Zugverlauf - Baden

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Zugverlauf - Baden
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Jedes Jahr machen sich tausende von Zugvögeln auf eine lange und beschwerliche
Reise. Weißstörche, Schwalben und andere Vogelarten nehmen einen mühsamen Flug
auf zu ihnen auf rätselhafte Weise wohlbekannte und vertraute Winter- und Sommerquartieren. Auf dieser oft mehrere tausend Kilometer umfassenden Flugstrecke ist es
für die wandernden Vögel lebensentscheidend, dass ihnen ein intaktes Netzt naturnahe
Rast- und Überwinterungsquartiere bereit steht.
Lena, so haben wir das 5 Jahre alte Weißstorch-Weibchen (Weißstörche werden
bis zu 20 Jahre alt) aus Rheinstetten am Oberrhein südlich von Karlsruhe getauft,
steht solche eine ungewöhnliche Reise bevor. Quasi als Co-Pilot lässt sich die etwa
5.000 Kilometer lange Tour des mitteleuropäischen Weißstorches aus BadenWürttemberg bis an die Küste Senegals in Afrika verfolgen. Auf der Zugroute
lässt sich an 10 Stationen nacherleben, wo diese Weißstörchin zur Nahrungsaufnahme rastet und Energie, man könnte sagen Flugbenzin, auftankt. Man spürt ihr
nach, welches Meer oder Gebirge oder welche Wüste sie übersegelt und schließlich
wo und wann sie schließlich ihr winterliches Quartier erreicht.
Begleiten Sie Lena, das Storchenweibchen aus Baden-Württemberg
auf ihrer Reise nach Afrika!
Lernen Sie die unterschiedlichen Landschaften und die Gefahren auf ihrem Zuge kennen!
Zusätzliche Informationen über die Lebensweise der Weißstörche, ihr Verhalten und
auch über den Zug erfahren Sie auf der Seite der Stiftung Europäisches Naturerbe
www.euronatur.org
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Jahr für Jahr begibt sich Lena, wie alle mitteleuropäischen Weißstörche, auf die Reise.
Dieser Zug ist ein eindrucksvolles Geschehen, wenn Scharen der großen Vögel mit weit
ausgestreckten Flügeln über der Landschaft kreisen. Die Zugrichtung von Lena und
ihren Artgenossen läßt sich oft schwer ausmachen, da sie sich meist in großen Spiralen am Himmel bewegen. Das liegt daran, dass Störche „Segelflieger“ sind und warme
Aufwinde für ihren Flug nutzen. Von ihnen lassen sie sich ohne vieles Flügelschlagen in
die Höhe schrauben, um dann bis zum Fuße des nächsten Aufwinds zu gleiten. Da diese warmen Aufwinde über großen Wasserflächen fehlen, meiden die Störche den Flug
übers Mittelmeer.
Durch Deutschland, von Holland bis zum Harz, verläuft eine sogenannte Zugscheide.
Störche wie Lena, die westlich davon brüten, ziehen über Spanien nach Afrika, Störche
östlich der Zugscheide wählen den Weg über den Bosporus und Israel.
In den Wintermonaten bietet das warme Afrika den Störchen genug Nahrung, während
sie in Deutschland in dieser Zeit nicht ausreichend Nahrung finden würden. Dass die
Störche nicht das ganze Jahr über in Afrika bleiben, sondern jedes Jahr im Frühling
wieder zu uns nach Deutschland ziehen, liegt daran, dass hier im Sommer die Tage
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länger als in Afrika sind. So steht ihnen mehr Zeit zur Verfügung, Futter für den Nachwuchs zu besorgen.
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Wenige Kilometer südwestlich von Karlsruhe liegt in der dicht besiedelten Rheinebene
die 20.000-Einwohner-Gemeinde Rheinstetten. Schon 1987 begann man dort mit der
Planung und konsequenten Ausführung einer Biotopvernetzung mit dem Ziel, eine
strukturreiche Landschaft aus Wiesen, Gewässern und Gehölzen zu erreichen, die für
die Oberrheinebene einst typisch war. Aus 90 Hektar Ackerland entstand artenreiches
Wiesenland, das schonend mit dem Balkenmäher gemäht wird. Mehrere Tausend Meter Hecken wurden gepflanzt und in einem Verbund aus 30 Kleingewässern leben heute
12 verschiedene Amphibienarten. Auch geschützte Vogelarten, wie die Wasserralle
oder der Zwergtaucher brüten hier. Seit 1986, als im Zuge des Weißstorchprojektes
Baden-Württembergs ein Storchenpaar bei Rheinstetten angesiedelt wurde, finden
auch Weißstörche dank der landschaftsökologischen Verbesserung genug Nahrung,
um hier ihren Storchensommer zu verbringen und die Jungen aufzuziehen.
Lena in Rheinstetten
Heiß brennt die Sonne heute, am 20. August über den abgeernteten Getreidefeldern
und auch auf das Storchennest. Schaut man von unten zum Nest herauf, so kann man
zwei erwachsene Störche erkennen, die sich momentan im Nest aufhalten. Es ist Urs
und das Storchenweibchen Lena, das wir in den nächsten Wochen begleiten werden.
Seit Anfang April waren die beiden Störche mit dem Brüten und der Aufzucht ihrer zwei
Jungen beschäftigt. Unentwegt flogen sie in dieser Zeit in der näheren Umgebung umher, immer auf der Suche nach Würmern, Mäusen, Fröschen, Schnecken, Insekten und
Spinnen, die sie zum größten Teil in die hungrigen Schnäbel der Jungen steckten.
Die zwei Jungtiere haben bereits vor einer Woche das Nest endgültig verlassen und
zusammen mit den anderen Jungstörchen aus der Umgebung den Weg nach Süden
angetreten.
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Zwar wäre es jetzt noch angenehm warm für die Störche, auch Nahrung wäre genug
vorhanden, trotzdem reisen sie schon jetzt, im Hochsommer ab. Das liegt daran, dass
sich in dieser heißen Jahreszeit die Luft über dem Boden stark erwärmt und in Aufwinden nach oben steigt. Diese nutzen die Störche, um sich von ihnen nach oben tragen
zu lassen, um dann wie ein Segelflieger bis zum nächsten Aufwind zu gleiten.
Auch für die beiden Elterntiere, Lena und Urs ist nun die Zeit gekommen, sich auf ihre
Reise zu machen. Wir wollen Lena auf ihrem Flug begleiten.
gen recht schwerfällig anmutenden Ruderschlägen von ihrem Nest über der
Ebene, bis sie einen Aufwind bemerken.
Lena breitet über der aufsteigenden
warmen Luft ihre Flügel mit einer
Spannweite von knapp zwei Metern aus
und schraubt sich dann in großen Kreisen in die Höhe. Bald liegt die Oberrheinische Tiefebene, ihr Heimatort Rheinstetten und die Stadt Karlsruhe 2000
Meter unter ihnen. Lena und Urs folgen
dem Verlauf des Rheins nach Süden. In
der Höhe wirkt der Rhein wie ein
schmales schimmerndes Band, das gut
auszumachen ist. Nicht nur Störche,
sondern auch andere Zugvögel nutzen
u.a. den Rhein zur Orientierung auf ihrem Zug.
Das Storchenweibchen Lena und das
Storchenmännchen Urs flattern mit eini-
Gegen Nachmittag haben sie bereits
über hundert Kilometer zurückgelegt
und segeln nahe Freiburg zu Boden.
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Die ehemaligen Rieselfelder der Stadt Freiburg gehören mit zu den wichtigsten Rastund Sammelplätzen für die Weißstörche am Rhein. In den Zeiten vor den technisierten
Kläranlagen gelangten hierhin die Abwässer der Stadt Freiburg und „rieselten“ über die
Felder, die so die meiste Zeit überflutet waren. Eine Sumpflandschaft mit Schilf, Iris,
Rohrkolben, Wasservögeln und Amphibien stellte sich ein. Auch die Störche nutzten
diese künstlichen Feuchtgebiete zur Rast und noch heute treffen sich hier jedes Jahr
Hunderte von Störchen. Seitdem hier keine Abwässer mehr verrieselt werden, wird versucht, ein Teil der Flächen mit Wasser aus Gräben wenigstens zeitweise zu überstauen, um dieses wertvolle Trittsteinbiotop für die Zugvögel zu erhalten.
Lena an den Rieselfeldern
Lena und Urs sind mit flatternden Flügeln auf der Wiese neben der Wasserfläche gelandet. Sie sind nicht die ersten Störche, die hier eingetroffen sind. Etwa 60 Artgenossen staksen bereits auf ihren langen roten Beinen durch das seichte Wasser. Gelegentlich kann man das laute, typische Klappern eines aufgeregten Storches vernehmen, das
den Vögeln im Volksmund den Namen „Klapperstorch“ eingebracht hat. Auch Lena und
Urs begeben sich im flachen Wasser auf Nahrungssuche. Wenige Zeit später kann man
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nicht weit entfernt das Geräusch eines Traktors vernehmen, der mit seinem Mähwerk
das hohe Gras einer Wiese mäht. Daraufhin verlässt ein Großteil der Störche, darunter
auch Lena, das Wasser und fliegt zu der frischgemähten Wiese. In einer großen Schar
folgen sie dem Mähdrescher, der hinter sich eine Vielzahl an Insekten, Würmern und
Kleinsäugern zu Tage befördert, die von den Störchen mühelos erbeutet werden können. Lena stillt ihren Hunger mit mehreren Insekten und einer Ringelnatter, die von den
scharfen Messern des Mähers in zwei Hälften zerteilt wurde.
Aufgrund des guten Nahungsangebotes verbringt Lena auch die nächsten zwei Tage an
diesem Ort und sucht in den Wasserflächen der Rieselfelder nach Nahrung. Am Mittag
des 23. August nutzt sie die starken Aufwinde, um schnell an Höhe zu gewinnen und
den Weiterflug anzutreten.
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Urs, das Storchenmännchen von Lena,
befindet sich nicht in dem Schwarm,
dem Lena sich angeschlossen hat. Zwar
brüten Störche oft über mehrere Jahre
hinweg zusammen, das liegt aber eher
an ihrer Treue zum Nest, als an der
Treue zum Partner. Daher rührt auch
der Begriff „Nesttreue“ und „Einjahresehe“.
Der Weg führt nun nicht mehr entlang
des Rheins. Dort, wo sich das Rheintal
zwischen Vogesen und Schwarzwald
nach Süden öffnet, hält sich der rund
fünfzig Tiere zählende Schwarm westwärts und umfliegt den höchsten Berg
der Vogesen, den knapp fünfzehnhun-
dert Meter hohen Großen Belchen. Gut
hundert Kilometer weiter südwestlich
liegt die Stadt Besancon unter ihnen.
Schließlich nächtigen sie nahe der Stadt
Dôle .
Am nächsten Tag, dem 24. August, folgen sie dem Rhônetal in südlicher
Richtung. Wie auch der Rhein dient die
Rhône den Zugvögeln als Orientierung.
Zudem fließt die Rhône zwischen den
Alpen im Osten und dem französischen
Zentralmassiv. Für die Vögel ist es einfacher, dem Tal zu folgen, als Bergmassive zu überqueren, über denen nur eine schwache Thermik herrscht.
Die Landschaft unter ihnen, entlang der
Rhône ist geprägt von nicht enden wollenden Weinbergen. Ab und zu überfliegen sie auch Lavendelfelder, die allerdings schon vor einigen Wochen abgeerntet worden sind und nicht mehr das
intensive Blau der Blüte zeigen.
Den ganzen Tag schon über herrschte
eine hohe Luftfeuchtigkeit und als die
Störche Lyon überfliegen, spüren sie,
wie sich ein Gewitter aufbaut. Sie landen etwas südlich von Lyon und trotzen
dem aufkommenden Gewitter auf einem
abgeernteten Feld, wo sie bis zum
nächsten Tag bleiben.
Am nächsten Tag hält sich der Himmel
bedeckt und die Thermik ist wesentlich
ungünstiger als die Tage zuvor. Der
Storchentrupp fliegt deswegen nur in
niedrigen Höhen und die Vögel landen
im Verlauf des Tages mehrere Male
zwischen, bis sie schließlich das Gebiet
der Camargue erreichen.
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Die Camargue ist der westliche Teil des Rhônedeltas und befindet sich etwas westlich
von Marseille. Das gesamte Gebiet von rund 75.000 Hektar ist Schwemmland, das
durch die Ablagerung von Schlamm, Kies und Sand entstand, die der Fluss unentwegt
ins Meer schiebt. Noch heute wird diese Landschaft durch diesen dynamischen Prozess
der aktiven Deltabildung bestimmt: die Rhône lädt so viel Geschiebe ab, dass das Land
jährlich mehr als 10 Meter ins Meer vorrückt. Dafür gewinnt an anderer Stelle das Meer
Land zurück, so dass beispielsweise der Ort Les-Santes-Maries-de-la-Mer nicht mehr
wie einst im Landesinnern, sondern nun direkt an der Küste liegt. Während der Norden
der Camargue mit Reis-, Spargel- und Getreideanbau intensivst landwirtschaftlich genutzt wird, ist der Süden der Camargue für die Landwirtschaft recht unattraktiv. Das
liegt daran, dass die Camargue an ihrem höchsten Punkt nur viereinhalb Meter hoch ist
und das Grundwasser unter der lehmigen Erdschicht salzhaltig ist. Alle Pflanzenarten,
die hier vorkommen, müssen hohe Salzehlate ertraegn können.
Für viele Tier- und Pflanzenarten stellt diese außergewöhnliche Feuchtlandschaft mit
ihren vielen Lagunen und Sümpfen einen einzigartigen Lebensraum dar. Neben den
„touristischen Attraktionen“, wie den halbwilden weißen Pferden oder den schwarzen
Camargue-Stieren, sind hier etwa 150 Vogelarten heimisch, darunter auch der Flamingo und der Eisvogel.
Von baden-württembergischen Störchen wird die Camargue auf ihrem Zug nur gelegentlich aufgesucht, da sie etwas südlich der klassischen Zugroute liegt und einen Umweg bedeutet. Trotzdem kann man hier jedes Jahr Störche beobachten. Auch Lena rastet hier.
Lena in der Camargue
Lena hat sich nahe des Vaccarès-Sees, dem größten Binnensee der Camargue, niedergelassen, wo unweit von ihr einige Flamingos durch das flache Wasser staksen. Nur
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ein paar Schritte entfernt kann sie aus dem Schilf ein leises Rascheln hören. Mit großen, aber leisen Schritten schreitet sie zu dem Geräusch und verweilt lautlos. Das Rascheln hat zwar aufgehört, aber jetzt erkennt Lena eine junge Ratte, die ihren Kopf aus
dem Schilf steckt. Während sie noch vorsichtig die Umgebung nach möglichen Feinden
beschnuppert, stößt Lena schon blitzschnell zu und hat die Ratte zwischen ihren spitzen Schnabelhälften gefangen. Durch ein ruckartiges Zurückwerfen des Kopfes schleudert sie ihre Beute tief in den Schnabel, und verschluckt sie schließlich lebend.
Lena hält sich 2 Tage im Gebiet der Camargue auf und reist erst am 28. August weiter.
Die meiste Zeit verbringt sie in den Reisfeldern nahe der Stadt Arles, in denen massenweise kleine Krebse und Egel vorkommen.
Lena fliegt alleine weiter. Sie folgt dem
Verlauf der Küste, fliegt aber etwa 50
Kilometer im Landesinnern und hält
Kurs auf Montpellier. Nach knapp 150
Kilometern Flug übernachtet sie auf einem Dach in der Stadt Béziers. Am
nächsten Tag fliegt Lena nach Süden,
den Pyrenäen entgegen. Auf der Höhe
der katalonischen Hauptstadt Perpignan
sieht sie vor strahlend blauem Himmel
den schneebedeckten Gipfel des 2785
Meter hohen Pic du Canigou vor sich.
Sie möchte das Gebirge östlich an der
Küste umfliegen, allerdings macht ihr
der Wind, der vom Meer ins Landesinnere weht, zu schaffen. Sie fliegt in Küstennähe, wird aber bald weit ins
Landsinnere abgedriftet. Schließlich
landet Lena in 2000 Meter Höhe am
Hang des Pic du Canigous auf einem
windgeschütztem Felsvorsprung. Hier,
bei einer Temperatur von ungefähr 10°
C verweilt sie, bis der Wind sich gelegt
hat. Erst am frühen Nachmittag des
nächsten Tages legt sich der Wind und
sie zieht sie weiter und befindet sich nun
über Spanien.
Nachdem sie die Pyrenäen im kräftezehrenden Ruderflug hinter sich gelassen hat, wendet sie sich von der Küste
ab und segelt über den Ausläufern der
Pyrenäen über der katalonischen Landschaft bis sie nahe dem Ebro-Stausee
landet.
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Durch das Gebiet beim Ebro-Stausee nahe der Stadt Mequinenza zieht sich eine Doppelreihe von Hochspannungsmasten, die für Vögel eine große Gefahr darstellen. Zum
einen werden die Leitungen von den Vögeln auf ihrem Flug nicht rechtzeitig erkannt und
viele Vögel bleiben an ihnen hängen und kommen so zu Tode. Zum andern werden
Hochspannungsmasten gerne als Schlafplatz genutzt. Vögel, die dabei gleichzeitig die
Leitungen und den Masten berühren, sterben durch Stromschläge. Ebenso kann es bei
hoher Luftfeuchtigkeit vorkommen, dass – auch wenn die Vögel keinen unmittelbaren
Kontakt mit Leitungen haben – Kriechströme entstehen und die Vögel ebenso durch
einen Stromschlag zu Tode kommen. Dies geschieht besonders häufig im Winter bei
Störchen, die sich dann auf ihrem Rückflug befinden .
Nicht nur in Katalonien sind Störche den tödlichen Gefahren der Hochspannungsmasten und -leitungen ausgesetzt. In fast allen Ländern, die sie auf ihrem Zug bereisen,
sind Stromleitungen zu einer großen Bedrohung für die Weißstörche geworden.
Lena am Ebro-Stausee
Lena landet nahe dem Ebro-Stausee, der weniger durch seine landschaftlichen Reize
Bekanntheit erlangt hat, als durch seine großen Welse und Karpfen. Dort trifft sie auf
einen Storchentrupp, bestehend aus 12 Tieren. Als sich diese bei Anbruch der Dämmerung zum Schlafen auf einen der vielen Hochspannungsmasten begeben, schließt Lena
sich ihnen an. Sie lässt sich ganz oben auf dem Masten nieder, ein anderer Storch jedoch landet auf der Leitung. Dabei berührt sein rechter Flügel eine Strebe des Masten
und mehrere Tausend Volt jagen durch seinen Körper. Wie ein Stein fällt er zu Boden.
Die anderen Tiere flattern aufgeschreckt auf und fliegen bis zum nächsten Masten. Die
unsichtbare Gefahr hat sie nervös gemacht, doch sie können die Zusammenhänge
nicht ahnen, die für sie diese tödliche Bedrohung darstellt.
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Zusammen mit den verbliebenen elf
Störchen des Trupps segelt Lena am
31. Augustweiter in Richtung Süden. Sie
orientieren sich wieder am Verlauf der
Mittelmeerküste. Westlich unter ihnen
liegt das Iberische Randgebirge, östlich
verläuft ein flacher Küstenstreifen, der
hauptsächlich mit Orangen- und Zitronenplantagen bestanden ist. Gelegentlich türmen sich graue Hochhäuser an
der Küste auf: Bettenburgen für Urlauber.
Um die Küstenstadt Valencia zeigt sich
die Umgebung in einem satten Grün.
Fruchtbares Land, das die Spanier „La
Huerta“, den "Gemüsegarten", nennen,
wird zum Gemüse- und Reisanbau genutzt und lässt bis zu vier Ernten im Jahr
zu. Hier wendet sich der Trupp nun
endgültig von der Küste ab und fliegt
landeinwärts über die Ebene von Albacete, wo sie in einer monotonen, von der
Landwirtschaft geprägten Landschaft
rasten und nächtigen.
Am nächsten Morgen segeln die zwölf
Störche weiter südwestwerts über Andalusien. Unter ihnen schlängelt sich der
Guadalquivir-Fluss durch Olivenplantagen, abgeerntete Sonnenblumenfelder
und vereinzelte Steineichenwäldchen.
In der Nähe der Stadt Cordoba gleiten
sie zu Boden. Zwar würde der Guadalquivir mit seinen sumpfigen Ufern genug
Nahrung bieten, doch die Störche haben
eine attraktivere Nahrungsquelle entdeckt: eine offene Mülldeponie.
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Mülldeponien sind mittlerweile Hauptsammelplätze für Weißstörche auf ihrem Zug geworden. Gerade in Spanien kann man oft bis zu Tausend Störche beobachten, wie sie
im Müll nach Essensresten und Ungeziefer stöbern. Auch überwintern Störche gerne in
der Nähe größerer Deponien. Als Kulturfolger nutzten Störche schon immer die Vorteile,
welche die menschlichen Einflüsse auf die Natur für sie mit sich brachten und waren in
der Lage, sich ohne große Scheu anzupassen. So finden sie nun auch in den Abfällen,
die wir Menschen entsorgen, eine neue Nahrungsquelle. Auch wenn das Bild, im Müll
wühlender Störche nicht gerade malerisch anmutet, so sind diese „neuen“ Nahrungsplätze derzeit von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung. Langfristig dürfen wir in
unseren Bemühungen nicht nachlassen, die natürlichen Rastplätze unserer Zugvögel
zu erhalten und zu renaturieren.
Lena auf der Mülldeponie
Ein nahezu unerträglicher Gestank liegt über der Mülldeponie und die unbewegte Luft
flimmert in der sengenden Hitze. Ständig kreisen Störche mit weit ausgestreckten Flügeln über dem Platz. Zwischen den Abfällen, die hierher aus Cordoba und den kleinen
Dörfern der Umgebung gelangen, tummeln sich mehrere Hundert Weißstörche neben
mindestens genauso vielen Rabenvögeln. Auch Lena stochert zwischen blauen Plastikbeuteln, die vor einigen Minuten ein Müllauto abgeladen hat. In den unsortierten Abfällen findet sie mehr, als sie zum Sattwerden braucht. Vor allem gibt es reichlich Aas, das
für sie bequem zu „erbeuten“ ist, da es ja nicht wegläuft.
Lena wird die nächsten zwei Tage noch auf der Mülldeponie verbringen, bevor sie weiter nach Süden zieht.
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Lena überfliegt am Vormittag des 4.
September die fruchtbare grüne Ebene
des spanischen Genil-Flusses, bevor sie
die westlichen Ausläufer der Sierras
Béticas unter sich zu sehen bekommt.
Dank der sehr guten Thermik, die hier
aufgrund der hohen Temperaturen
herrscht, erreicht sie schon gegen Mittag die Laguna de Medina nahe der
Stadt Medina Sidonia. Dort hält sie eine
kurze Rast, fliegt dann aber bald weiter
bis nahe Tarifa an der Küste.
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14 Kilometer sind es, die Europa und Afrika an diesem Nadelöhr trennen. Für Störche,
die auf Thermik bei ihrem Flug angewiesen sind, stellt die Meerenge eine große Erschwernis auf ihrem Zug dar. Da sich Wasser nicht so stark wie Land erwärmt, entstehen über ihm auch keine Aufwinde, von denen die Segelflieger sich tragen lassen
könnten. Den Weg über dem Wasser müssen sie also im kräftezehrenden Ruderflug
zurücklegen. Nicht selten kommt es vor, dass Störche den Flug übers Wasser nicht
schaffen und im Meer ertrinken.
Die starken Winde, die hier das ganze Jahr über herrschen, erschweren den Flug über
das Wasser zusätzlich.
Lena vor der Meerenge
Seit 3 Tagen hält der starke Wind, der über die Spitze Gibraltars weht, nun an. Für Lena
und die Gruppe von etwa 300 anderen Störchen, die sich im Hinterland von Tarifa versammelt haben, ist es fast unmöglich, bei diesen Windverhältnissen die Meerenge zu
überqueren. Ungeduldig warten sie, bis der Wind nachlässt.
Immer mehr Störche, die nach Afrika hinüber wollen, treffen ein. Gegen Abend des 5.
Septembers haben sich hier an die 800 Störche versammelt.
Es ist der 8. September, 10 Uhr vormittags, die Temperatur beträgt inzwischen 25° C
und wird wohl im Laufe des Tages noch um weitere 10° C zunehmen. Der Wind hat
über Nacht nachgelassen. Schon macht sich bei den Störchen Unruhe breit, vereinzelte
Vögel haben bereits ihren Flügel ausgebreitet, um loszufliegen und die 14 Kilometer
breite Meerenge zu überqueren, die Europa und Afrika trennt. Auch Lena verlässt nun
den Platz und nutzt die Aufwinde, die hier im Hinterland herrschen. Sie schraubt sich
hoch und beginnt diesen schwierigen Teil ihrer Reise.
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Bald hat Lena, 1000 Meter unter sich,
den südlichsten Zipfel Spaniens erreicht.
Unter ihr zieht sich die felsige Küste
entlang, an deren Felsen sich das tiefblaue Wasser des Atlantiks in weißer
Gischt bricht.
Auf der anderen Seite des Meeres bauen sich die massigen Bergmassive des
markokanischenAtlasgebirges auf.
Zwar hat der Wind nachgelassen, doch
trotzdem braucht Lena viel Kraft, um
gegen den ständig anhaltenden Luftstrom von Nord-Ost anzukämpfen, der
damit droht, sie über die Weiten des
Atlantiks zu verwehen.
Lena erreicht als eine der ersten Störche, die mit ihr gestartet sind, den Kontinent, auf dem sie sich von jetzt an für
die nächsten Monate aufhalten wird –
Afrika.
Über Marokko spürt Lena bald wieder
die aufströmenden warmen Luftmassen,
die über der Wasserfläche gefehlt haben. In großen Kreisen schraubt sie sich
– ohne große Kraftanstrengung – in die
Höhe. Die Halbinsel Tanger mit den
großen Städten Tanger und Ceuta, von
wo die Fähren nach Europa starten, liegt
mehrere hundert Meter unter ihr. Die
Menschen am Boden können sie nur als
einen von vielen weißen Punkten am
wolkenlosen Himmel ausmachen, die in
unregelmäßigen Spiralen am Himmel
kreisen.
Lena zieht zwischen der marokkanischen Küste im Westen und dem Atlasgebirge im Osten weiter. Am Abend befindet sie sich nun zwischen Meknes
und Rabat, der Hauptstadt des Landes.
Dort verbringt sie die Nacht zusammen
mit etwa 100 weiteren Störchen. Mehrere hundert Tiere sind hier keine Seltenheit. Es ist die günstigste Route zwischen Meer und Atlasgebirge.
Am Morgen des 9. September begibt
sich Lena weiter in Richtung Südwesten
und
überfliegt karges, von Menschen
nur dünn besiedeltes Land. Gegen Mittag kann sie etwas östlich von ihr am
Boden, einen hellen ungleichmäßig geformten Klecks inmitten eines grünen
Bandes ausmachen. Es ist die Stadt
Marrakesch, in einer fruchtbaren Oase
der Haouz-Ebene gelegen und von einem Palmenwald umgeben.
Sechzig Kilometer weiter stellen sich ihr
die gewaltigen schneebedeckten Bergmassive des hohen Atlas‘ in den Weg.
Zwar fliegt Lena in einer Höhe, die weit
über der des Gebirges liegt, trotzdem
meidet sie den Flug über die hohen
Gipfel. In diesen Höhenlagen sind die
Temperaturen nahe des Gefrierpunktes
und tückische Unwetter lassen den Flug
darüber zu einem großen Risiko werden. Zudem entstehen über dem Gebirge keine Aufwinde, die für einen kräftesparenden Flug nötig sind.
Lena wählt den Weg nahe der Küste, wo
die Ausläufer des Atlas‘ nicht mehr so
hoch sind. Die Landschaft unter ihr wird
merklich steppenartiger und nur noch
ein paar knorrige Steineichen beleben
die steilen und von Erosion zerlüfteten
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Berghänge, als sie die Ausläufer des
Gebirges überquert.
Schließlich sieht sie, nachdem sie den
Atlas hinter sich gebracht hat, die
fruchtbare Ebene unter sich liegen, die
der Fluss Sous auf seinem Weg vom
Atlasgebirge zum Atlantik geschaffen
hat. Hier, wo der Souss nahe Agadir ins
Meer fließt, befindet sich der Massa
Sous -Nationalpark.
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Der Massa Sous-Nationalpark liegt wie ein grünes Juwel zwischen den beiden Flüssen
Souss und Massa, die nur wenige Kilometer entfernt, nahe Agadir in den Atlantik münden. In ihrem Delta haben die beiden Flüsse eine strukturreiche Schwemmlandebene
aufgeschichtet: erhöhte Sandbänke, Buschland, Schilf- und Überschwemmungsgebiete
machen das Gebiet zu einem idealen Lebensraum für viele Wasservogelarten wie Flamingos, Löffler, Marmelenten, Rallen, Fischadler, und verschiedene Möwen- und
Schwalbenarten. Sogar 250 Exemplare des Waldrapps, einer der seltensten Vögel der
Welt, haben in diesem Gebiet eine Zuflucht gefunden. Für durchziehende Störche stellt
der Nationalpark eines der wichtigsten Habitate Marokkos dar.
Lena im Massa Sous-Nationalpark
Nach einer Etappe von über 400 Kilometern Flug landet Lena auf einer Sandbank nahe
der Sous-Mündung. Schon im Anflug hat sie jede Menge Artgenossen ausmachen können, die im seichten Wasser auf ihren langen roten Beinen nach Nahrung suchen. Es
mögen an die hundert Störche sein, daneben jede Menge anderer Wasservögel. Lena
breitet die Flügel aus und segelt ein paar Meter von der Sandbank zu der großen Wasserfläche: hier scheinen die Chancen gut, Amphibien und vielleicht einige kleine Fische
zu erbeuten.
Über der Wasserfläche streicht gemächlich ein Fischadler dahin. Plötzlich stürzt er sich
wenige Meter vor Lena mit angewinkelten Flügeln und vorgestreckten Fängen ins Wasser hinunter und erscheint dann mit einem Fisch, den er mit seinen langen Krallen regelrecht erdolcht hat. Dieses Manöver hat die Fische in der Umgebung aufgeschreckt
und sie sind ins tiefere Wasser zurückgezogen. Lena gesellt sich deshalb zu einer
Gruppe von Störchen hinter einem Schilfgürtel, die mit nach unten gerichtetem Köpfen
durch das seichte Wasser schreiten und gelegentlich mit ihren spitzen Schnäbeln einen
Frosch oder einen Fisch erbeuten. Auch Lena findet genug Nahrung, bevor sie nach
dem langen Tag – auf einem Bein – schläft.
Der nächste Tag beginnt angenehm, zwar ist es heiß, doch ein leichter Wind, der vom
Atlantik weht, lässt die Temperatur angenehm erscheinen. Lena wird aufgrund des guten Nahrungsangebotes eine weitere Pause auf ihrem Zug einlegen und 4 Tage hier im
Mündungsgebiet des Sous-Flusses verbringen.
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Am Mittag des 14. Septembers zieht ein
Schwarm Weisstörche weiter, dem sich
Lena anschließt. Sie halten Kurs auf den
Anti-Atlas, den südlichsten Teil des Atlasgebirges mit einer stolzen Höhe von
über 2500 Metern.
Die Tiere haben die Flugrichtung geändert. Sind sie bis jetzt immer südwestlich, dem Verlauf der Küste entlang gezogen, so wenden sie sich nun von der
Küste ab und segeln in Richtung Südosten. Sie überfliegen die fruchtbare
Sous-Ebene und weit unter ihnen liegen
in flimmernder Hitze verstreut Gehöfte
mit den landestypischen Zinnentürmen
zwischen
Gemüsefeldern,
Feigen-,
Dattel- und Olivenplantagen. Je näher
sie dem Anti-Atlas kommen, desto kärger macht sich die Landschaft unter ih-
nen aus: welliges, braunes, schattenloses Land, nur von Felsbrocken und vereinzeltem Strauchwerk wie Ginster, Arganien und Wacholder bedeckt. Die
Hänge des Anti-Atlas‘ erscheinen dann
gänzlich kahl, kein Wunder, schluckt
doch der poröse Sandstein, der sich
über das Urgestein gelegt hat, fast alle
Niederschläge. Nur gelegentlich erscheint ein grüner Fleck in einem der
Täler, wahrscheinlich eine Quelle, die
von den Menschen hier für die Bewässerung ihrer terrassierten Felder genutzt
wird.
Nachdem der Schwarm den Anti-Atlas
überquert haben, liegt die scheinbar unendliche Weite der algerischen und
mauretanischen Sahara vor ihnen. Doch
bevor Lena zusammen mit den anderen
Störchen die Wüste überqueren wird,
gleiten sie gegen Nachmittag zu Boden,
da sie unten ein vielversprechendes
grünes Band zwischen Gebirge und
Wüste entdeckt haben. Vielleicht werden sie ja ein ähnlich reiches Nahrungsangebot wie die Tage zuvor im SousDelta vorfinden.
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Der Draa ist Marokkos längster Fluss, dessen Wasser hauptsächlich aus den Bergen
des Hohen Atlas‘ kommt. Auf einer Länge von fast 500 Kilometern bildet er die natürliche Grenze zu Algerien. Auf seinem Verlauf zum Meer trocknet der Draa in der heißen
Wüstenregion oft so stark aus, dass häufig kein Tropfen Wasser mehr den Atlantik erreicht. Das Wadi des Draa – ein für diese Gegend typisches Trockental – weißt darauf
hin, dass hier bei starken Regenfällen mit viel Wasser zu rechnen ist. Im Norden, am
Beginn des Flusses, wo er noch viel Wasser führt, ist der Draa Lebensgrundlage für
einen 200 Kilometer langen Saum von Oasen. Hier liegen mehrere kleine, orientalisch
anmutende Städte, deren Bewohner sich aus den unterschiedlichsten Völkerschaften
zusammensetzen: Araber, Berber, Juden und Schwarzafrikaner leben hier. Sie verdienen sich ihren Lebensunterhalt fast ausschließlich mit Landwirtschaft und Tourismus.
Über eine Million Dattelpalmen im Draa-Tal liefern rund zwei Drittel der in Marokko jährlich produzierten 82.000 Tonnen Datteln.
Auch wenn der fruchtbare obere und mittlere Teil des Draa-Tals abseits der klassischen
Zugrouten liegt – um es zu erreichen, muss der Anti-Atlas überflogen werden – können
hier jedes Jahr Störche auf ihrer Rast beobachtet werden.
Lena im Draa-Tal
Je weiter der Schwarm mit den rund 50 Tieren nach unten gesegelt ist, desto mehr spüren die Tiere die sengende Hitze der aufgeheizten Landschaft. Das Band, das von oben
so geschlossen grün wirkte, entpuppt sich nun als mehrere, in Abständen stehende
Bäume und Sträucher.
Wohl ist hier schon Wasser geflossen, wie man an der Senke und den großen Gesteinsbrocken erkennen kann, die das Wasser irgendwann mit sich gebracht haben
muss. Jetzt ist das Wadi Draa allerdings trocken. Für die Tiere bedeutet das, keine saftigen Leckerbissen und kein erfrischendes Wasser. Stattdessen müssen sie mit wenigen Heuschrecken und Spinnen auskommen. Lena hat Glück, gegen Anbruch der Dunkelheit kann sie eine Eidechse erbeuten, die aus ihrem Versteck zwischen zwei Steinen
herausgekrochen kam. Schließlich verbringt sie die Nacht auf dem Ast einer hohen Arganie.
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Als am nächsten Tag die Sonne auf das sandige und steinige Land zu brennen beginnt
und die Bäume und Sträucher nur noch wenig Schatten mehr geben, macht sich der
Schwarm geschlossen auf den Weiterflug. Wenigstens lässt die Hitze starke Aufwinde
entstehen, so dass sich die Vögel schnell in die Höhe schrauben können.
Deutschland, Frankreich, Spanien und
Marokko das fünfte Land auf ihrer Reise
ist. Obwohl sich der Staat unter ihr geändert hat, bleibt die Landschaft doch
die selbe, scheinbar endlose und lebensfeindliche Stein- und Geröllwüste.
Sie haben heute mehr als 500 km zurückgelegt und rasten in der Wüste
Nordmauretaniens. Es ist auch am
Abend noch über 30° heiß. Auch hier
finden die Tiere, wie schon am Vortag,
kein Wasser vor.
Es ist der 15. September, der Zug geht
weiter Richtung Süden, entlang der marokkanisch-algerischen Grenze. In dieser Höhe scheint die Stein- und Geröllwüste unter ihnen wie zerknittertes
Packpapier. Nur der Ort Tindouf, Algeriens wichtigste Militärbasis, bietet den
Augen der Störche für kurze Zeit einen
grünen Punkt in der Landschaft. Dann
überfliegen sie auch schon die Grenze
zu Mauretanien, das für Lena, nach
Am nächsten Tag ziehen die merklich
geschwächten Tiere nach Süden weiter.
Unter ihnen verändert sich allmählich
die Landschaft. Die Stein- und Geröllwüste, in der noch vereinzelt Akazien
und Dornbüsche wuchsen, weicht der
gänzlich vegetationsarmen Sandwüste.
Ein Meer aus leuchtend rotbraunen
Sanddünen liegt unter ihnen.
Nach dem Flug finden sich die Tiere
schließlich auf einer Sanddüne ein.
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Das Wüstengebiet El Djouf bildet ein weites Becken, das sich vom Norden Mauretaniens weit bis nach Mali hineinzieht. Es ist geprägt von endlosen Sanddünen und gilt als
eines der Gebiete der Erde, die dem Menschen am längsten unbekannt geblieben sind.
Die Temperatur steigt tagsüber bis auf 50°C und sinkt in der Nacht nicht wesentlich
unter 30°C. In diesem lebensfeindlichen und wasserarmen Raum kann sich nur sehr
spärlich Vegetation einstellen und überleben. Nur im Westen befinden sich Oasen in
der Wüste, um die sich kleinere Städte wie Chinguetti oder Atar gebildet haben.
Lena in der Wüste
Heiß brennt der Sand unter ihren Füßen und ein leichter, aber anhaltender Wind weht
den Tieren den feinen Sand ins Gefieder. Über das Rot der Storchenbeine hat sich eine
weiße dünne Schicht gelegt. Das kommt daher, dass die Tiere flüssigen Kot, also Harnsäure auf ihre Beine spritzen. Durch die Verdunstung der Flüssigkeit kühlt das Blut in
den feinen Äderchen dicht unterhalb der Beinhaut ab und gelangt so gekühlt in den
Körper zurück.
Sie sind erschöpft von der Hitze und den Anstrengungen des Fluges und leiden an
Wasser- und Nahrungsmangel. Lena hat glücklicherweise noch genug Fettreserven,
doch einige Artgenossen scheinen bereits so geschwächt, dass es ungewiss ist, ob sie
die nächste Wasser- und Nahrungsquelle erreichen werden.
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Am Morgen des 17. Septembers, als der
Trupp weiterzieht, bleiben zwei der fünfzehn Störche zurück. Sie werden die
Hitze der Wüste und die Strapazen des
Fluges nicht überleben. Die anderen
Tiere ziehen über der Sandwüste weiter
nach Süden. Nach gut 200 Kilometer
Flug sehen sie, wie unter ihnen die Wüste wieder grüne Stellen aufweist. Sie
nähern sich dem steppenartigen Gebiet
nördlich der Stadt Aioun el Atrouss. Hier
gibt es mehrere grüne Täler, die auch
von Nomaden aufgesucht werden.
In einem dieser Täler landet der kleine
Trupp, nunmehr dreizehn Störche zählend. Sie haben Glück, da sie hier sogar
einen Brunnen vorfinden, aus dem sie
mit ihren langen Schnäbeln begierig das
Wasser trinken. Auch Heuschrecken
kommen in großer Anzahl vor und nach
den körperlichen Belastungen, die der
Flug über die Wüste mit sich brachte,
nehmen die Störche die kalorienreichen
Eiweißbomben gerne zu sich.
Lena und ihre Artgenossen sind von
dem Flug über die Wüste so erschöpft,
dass sie hier die nächsten fünf Tage
verbringen. Zwar ist das Nahrungsangebot nicht sehr abwechslungsreich,
aber die Tiere finden große Mengen an
Wüstenheuschrecken, die sich in diesem Jahr dort stark vermehrt haben.
Anschließend fliegen sie weiter. Während die meisten der anderen Störche in
Richtung Südosten zum Überschwemmungsgebiet des Niger-Flusses fliegen,
segelt Lena nach Westen. Ihr Ziel ist
das Senegaldelta.
Lena überfliegt die karge Landschaft der
Sahelzone und nächtigt in Kiffa, wo sie
ihren Durst an einem Brunnen stillen
kann. Auch hier verbringt sie einen weiteren Tag. Als sie schließlich weiterzieht, erreicht sie dann endlich bei Kaédi
den Senegal-Fluss, der hier die natürliche Grenze zwischen Mauretanien und
Senegal bildet. Ihm folgt sie, bis sie
schließlich das Delta des SenegalFlusses erreicht.
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Einst stellte das Senegaldelta für Weißstörche eines der wichtigsten Winterhabitate dar.
Gerade Störche aus Westeuropa verbrachten in diesem Schwemmlandgebiet bevorzugt
den Winter, während Weißstörche aus Nordafrika eher weiter nach Osten ins Nigerbinnendelta (Mali) weiterzogen. Da die Population der westziehenden Störche in Mitteleuropa in den letzten Jahrzehnten jedoch stark abgenommen hat, werden mittlerweile nur
noch kleinere Gruppen und Einzeltiere im Senegaldelta gesichtet.
Das Gebiet um die Küstenstadt St. Louis in Nordwestsenegal weist zwei Nationalparks
auf: Der „Parc National du Djoudi“, der sich etwa sechzig Kilometer östlich von St. Louis
befindet, und der „Parc National de Langue de Barbarie“ im Mündungsgebiet des Senegals-Flusses. Beide bieten in der nur spärlich bewachsenen Halbwüste der Sahelzone
verschiedenen Tier- und Pflanzenarten ein Zuhause. Der „Djoudi-Nationalpark“ ist das
ornithologische Aushängeschild des Landes und das drittgrößte Vogelreservat weltweit.
450 Vogelarten, darunter Flamingos, Fischadler, Reiher, Schwarzstörche, Kormorane
und Kraniche leben in dem Feuchtgebiet.
Das fruchtbare Schwemmland an den Ufern des Senegalflusses wird für den Anbau von
Reis, Mais; Hirse und Zuckerrohr genutzt. Nördlich des Senegal zeugen verlassene
Gehöfte von der unaufhaltsamen Ausdehnung der Wüste nach Süden: manche Gebäude sind schon fast vollständig vom Wüstensand verschluckt.
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Lena am Senegal-Fluss
Lena hat nun ihr eigentliches Ziel der Reise erreicht und wird nur noch gelegentlich
kleinere Strecken in der Umgebung umherfliegen. Sie wird bis zu ihrer Abreise am 11.
Februar viereinhalb Monate im nordwestlichen Gebiet Senegals und in Südmauretanien
verbringen. Dabei verweilt sie die meiste Zeit im Mündungsgebiet des Senegal-Flusses,
wo sie im Brackwasser nach Nahrung sucht. Immer wieder begibt sie sich aber auch zu
den Reisfeldern am Ufer des Flusses, in denen sich Krebse und vereinzelt kleine Fische
tummeln. Eine hohe Akazie hat sie zu ihrem Schlafplatz auserwählt, die obersten Äste
sucht sie regelmäßig mit Einbruch der Dämmerung auf.
Im Oktober kommt es auf mauretanischer Seite, nördlich des Senegal-Flusses, zu einer
explosionsartigen Vermehrung von Wüstenheuschrecken. Lena verlässt deswegen das
feuchte Schwemmland, um sich an diesen, bequem zu erbeutenden, Insekten satt zu
fressen.
Bis zu ihrer Abreise wird sie sich genug Fettreserven angefressen haben, um den langen Weg zurück nach Baden-Württemberg anzutreten.
Wird Lena die Reise dann genauso erfolgreich meistern wie den Flug hierher? In
Rheinstetten wird man sie auf jeden Fall erwarten!
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Schon immer brachten die Menschen dem Storch viel Sympathie entgegen. Obwohl sie
von ihm keinen direkten Nutzen zu erwarten hatten, wurde er auf den Dächern der
Dörfer nicht nur geduldet, sondern erfreute sich großer Beliebtheit und hatte lange Zeit
sogar den Ruf als Glücks- und Segensbringer. Kein Wunder also, dass sich so manch
einer stolz fühlte, dessen Dach ein imposanter Storchenhorst krönte.
Manch ein Anderer konnte dem Storch wiederum dafür dankbar sein, einem unangenehmen aufklärerischen Gespräch aus dem Wege gehen zu können, ließ sich doch so
manches vermeintlich Peinliche dem großen Vogel ins Gefieder schieben...
Ob er nun die Kinder, Glück oder Segen bringt, das sei dahingestellt. Doch auch heute
ist der Storch mehr als nur ein gern gesehener Gast auf den Dächern. Der Storch ist
mittlerweile zu einem Symbol für intakte und naturnahe Landschaft geworden. Denn
dort, wo er bei uns noch seine Kreise zieht, dürfen fisch- und amphibienreiche Gewässer nicht fehlen. In Sümpfen, feuchten Wiesen, aber auch an Waldrändern und auf giftfreiem Ackerland fühlt er sich wohl. Diese Landschaften aber sind rar geworden, nachdem seit Beginn des 20. Jahrhundert zwei Drittel der Feuchtgebiete trockengelegt wurden, sich unsere Siedlungen immer weiter ausdehnen und intensivste Landwirtschaft
die Nahrungsgrundlagen der Störche weitgehend vernichtet hat. Als ausgesprochener
Kulturfolger konnte er einst die Veränderungen der Landschaft für sich nutzen, die der
Mensch mit sich brachte, doch nun hat der Storch in der Umgebung des Menschen nur
mit engagierter Hilfe eine Chance zum Überleben.
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