Zahnlos in der Steinzeit

Transcription

Zahnlos in der Steinzeit
ARCHÄOLOGIE
Zahnlos in der Steinzeit
Paläontologen entdecken den ersten Beweis von Nächstenliebe
Von Angelika Franz
Wir kennen den Kaukasus aus den Abendnachrichten nicht gerade als einen Hort der
Menschlichkeit. Im Norden prügeln sich Russen und Tschetschenen. Im Süden streiten
Armenien und Aserbajdschan um Berg-Karabach. Doch das war nicht immer so. In der Region,
die heute finstere Bilder in die Wohnstuben liefert, fand unlängst ein internationales
Ausgräberteam den ältesten Beweis für die Fürsorge und liebevolle Pflege unter Hominiden.
Der Akt der Nächstenliebe liegt jedoch mittlerweile fast 1,8 Millionen Jahre zurück. Damals
lebte Individuum D3444/D3900 (so der wissenschaftliche Name des Findlings) offenbar munter
in den Hochwäldern von Georgien, obwohl ihm eigentlich das Leben verwehrt geblieben wäre.
Denn Individuum D3444/D3900 war – bis auf den linken oberen Eckbeißer – zahnlos. Was uns
im Kukident-Zeitalter gerade einmal eine Diskussion über Haftungsfragen beschert, glich
damals einem Todesurteil. Die Winter an den schroffen Hängen waren lang und kalt, zu essen
gab es nur, was vom Sommer übrig blieb: getrocknetes Fleisch, getrocknete Sommerfrüchte,
harte Wurzeln – ungenießbare Kost für jemanden, dem die Mahlzähne im hinteren Kieferbereich
fehlen.
Ob der prähistorische Bergbewohner sein Gebiss durch den natürlichen Alterungsprozess oder
bei einem prähistorischen Unfall verlor, können seine Entdecker nicht mehr rekonstruieren. Die
Untersuchung der Kauleisten zeigt aber, dass er noch lange Jahre mit nur einem Zahn
weiterlebte. Die Löcher waren längst verheilt, der Kiefer hatte sich den neuen Begebenheiten
entsprechend verformt, als der Tod schließlich doch eintrat.
Aus eigener Kraft hätte der Zahnlose so lange nie überleben können. Die Beschaffung und
Zubereitung von Schonkost überstieg die Möglichkeiten und Fähigkeiten eines Einzelgängers bei
weitem. Nur Mark und Hirn von Tieren waren gerade weich genug für den geschändeten
Gaumen. Pflanzen mussten gemahlen, gekocht oder vorgekaut werden. Ohne die Hilfe seiner
Mithominiden hätte sich der Frühmensch spätestens mit dem letzten Backenzahn auch von
seinem Leben verabschiedet.
Die philanthropischen Motive jener kaukasischen Horde aber bleiben ein Rätsel. War Individuum
D3444/D3900 ein zwar zahnloser, aber immer noch potenter und somit für die Gemeinschaft
unverzichtbarer Jäger? Handelte es sich um einen milden Greis, den man aus Ehrfurcht
durchfütterte? Letzteres halten die Forscher für wahrscheinlicher, beweisen können sie es
jedoch nicht.
So bleibt den Paläontologen nur, gespannt auf den ersten Fund einer urzeitlichen Schnabeltasse
zu warten – oder auf die Bergung eines versteinerten Skeletts mit Arthrosestrümpfen. Vielleicht
wurde das Rad ja gar nicht für Transport- oder Streitwagen erfunden, sondern für das bessere
Vorankommen prähistorischer Rollstühle.
(c) DIE ZEIT 14.04.2005 Nr.16