Zugverlauf - Baden
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Zugverlauf - Baden
1 Jedes Jahr machen sich tausende von Zugvögeln auf eine lange und beschwerliche Reise. Weißstörche, Schwalben und andere Vogelarten nehmen einen mühsamen Flug auf zu ihnen auf rätselhafte Weise wohlbekannte und vertraute Winter- und Sommerquartieren. Auf dieser oft mehrere tausend Kilometer umfassenden Flugstrecke ist es für die wandernden Vögel lebensentscheidend, dass ihnen ein intaktes Netzt naturnahe Rast- und Überwinterungsquartiere bereit steht. Lena, so haben wir das 5 Jahre alte Weißstorch-Weibchen (Weißstörche werden bis zu 20 Jahre alt) aus Rheinstetten am Oberrhein südlich von Karlsruhe getauft, steht solche eine ungewöhnliche Reise bevor. Quasi als Co-Pilot lässt sich die etwa 5.000 Kilometer lange Tour des mitteleuropäischen Weißstorches aus BadenWürttemberg bis an die Küste Senegals in Afrika verfolgen. Auf der Zugroute lässt sich an 10 Stationen nacherleben, wo diese Weißstörchin zur Nahrungsaufnahme rastet und Energie, man könnte sagen Flugbenzin, auftankt. Man spürt ihr nach, welches Meer oder Gebirge oder welche Wüste sie übersegelt und schließlich wo und wann sie schließlich ihr winterliches Quartier erreicht. Begleiten Sie Lena, das Storchenweibchen aus Baden-Württemberg auf ihrer Reise nach Afrika! Lernen Sie die unterschiedlichen Landschaften und die Gefahren auf ihrem Zuge kennen! Zusätzliche Informationen über die Lebensweise der Weißstörche, ihr Verhalten und auch über den Zug erfahren Sie auf der Seite der Stiftung Europäisches Naturerbe www.euronatur.org ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 2 Jahr für Jahr begibt sich Lena, wie alle mitteleuropäischen Weißstörche, auf die Reise. Dieser Zug ist ein eindrucksvolles Geschehen, wenn Scharen der großen Vögel mit weit ausgestreckten Flügeln über der Landschaft kreisen. Die Zugrichtung von Lena und ihren Artgenossen läßt sich oft schwer ausmachen, da sie sich meist in großen Spiralen am Himmel bewegen. Das liegt daran, dass Störche „Segelflieger“ sind und warme Aufwinde für ihren Flug nutzen. Von ihnen lassen sie sich ohne vieles Flügelschlagen in die Höhe schrauben, um dann bis zum Fuße des nächsten Aufwinds zu gleiten. Da diese warmen Aufwinde über großen Wasserflächen fehlen, meiden die Störche den Flug übers Mittelmeer. Durch Deutschland, von Holland bis zum Harz, verläuft eine sogenannte Zugscheide. Störche wie Lena, die westlich davon brüten, ziehen über Spanien nach Afrika, Störche östlich der Zugscheide wählen den Weg über den Bosporus und Israel. In den Wintermonaten bietet das warme Afrika den Störchen genug Nahrung, während sie in Deutschland in dieser Zeit nicht ausreichend Nahrung finden würden. Dass die Störche nicht das ganze Jahr über in Afrika bleiben, sondern jedes Jahr im Frühling wieder zu uns nach Deutschland ziehen, liegt daran, dass hier im Sommer die Tage ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 3 länger als in Afrika sind. So steht ihnen mehr Zeit zur Verfügung, Futter für den Nachwuchs zu besorgen. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 4 Wenige Kilometer südwestlich von Karlsruhe liegt in der dicht besiedelten Rheinebene die 20.000-Einwohner-Gemeinde Rheinstetten. Schon 1987 begann man dort mit der Planung und konsequenten Ausführung einer Biotopvernetzung mit dem Ziel, eine strukturreiche Landschaft aus Wiesen, Gewässern und Gehölzen zu erreichen, die für die Oberrheinebene einst typisch war. Aus 90 Hektar Ackerland entstand artenreiches Wiesenland, das schonend mit dem Balkenmäher gemäht wird. Mehrere Tausend Meter Hecken wurden gepflanzt und in einem Verbund aus 30 Kleingewässern leben heute 12 verschiedene Amphibienarten. Auch geschützte Vogelarten, wie die Wasserralle oder der Zwergtaucher brüten hier. Seit 1986, als im Zuge des Weißstorchprojektes Baden-Württembergs ein Storchenpaar bei Rheinstetten angesiedelt wurde, finden auch Weißstörche dank der landschaftsökologischen Verbesserung genug Nahrung, um hier ihren Storchensommer zu verbringen und die Jungen aufzuziehen. Lena in Rheinstetten Heiß brennt die Sonne heute, am 20. August über den abgeernteten Getreidefeldern und auch auf das Storchennest. Schaut man von unten zum Nest herauf, so kann man zwei erwachsene Störche erkennen, die sich momentan im Nest aufhalten. Es ist Urs und das Storchenweibchen Lena, das wir in den nächsten Wochen begleiten werden. Seit Anfang April waren die beiden Störche mit dem Brüten und der Aufzucht ihrer zwei Jungen beschäftigt. Unentwegt flogen sie in dieser Zeit in der näheren Umgebung umher, immer auf der Suche nach Würmern, Mäusen, Fröschen, Schnecken, Insekten und Spinnen, die sie zum größten Teil in die hungrigen Schnäbel der Jungen steckten. Die zwei Jungtiere haben bereits vor einer Woche das Nest endgültig verlassen und zusammen mit den anderen Jungstörchen aus der Umgebung den Weg nach Süden angetreten. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 5 Zwar wäre es jetzt noch angenehm warm für die Störche, auch Nahrung wäre genug vorhanden, trotzdem reisen sie schon jetzt, im Hochsommer ab. Das liegt daran, dass sich in dieser heißen Jahreszeit die Luft über dem Boden stark erwärmt und in Aufwinden nach oben steigt. Diese nutzen die Störche, um sich von ihnen nach oben tragen zu lassen, um dann wie ein Segelflieger bis zum nächsten Aufwind zu gleiten. Auch für die beiden Elterntiere, Lena und Urs ist nun die Zeit gekommen, sich auf ihre Reise zu machen. Wir wollen Lena auf ihrem Flug begleiten. gen recht schwerfällig anmutenden Ruderschlägen von ihrem Nest über der Ebene, bis sie einen Aufwind bemerken. Lena breitet über der aufsteigenden warmen Luft ihre Flügel mit einer Spannweite von knapp zwei Metern aus und schraubt sich dann in großen Kreisen in die Höhe. Bald liegt die Oberrheinische Tiefebene, ihr Heimatort Rheinstetten und die Stadt Karlsruhe 2000 Meter unter ihnen. Lena und Urs folgen dem Verlauf des Rheins nach Süden. In der Höhe wirkt der Rhein wie ein schmales schimmerndes Band, das gut auszumachen ist. Nicht nur Störche, sondern auch andere Zugvögel nutzen u.a. den Rhein zur Orientierung auf ihrem Zug. Das Storchenweibchen Lena und das Storchenmännchen Urs flattern mit eini- Gegen Nachmittag haben sie bereits über hundert Kilometer zurückgelegt und segeln nahe Freiburg zu Boden. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 6 Die ehemaligen Rieselfelder der Stadt Freiburg gehören mit zu den wichtigsten Rastund Sammelplätzen für die Weißstörche am Rhein. In den Zeiten vor den technisierten Kläranlagen gelangten hierhin die Abwässer der Stadt Freiburg und „rieselten“ über die Felder, die so die meiste Zeit überflutet waren. Eine Sumpflandschaft mit Schilf, Iris, Rohrkolben, Wasservögeln und Amphibien stellte sich ein. Auch die Störche nutzten diese künstlichen Feuchtgebiete zur Rast und noch heute treffen sich hier jedes Jahr Hunderte von Störchen. Seitdem hier keine Abwässer mehr verrieselt werden, wird versucht, ein Teil der Flächen mit Wasser aus Gräben wenigstens zeitweise zu überstauen, um dieses wertvolle Trittsteinbiotop für die Zugvögel zu erhalten. Lena an den Rieselfeldern Lena und Urs sind mit flatternden Flügeln auf der Wiese neben der Wasserfläche gelandet. Sie sind nicht die ersten Störche, die hier eingetroffen sind. Etwa 60 Artgenossen staksen bereits auf ihren langen roten Beinen durch das seichte Wasser. Gelegentlich kann man das laute, typische Klappern eines aufgeregten Storches vernehmen, das den Vögeln im Volksmund den Namen „Klapperstorch“ eingebracht hat. Auch Lena und Urs begeben sich im flachen Wasser auf Nahrungssuche. Wenige Zeit später kann man ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 7 nicht weit entfernt das Geräusch eines Traktors vernehmen, der mit seinem Mähwerk das hohe Gras einer Wiese mäht. Daraufhin verlässt ein Großteil der Störche, darunter auch Lena, das Wasser und fliegt zu der frischgemähten Wiese. In einer großen Schar folgen sie dem Mähdrescher, der hinter sich eine Vielzahl an Insekten, Würmern und Kleinsäugern zu Tage befördert, die von den Störchen mühelos erbeutet werden können. Lena stillt ihren Hunger mit mehreren Insekten und einer Ringelnatter, die von den scharfen Messern des Mähers in zwei Hälften zerteilt wurde. Aufgrund des guten Nahungsangebotes verbringt Lena auch die nächsten zwei Tage an diesem Ort und sucht in den Wasserflächen der Rieselfelder nach Nahrung. Am Mittag des 23. August nutzt sie die starken Aufwinde, um schnell an Höhe zu gewinnen und den Weiterflug anzutreten. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 8 Urs, das Storchenmännchen von Lena, befindet sich nicht in dem Schwarm, dem Lena sich angeschlossen hat. Zwar brüten Störche oft über mehrere Jahre hinweg zusammen, das liegt aber eher an ihrer Treue zum Nest, als an der Treue zum Partner. Daher rührt auch der Begriff „Nesttreue“ und „Einjahresehe“. Der Weg führt nun nicht mehr entlang des Rheins. Dort, wo sich das Rheintal zwischen Vogesen und Schwarzwald nach Süden öffnet, hält sich der rund fünfzig Tiere zählende Schwarm westwärts und umfliegt den höchsten Berg der Vogesen, den knapp fünfzehnhun- dert Meter hohen Großen Belchen. Gut hundert Kilometer weiter südwestlich liegt die Stadt Besancon unter ihnen. Schließlich nächtigen sie nahe der Stadt Dôle . Am nächsten Tag, dem 24. August, folgen sie dem Rhônetal in südlicher Richtung. Wie auch der Rhein dient die Rhône den Zugvögeln als Orientierung. Zudem fließt die Rhône zwischen den Alpen im Osten und dem französischen Zentralmassiv. Für die Vögel ist es einfacher, dem Tal zu folgen, als Bergmassive zu überqueren, über denen nur eine schwache Thermik herrscht. Die Landschaft unter ihnen, entlang der Rhône ist geprägt von nicht enden wollenden Weinbergen. Ab und zu überfliegen sie auch Lavendelfelder, die allerdings schon vor einigen Wochen abgeerntet worden sind und nicht mehr das intensive Blau der Blüte zeigen. Den ganzen Tag schon über herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit und als die Störche Lyon überfliegen, spüren sie, wie sich ein Gewitter aufbaut. Sie landen etwas südlich von Lyon und trotzen dem aufkommenden Gewitter auf einem abgeernteten Feld, wo sie bis zum nächsten Tag bleiben. Am nächsten Tag hält sich der Himmel bedeckt und die Thermik ist wesentlich ungünstiger als die Tage zuvor. Der Storchentrupp fliegt deswegen nur in niedrigen Höhen und die Vögel landen im Verlauf des Tages mehrere Male zwischen, bis sie schließlich das Gebiet der Camargue erreichen. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 9 Die Camargue ist der westliche Teil des Rhônedeltas und befindet sich etwas westlich von Marseille. Das gesamte Gebiet von rund 75.000 Hektar ist Schwemmland, das durch die Ablagerung von Schlamm, Kies und Sand entstand, die der Fluss unentwegt ins Meer schiebt. Noch heute wird diese Landschaft durch diesen dynamischen Prozess der aktiven Deltabildung bestimmt: die Rhône lädt so viel Geschiebe ab, dass das Land jährlich mehr als 10 Meter ins Meer vorrückt. Dafür gewinnt an anderer Stelle das Meer Land zurück, so dass beispielsweise der Ort Les-Santes-Maries-de-la-Mer nicht mehr wie einst im Landesinnern, sondern nun direkt an der Küste liegt. Während der Norden der Camargue mit Reis-, Spargel- und Getreideanbau intensivst landwirtschaftlich genutzt wird, ist der Süden der Camargue für die Landwirtschaft recht unattraktiv. Das liegt daran, dass die Camargue an ihrem höchsten Punkt nur viereinhalb Meter hoch ist und das Grundwasser unter der lehmigen Erdschicht salzhaltig ist. Alle Pflanzenarten, die hier vorkommen, müssen hohe Salzehlate ertraegn können. Für viele Tier- und Pflanzenarten stellt diese außergewöhnliche Feuchtlandschaft mit ihren vielen Lagunen und Sümpfen einen einzigartigen Lebensraum dar. Neben den „touristischen Attraktionen“, wie den halbwilden weißen Pferden oder den schwarzen Camargue-Stieren, sind hier etwa 150 Vogelarten heimisch, darunter auch der Flamingo und der Eisvogel. Von baden-württembergischen Störchen wird die Camargue auf ihrem Zug nur gelegentlich aufgesucht, da sie etwas südlich der klassischen Zugroute liegt und einen Umweg bedeutet. Trotzdem kann man hier jedes Jahr Störche beobachten. Auch Lena rastet hier. Lena in der Camargue Lena hat sich nahe des Vaccarès-Sees, dem größten Binnensee der Camargue, niedergelassen, wo unweit von ihr einige Flamingos durch das flache Wasser staksen. Nur ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 10 ein paar Schritte entfernt kann sie aus dem Schilf ein leises Rascheln hören. Mit großen, aber leisen Schritten schreitet sie zu dem Geräusch und verweilt lautlos. Das Rascheln hat zwar aufgehört, aber jetzt erkennt Lena eine junge Ratte, die ihren Kopf aus dem Schilf steckt. Während sie noch vorsichtig die Umgebung nach möglichen Feinden beschnuppert, stößt Lena schon blitzschnell zu und hat die Ratte zwischen ihren spitzen Schnabelhälften gefangen. Durch ein ruckartiges Zurückwerfen des Kopfes schleudert sie ihre Beute tief in den Schnabel, und verschluckt sie schließlich lebend. Lena hält sich 2 Tage im Gebiet der Camargue auf und reist erst am 28. August weiter. Die meiste Zeit verbringt sie in den Reisfeldern nahe der Stadt Arles, in denen massenweise kleine Krebse und Egel vorkommen. Lena fliegt alleine weiter. Sie folgt dem Verlauf der Küste, fliegt aber etwa 50 Kilometer im Landesinnern und hält Kurs auf Montpellier. Nach knapp 150 Kilometern Flug übernachtet sie auf einem Dach in der Stadt Béziers. Am nächsten Tag fliegt Lena nach Süden, den Pyrenäen entgegen. Auf der Höhe der katalonischen Hauptstadt Perpignan sieht sie vor strahlend blauem Himmel den schneebedeckten Gipfel des 2785 Meter hohen Pic du Canigou vor sich. Sie möchte das Gebirge östlich an der Küste umfliegen, allerdings macht ihr der Wind, der vom Meer ins Landesinnere weht, zu schaffen. Sie fliegt in Küstennähe, wird aber bald weit ins Landsinnere abgedriftet. Schließlich landet Lena in 2000 Meter Höhe am Hang des Pic du Canigous auf einem windgeschütztem Felsvorsprung. Hier, bei einer Temperatur von ungefähr 10° C verweilt sie, bis der Wind sich gelegt hat. Erst am frühen Nachmittag des nächsten Tages legt sich der Wind und sie zieht sie weiter und befindet sich nun über Spanien. Nachdem sie die Pyrenäen im kräftezehrenden Ruderflug hinter sich gelassen hat, wendet sie sich von der Küste ab und segelt über den Ausläufern der Pyrenäen über der katalonischen Landschaft bis sie nahe dem Ebro-Stausee landet. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 11 Durch das Gebiet beim Ebro-Stausee nahe der Stadt Mequinenza zieht sich eine Doppelreihe von Hochspannungsmasten, die für Vögel eine große Gefahr darstellen. Zum einen werden die Leitungen von den Vögeln auf ihrem Flug nicht rechtzeitig erkannt und viele Vögel bleiben an ihnen hängen und kommen so zu Tode. Zum andern werden Hochspannungsmasten gerne als Schlafplatz genutzt. Vögel, die dabei gleichzeitig die Leitungen und den Masten berühren, sterben durch Stromschläge. Ebenso kann es bei hoher Luftfeuchtigkeit vorkommen, dass – auch wenn die Vögel keinen unmittelbaren Kontakt mit Leitungen haben – Kriechströme entstehen und die Vögel ebenso durch einen Stromschlag zu Tode kommen. Dies geschieht besonders häufig im Winter bei Störchen, die sich dann auf ihrem Rückflug befinden . Nicht nur in Katalonien sind Störche den tödlichen Gefahren der Hochspannungsmasten und -leitungen ausgesetzt. In fast allen Ländern, die sie auf ihrem Zug bereisen, sind Stromleitungen zu einer großen Bedrohung für die Weißstörche geworden. Lena am Ebro-Stausee Lena landet nahe dem Ebro-Stausee, der weniger durch seine landschaftlichen Reize Bekanntheit erlangt hat, als durch seine großen Welse und Karpfen. Dort trifft sie auf einen Storchentrupp, bestehend aus 12 Tieren. Als sich diese bei Anbruch der Dämmerung zum Schlafen auf einen der vielen Hochspannungsmasten begeben, schließt Lena sich ihnen an. Sie lässt sich ganz oben auf dem Masten nieder, ein anderer Storch jedoch landet auf der Leitung. Dabei berührt sein rechter Flügel eine Strebe des Masten und mehrere Tausend Volt jagen durch seinen Körper. Wie ein Stein fällt er zu Boden. Die anderen Tiere flattern aufgeschreckt auf und fliegen bis zum nächsten Masten. Die unsichtbare Gefahr hat sie nervös gemacht, doch sie können die Zusammenhänge nicht ahnen, die für sie diese tödliche Bedrohung darstellt. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 12 Zusammen mit den verbliebenen elf Störchen des Trupps segelt Lena am 31. Augustweiter in Richtung Süden. Sie orientieren sich wieder am Verlauf der Mittelmeerküste. Westlich unter ihnen liegt das Iberische Randgebirge, östlich verläuft ein flacher Küstenstreifen, der hauptsächlich mit Orangen- und Zitronenplantagen bestanden ist. Gelegentlich türmen sich graue Hochhäuser an der Küste auf: Bettenburgen für Urlauber. Um die Küstenstadt Valencia zeigt sich die Umgebung in einem satten Grün. Fruchtbares Land, das die Spanier „La Huerta“, den "Gemüsegarten", nennen, wird zum Gemüse- und Reisanbau genutzt und lässt bis zu vier Ernten im Jahr zu. Hier wendet sich der Trupp nun endgültig von der Küste ab und fliegt landeinwärts über die Ebene von Albacete, wo sie in einer monotonen, von der Landwirtschaft geprägten Landschaft rasten und nächtigen. Am nächsten Morgen segeln die zwölf Störche weiter südwestwerts über Andalusien. Unter ihnen schlängelt sich der Guadalquivir-Fluss durch Olivenplantagen, abgeerntete Sonnenblumenfelder und vereinzelte Steineichenwäldchen. In der Nähe der Stadt Cordoba gleiten sie zu Boden. Zwar würde der Guadalquivir mit seinen sumpfigen Ufern genug Nahrung bieten, doch die Störche haben eine attraktivere Nahrungsquelle entdeckt: eine offene Mülldeponie. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 13 Mülldeponien sind mittlerweile Hauptsammelplätze für Weißstörche auf ihrem Zug geworden. Gerade in Spanien kann man oft bis zu Tausend Störche beobachten, wie sie im Müll nach Essensresten und Ungeziefer stöbern. Auch überwintern Störche gerne in der Nähe größerer Deponien. Als Kulturfolger nutzten Störche schon immer die Vorteile, welche die menschlichen Einflüsse auf die Natur für sie mit sich brachten und waren in der Lage, sich ohne große Scheu anzupassen. So finden sie nun auch in den Abfällen, die wir Menschen entsorgen, eine neue Nahrungsquelle. Auch wenn das Bild, im Müll wühlender Störche nicht gerade malerisch anmutet, so sind diese „neuen“ Nahrungsplätze derzeit von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung. Langfristig dürfen wir in unseren Bemühungen nicht nachlassen, die natürlichen Rastplätze unserer Zugvögel zu erhalten und zu renaturieren. Lena auf der Mülldeponie Ein nahezu unerträglicher Gestank liegt über der Mülldeponie und die unbewegte Luft flimmert in der sengenden Hitze. Ständig kreisen Störche mit weit ausgestreckten Flügeln über dem Platz. Zwischen den Abfällen, die hierher aus Cordoba und den kleinen Dörfern der Umgebung gelangen, tummeln sich mehrere Hundert Weißstörche neben mindestens genauso vielen Rabenvögeln. Auch Lena stochert zwischen blauen Plastikbeuteln, die vor einigen Minuten ein Müllauto abgeladen hat. In den unsortierten Abfällen findet sie mehr, als sie zum Sattwerden braucht. Vor allem gibt es reichlich Aas, das für sie bequem zu „erbeuten“ ist, da es ja nicht wegläuft. Lena wird die nächsten zwei Tage noch auf der Mülldeponie verbringen, bevor sie weiter nach Süden zieht. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 14 Lena überfliegt am Vormittag des 4. September die fruchtbare grüne Ebene des spanischen Genil-Flusses, bevor sie die westlichen Ausläufer der Sierras Béticas unter sich zu sehen bekommt. Dank der sehr guten Thermik, die hier aufgrund der hohen Temperaturen herrscht, erreicht sie schon gegen Mittag die Laguna de Medina nahe der Stadt Medina Sidonia. Dort hält sie eine kurze Rast, fliegt dann aber bald weiter bis nahe Tarifa an der Küste. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 15 14 Kilometer sind es, die Europa und Afrika an diesem Nadelöhr trennen. Für Störche, die auf Thermik bei ihrem Flug angewiesen sind, stellt die Meerenge eine große Erschwernis auf ihrem Zug dar. Da sich Wasser nicht so stark wie Land erwärmt, entstehen über ihm auch keine Aufwinde, von denen die Segelflieger sich tragen lassen könnten. Den Weg über dem Wasser müssen sie also im kräftezehrenden Ruderflug zurücklegen. Nicht selten kommt es vor, dass Störche den Flug übers Wasser nicht schaffen und im Meer ertrinken. Die starken Winde, die hier das ganze Jahr über herrschen, erschweren den Flug über das Wasser zusätzlich. Lena vor der Meerenge Seit 3 Tagen hält der starke Wind, der über die Spitze Gibraltars weht, nun an. Für Lena und die Gruppe von etwa 300 anderen Störchen, die sich im Hinterland von Tarifa versammelt haben, ist es fast unmöglich, bei diesen Windverhältnissen die Meerenge zu überqueren. Ungeduldig warten sie, bis der Wind nachlässt. Immer mehr Störche, die nach Afrika hinüber wollen, treffen ein. Gegen Abend des 5. Septembers haben sich hier an die 800 Störche versammelt. Es ist der 8. September, 10 Uhr vormittags, die Temperatur beträgt inzwischen 25° C und wird wohl im Laufe des Tages noch um weitere 10° C zunehmen. Der Wind hat über Nacht nachgelassen. Schon macht sich bei den Störchen Unruhe breit, vereinzelte Vögel haben bereits ihren Flügel ausgebreitet, um loszufliegen und die 14 Kilometer breite Meerenge zu überqueren, die Europa und Afrika trennt. Auch Lena verlässt nun den Platz und nutzt die Aufwinde, die hier im Hinterland herrschen. Sie schraubt sich hoch und beginnt diesen schwierigen Teil ihrer Reise. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 16 Bald hat Lena, 1000 Meter unter sich, den südlichsten Zipfel Spaniens erreicht. Unter ihr zieht sich die felsige Küste entlang, an deren Felsen sich das tiefblaue Wasser des Atlantiks in weißer Gischt bricht. Auf der anderen Seite des Meeres bauen sich die massigen Bergmassive des markokanischenAtlasgebirges auf. Zwar hat der Wind nachgelassen, doch trotzdem braucht Lena viel Kraft, um gegen den ständig anhaltenden Luftstrom von Nord-Ost anzukämpfen, der damit droht, sie über die Weiten des Atlantiks zu verwehen. Lena erreicht als eine der ersten Störche, die mit ihr gestartet sind, den Kontinent, auf dem sie sich von jetzt an für die nächsten Monate aufhalten wird – Afrika. Über Marokko spürt Lena bald wieder die aufströmenden warmen Luftmassen, die über der Wasserfläche gefehlt haben. In großen Kreisen schraubt sie sich – ohne große Kraftanstrengung – in die Höhe. Die Halbinsel Tanger mit den großen Städten Tanger und Ceuta, von wo die Fähren nach Europa starten, liegt mehrere hundert Meter unter ihr. Die Menschen am Boden können sie nur als einen von vielen weißen Punkten am wolkenlosen Himmel ausmachen, die in unregelmäßigen Spiralen am Himmel kreisen. Lena zieht zwischen der marokkanischen Küste im Westen und dem Atlasgebirge im Osten weiter. Am Abend befindet sie sich nun zwischen Meknes und Rabat, der Hauptstadt des Landes. Dort verbringt sie die Nacht zusammen mit etwa 100 weiteren Störchen. Mehrere hundert Tiere sind hier keine Seltenheit. Es ist die günstigste Route zwischen Meer und Atlasgebirge. Am Morgen des 9. September begibt sich Lena weiter in Richtung Südwesten und überfliegt karges, von Menschen nur dünn besiedeltes Land. Gegen Mittag kann sie etwas östlich von ihr am Boden, einen hellen ungleichmäßig geformten Klecks inmitten eines grünen Bandes ausmachen. Es ist die Stadt Marrakesch, in einer fruchtbaren Oase der Haouz-Ebene gelegen und von einem Palmenwald umgeben. Sechzig Kilometer weiter stellen sich ihr die gewaltigen schneebedeckten Bergmassive des hohen Atlas‘ in den Weg. Zwar fliegt Lena in einer Höhe, die weit über der des Gebirges liegt, trotzdem meidet sie den Flug über die hohen Gipfel. In diesen Höhenlagen sind die Temperaturen nahe des Gefrierpunktes und tückische Unwetter lassen den Flug darüber zu einem großen Risiko werden. Zudem entstehen über dem Gebirge keine Aufwinde, die für einen kräftesparenden Flug nötig sind. Lena wählt den Weg nahe der Küste, wo die Ausläufer des Atlas‘ nicht mehr so hoch sind. Die Landschaft unter ihr wird merklich steppenartiger und nur noch ein paar knorrige Steineichen beleben die steilen und von Erosion zerlüfteten ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 17 Berghänge, als sie die Ausläufer des Gebirges überquert. Schließlich sieht sie, nachdem sie den Atlas hinter sich gebracht hat, die fruchtbare Ebene unter sich liegen, die der Fluss Sous auf seinem Weg vom Atlasgebirge zum Atlantik geschaffen hat. Hier, wo der Souss nahe Agadir ins Meer fließt, befindet sich der Massa Sous -Nationalpark. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 18 Der Massa Sous-Nationalpark liegt wie ein grünes Juwel zwischen den beiden Flüssen Souss und Massa, die nur wenige Kilometer entfernt, nahe Agadir in den Atlantik münden. In ihrem Delta haben die beiden Flüsse eine strukturreiche Schwemmlandebene aufgeschichtet: erhöhte Sandbänke, Buschland, Schilf- und Überschwemmungsgebiete machen das Gebiet zu einem idealen Lebensraum für viele Wasservogelarten wie Flamingos, Löffler, Marmelenten, Rallen, Fischadler, und verschiedene Möwen- und Schwalbenarten. Sogar 250 Exemplare des Waldrapps, einer der seltensten Vögel der Welt, haben in diesem Gebiet eine Zuflucht gefunden. Für durchziehende Störche stellt der Nationalpark eines der wichtigsten Habitate Marokkos dar. Lena im Massa Sous-Nationalpark Nach einer Etappe von über 400 Kilometern Flug landet Lena auf einer Sandbank nahe der Sous-Mündung. Schon im Anflug hat sie jede Menge Artgenossen ausmachen können, die im seichten Wasser auf ihren langen roten Beinen nach Nahrung suchen. Es mögen an die hundert Störche sein, daneben jede Menge anderer Wasservögel. Lena breitet die Flügel aus und segelt ein paar Meter von der Sandbank zu der großen Wasserfläche: hier scheinen die Chancen gut, Amphibien und vielleicht einige kleine Fische zu erbeuten. Über der Wasserfläche streicht gemächlich ein Fischadler dahin. Plötzlich stürzt er sich wenige Meter vor Lena mit angewinkelten Flügeln und vorgestreckten Fängen ins Wasser hinunter und erscheint dann mit einem Fisch, den er mit seinen langen Krallen regelrecht erdolcht hat. Dieses Manöver hat die Fische in der Umgebung aufgeschreckt und sie sind ins tiefere Wasser zurückgezogen. Lena gesellt sich deshalb zu einer Gruppe von Störchen hinter einem Schilfgürtel, die mit nach unten gerichtetem Köpfen durch das seichte Wasser schreiten und gelegentlich mit ihren spitzen Schnäbeln einen Frosch oder einen Fisch erbeuten. Auch Lena findet genug Nahrung, bevor sie nach dem langen Tag – auf einem Bein – schläft. Der nächste Tag beginnt angenehm, zwar ist es heiß, doch ein leichter Wind, der vom Atlantik weht, lässt die Temperatur angenehm erscheinen. Lena wird aufgrund des guten Nahrungsangebotes eine weitere Pause auf ihrem Zug einlegen und 4 Tage hier im Mündungsgebiet des Sous-Flusses verbringen. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 19 Am Mittag des 14. Septembers zieht ein Schwarm Weisstörche weiter, dem sich Lena anschließt. Sie halten Kurs auf den Anti-Atlas, den südlichsten Teil des Atlasgebirges mit einer stolzen Höhe von über 2500 Metern. Die Tiere haben die Flugrichtung geändert. Sind sie bis jetzt immer südwestlich, dem Verlauf der Küste entlang gezogen, so wenden sie sich nun von der Küste ab und segeln in Richtung Südosten. Sie überfliegen die fruchtbare Sous-Ebene und weit unter ihnen liegen in flimmernder Hitze verstreut Gehöfte mit den landestypischen Zinnentürmen zwischen Gemüsefeldern, Feigen-, Dattel- und Olivenplantagen. Je näher sie dem Anti-Atlas kommen, desto kärger macht sich die Landschaft unter ih- nen aus: welliges, braunes, schattenloses Land, nur von Felsbrocken und vereinzeltem Strauchwerk wie Ginster, Arganien und Wacholder bedeckt. Die Hänge des Anti-Atlas‘ erscheinen dann gänzlich kahl, kein Wunder, schluckt doch der poröse Sandstein, der sich über das Urgestein gelegt hat, fast alle Niederschläge. Nur gelegentlich erscheint ein grüner Fleck in einem der Täler, wahrscheinlich eine Quelle, die von den Menschen hier für die Bewässerung ihrer terrassierten Felder genutzt wird. Nachdem der Schwarm den Anti-Atlas überquert haben, liegt die scheinbar unendliche Weite der algerischen und mauretanischen Sahara vor ihnen. Doch bevor Lena zusammen mit den anderen Störchen die Wüste überqueren wird, gleiten sie gegen Nachmittag zu Boden, da sie unten ein vielversprechendes grünes Band zwischen Gebirge und Wüste entdeckt haben. Vielleicht werden sie ja ein ähnlich reiches Nahrungsangebot wie die Tage zuvor im SousDelta vorfinden. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 20 Der Draa ist Marokkos längster Fluss, dessen Wasser hauptsächlich aus den Bergen des Hohen Atlas‘ kommt. Auf einer Länge von fast 500 Kilometern bildet er die natürliche Grenze zu Algerien. Auf seinem Verlauf zum Meer trocknet der Draa in der heißen Wüstenregion oft so stark aus, dass häufig kein Tropfen Wasser mehr den Atlantik erreicht. Das Wadi des Draa – ein für diese Gegend typisches Trockental – weißt darauf hin, dass hier bei starken Regenfällen mit viel Wasser zu rechnen ist. Im Norden, am Beginn des Flusses, wo er noch viel Wasser führt, ist der Draa Lebensgrundlage für einen 200 Kilometer langen Saum von Oasen. Hier liegen mehrere kleine, orientalisch anmutende Städte, deren Bewohner sich aus den unterschiedlichsten Völkerschaften zusammensetzen: Araber, Berber, Juden und Schwarzafrikaner leben hier. Sie verdienen sich ihren Lebensunterhalt fast ausschließlich mit Landwirtschaft und Tourismus. Über eine Million Dattelpalmen im Draa-Tal liefern rund zwei Drittel der in Marokko jährlich produzierten 82.000 Tonnen Datteln. Auch wenn der fruchtbare obere und mittlere Teil des Draa-Tals abseits der klassischen Zugrouten liegt – um es zu erreichen, muss der Anti-Atlas überflogen werden – können hier jedes Jahr Störche auf ihrer Rast beobachtet werden. Lena im Draa-Tal Je weiter der Schwarm mit den rund 50 Tieren nach unten gesegelt ist, desto mehr spüren die Tiere die sengende Hitze der aufgeheizten Landschaft. Das Band, das von oben so geschlossen grün wirkte, entpuppt sich nun als mehrere, in Abständen stehende Bäume und Sträucher. Wohl ist hier schon Wasser geflossen, wie man an der Senke und den großen Gesteinsbrocken erkennen kann, die das Wasser irgendwann mit sich gebracht haben muss. Jetzt ist das Wadi Draa allerdings trocken. Für die Tiere bedeutet das, keine saftigen Leckerbissen und kein erfrischendes Wasser. Stattdessen müssen sie mit wenigen Heuschrecken und Spinnen auskommen. Lena hat Glück, gegen Anbruch der Dunkelheit kann sie eine Eidechse erbeuten, die aus ihrem Versteck zwischen zwei Steinen herausgekrochen kam. Schließlich verbringt sie die Nacht auf dem Ast einer hohen Arganie. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 21 Als am nächsten Tag die Sonne auf das sandige und steinige Land zu brennen beginnt und die Bäume und Sträucher nur noch wenig Schatten mehr geben, macht sich der Schwarm geschlossen auf den Weiterflug. Wenigstens lässt die Hitze starke Aufwinde entstehen, so dass sich die Vögel schnell in die Höhe schrauben können. Deutschland, Frankreich, Spanien und Marokko das fünfte Land auf ihrer Reise ist. Obwohl sich der Staat unter ihr geändert hat, bleibt die Landschaft doch die selbe, scheinbar endlose und lebensfeindliche Stein- und Geröllwüste. Sie haben heute mehr als 500 km zurückgelegt und rasten in der Wüste Nordmauretaniens. Es ist auch am Abend noch über 30° heiß. Auch hier finden die Tiere, wie schon am Vortag, kein Wasser vor. Es ist der 15. September, der Zug geht weiter Richtung Süden, entlang der marokkanisch-algerischen Grenze. In dieser Höhe scheint die Stein- und Geröllwüste unter ihnen wie zerknittertes Packpapier. Nur der Ort Tindouf, Algeriens wichtigste Militärbasis, bietet den Augen der Störche für kurze Zeit einen grünen Punkt in der Landschaft. Dann überfliegen sie auch schon die Grenze zu Mauretanien, das für Lena, nach Am nächsten Tag ziehen die merklich geschwächten Tiere nach Süden weiter. Unter ihnen verändert sich allmählich die Landschaft. Die Stein- und Geröllwüste, in der noch vereinzelt Akazien und Dornbüsche wuchsen, weicht der gänzlich vegetationsarmen Sandwüste. Ein Meer aus leuchtend rotbraunen Sanddünen liegt unter ihnen. Nach dem Flug finden sich die Tiere schließlich auf einer Sanddüne ein. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 22 Das Wüstengebiet El Djouf bildet ein weites Becken, das sich vom Norden Mauretaniens weit bis nach Mali hineinzieht. Es ist geprägt von endlosen Sanddünen und gilt als eines der Gebiete der Erde, die dem Menschen am längsten unbekannt geblieben sind. Die Temperatur steigt tagsüber bis auf 50°C und sinkt in der Nacht nicht wesentlich unter 30°C. In diesem lebensfeindlichen und wasserarmen Raum kann sich nur sehr spärlich Vegetation einstellen und überleben. Nur im Westen befinden sich Oasen in der Wüste, um die sich kleinere Städte wie Chinguetti oder Atar gebildet haben. Lena in der Wüste Heiß brennt der Sand unter ihren Füßen und ein leichter, aber anhaltender Wind weht den Tieren den feinen Sand ins Gefieder. Über das Rot der Storchenbeine hat sich eine weiße dünne Schicht gelegt. Das kommt daher, dass die Tiere flüssigen Kot, also Harnsäure auf ihre Beine spritzen. Durch die Verdunstung der Flüssigkeit kühlt das Blut in den feinen Äderchen dicht unterhalb der Beinhaut ab und gelangt so gekühlt in den Körper zurück. Sie sind erschöpft von der Hitze und den Anstrengungen des Fluges und leiden an Wasser- und Nahrungsmangel. Lena hat glücklicherweise noch genug Fettreserven, doch einige Artgenossen scheinen bereits so geschwächt, dass es ungewiss ist, ob sie die nächste Wasser- und Nahrungsquelle erreichen werden. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 23 Am Morgen des 17. Septembers, als der Trupp weiterzieht, bleiben zwei der fünfzehn Störche zurück. Sie werden die Hitze der Wüste und die Strapazen des Fluges nicht überleben. Die anderen Tiere ziehen über der Sandwüste weiter nach Süden. Nach gut 200 Kilometer Flug sehen sie, wie unter ihnen die Wüste wieder grüne Stellen aufweist. Sie nähern sich dem steppenartigen Gebiet nördlich der Stadt Aioun el Atrouss. Hier gibt es mehrere grüne Täler, die auch von Nomaden aufgesucht werden. In einem dieser Täler landet der kleine Trupp, nunmehr dreizehn Störche zählend. Sie haben Glück, da sie hier sogar einen Brunnen vorfinden, aus dem sie mit ihren langen Schnäbeln begierig das Wasser trinken. Auch Heuschrecken kommen in großer Anzahl vor und nach den körperlichen Belastungen, die der Flug über die Wüste mit sich brachte, nehmen die Störche die kalorienreichen Eiweißbomben gerne zu sich. Lena und ihre Artgenossen sind von dem Flug über die Wüste so erschöpft, dass sie hier die nächsten fünf Tage verbringen. Zwar ist das Nahrungsangebot nicht sehr abwechslungsreich, aber die Tiere finden große Mengen an Wüstenheuschrecken, die sich in diesem Jahr dort stark vermehrt haben. Anschließend fliegen sie weiter. Während die meisten der anderen Störche in Richtung Südosten zum Überschwemmungsgebiet des Niger-Flusses fliegen, segelt Lena nach Westen. Ihr Ziel ist das Senegaldelta. Lena überfliegt die karge Landschaft der Sahelzone und nächtigt in Kiffa, wo sie ihren Durst an einem Brunnen stillen kann. Auch hier verbringt sie einen weiteren Tag. Als sie schließlich weiterzieht, erreicht sie dann endlich bei Kaédi den Senegal-Fluss, der hier die natürliche Grenze zwischen Mauretanien und Senegal bildet. Ihm folgt sie, bis sie schließlich das Delta des SenegalFlusses erreicht. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg Einst stellte das Senegaldelta für Weißstörche eines der wichtigsten Winterhabitate dar. Gerade Störche aus Westeuropa verbrachten in diesem Schwemmlandgebiet bevorzugt den Winter, während Weißstörche aus Nordafrika eher weiter nach Osten ins Nigerbinnendelta (Mali) weiterzogen. Da die Population der westziehenden Störche in Mitteleuropa in den letzten Jahrzehnten jedoch stark abgenommen hat, werden mittlerweile nur noch kleinere Gruppen und Einzeltiere im Senegaldelta gesichtet. Das Gebiet um die Küstenstadt St. Louis in Nordwestsenegal weist zwei Nationalparks auf: Der „Parc National du Djoudi“, der sich etwa sechzig Kilometer östlich von St. Louis befindet, und der „Parc National de Langue de Barbarie“ im Mündungsgebiet des Senegals-Flusses. Beide bieten in der nur spärlich bewachsenen Halbwüste der Sahelzone verschiedenen Tier- und Pflanzenarten ein Zuhause. Der „Djoudi-Nationalpark“ ist das ornithologische Aushängeschild des Landes und das drittgrößte Vogelreservat weltweit. 450 Vogelarten, darunter Flamingos, Fischadler, Reiher, Schwarzstörche, Kormorane und Kraniche leben in dem Feuchtgebiet. Das fruchtbare Schwemmland an den Ufern des Senegalflusses wird für den Anbau von Reis, Mais; Hirse und Zuckerrohr genutzt. Nördlich des Senegal zeugen verlassene Gehöfte von der unaufhaltsamen Ausdehnung der Wüste nach Süden: manche Gebäude sind schon fast vollständig vom Wüstensand verschluckt. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 25 Lena am Senegal-Fluss Lena hat nun ihr eigentliches Ziel der Reise erreicht und wird nur noch gelegentlich kleinere Strecken in der Umgebung umherfliegen. Sie wird bis zu ihrer Abreise am 11. Februar viereinhalb Monate im nordwestlichen Gebiet Senegals und in Südmauretanien verbringen. Dabei verweilt sie die meiste Zeit im Mündungsgebiet des Senegal-Flusses, wo sie im Brackwasser nach Nahrung sucht. Immer wieder begibt sie sich aber auch zu den Reisfeldern am Ufer des Flusses, in denen sich Krebse und vereinzelt kleine Fische tummeln. Eine hohe Akazie hat sie zu ihrem Schlafplatz auserwählt, die obersten Äste sucht sie regelmäßig mit Einbruch der Dämmerung auf. Im Oktober kommt es auf mauretanischer Seite, nördlich des Senegal-Flusses, zu einer explosionsartigen Vermehrung von Wüstenheuschrecken. Lena verlässt deswegen das feuchte Schwemmland, um sich an diesen, bequem zu erbeutenden, Insekten satt zu fressen. Bis zu ihrer Abreise wird sie sich genug Fettreserven angefressen haben, um den langen Weg zurück nach Baden-Württemberg anzutreten. Wird Lena die Reise dann genauso erfolgreich meistern wie den Flug hierher? In Rheinstetten wird man sie auf jeden Fall erwarten! ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg 26 Schon immer brachten die Menschen dem Storch viel Sympathie entgegen. Obwohl sie von ihm keinen direkten Nutzen zu erwarten hatten, wurde er auf den Dächern der Dörfer nicht nur geduldet, sondern erfreute sich großer Beliebtheit und hatte lange Zeit sogar den Ruf als Glücks- und Segensbringer. Kein Wunder also, dass sich so manch einer stolz fühlte, dessen Dach ein imposanter Storchenhorst krönte. Manch ein Anderer konnte dem Storch wiederum dafür dankbar sein, einem unangenehmen aufklärerischen Gespräch aus dem Wege gehen zu können, ließ sich doch so manches vermeintlich Peinliche dem großen Vogel ins Gefieder schieben... Ob er nun die Kinder, Glück oder Segen bringt, das sei dahingestellt. Doch auch heute ist der Storch mehr als nur ein gern gesehener Gast auf den Dächern. Der Storch ist mittlerweile zu einem Symbol für intakte und naturnahe Landschaft geworden. Denn dort, wo er bei uns noch seine Kreise zieht, dürfen fisch- und amphibienreiche Gewässer nicht fehlen. In Sümpfen, feuchten Wiesen, aber auch an Waldrändern und auf giftfreiem Ackerland fühlt er sich wohl. Diese Landschaften aber sind rar geworden, nachdem seit Beginn des 20. Jahrhundert zwei Drittel der Feuchtgebiete trockengelegt wurden, sich unsere Siedlungen immer weiter ausdehnen und intensivste Landwirtschaft die Nahrungsgrundlagen der Störche weitgehend vernichtet hat. Als ausgesprochener Kulturfolger konnte er einst die Veränderungen der Landschaft für sich nutzen, die der Mensch mit sich brachte, doch nun hat der Storch in der Umgebung des Menschen nur mit engagierter Hilfe eine Chance zum Überleben. ______________________________________________________________________ Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg