Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus

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Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus
Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus. Dichtung, Malerei,
Skulptur, Fotografie, Film, München: C.H.Beck 2006, 263 S., 59
Farb-, 53 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-54683-9, EUR 29,90
Rezensiert von:
Verena Krieger
Institut für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart
Geradezu unermesslich ist die Literatur zum Surrealismus und dennoch
fehlte bislang eine zusammenfassende Darstellung, die eine Gesamtschau
dieser künstlerischen Bewegung über die Grenzen der Kunstgattungen
hinweg liefert und zugleich die weit verästelte Forschung der letzten
Jahrzehnte systematisiert und einem breiteren Publikum zugänglich
macht. Uwe Schneede, der schon in den 70er-Jahren die Pioniertat einer
Übersichtsdarstellung zur Malerei des Surrealismus unternommen hat [1],
ist auf Grund seiner vielfältigen Beschäftigung mit dem Thema geradezu
prädestiniert dies zu leisten. Wie schon in seiner "Geschichte der Kunst im
20. Jahrhundert" (2002) kann er hier seine souveräne Übersicht über die
Fülle und Vielschichtigkeit künstlerischer Entwicklungen walten lassen und
eine Summe seiner Erkenntnisse ziehen.
Mit dem Anspruch, "die Kunst" des Surrealismus in der Gesamtheit ihrer
Gattungen zu behandeln, nimmt das Buch eine globale Perspektive ein,
die seinem Gegenstand unbedingt angemessen ist: Schließlich waren die
Surrealisten in den verschiedensten Kunstgattungen tätig und haben die
neuen Medien Fotografie und Film zu zentralen Kunstgattungen erhoben,
die neue Gattung des "surrealistischen Objekts" erfunden sowie nicht
zuletzt die Ausstellung zum Kunstwerk gemacht. Die ungeheure Vielfalt
surrealistischer Schöpfungen, die zuletzt 2002 in der enzyklopädisch
angelegten Ausstellung in Paris und Düsseldorf vor Augen geführt wurde,
macht eine wissenschaftliche Analyse in der Gesamtschau aller Gattungen
strukturell nahezu unmöglich, weil sie die fachwissenschaftlichen Grenzen
sprengt. Daher liegen vorwiegend gattungsspezifische Untersuchungen
zur surrealistischen Dichtung, Film und den verschiedenen Bildkünsten
(Malerei, Collage, Objekte, Fotografie etc.) vor.[2] Auch Schneede löst
den selbst gesetzten Anspruch nur begrenzt ein, insofern er die
literarischen, fotografischen und filmischen Werke des Surrealismus eher
kurz abhandelt, während er der Malerei das weitaus umfangreichste
Kapitel und eingehende Analysen widmet. Doch bindet er, dem aktuellen
bildwissenschaftlichen Diskurs seine Reverenz erweisend, die Gattungen
durch ein kurzes, aber zentrales Kapitel über das "surrealistische Bild"
zusammen. Überzeugend argumentiert er hier, die Gemeinsamkeit der
Surrealisten gründe nicht in einem spezifischen Stil, sondern auf der
"Vorstellung vom Bild" als "veranschaulichte[r] Imagination" und
"geschaffene[r] Tatsache aus Widersprüchen zu den Tatsachen der Welt",
die es korrigieren solle (139).
Die schwierige Aufgabe, das vielschichtige Thema gleichermaßen diachron
wie synchron zu behandeln, hat Schneede souverän gelöst, indem er eine
chronologische Struktur wählte, in welche die inhaltlichen Aspekte - etwa
die Struktur der Surrealistengruppe, ihre politischen Aktivitäten, ihre
Auffassungen von der Künstlerrolle, ihre Schlüsselbegriffe und Bildmotive
etc. - eingefügt sind. So ergibt sich eine flüssig zu lesende Erzählung, die
zugleich Seitenblicke, Einzelanalysen und zusammenfassende Deutungen
bietet. Nur selten entstehen kleine irritierende Brüche im argumentativen
Verlauf, die durch ein gründlicheres Lektorat hätten vermieden werden
können - letzteres gilt auch für einige sprachliche Patzer (etwa 95, 124,
155). Unverständlich ist weiterhin, weshalb das surrealistische
ästhetische Verfahren durchgehend als "Entfremdung" statt als
"Verfremdung" bezeichnet wird.
Einige sachliche Kritikpunkte: Es trifft nicht zu, dass Max Ernst mit seiner
hochartifiziellen Kunst mitten in einer "Phase des ungewissen
Experimentierens mit kunstlosen Bildverfahren" zum Surrealistenkreis
gestoßen wäre (32), vielmehr entstand die kunstlose Gattung etwa des
"cadavre exquis" zu einem Zeitpunkt, als Max Ernst längst zur Gruppe
gehörte. Die Kunstlosigkeit solcher Verfahren war programmatische
Absicht, weshalb sie parallel zur surrealistischen Hochkunst betrieben und
nicht etwa durch diese abgelöst wurden. Weiterhin: Bretons Versuche,
eine surrealistische Politik im Bündnis mit den Kommunisten unter
Wahrung der eigenen Unabhängigkeit zu konzipieren, als ein "Lavieren"
und "Taktieren" (77) zu charakterisieren, erscheint mir arg verkürzt. Bei
allen autoritären und eitlen Zügen seiner Interventionen ist doch
festzuhalten, dass Breton das avantgardistische Projekt einer universellen
kulturellen Umwälzung unter Wahrung der Kunstautonomie wie kaum ein
anderer Künstler auf hohem Reflexionsniveau verfolgt hat, und dies unter
den schwierigsten Bedingungen.[3] Kritisch zu diskutieren wäre
schließlich Schneedes Avantgardebegriff, der den Kubismus einschließt,
hingegen den Surrealismus zum Erben der Avantgarden anstatt - wie
Peter Bürger [4] - zu deren idealtypischen Vertreter erklärt (13f).
Bedauerlich ist, dass trotz des globalen Ansatzes des Buches mancher
wichtige Aspekt außer Acht gelassen wurde: Zu nennen sind die intensive
Beschäftigung der Surrealisten mit der Alchemie, die auch in Werken
etwa von Max Ernst und Viktor Brauner Niederschlag gefunden hat [5],
die problematische Zusammenarbeit mit Georges Batailles "contreattaque" [6] sowie das höchst ambivalente surrealistische
Weiblichkeitsbild. Es ist schon ärgerlich, dass die komplexe und
kontroverse feministische Forschung völlig ignoriert wird.[7] Der
traditionelle Kanon männlicher Künstler wird durch wenige,
vergleichsweise kurz abgehandelte "Ausnahmekünstlerinnen" ergänzt darunter Claude Cahun, deren Eigenständigkeit Schneede betont, als
bedürfe das überhaupt einer Erwähnung (188). Und schließlich: Die
Literaturliste eines so umfassend angelegten Buches dürfte gerne
ausführlicher sein. Ebenso wären mehr Literaturhinweise im Text nützlich
für jeden, der sich mit einem besprochenen Aspekt vertieft beschäftigen
möchte. Weshalb, um ein Beispiel zu nennen, werden in der Diskussion
um den Gewaltvorwurf an die Surrealisten (66) nicht die Namen derer
genannt, die ihn erhoben haben (Enzensberger, Bohrer)? Auch fragt man
sich, weshalb manche Autoren namentlich zitiert, andere hingegen nicht
einmal einer Fußnote würdig erachtet werden. Nicht zuletzt vermisst man
angesichts der Fülle angesprochener Aspekte ein Sachregister. Es würde
den unstrittigen Nutzen des Buches noch deutlich steigern, wenn Autor
und Verlag sich entschließen könnten, die zu erwartende zweite Auflage
entsprechend anzureichern.
Die genannten Kritikpunkte wiegen nicht allzu schwer angesichts des
anspruchs- und verdienstvollen Unterfangens. Sprachlich und inhaltlich
prägnant wird die surrealistische Bewegung in ihrer Gesamtheit, werden
ihre Protagonisten, Programme, Qualitäten und inneren Widersprüche
charakterisiert. Abgerundet wird die Darstellung durch einen
chronologischen Überblick. Damit füllt Schneedes Buch eine seit langem
klaffende Lücke und bietet Studierenden und allen anderen
Interessierten, die sich einen Überblick über das komplexe Phänomen
Surrealismus verschaffen möchten, einen Einstieg auf hohem Niveau.
Anmerkungen:
[1] Uwe M. Schneede: Malerei des Surrealismus, Köln 1973.
[2] Exemplarisch einige grundlegende Titel: Peter Bürger: Der
französische Surrealismus. Studien zum Problem der avantgardistischen
Literatur, Frankfurt/M. 1971; Rosalind E. Krauss und Jane Livingston:
L'Amour fou. Photography, and Surrealism, Washington D.C./New York
1985; Werner Spies: Max Ernst. Collagen. Inventar und Widerspruch,
Köln 1988; Andreas Vowinckel: Surrealismus und Kunst. Studien zu
Ideengeschichte und Bedeutungswandel des Surrealismus vor Gründung
der surrealistischen Bewegung und zu Begriff, Methode und Ikonographie
des Surrealismus in der Kunst 1919 bis 1925, Hildesheim 1989.
[3] Vgl. R. S. Short: Die Politik der surrealistischen Bewegung 19201936, in: Die europäischen Linksintellektuellen zwischen den beiden
Weltkriegen, München 1967, 7-40.
[4] Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974.
[5] Vgl. u.a. Die Surrealisten, hrsg. von Arturo Schwarz, Ausst.-Kat.
Schirn Kunsthalle, Frankfurt/M. 1989, 34-40; Verena Kuni: Victor
Brauner. Der Künstler als Seher, Magier und Alchimist, Frankfurt/M.
1995; Marjorie E. Warlick: Max Ernst and Alchemy: A Magician in Search
of Myth, Austin/Texas, 2001.
[6] Vgl. Stephan Moebius: contre-attaque. Eine politische Initiative
französischer Intellektueller in den 30er Jahren, in: sozial.geschichte.
Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts, N.F. 18.
Jg, 2003, H. 2, 85-100.
[7] Vgl. u.a. Xavière Gauthier: Surrealismus und Sexualität. Inszenierung
der Weiblichkeit (1971), Wien/Berlin 1980; Mary Ann Caws, Rudolf
Kuenzli und Gwen Raaberg (Hg.): Surrealism and Women, Cambridge
und London 1991; Whitney Chadwick: Women Artists and the Surrealist
Movement, New York 1997.
Redaktionelle Betreuung: Olaf Peters
Empfohlene Zitierweise:
Verena Krieger: Rezension von: Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus.
Dichtung, Malerei, Skulptur, Fotografie, Film, München: C.H.Beck 2006, in:
sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: <http://www.sehepunkte.
de/2007/03/12399.html>
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.