft?
Ja, schon. Sie wachsen, die Städte, in den Städten leben die vielen Menschen.
In deinen Bildern spielt die weibliche Schönheit ja auch eine grosse Rolle. Hast
du auch mit Modellen gearbeitet?
Eher wenig. Es ist nicht günstig, andere Menschen um sich zu haben. Besser, man ist
alleine.
Haben sich die Städte seit deiner Jugend auch verändert?
Mir scheint, die Häuser und Strassen seien früher organischer gewesen. Doch sie sind
es immer noch, nur dass sich dann diese Biomechanik entwickelte: Maschinen und
Menschen verbinden sich, eher im negativen Sinn. Das ist heute aktueller denn je.
Ein anderer Faktor ist die Gewalt, die auch immer wieder eine Rolle spielt. Und
oft in einer sehr subtilen Form. Die Bilder der Gebärmaschine beispielsweise…
Vielleicht braucht es diese Erläuterungen einfach nicht. Etwas geschieht, und man hat
die Leinwand oder den Malgrund vor sich. Man lebt in einer Umgebung, und am Ende
spiegelt sich das wider, was man sieht, erlebt und spürt.
Hast du auch als Kind nie Blümchen oder Tiere gezeichnet?
Nein, meine Bilder und Visionen sind früh entstanden, mit etwa acht Jahren habe ich
Comics gezeichnet, viele Burgen, Indianerkämpfe, Schlösser mit Perspektiven bis hin
zu Folterwerkzeugen.
«Indem er nach der Quelle seiner eigenen Alpträume, Visionen
und beunruhigenden Phantasien suchte, entdeckte er,
unabhängig von den Pionieren der modernen Bewusstseinsforschung und der empirischen Psychotherapie, die überragende Bedeutung des Geburtstraumas.»
Menschen, Maschinen und Architektur, das sind Leitmotive in Deiner Arbeit.
Und Erotik?
In meinen Werken ist das Weibliche oft erotisch, es sind androide Schönheiten. Mir
gefällt dieses Organische, das Lebendige, der Mensch.
aus «HR Giger and the Zeitgeist of the Twentieth Century»
Und warum die Folterwerkzeuge? Ist Schmerz ein Bestandteil deiner Kunst?
Nicht wirklich. Es handelt sich eher um die Angst zu ersticken, vielleicht die Angst, die
man hat, wenn man geboren wird, wie Stan es so treffend beschreibt. Meine Bilder
sind trotzdem sehr subjektiv. Von mir geprägt.
Bist du ein politischer Mensch?
Nein. Ich habe mich davon ferngehalten. Ich bin kein öffentlicher Mensch, meine Prozesse sind innerliche, seelische. Ich nehme nicht zu konkreten Dingen Stellung. Einzig
das Thema der Überbevölkerung hat mich oft beschäftigt. Zu viele Leute – das ist das
Thema der Gebärmaschinen. Was ich darstelle, ist diese Bedrohung. Die Welt hat sich
meinem Empfinden nach in den letzten Jahren nicht verbessert.
Kannst du benennen, was sich verschlechtert hat?
Wie gesagt, zuviele Leute, zu viele Kinder, zu viele Alte: Es ist bedrohlich eng geworden...
Und in dieser subjektiven Wahrnehmung spielt auch der Tod eine Rolle.
Ja, klar, der Tod gewinnt mit dem Alter zunehmend an Wichtigkeit. Er wird interessanter.
«Gigers Kunst entstammt offenkundig den Tiefen des kollektiven Unbewussten (…) die kreative Kraft floss ganz einfach
durch ihn hindurch, und er wurde zu ihrem Instrument. (…)»
Stan Grof
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Kapitel
1
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K
L ua cpyi ’t se lI n t e r v i e w
«Der Begriff ‘Offenbarung’, in dem Sinn, dass plötzlich, mit
unsäglicher Sicherheit und Feinheit, etwas sichtbar, hörbar
wird, etwas, das einen im tiefsten erschüttert und umwirft,
beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht
nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz
leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form
ohne Zögern.» Friedrich Nietzsche
Gibt es einen spirituellen Giger?
Was meinst du damit? Religion? Religion hat mich nie interessiert, das ist zu stark
institutionalisiert, es schränkt die eigene Wahrnehmung ein. Als frei denkender Künstler
bin ich kein Anhänger solcher Einschränkungen. Vor allem das Christentum ist mir zu
dogmatisch.
Trotzdem. Gibt es bei dir ein Denken, welches über den Tod hinausgeht?
Natürlich ist die Vorstellung, dass es einmal aufhören soll, mit Angst besetzt. Doch
ich glaube nicht an eine Transformation, für mich hört es auf, es ist Schluss. Mit dem
Tode ist es vorbei, so glaube ich zumindest. Man kann sich ja in diesem Bereich nicht
sicher sein.
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(Die Katze springt auf meinen Schoss. HR lacht.) Offenbar magst du Katzen?
Katzen finde ich spannend, ich hatte immer Katzen, keine Hunde. Die kenne ich auch,
mein Vater hatte Hunde, aber die finde ich nicht so interessant.
«Möchte man Themen wie Schamanismus, Übergangsriten,
Mystik, Religion, Mythologie, Parapsychologie, Nahtoderfahrungen und psychedelisch Bewusstseinszustände seriös
studieren, so ist diese Kartographie [des Bewusstseins]
unerlässlich.» aus «HR Giger and the Zeitgeist of the Twentieth Century»
Gibt es eine Relation zum Schamanismus? Könnte man sagen, dass du einer
bist, der Dinge sieht, die andere nicht sehen, ein Magier, vielleicht ein Seher?
Vielleicht bin ich das…
Und woher kommt das?
Wer soll das wissen? Die Frage kann ich nicht beantworten. Ich habe relativ spät angefangen, da war ich 18, 20 Jahre alt, als ich begann, diese Eindrücke zu malen, zu zeichnen
und zu modellieren.
1 «Schacht Nr. 1», 1964, 21× x 15 cm, Tusche auf Papier
2 «His Master’s Voice», 1964, 30 x ×21 cm, Tusche auf Papier
3 «Schacht Nr. 4» (Macht und Ohnmacht einer Organisation),
1964, 30× x 21 cm, Tusche auf Papier
4 «Schacht Nr. 2», 19× 64, 21× x ×1 5 cm, Tusche auf Papier
Ich gehöre zur Generation, die mit deinen Bildern aufgewachsen ist. Doch
gekannt hat man dich nicht. Du bist ja auch kein Partygänger.
(lacht) Nein, absolut nicht. Aber früher tanzte ich gerne, freestyle, für mich alleine,
damals in der Platte 27, im Africana. Dort habe ich Dollar Brand gehört. Ich bin ein
grosser Jazzfan, Miles Davis hat mich immer begleitet.
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L u c y ’ s I n Kt ear pv i teewl
Kapitel
26
Hast du auch zum Arbeiten Musik gehört?
Sehr viel! Doch an Konzerte ging ich selten, zu viele Menschen, und ich war doch langsam bekannt. Man hat mich angesprochen, was ich leider ein wenig lästig fand,
einfach zu viele Leute.
Stan Grof hat ja nun dieses Buch zu deinen Arbeiten geschrieben. Kennt ihr euch
schon lange?
Lang ist relativ, seit den achtziger Jahren. Anfang der achtziger Jahre. Näher kennengelernt habe ich ihn über meine Frau Carmen, die bei ihm die Ausbildung gemacht und
für ihn gearbeitet hat.
Reist du gerne?
Nein. Meine Reisen finden vorwiegend in meinem Inneren statt. Ich bin zwar an einigen
Orten gewesen, und für ein paar kurze Aufenthalte in New York. Das hat mich beeindruckt. Der Grossstadtwahnsinn. Ich habe dann dieses Buch gemacht, das New York City
zum Thema hat.
Wie lange lebst du schon hier in Oerlikon?
Mittlerweile vierzig Jahre, und natürlich habe ich auch gesehen, wie sich hier alles
veränderte. Früher war direkt neben uns ein Bauernhof, mit Schäfchen und einer Wiese
voller Wildblumen.
«Giger wurde zum Ziel unzähliger wütender Reaktionen von
Laien. Kunstkritiker griffen ihn mit moralischen Wertungen
und psychiatrischer Stigmatisierung auf erbitterte Art
und Weise an und hinterfragten seinen Charakter, seine
Integrität und seine Zurechnungsfähigkeit. (…) Sie wären
äusserst erstaunt zu erfahren, dass Giger eigentlich ein
scheuer, sanftmütiger und liebevoller Mensch ist, der die
Kunst als Ausdruck einer Auseinandersetzung mit seinen
Angstgefühlen, Unsicherheiten und inneren Dämonen nutzt.»
aus «HR Giger and the Zeitgeist of the Twentieth Century»
Was war, von dir aus gesehen, der Höhepunkt deiner Karriere? Der Film «Alien»?
Ja, der Oscar, den ich dafür erhalten habe, war natürlich wichtig. Er hat mir bestätigt,
dass ich auf dem richtigen Weg bin. Aber eine Sache ist die Karriere, eine andere das
Schaffen an sich. Hier ist der Tempel «The Spell» eine der wichtigsten Arbeiten, auch
wenn die Symbolik oft fehlgedeutet wurde. Ich bin nämlich weder Satanist noch
Schwarzmagier.
Aber du hast diese Symbolik in deine Arbeiten einfliessen lassen.
Das hat unter anderem mit Sergius Golowin zu tun, der ein guter Freund von mir war.
Er war ein bedeutender Mythenforscher und Schriftsteller. Ihm verdanke ich einige
Inspirationen.
Bist du auch einer, der in die Natur hinausgegangen ist?
Ach ja (lacht), wenn es nicht anstrengend ist. Sonst lieber mit der Luftseilbahn. Ich
mag das Meer und die Berge. Wir hatten auch eine Zeitlang ein Ferienhaus in den
Bergen. Als Kind war ich dort zum Skifahren, im Sommer zum Wandern.
Meister und Margarita, 1976, 100×x70 cm, Acryl auf Papier auf Holz
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Lucy’s Interview
Lucy’s Interview
28
Und wenn ich dich nach den Menschen frage, die dich beeinflusst haben, wer
kommt dir da zuerst in den Sinn?
Vom Menschlichen her ist da sicher Timothy Leary, der ein guter Freund von mir war.
Ich habe sogar Unterschriften für ihn gesammelt, als er hier im Exil war. Er wurde verfolgt und flüchtete darum in die Schweiz. Die Unterschriften habe ich gesammelt, um
ihm seinen Aufenthalt hier in der Schweiz zu ermöglichen. Er machte mir mal ein
bemerkenswertes Kompliment: «Giger, du siehst weiter als wir anderen gewöhnlichen
Primaten.» Er schrieb für zwei meiner Bücher die Einleitung.
«Wie Hieronymus Bosch, wie Pieter Bruegel zeigt uns Giger
gnadenlos den Anabolismus und Katabolismus unserer
Realitäten. In diesen Gemälden sehen wir uns selbst als kriechende Embryos, als fötale, von unseren Ego-Membranen
geschützte Larvenkreaturen, wie wir auf den Moment unserer
Befreiung und Wiedergeburt warten. Wir sehen unsere Städte,
unsere Zivilisationen als Insektenschwärme, als Ameisenkolonien, bevölkert von krabbelnden Kreaturen.» Timothy Leary
Gibt es noch andere?
Es sind zu viele, als dass ich sie hier alle aufzählen könnte. Salvador Dali zum Beispiel.
Ich lernte ihn kennen, und wir schätzten uns gegenseitig. Ich besuchte ihn in seinem
Museum. Er nannte mich immer den «Autrichien», weil er meinte, ich sei Österreicher.
Bei einem Besuch in seinem Museum – er sass neben seiner Frau Gala auf zwei hohen
Stühlen – winkte er mich herbei und bat mich, ihren Platz einzunehmen. Es war eine
ganze Menge Leute da. Ich empfand das als grosse Ehre, eine Anerkennung.
Ein Freund von mir erzählte mir, dass er als Gymnasiast einen Vortrag über dich
gehalten hat. Du hast ihm bei seinem Besuch einen Schrumpfkopf gezeigt. Hast
du den noch?
Den habe ich vor langer Zeit gekauft, sicher vor mehr als dreissig Jahren, von einem
Schweizer, der diese Länder bereiste. Es ist ein kleiner Kopf von einem Buben mit kurzen
Haaren, irgendwo aus Südamerika. Das sind natürlich faszinierende rituelle Gegenstände.
Konnte dir deine Kunst das Leben erleichtern?
Ich habe Freude am Leben, bin lebensfroh, esse gerne, trinke gerne. Das Leben hat mir
vieles gegeben.
«Gigers entschlossene Suche nach kreativer Selbstentfaltung
ist untrennbar mit seiner unerbittlichen Suche nach seinem
Selbst und der Selbstheilung verbunden.»
aus «HR Giger and the Zeitgeist of the Twentieth Century»
Hast du auch mal Musik gemacht?
Ich spielte Sopransaxophon. Und etwas Piano…
Ich finde ja Essen auch immer wichtig. Was sind denn so deine Lieblingsgerichte?
Ja, das Essen, klar ist es wichtig. Carmen kocht wunderbar. Ich selber mache wenig in
der Küche, vielleicht mal ein Fondue oder eine Pizza, aber essen tu ich gerne. Alles,
was gut ist.
HR Giger and the Zeitgeist of the Twentieth Century
Betrachtungen aus der modernen Bewusstseinsforschung
von Grof Stanislav
Stanislav Grof, der Pionier der Bewusstseinsforschung, interpretiert in seinem einzigartigen
Essay HR Gigers visionäre Welt erstmals aus der
Sicht der transpersonalen Psychologie. Bisher
wurden die Bilder HR Gigers in allen Variationen
beschrieben, nie aber die gesellschaftliche Relevanz seiner Kunst. Mit seiner Deutung der klaustrophobischen, albtraumhaften Aspekte in Gigers
Kunst ermöglicht Grof ein neues, tieferes Verständnis des Gesamtwerks. Mit einem Vorwort von
Claudia Müller-Ebeling (Kunsthistorikerin).
ISBN 978-3-03788-300-6
248 Seiten, Format 24x24 cm, Hardcover,
deutsch/englische Ausgabe
limitierte und nummerierte Sonderausgabe:
ISBN 978-3-03788-301-3, 248 Seiten,
Format 24x24 cm, deutsch/englische Ausgabe
Leinenausgabe inkl. Fine Art print des Titelbildes
Inspiriert vom Buch wurden folgende
Absinth-Sorten produziert:
HR Giger – Zeitgeist, 54 Vol%
HR Giger – Wolfsmilch, 69 Vol%
Original aus dem Val-de-Travers (CH).
www.nachtschatten.ch/giger
Psychoaktive Standardwerke aus dem AT Verlag
Dieter Hagenbach/Lucius Werthmüller
Albert Hofmann und sein LSD
Ein bewegtes Leben und eine bedeutende Entdeckung
406 Seiten, gebunden
978-3-03800-530-8
CHF 44.90
Wolfgang Maria Ohlhäuser, Am Rand des Wahnsinns, 1975
Kritischer Blick
auf die Schattenseite
der Kunst
Christian Rätsch
Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen
Botanik, Ethnopharmakologie und Anwendung
944 Seiten, gebunden
978-3-03800-352-6
CHF 129.–
Text
Ab 1948 gerieten vor allem phantastische Künstler
des realistischen Stils in eine Isolation, weil man
allgemein beweisen wollte, in den Jahren des
Krieges nicht «hinter dem Mond» geblieben zu
sein. Der abstrakten Malerei gehörte die Zukunft.
Alle malten abstrakt, weil sie, so der Vertreter
der Wiener Schule des phantastischen Realismus,
Ernst Fuchs, der Meinung waren, «dass von nun
an die Malerei der Zukunft nie wieder figürliche
Darstellungen zeigen würde.» 1
Rick, Strassman
DMT
Das Molekül des Bewusstseins. Zur Biologie von
Nahtod-Erfahrungen und mystischen Erlebnissen
464 Seiten, gebunden
978-3-03800-967-9
CHF 36.90
A T V ERLAG
www.at-verlag.ch
Claudia Müller-Ebeling
A T
Die Vehemenz, mit der Kritiker auf das Werk
visionärer Künstler reagieren, entbehrt jeglichen
guten Tons und Feingefühls. Anlässlich der
Retrospektive des Gesamtwerkes von Alex Grey
1977 in San Diego, USA, beklagte die Kunstkritikerin Leah Ollman einen «illustrativen Overkill»,
der Greys Werk heimsuche. Sie beschimpfte es als
«lächerlich» und bezichtigte seine Kunst als
unerträgliches Repertoire von «New-Age-Klischees». 1 FUCHS, München, Zürich: Piper 1977: 45
Warum werden Reaktionen von Kritikern nicht
von der gleichen dezenten Zurückhaltung bestimmt, die sie beispielsweise der radikal abstrakten Kunst des holländischen Malers Piet Mondrian
(1872 –1944) entgegenbrachten, obgleich dessen
künstlerischer Stellenwert erst nach seinem Tod
erkannt wurde? Verursachen die oft unbekümmert vernachlässigten Grenzen zwischen Kitsch
und Kunst der meist gegenständlichen visionären
Kunst das Unbehagen? Obliegt die Kritik dem
Bann der Originalität und den Gesetzen des
zeitgenössischen Kunstmarkts oder lösen Konfrontationen mit dem innerpsychisch «Eingemachten» derartige Eruptionen unterhalb der
Gürtellinie aus? Entscheiden Sie selbst …
Die Wiege der Inspiration
Inspirationen werden im weiten Raum des
Bewusstseins geboren. Zunächst bevölkern sie
körperlos die (vom jeweiligen Zeitgeist sowie von
31
Kapitel
Lucy’s Kunst
Ansichten und Moden) jeweils geschichtlich
entstandene, durch Zeiten, Kulturen, Ansichten
und Moden geprägte Lebenssphäre eines
Künstlers, jenseits von stilistischen Ausrichtungen
und künstlerischen Ambitionen und Positionen.
Dann geraten sie in den Geburtskanal. Manchmal
reifen Inspirationen in Minutenbruchteilen
zur Kunst. Aus Ideen werden Skizzen – aus Skizzen
Entwürfe – aus Entwürfen Kompositionen – aus
Kompositionen Bilder.
Schon immer liessen sich Künstler von zufälligen
Gebilden in Wolken, Baumrinden, Mauern
oder abblätterndem Putz inspirieren und konkretisierten diese vagen Motive dann zu Bäumen,
Schlössern und Gestalten. Etwa der französische
Dichter Victor Hugo (1802–1885), der auch
als Zeichner reüssierte und dem der Romantiker
Théophile Gautier nachsagte, er habe aus Tintenoder Kaffeeklecksen Landschaften entstehen
lassen. Der Surrealist Max Ernst (1891–1976) entwickelte 1925 die Technik der Frottage, bei der
er durch Durchreiben mit Graphit die unterlegte
Maserung von Hölzern oder Blättern sichtbar
machte und in den Dienst der phantastischsurrealen Gestaltung stellte. Der zeitgenössische
Künstler Fred Weidmann2 stellt marmorierte
Untergründe her, die er zu phantastischen
Szenerien ausarbeitet. Wolfgang Maria Ohlhäuser
lässt sich durch zufällige Strukturen in den Untergründen seiner aufwändigen Eitemperatechnik
zu grossformatigen Landschaften inspirieren,
die bei näherer Betrachtung von phantastischen
Wesen bevölkert sind.3 Die Künstlerin Nana
Nauwald versenkt sich in den schwarzen Malgrund, mit dem sie ihre Leinwände bedeckt,
um die leuchtend farbigen Strukturen
des unsichtbaren Raums hervorzulocken.4
Meist sind die visionären Szenarien Künstlerinnen
und Künstlern geradezu in die Netzhaut eingebrannt und müssen, salopp vereinfachend gesagt,
nur noch abgemalt werden. Der Schweizer Künstler
HR Giger erklärte in einer Fernsehdokumentation:
«Wenn ich die Augen schliesse sehe ich etwas
ganz Phantastisches. Eine unwirkliche Architektur.» Künstler wie Giger werden von diesen
Visionen heimgesucht und so lange umgetrieben,
bis sie sich in Graphiken oder Gemälden niederschlagen. Andere müssen sich leer und frei
Der Mikrokosmos Mensch verschmilzt mit dem Makrokosmos des Universums.
Christian Rätsch, Hommage à Albert Hofmann, Aquarell, 1982
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machen, damit sie die Muse küsst. Ohlhäuser
sagt: «Ich kann mich in meine Bildwelten nur
vertiefen, wenn ich völlig ungestört von äusseren
Einflüssen und Ablenkungen bin. Sonst kommen
die Musen nicht. Sie kommen nur, wenn ich leer
bin. Nur ein leeres Gefäss kann gefüllt werden.»
Visionen lieben die Dunkelheit. Sie entfalten sich
vornehmlich in der Nacht. Sie zeigen sich bei
geschlossenen Augen und breiten ihre phantastischen Szenerien im Innern des Menschen aus.
Visionen – so wissen wir aus den Erzählungen
der Prärieindianer, die auf Visionssuche gingen,
oder aus den Überlieferungen von Einsiedlern –
überfallen den Menschen in nächtlicher Einsamkeit. Sie kommen, wenn die Katzen nicht grau
sind, wie es heisst, sondern wenn ihre Augen
im Dunkeln glühen wie Kohlen. Diese opalisierenden Katzenaugen gleichen den Visionen. Sie
schillern in vielen Farben und sind von einem
inneren Licht erfüllt. Visionen bahnen Wege
ins Bewusstsein. Sie führen durch die Gesichte
der Dunkelheit in das Labyrinth der Erscheinungen. Dorthin, wo Gedanken zu Bildern und
Nachtgesichte zu farbenprächtigen und taghellen Wirklichkeiten werden. Das haben Hildegard von Bingen, die «Seherin vom Rhein»,
Prärieindianer und auch der Psychiater Arthur
Heffter gleichermassen beschrieben.Der Ort,
wo Gedanken zu Bildern werden, ist das Reich
der Visionen. Die Bilder stammen zwar aus
iner «anderen» Wirklichkeit, doch gehören sie
zu dieser Welt. Wie die Nacht zum Tage.
Dieser (gekürzte und redigierte) Text basiert auf einem Kapitel
aus: Claudia Müller-Ebeling, Ahnen, Geister und Schamanen –
Universale Zeichen, Klänge und Muster der unsichtbaren Welt,
2010 Aarau/ München: AT-Verlag.
Claudia Müller-Ebeling
Studierte Kunstgeschichte und Ethnologie in Freiburg,
Hamburg, Paris und Florenz. Die Autorin und Referentin
promovierte in Kunstgeschichte über «Visionäre Malerei in
Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts» und lebt in Hamburg.
www.claudia-mueller-ebeling.de
2 Siehe www.fredweidmann.com 3 Ohlhäuser lernte die alte Technik der Niederländer von Ernst Fuchs. Siehe: Retrospektive W.M.
Ohlhäuser. 27 Jahre künstlerischen Schaffens 1975–2001, Kulturstiftung Rhein-Neckar-Kreis e.V. 2001. 4 Siehe www.visionary-art.de
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Lucy‘s Interview
«Wenn
man im
Paradies
lebt,
will man
ja nicht
so schnell
weg»
Albert Hofmann
Lucy’s Interview
Ein Gespräch mit
Albert Hofmann
(1906 –2008)
dem Schweizer
Wissenschaftler,
Autor und
Entdecker des LSD.
Das Gespräch führten
Mathias Bröckers
und Roger Liggenstorfer
im August 2005.
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35
Lucy’s Interview
Was uns alle am meisten interessiert: wie man 100 Jahre alt wird. Welche Methoden – oder Tricks – hast du angewendet, um ein solches Alter zu erreichen und so
rege und geistig wach zu bleiben? Das kann man nicht planen. Ich hatte irgendwie
immer wieder das Glück, Positives zu erleben. Wenn etwas Negatives kam, dann kam,
sozusagen wie vom Himmel, wieder etwas Positives. So hat sich das immer wieder
ausge-glichen. Ich glaube, dass ich die Gnade hatte, offene Sinne zu behalten, und
unser Bewusstsein wird ja von den Sinnen genährt. Ich habe bis heute keine Brille und
keine Hörgeräte. Ich habe wirklich das Gefühl, dass ich auf die Natur höre, auf das, was
uns gegeben ist. Deshalb bin ich auch so skeptisch gegenüber dieser technischen Kultur, weil: Wir verpassen ja das Paradies! Wir vermauern und verbrettern unsere Sinne
mit dieser Technisierung. Ich bin noch zu Hause in der Natur, nicht in der technischen Welt.
Ich glaube, das ist einer der entscheidenden
Fehler unserer heutigen Welt: Wir kommen immer mehr ab von dem, was da ist, von diesem
grossen Geschenk, wir nehmen es nicht einmal
mehr wahr. Wir rackern uns ab mit technischen Problemen. Wenn ich in der Stadt hätte
leben müssen, wäre ich mit Sicherheit schon lange gestorben, schon lange tot. Ich
habe das Glück, dass ich hier auf der Rittimatte im Paradies lebe – und wenn man im
Paradies lebt, will man ja nicht so schnell weg.
Sehen, was wichtig ist und
von was wir eigentlich leben:
von der Natur oder von der
Maschine, von der Technik?
Hat auch das LSD dabei eine Rolle gespielt, dass du so lange geistig wach und
jung geblieben bist? Ich müsste zwei Leben haben, um das zu beantworten: eines mit
und eines ohne LSD. Dann könnte man das wissenschaftlich beurteilen. So kann ich
das ja nicht. In meinem Buch LSD – Mein Sorgenkind steht ja am Anfang dieses mystische Naturerlebnis als Kind, das ja absolut einem LSD-Erlebnis glich, dieses Einssein
mit der Natur. Irgendwie, glaube ich, war mir das angeboren.
Zum ersten Mal hergestellt 1938 und dann in der Schublade verschwunden – und
1943, bei einer Frühstückspause mit Milch und Honigbrot im Labor, kam dir die
Idee, dass an dieser Verbindung möglicherweise etwas dran sein könnte, und bei
der erneuten Herstellung geschah dann die Entdeckung der erstaunlichen Wirkung … zum selben Zeitpunkt, als gerade die erste Atombombe konstruiert wurde, auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs. Du warst zu dieser Zeit auch
Offizier in der Schweizer Armee und musstest monatlich zum Dienst bei der
Grenzsicherung? Ja, immer für drei Monate war ich weg, im Tessin, die Südgrenze
bewachen, gegen Mussolini.
Und hast mitten im Krieg die Substanz entdeckt, die als «geistige Atombombe»
bezeichnet wurde. Würdest du die alte Hippie-Parole unterschreiben, dass, wenn
alle Generäle einen erfolgreichen LSD-Trip unternehmen, mehr oder weniger automatisch der Weltfrieden eintritt? Das kann ich auch nicht beantworten. Man müsste es wissenschaftlich untersuchen. Aber ich denke, es wäre einen Versuch wert. In
diesem Zusammenhang fällt mir eine Geschichte ein: Irgendwann kam einmal eine
junge Frau in mein Laboratorium. Ich fragte sie, wie sie hier in die Fabrik überhaupt
hineingekommen sei, und sie antwortete auf Englisch: «I can pass everywhere, I am an
angel.» Und sie sagte: «Sie müssen mir helfen, dass der amerikanische Präsident LSD
bekommt.» Sie hiess Johanna, wie die heilige Johanna der Franzosen. Ich wunderte
mich immer noch, wie sie überhaupt in das Sandoz-Gebäude hineingekommen war.
Aber ich konnte ihr natürlich nichts geben.
Lucy’s Interview
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In den 70er Jahren hast du mit Gordon Wasson und Carl Ruck in einem Buch
(«Der Weg nach Eleusis») das Geheimnis der Eleusischen Mysterien gelüftet, mit
der These, dass im Mittelpunkt dieses Rituals, der wichtigsten spirituellen Instanz des gesamten antiken Abendlands, ein LSD-Erlebnis stand. Auch die dort
Initiierten sprechen von einem neuen Verständnis des Einsseins mit der Natur,
des Lebens und des Todes. Könnte es sein, dass die Vermauerung der Sinne durch
Technik, die wir angesprochen haben, damit zu tun hat, dass mit dem Abbruch
dieser Tradition auch ein Faden gerissen ist, der unmittelbare Kontakt mit der
Natur? Das ist sicher so. Die grossen Geister, Staatsmänner und Philosophen, die
gesamte Elite jener Zeit, waren mindestens einmal im Leben in Eleusis. Wir müssen
wieder lernen, überhaupt wahrzunehmen, was die Natur, die Schöpfung ist. Ich habe
das in meinen beiden Büchlein Einsichten, Ausblicke und Lob des Schauens angesprochen: wir müssen wieder sehen lernen. Sehen, was wichtig ist und von was wir eigentlich leben: von der Natur oder von der Maschine, von der Technik? Ich habe dort
gezeigt, wie wunderbar die Natur ist und wie unfassbar, allein der Aufbau und die
Planung der Organismen, die Schöpfung! Wenn der Naturwissenschaftler kein Mystiker
wird, ist er kein Naturwissenschaftler. Und das ist es ja auch, was die Menschen in
Eleusis erlebten: Erleuchtung. Erkennen, was wichtig ist. Zu meinen schönsten Erlebnissen zählte immer wieder, wenn junge Leute zu mir kamen. Einmal kam ein junger
Mann, der sich bedankte und sagte: «Ich bin in der Stadt aufgewachsen, doch seit ich
einmal LSD genommen habe, gehe ich wieder in den Wald.» Er hat erkannt, was wirklich wichtig ist: nicht die Häuser, Fabriken, Büros, das brauchen wir und benutzen wir,
aber das, wovon wir leben, ist die Sonne und der Mond und die Erde, die Wiesen und die
Blumen. All das, was wächst, das Lebendige. Das ist es, was wir brauchen. Was der
Mensch gemacht hat, ist wunderbar, aber sekundär. Und er macht so tolle Sachen,
dass es ihm schadet. Wenn man sich jetzt nicht mehr in die Augen schauen muss,
wenn man miteinander redet, wenn man mehr
und mehr der Maschine überlässt, die immer
perfekter wird, was soll das dann werden? Wir
haben nur ein Bewusstsein – und das ist entweder angefüllt mit dem Leben der Maschinen
oder dem Wunder der Natur. Um diese wieder
sehen zu lernen, muss eine Veränderung des
Bewusstseins eintreten. LSD ist das stärkste
Instrument für eine Bewusstseinsveränderung. Unser Bewusstsein setzt sich aus all
dem zusammen, was wir mit den Sinnen aufnehmen, an Licht, Wärme, Nahrung, aus
dem, was ich sehe, höre, esse und so weiter. Das ist eine ganze Menge, die da aufgenommen wird. Von LSD jedoch braucht es nur eine Spur, ein winziges Staubkörnchen.
Das verändert unser Bewusstsein völlig. Unsere Welt ist aus Energie und Materie aufgebaut. Doch mit solch einer winzigen Spur von äusserlicher Substanz, die unser Inneres
so verändert, sind wir an der Grenze von Geist und Materie. Das ist etwas ganz Einmaliges. Es ist in diesen Pflanzen enthalten, die seit 3000 Jahren als sakrale Drogen verwendet werden – in denen ich dann diese LSD-ähnlichen Verbindungen entdeckt. Deshalb gehört auch LSD in die Gruppe der sakralen Drogen. Aber jetzt fange ich an zu
erzählen, was ich in den Büchern schon alles und viel besser geschrieben habe.
Dann kam das Verbot. Schon
die Herstellung ist verboten.
So wie Besitz und Anwendung:
ein Totalverbot.
Nein, nein, wir sind begeistert, es noch einmal zu hören, und du erzählst wunderbar. Ich würde auch gern noch etwas zu dem Modell des Bewusstseins hören, das
mir in seiner Einfachheit sehr eingeleuchtet hat und das du Sender-EmpfängerModell genannt hast? Der ganze Planet als Sender und jedes einzelne Bewusstsein
als Empfänger? Unsere Sinne sind die Antennen, darüber kommt alles herein, das
Bewusstsein ist der Empfänger. Alles, was wir im Bewusstsein haben, ist irgendwann
37
Lucy’s Interview
einmal durch die Sinne hineingekommen. Bei Geburt ist es gleichsam ein leeres
Bewusstsein und wird dann durch all das gefüllt.
Und ein paar Millionstelgramm LSD verändern die Wahrnehmung dramatisch. Es
ist nicht nur einfach das bekannte Bild, ein bisschen verzerrter oder bunter. Ist
es ein völlig anderes Programm? Weil LSD unsere Sinne verändert, man sieht besser,
man hört besser, alles wird intensiviert. Insofern hatte auch Timothy Leary recht, als er
behauptete, es sei auch das grösste Aphrodisiakum. Der Mechanismus des LSD ist ganz
einfach: Die Tore der Wahrnehmung werden geöffnet, und wir sehen plötzlich mehr.
Von der Wahrheit.
Und das ist manchmal sehr verwirrend … Ja, man erschrickt. Man hat ein völlig
anderes Bild, und das kann einen furchtbar erschrecken. Deshalb sagen die Indianer:
Bevor ich den heiligen Pilz nehme, muss ich fasten, muss beten, muss rein sein, dann
bringt mich der Pilz dem Göttlichen näher. Und wenn ich das nicht mache, tötet er
mich oder macht mich wahnsinnig. Das haben die Indianer gesagt, lange, lange bevor
LSD und Psilocybin entdeckt wurden. Und die amerikanische Jugendbewegung, die es
ja gut meinte, hat sich daran nicht gehalten, sie haben es zu oberflächlich genommen,
sie haben sich nicht vorbereitet.
Dieses alte Wissen wurde anfangs nicht vermittelt, die meisten, die LSD nahmen,
wussten nicht, was es ist, und kamen erst mit der Zeit dazu, damit richtig umzugehen … Das ging alles zu schnell. Es hätte sich entwickeln müssen, die Erkenntnis,
dass es etwas Sakrales ist, das heisst, die Wiederentdeckung, denn eigentlich ist es
schon seit mindestens 3000 Jahren bekannt, dass es etwas Besonderes ist.
Das haben Tim Leary und seine Kollegen in Harvard, Ralph Metzner und Richard
Alpert, ja eigentlich auch getan, sie haben auf die Wichtigkeit von «Set & Setting»
hingewiesen und das alte Ritualwissen gewissermassen in die Neuzeit transportiert. Aber Leary hat LSD gleichzeitig – typisch amerikanisch – auch angepriesen
wie ein Wanderprediger oder Handelsvertreter. Er hat es ja jedem geradezu aufgedrängt. Etwas, was ich nie getan habe. Dennoch bin ich überzeugt, dass die Menschheit lernen wird, damit umzugehen in Zukunft. Und wenn man überlegt wie so ein
modernes Eleusis aussehen könnte, dann wäre das zuerst ein Ort, eine schöne natürliche Umgebung, in der man Meditationsferien macht, wo man fastet, ruht und betet,
sich vorbereitet. Und wo dann solche Substanzen ihrem Sinn entsprechend angewendet werden. Der Priester von Eleusis wusste, weil jeder einen Vorbereitungskurs machen
musste, die richtige Dosierung für jeden Einzelnen. Wir wissen ja heute eigentlich auch
alles, um dafür zu sorgen, dass es nie einen schlechten Trip gibt.
Parallel mit der psychedelischen Bewegung ab Ende der fünfziger Jahre hat ja
ohnehin eine Hinwendung zu östlicher Philosophie, Meditation, zur Ökologie und
Natur stattgefunden. Glaubst du, dass LSD dabei eine Rolle gespielt hat? Es hat
viele Leute auf gute Ideen gebracht, und diejenigen, die zur Natur zurückgefunden
haben, sind gerettet. Manche sind aber auch in der Hölle gelandet und kamen nicht
mehr raus. Viele aber haben etwas entdeckt, was es in unserer Gesellschaft fast gar
nicht mehr gibt: das Heilige.
Hat dieses Heilige mit dem, was unsere Kirchen verwalten, etwas zu tun? Ich
glaube sehr viel, wenn man sich an Jesus hält. Ich bin Christ, und Jesus hat gesagt:
«Seht die Lilien auf dem Felde, sie sind wunderbarer als der Palast von David, seht die
Vögel … der Vater im Himmel sorgt für sie.» Er hat die Händler und Schriftgelehrten aus
Lucy’s Interview
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dem Tempel gejagt und gesagt: «Geh in dein Kämmerlein und in den direkten Kontakt
zu Gott.» Nur der einzelne Mensch kann in Kontakt zu Gott treten, nicht die Kirche.
Nur der Einzelne kann sehen, kann erfahren, hat ein Bewusstsein, das die Welt, wie wir
sie sehen, hervorzaubert. Auch bei diesem Kontakt mit Gott geht es ja um unser
Bewusstsein, deshalb ist die wissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins so wichtig. Damit stehen wir noch sehr am Anfang, und das LSD ist das wichtigste Mittel dazu,
ein Werkzeug. Aber wie gesagt, wir stehen
noch ganz am Anfang in der Bewusstseinsforschung. Und ich hoffe sehr, dass sie weitergeht, denn wir brauchen eine Art neues Eleusis,
sonst wird unsere Welt untergehen. Unsere
politischen Führer heute wissen doch nichts,
sie wissen nicht, was auf der Erde wichtig ist,
sie haben kein Wissen, was der Mensch wirklich braucht, dass er von und in der Natur lebt.
Aber dieses Wissen müssen wir wiedergewinnen, wenn die Menschheit nicht untergehen
soll. Der Naturwissenschaftler, der dieses Wunder nicht sieht, nimmt sich nur etwas
von der Mechanik der Natur, das, was er für seine Technik brauchen kann. Und dann
macht er Waffen daraus, die Atombombe. Dabei könnten wir aus der Erde einen Paradiesgarten machen, es wäre alles dafür da, die Methoden, die Hilfsmittel … Nur da
fehlt es noch: am Bewusstsein.
Wir könnten aus der Erde
einen Paradiesgarten
machen, es wäre alles dafür
da, die Methoden, die
Hilfsmittel … Nur da fehlt
es noch: am Bewusstsein.
Ich würde gerne noch über deine Wegbegleiter und Freunde sprechen. Du hattest
ja mit vielen Persönlichkeiten zu tun, wie zum Beispiel mit Ernst Jünger, mit dem
zusammen du auch LSD-Reisen gemacht hast? Mit Jünger verband mich eine über
50-jährige Freundschaft, ich war einer der wenigen seiner Freunde, mit denen er per Du
war; mit Klett zum Beispiel, seinem Verleger, war er auch sehr verbunden, aber sein
Lebtag per Sie. Diese LSD-Versuche mit Jünger habe ich ja ganz ausführlich beschrieben; wenn ich das jetzt alles erzählen wollte, sässen wir morgen früh noch hier.
Mit Laura Huxley, der Frau von Aldous Huxley, verbindet dich ja auch eine lange
Freundschaft. Sie gab ihrem Mann, als er starb, auf seinen Wunsch LSD. Huxley
benutzte es sozusagen zum Übergang in einen anderen Bewusstseinszustand, er
war überzeugt, dass die Seele nach dem Tod weiterlebt. Wie stehst du zu dieser
Art von LSD-Verwendung, gewissermassen als Sterbehilfe? LSD wurde schon vor
Jahrzehnten in dieser Richtung verwendet, bei sterbenden Krebskranken, wo selbst
Morphine nicht mehr gegen die Schmerzen wirkten. Ich bin überzeugt, dass das künftig auch ein Thema werden wird, dass man mit LSD diesen Übergang erleichtern kann.
Nichts kann aus Nichts entstehen, und aus etwas, was ist, kann nicht nichts werden,
es gibt nur Umwandlungen. Irgendwann hat jemand Jünger gefragt: «Glauben Sie,
dass das Leben nach dem Tod weitergeht?» und er antwortete: «Nein, ich weiss es!»
Das kann man auch als Naturwissenschaftler verstehen. Wir können nicht sagen,
woher wir kommen. Dass irgendeine Supermaterie am Anfang stand und dann knallte
und den Raum erzeugte: Das ist doch alles dummer Mist. Darüber wissen wir nichts,
das ist das grosse Wunder. Aus unseren Erfahrungen können wir nur sagen: Es gibt
nichts, das aus Nichts entsteht, und nichts, das zu Nichts zerfällt. Es gibt immer nur
den Wandel. Wenn man die Naturwissenschaft und alle ihre Entdeckungen weiterdenkt, stösst man immer wieder auf ein Geheimnis. Ich habe unlängst eine CD mit den
Vorträgen Einsteins gehört, dort spricht er darüber. Er sagt wörtlich, ich habe mir den
Satz gut gemerkt: «Das Schönste und Tiefste, was ein Mensch erfahren kann, ist das
Gefühl des Geheimnisvollen.» Wenn man in das Tiefste der materiellen Wirklichkeit
«Aufgrund dieses leider etwas
dramatisch ausgefallenen
Möchten Sie gerne weiter
lesen?
Selbstversuches
kann gesagt
Unterstützen Sie unser
Magazinwerden,
dass das d-LysergProjekt und kaufen Sie die
Nullnummer.
säure-diäthylamid
eine der
physiologisch wirksamsten,
Herzlichen Dank!
wenn nicht die wirksamste
bis anhin bekannte Substanz
darstellt.»
2
1
Albert Hofmann aus dem Original-Protokoll S. 76 –77
4
6
Kapitel
Kapitel
2
ive Zustände
Gesellscha ftsmagazin für psychoakt
– eine Betracht ung
Die berauschte Schweiz
HR Giger – das Interview
die Psychona uten
Albert Hofman n – und
de Travers
Val
im
Absinthe – Besuch
ven
Legal Highs – falsche Perspekti
Lucy’s Rausch
Erscheinung halbjährlich, 120 Seiten
Bestellung unter
[email protected]
www.lucys-magazin.com
Über gut sortierte Buchhandlungen
und Shops erhältlich
4
3
7
Preis Einzelnummer
CHF 12.50 / EUR 10.–
8
Einsteiger-Abo
Nr. 1–3 zusammen CHF 35.– / EUR 27.–
Gratis zum Abo ein Hörbuch nach Wahl:
Hofmanns Reisen
Innere & äussere Reisen
des LSD-Entdeckers Albert Hofmann
(Bröckers /Liggenstorfer)
9
5
1 Bei der Mühle im Surbtal bei der Wandervogelhütte,1919 2 Mit Kommilitonen an der Universität, 1927 3 Im Forschungslaboratorium, chemisch-pharmazeutische Abteilung 4 Für die Schweizer Armee am Minenwerfer, 1939 5 Familie Hofmann, 1950 6 Dr. H. Nobel, Dr. A. Bruck, Kultur von Psilocybe mexicana, im Sandoz-Labor, 1959 7 Besuch von
Aus dem Familienalbum:
Den Kopf aufmachen
Eine psychedelische Reise ins Herz des
Schamanismus
(Daniel Pinchbeck)
10
Gönner-Abo
6 Nummern für CHF 250.– / EUR 200.–
inkl. Gratis-Mitgliedschaft im NachtschattenMember-Club im Wert von CHF 100.– / EUR 80.–
Gordon Wasson, dem amerikanischen Banker und Ethnomykologen,
im Labor L 315, in dem das Psilocybinsowie
entdeckt
(www.nachtschatten.ch/member)
mitwurde, 1959 in der Nähe der Rittimatte, 2002 9 Albert Hofmann am
Fotos von Roger Liggenstorfer: 8 Mit DJ Goa-Gil bei einer Techno-Party
beiden Hörbuchern.
Telestrion in Eleusis, 2000 Foto: Hansjörg Sahli: 10 Feier zu seinem 90. Geburtstag, im Teufelhof Basel, 1996.