- Evangelische Zentralstelle für
Transcription
- Evangelische Zentralstelle für
18.06.2009 12:36 Seite 1 ISSN 0721-2402 H 54226 EZW, Auguststraße 80, 10117 Berlin PVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226 MATERIALDIENST umschlag0709.qxd Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 72. Jahrgang 7/09 Juden, Christen und Muslime Vom Dialog zum Trialog der Religionen? Messianische Juden in Deutschland „Fiat Lux“ vor dem Ende? Verliebt in einen Vampir Stephenie Meyers Bis(s)-Romane „Stichwort“: Familienaufstellungen nach Hellinger Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen inhalt01.qxd 18.12.2007 08:11 Seite 2 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 241 INHALT MATERIALDIENST 7/2009 IM BLICKPUNKT ZEITGESCHEHEN Friedmann Eißler Vom Dialog zum Trialog? Der christlich-muslimische Dialog im Angesicht des Judentums 243 BERICHTE INFORMATIONEN Stefanie Pfister Messianische Juden Zur gegenwärtigen messianisch-jüdischen Bewegung in Deutschland 257 INFORMATIONEN Jehovas Zeugen Weitere Bundesländer erkennen Jehovas Zeugen als Körperschaft an 266 Neuapostolische Kirche „Christus – meine Zukunft“ Eindrücke vom europäischen Jugendtag der NAK 268 Fiat Lux Der „Orden Fiat Lux“ vor dem Ende? 270 Mormonen Zwischen Mission und Wertesehnsucht Jugendliche entdecken Stephenie Meyers Bis(s)-Romane 272 In eigener Sache Zum Tod von Hermann Brandt 273 STICHWORT INFORMATIONEN Familienaufstellungen nach Hellinger 274 inhalt01.qxd 18.12.2007 08:11 Seite 2 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 243 IM BLICKPUNKT Friedmann Eißler Vom Dialog zum Trialog? Der christlich-muslimische Dialog im Angesicht des Judentums Auf die Frage, ob es auf dem 32. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Bremen auch neue Elemente gebe, kündigte Kirchentagspräsidentin Karin von Welck im Vorfeld an, es gebe erstmals einen direkten Trialog zwischen Juden, Christen und Muslimen. In diesem Jahr werde das bilaterale Gespräch zwischen Christen und Juden „erweitert zu einem Trialog der Religionen“. Auch wenn dies so nicht ganz stimmt,1 ist die Ankündigung durchaus als Zeitansage zu hören. Der Trialog wird als Gebot der Stunde empfunden. Der Osnabrücker katholische Bischof Franz-Josef Bode schließt sich dem grundsätzlich an, wenn er im selben Zusammenhang den Trialog als Zielvorgabe für das Gespräch mit den monotheistischen Religionen sieht. Er räumt allerdings ein, dass dies von der „theologischen Substanz“ her „sehr schwierig“ sei. Außerdem dürfe der Dialog mit den Juden „nicht einfach eingeebnet werden in ein allgemeines Gespräch der Religionen“.2 Damit ist ein Themenfeld eröffnet, das aktuell auf der Tagesordnung des Dialogs der Religionen weit oben steht, und zugleich auf die Ungeklärtheit einiger seiner theologischen Grundlagen hingewiesen. Der Trialog gibt Fragen hinsichtlich Form und Inhalt auf, die für die reflektierte Praxis einer Klärung bedürfen. Einige der jüngst besonders diskutierten Fragen sollen im Folgenden angesprochen werden. Ausgangspunkt ist dabei der christlich-musli- mische Dialog, von dem aus das christlich-jüdische Verhältnis in den Blick kommt. Begriff und Praxis des Trialogs Als Trialog wird „das trilaterale Gespräch, die Begegnung zwischen Juden, Christen und Muslimen auf den verschiedensten Ebenen“ bezeichnet.3 Semantisch ein Unwort4, zeigt sich der Begriff in der Praxis als durchsetzungsfähig. In Vortragstiteln und Tagungsprogrammen wird er immer seltener mit einem Fragezeichen versehen. Trialog findet in vielfältiger Weise statt.5 Allenthalben werden Einzelveranstaltungen, aber auch längerfristige Bildungsprogramme angeboten, an vielen Orten geschieht dauerhaft praktische Trialogarbeit. Wenn man nicht schon weit in die Geschichte zurückgehende Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen als Trialog bezeichnen möchte, so sind dessen Anfänge doch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zu sehen. Das besonders traditionsreiche Begegnungsforum von Juden, Christen und Muslimen, das in Bendorf seinen Anfang genommen hat, wurde 1972 gegründet und hält jährliche Konferenzen ab.6 Breitere Aufmerksamkeit erhielt der Trialog ab den 1990er Jahren.7 Äußere Anlässe bildeten auch politische Konflikte. So führte der Irak/Kuwait-Krieg 1990/91 zu gemeinsamen FrieMATERIALDIENST DER EZW 7/2009 243 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 244 densgebeten im Sinne einer praxis pietatis, die nach einer theologischen Reflexion verlangte, welche sich dann in verschiedenen kirchlichen Arbeitshilfen niederschlug. Der Akzent wurde außer auf die interreligiöse Verständigung auf interkulturelle Begegnung gelegt (QuandtStiftung), meist spielen beide Elemente eine Rolle. Viele Trialogaktivitäten verbinden sich aus naheliegenden Gründen mit dem Namen Abraham (Abrahamische Häuser oder Lehrhäuser, Abrahamische Foren und Teams u. a.), gilt doch Abraham allen drei Religionen als Vater – als das oder zumindest ein Ur-Bild des Glaubens.8 Voraussetzungen, Methoden, Ziele des Trialogs Trialoginitiativen verstehen sich nicht als Alternative oder Konkurrenz zu den weiterhin als notwendig erachteten bilateralen Dialogen, sondern als deren notwendige Ergänzung. Es wird u. a. auf die Veränderung der religionsgeographischen Situation hingewiesen und damit ein quantitatives Argument vorgebracht: Noch nie gab es eine so große religiöse Minderheit wie heute, wo neben einem wiedererstarkten Judentum bis zu 3,5 Millionen Muslime in Deutschland leben.9 Es liegt auf der Hand, als Aufgabe des Trialogs gemeinsame gesellschaftliche Herausforderungen zu sehen, die nur solidarisch zu bewältigen sind. Dies allein macht nach Karl-Josef Kuschel allerdings noch keinen Trialog. Darüber hinaus begründe dieser sich „aus Wurzeln in den jeweiligen Religionen selbst“. „Dass Juden, Christen und Muslime nicht nur zusammen leben, sondern auch zusammen glauben und zusammen beten können, hat seinen Grund in den Heiligen Schriften. Das Christentum ist ohne die Hebräische Bibel so undenkbar wie der Islam ohne die Tora und 244 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 das Neue Testament. Juden, Christen und Muslime teilen ein grandioses Erbe.“ Es ist an eine Vernetzung der vorhandenen bilateralen Dialoge gedacht. Ein Schritt kann dabei sein, dass die bilaterale Agenda einen impliziten Trialog ermöglicht durch Einladung der jeweils dritten Religion, zumindest durch die Rücksichtnahme auf die jeweils anderen bilateralen Dialogkonstellationen. Parallel dazu ist der gezielte Aufbau regionaler und überregionaler „abrahamischer Institutionen und Strukturen“ anvisiert.10 Es geht indes nicht (nur) um eine institutionelle Vernetzung, vielmehr vor allem um ein neues, „vernetztes Denken“, das sich trialogisch in wechselseitiger Wertschätzung zuerst und vor allem auf die Ur-Kunden der jeweiligen Religionen bezieht.11 Von daher gilt es, in konstitutiv theozentrischer Dimension eine „trilaterale Methodik“ (Hans Küng) zu entwickeln, die zu einem stärkeren wechselseitigen Wahrnehmen, Einladen und Teilnehmen führt. „Juden, Christen und Muslime sind füreinander nicht Fremde, Ungläubige ..., sondern Geschwister im Glauben an den Gott Abrahams.“12 Kuschel spricht konsequent von der Ökumene der Kinder Abrahams, die als einen ihrer zentralen Werte die gewährte Gastfreundschaft kennt.13 Wird in diesem Zusammenhang die spirituelle Dimension praktisch mit einbezogen, kann unmittelbar zum gemeinsamen Beten eingeladen werden. Die sogenannte „spirituelle Gastfreundschaft“ gehört sicher zu den besonders problematischen Aspekten des Trialogs, vor allem wenn an die Stelle ihrer theologischen Reflexion der bloße Hinweis auf die Faktizität der „empirisch anzutreffenden Formen von Gebetsfeiern“ tritt.14 Als ein Ziel des Trialogs wird mit wenig Variation angegeben, dass Menschen in die religiösen und kulturellen Traditionen der drei großen abrahamischen Religio- inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 245 nen eingeführt werden und dass der Austausch unter Juden, Christen und Muslimen zum friedlichen Zusammenleben in gegenseitiger Wertschätzung gefördert werden soll. In dieser Allgemeinheit sollte das nun sicherlich ein Ziel aller Religionen sein. Die Plausibilität der Beschränkung auf die drei gründet wesentlich in einer Grundvoraussetzung des Trialogs: „Die grundlegende Gemeinsamkeit von Juden, Christen und Muslimen dürfte der Glaube an den einen Gott sein.“15 Damit sind wir bei einem ersten Themenbereich, den wir mit drei weiteren exemplarisch beleuchten wollen, um den Dialog über notwendige, jedem Dialog angesichts des besonderen Verhältnisses von Christen und Juden unabweisbar aufgegebene theologische Differenzierungen anzustoßen. Jedes Thema verdient und bedarf einer eigenen gründlichen Darlegung. Wir müssen uns auf einige wenige Grundlinien beschränken. Differenzierungen Der eine Gott Über der Selbstverständlichkeit, mit der gelegentlich die Selbigkeit des hinter verschiedenen Weltreligionen stehenden Gottes vorausgesetzt oder behauptet wird, werden offenbar hier und da Grundeinsichten vernachlässigt, die der theologischen Reflexion vorgegeben sind und jeder Form des interreligiösen Dialogs von vornherein und unumkehrbar eine spezifische Perspektive verleihen. Die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam verdanken sich ohne Zweifel drei unterschiedlichen Offenbarungen. Wie auch immer diese aufeinander zu beziehen sind, so handelt es sich zunächst um drei voneinander unterschiedene „Veranlassungen“ von Gott zu reden, wie Michael Weinrich es treffend um- schreibt.16 Das heißt, da sind bestimmte Gegebenheitsweisen des Handelns und Redens Gottes in Raum und Zeit, die als unverfügbare Quellen dessen, was Glauben genannt wird, ein existenziell verbindliches Verhältnis von Gott und Mensch aus sich heraussetzen. Sie sind nicht einfach austauschbar. In Verbindung mit ihrer je unverwechselbaren konkreten Geschichte bleiben die göttlichen Veranlassungen zugleich der kritische Maßstab für das, was in der jeweiligen Religion als Wahrheit gelten kann. Aufgabe der Theologie ist es, die unterschiedlichen Veranlassungen zu reflektieren, sie in Beziehung zu unseren Gottes- und Welterfahrungen zu setzen. Aufgabe der Theologie ist es hingegen nicht, diese Gegebenheitsweisen zum Zweck der Abgrenzung gegenüber anderen zu übersteigen. Christliche Gotteserkenntnis ist durch das Christusgeschehen veranlasst. Das Bekenntnis, dass in Jesus von Nazareth nicht (nur) ein herausragender Diener und Prophet Gottes auftrat, sondern Gott „in Christus“ war, „die Welt mit sich selbst versöhnend“ (2. Kor 5,19), dass es die Glaubenden also „in Christus Jesus“ mit Gott selbst zu tun haben, geht bis auf früheste Formen urchristlicher Doxologie zurück. Die Anfänge trinitarischer Rede von Gott sind in den neutestamentlichen Texten dokumentiert, ihr Sitz im Leben ist der gottesdienstliche Lobpreis Gottes.17 Man wird die trinitarische Rede von der später im Horizont griechischer Philosophie ausformulierten Trinitätslehre zu unterscheiden haben18, in der Sache prägt sie den christlichen Glauben von Anfang an.19 Denn der innere Grund der Trinitätslehre ist die Christologie, die die bedingungslose Zuwendung Gottes zur Welt im Leben, Sterben und Auferwecktwerden des Jesus von Nazareth zum Thema hat.20 Es ist dabei nicht unwichtig zu betonen, dass das trinitarische Bekenntnis in engsMATERIALDIENST DER EZW 7/2009 245 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 246 ter Bezogenheit auf das sogenannte Alte Testament, die Hebräische Bibel, den Namen Gottes (Ex 3,14f) und das erste Gebot (Ex 20,2f) auslegt und so die Einheit und Einzigkeit Gottes schützt vor Menschenvergottung und Beigesellung (hebr. shittuf, arab. shirk).21 Seine doxologische Struktur wahrt zudem das Geheimnis Gottes, insofern Gott gerade nicht begrifflich-rational definiert, „begrenzt“, sondern seine leben- und glaubenschaffende Wirklichkeit lobend bekannt wird. Im Blick auf die Juden war christlicherseits nie ernsthaft infrage gestellt worden, dass der Vater Jesu Christi der Gott Israels ist. Im Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28-31 und Parallelen) weist der Jude Jesus selbst in den Glauben an den einen Gott und das Zeugnis von dem einen Gott ein (Dtn 6,4f; Lev 19,18). Die neutestamentlichen Texte gehen selbstverständlich von der Identität des Gottes Israels mit dem in und durch Christus handelnden Gott aus. Ohne auf die aus jüdischer Perspektive bleibende Anstößigkeit und die damit verbundenen historischen und theologischen Problemlagen weiter eingehen zu können22, begnügen wir uns zusammenfassend damit, wie die Leuenberger Kirchengemeinschaft den kirchlichen Konsens prägnant beschrieben hat: „Der dreieinige Gott, von dem das christliche Bekenntnis spricht, ist kein anderer als der, zu dem Israel betet.“23 Dies begründet die Eigenart des Verhältnisses zwischen Christen und Juden. „Deshalb darf es für Christen keinen interreligiösen Dialog geben, der das einzigartige Verhältnis von Juden und Christen nicht eigens berücksichtigt.“24 Die islamische Position ist zunächst ebenso eindeutig. Sure 29,46 gibt in der Frage nach der Identität Gottes eine klare Antwort: „Unser Gott und euer Gott ist einer (wahidun), und wir sind ihm ergeben (muslimuna).“ Für Muslime ist daher die Identität Gottes in Judentum, Christentum 246 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 und Islam selbstverständlich. Nun ist dies jedoch fraglos eine (islamisch-)theologische Feststellung, die nicht mit einer religionswissenschaftlichen zu verwechseln ist oder als solche gleich von christlicher Seite mit in Anspruch genommen werden kann. Denn selbstverständlich klingt im Koranvers mit dem Hinweis auf den Einen (wahid) der islamische tauhid vom selben Wortstamm an, d. i. das Bekenntnis des einen und einzigen Gottes im Sinne des Islam (vgl. dazu Sure 2,163; 37,4; 41,6; 18,110; insbesondere aber 5,73 und die im Kern antichristliche Sure 112). Die „Gottergebenheit“ (= Islam) ist vom ursprünglichen Wortsinn her sicher nicht mit dem Islam als positiver institutionalisierter Religion zu identifizieren, wird aber traditionell zweifellos weniger nach Goethes humanistischer Lesart, sondern eben so verstanden.25 Die islamische Bezugnahme auf den einen Gott ist keine religionsgeschichtliche, allgemeine, sondern ebenso wie entsprechend die christliche oder die jüdische eine auf die eigenen offenbarungstheologischen Grundlagen gegründete. Sie entspricht der besonderen Veranlassung, die Muslime entschieden von Gott als dem reden lässt, der sein Schöpferwort „Sei!“ gerade auch über dem Geschöpf und Propheten Jesus ausruft und damit die Gottessohnschaft Jesu ebenso wie jede trinitarische Spekulation ausschließt (vgl. Sure 3,47.51.59; 5,72.117; 19,30.35-36; 43,64; 2,116; 5,116). Diese Veranlassung beinhaltet konstitutiv die Annahme, dass Gott seinen Propheten um seiner Gerechtigkeit willen nicht den Schmähtod am Kreuz sterben lässt, denn Jesus ist nach dem koranischen Zeugnis „rein“ (Sure 19,19) und ein „Gott Nahestehender“ (Sure 3,45). Die Gerechtigkeit Gottes schließt die Möglichkeit aus, dass die Macht der Feinde Gottes triumphiert; vielmehr wird Jesus vor den Ränken der inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 247 Gegner bewahrt und zu Gott in den Himmel erhoben (Sure 4,157f). Die Implikationen des Gerechtigkeitsbegriffs (‘adl) für die Anthropologie und die Soteriologie sind erheblich.26 „Keine lasttragende (Seele) nimmt die Last einer anderen auf sich“, betont der Koran mehrfach im Blick auf den „Tag, an dem keine Seele etwas anstelle einer anderen übernehmen kann und von keiner Fürsprache noch Ersatz (leistung) angenommen wird und ihnen keine Hilfe zuteil wird“ (Sure 2,48.123; 6,164; 17,15; 35,18 u. ö.). Im Horizont der islamischen Vorstellung des Verhältnisses von Gott und Mensch ist für einen Erlösungsgedanken im Sinne des Versöhnungshandelns Gottes kein Platz und kein Bedarf.27 Bibel und Koran Dieselbe Veranlassung beinhaltet ferner ebenso konstitutiv die Annahme, dass sowohl die Tora der Juden als auch „das Evangelium“ (indschil) der Christen nicht mehr in der ursprünglichen Form vorliegen. Juden bzw. Christen haben demnach die göttliche Offenbarung durch teilweise Verdrehung oder Verfälschung (tahrif, Sure 2,75; 4,46; 5,13.41), durch Vertauschen und Abändern von Wörtern (tabdil, Sure 2,59.181; 7,162; 10,15; 27,11; 48,15) oder durch teilweise Verheimlichung von Teilen der Schrift (kitman, Sure 2,146.159.174; 3,71.187) korrumpiert. Von daher ist es weder zufällig noch nebensächlich, dass der Koran sich keine Bibel oder biblischen Texte voranstellt, auf die er sich unmittelbar bezöge.28 An diesen markanten Sachverhalt ist in diesem Zusammenhang zu erinnern, denn er hängt aufs Engste mit der Gottesfrage zusammen. Die Schriften des Neuen Testaments beziehen sich auf das Alte Testament dezidiert als (die) heilige Schrift.29 Christliches und jüdisches Gottesver- ständnis sind eng mit dem Ringen um das angemessene Verständnis derselben Textgrundlage verbunden. Der Koran hingegen qualifiziert die religionsgeschichtliche Kontinuität durch ihre explizite Infragestellung. Dabei geht es nicht um traditionsgeschichtliche Details oder versehentliche Abweichungen, sondern um die theologische Abnabelung von der Autorität der vorhergehenden Offenbarung(en) durch den Vorwurf der willentlichen Veränderung. Die islamische Grundentscheidung der Diskontinuität sieht keine „kanonische Dialogizität“ vor; sie wirft die theologische Frage nach der Treue Gottes auf.30 An dieser Stelle liegt der Einwand nahe, der Koran verarbeite auf Schritt und Tritt biblische Stoffe und stelle sich darüber hinaus selbst explizit in die Reihe der Offenbarungsschriften (Sure 5,44-48). In der Tat ist es ein Kennzeichen der koranischen Verkündigung, dass sie in stetem Rückbezug auf die früheren Offenbarungen geschieht. Der Koran will keine Neuerung bringen, sondern die in Tora und Evangelium ergangene Botschaft in arabischer Sprache für das arabische Volk aktualisieren (Sure 16,103; 12,2; 46,9-12). So setzt er selbst zu seinem Verstehen nicht nur biblisches Vorwissen voraus, sondern fordert sogar den Propheten auf, im Falle eines Zweifels über die Offenbarung diejenigen zu fragen, „die vor dir die Schrift lesen“ (Sure 10,94; vgl. 16,43f; 2,136), also Juden und Christen. Dahinter steht die grundlegende theologische Auffassung von der ursprünglichen Einheit der Offenbarung, die über die Jahrhunderte immer wieder durch Propheten den Menschen bekannt gemacht wurde. Die dadurch hergestellte Kontinuität von Adam bis Muhammad, dem Siegel der Propheten (Sure 33,40), wird an vielen Stellen mit dem offenbarungstheologisch zentralen Begriff der Bestätigung markiert: Die Gesandten MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 247 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 248 und vor allem der Koran selbst bestätigen die vorherigen Offenbarungen (Sure 2,89; 3,3.50; 5,46.48; 61,6 u. ö., regelmäßig mit dem Partizip Aktiv musaddiq). Allerdings wird aus den Kontexten deutlich, dass Bestätigung neben dem positiven Aspekt der Bekräftigung einen kritischen Aspekt hat. Bestätigt werden Tora und Evangelium – also die Hebräische Bibel und das Neue Testament – so weit und insofern sie mit dem Koran übereinstimmen, da dieser als letztgültige Offenbarung auch Maß und Kriterium aller Bestätigung ist. Was unter diesem Gesichtspunkt nicht koranisch „bestätigt“ wird, fällt unter das Verdikt der Änderung, der verbotenen Neuerung oder der „Übertreibung“ (was insbesondere für die christliche Auffassung der Trinität gilt). Religionsgeschichtlich betrachtet steht der Koran ohne Frage in der Wirkungsgeschichte der Bibel, ja er kann als Auslegung der Bibel betrachtet werden. Der phänomenologischen Vergleichspunkte sind daher viele, und es wird Aufgabe des Dialogs bleiben, die Gemeinsamkeiten zu erkunden und zu würdigen. Doch die koranische „Bestätigung“ als Anerkennung der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments zu deuten, geht an der Sache vorbei. Zugespitzt formuliert: Der Koran setzt sich nicht mit der Heiligen Schrift auseinander, sondern er setzt, was Heilige Schrift genannt zu werden verdient. Der Koran akzeptiert eine Offenbarung, die es (faktisch) nicht gibt. Damit ist eine theologische Weichenstellung vorgenommen, die den christlich-muslimischen Dialog fundamental vom christlich-jüdischen unterscheidet. Sie sollte im Dialog Respekt finden. Mission Zunehmend spielt das Thema Mission im christlich-muslimischen Dialog eine Rol248 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 le, und zwar einerseits gleichsam als Kehrseite der Religionsfreiheit in der Menschenrechtsdiskussion (Konversion/Apostasie), andererseits im Gefälle des kirchlichen Neins zur Judenmission mit der Absicht, einen entsprechenden ausdrücklichen Missionsverzicht auch gegenüber Muslimen zu erreichen. Die Last, die auf dem Begriff und der Geschichte der Mission liegt, ist groß. Damit umzugehen wird der Kirche ebenso aufgegeben bleiben wie die Mission selbst, die als Teilhabe an der missio Dei und als Verkündigungsauftrag eine wesentliche Dimension christlicher Existenz bildet. Wie umstritten der Missionsbegriff im Allgemeinen und insbesondere Mission unter Juden ist, dokumentiert sich in einer anhaltend kontroversen Diskussion, die die Komplexität der Verhältnisse in einer Vielzahl divergierender Stellungnahmen und Diskussionsbeiträge auf unterschiedlichen Ebenen widerspiegelt und bis heute nicht zu einem tragfähigen Konsens geführt hat.31 Man kann indessen eine wachsende Einsicht in den kategorialen Unterschied zwischen der Völkermission (Mt 28) und dem zunächst an die (jüdische) Jüngergemeinde ergehenden Auftrag zur Sammlung des eschatologischen Gottesvolkes Israel (Mt 10,6) – die nicht zu dessen Aufhebung führen kann! – verzeichnen. Die theologische Bedeutung der bleibenden Erwählung Israels ist nicht mehr Randthema, sondern wird seit dem rheinischen Synodalbeschluss von 1980 breit aufgenommen. Sie ist Ausdruck der Bundestreue Gottes. Der Bund Gottes mit Israel ist nicht nur Identitätsmerkmal Israels, sondern als ein „Identitätsmerkmal Gottes selbst“ anzusehen. Eine Mission an Juden, die auf die Integration Israels in die heidenchristliche Kirche abzielt (Subsumtion Israels unter die Völker), stellt daher die Identität Gottes infrage.32 So wird lager- inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 249 übergreifend Übereinstimmung darin zu erreichen sein, dass „Judenmission“ ein „gänzlich unbrauchbarer Begriff“ ist, da er in der Gefahr steht, den Bund Gottes zu negieren und das Volk Israel zu paganisieren.33 Zur theologischen Klärung kommt die historische Verantwortung, die angesichts der schwer belasteten Vergangenheit dazu führen muss, dass speziell die Kirchen in Deutschland „sich für ganz und gar unberufen halten, Israel im Namen Jesu Christi anzusprechen“34. Hier greifen die Themen Mission und Antisemitismus charakteristisch ineinander. Wenn dennoch am „Christuszeugnis in Israel“ festgehalten wird, wie es auch Jüngel tut, so hat dies einerseits mit der Berufung auf die neutestamentliche Sendung an die Juden zu tun, andererseits mit der gerade im ökumenischen Diskurs gewonnenen Einsicht in die missionarische Positionalität als Bedingung der Dialogfähigkeit.35 Das zugrunde liegende dissenstheoretische Dialogmodell hebt darauf ab, dass die Wahrheit der Erlösung durch Jesus Christus niemandem vorenthalten werden darf.36 Wie immer man zur Frage der Judenmission steht, mit Sicherheit ist von hier aus zu sagen, dass das Verhältnis zu Muslimen auch in dieser Hinsicht vom christlich-jüdischen Verhältnis unterschieden ist. Es mag – auch abgesehen von politischen Erwägungen – im Interesse von Muslimen liegen, die Sensibilität der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft gegenüber Juden bei bestimmten Themen verstärkt auch auf die eigene Religionsgemeinschaft zu lenken bzw. in dieser Hinsicht neu zu wecken. Dies liegt umso näher, als aus islamischer Sicht Juden und Christen als „Schriftbesitzer“ (ahl al-kitab) in den Blick kommen und daher im Vergleich zu Andersreligiösen herausgehoben sind. Das kann zu der Einschätzung führen, sozusagen spiegelbildlich von Christen eine entsprechende Parallelisierung von Juden und Muslimen erwarten zu können. Beim Thema Mission oder auch etwa beim Thema Antisemitismus/ Islamophobie mögen auf diese Weise Hoffnungen entstehen, von den geschichtlichen Erfahrungen der christlich-jüdischen Beziehungen in Deutschland und ihren bisherigen Ergebnissen profitieren zu können. Dabei ist zu bedenken, dass es im Blick auf das christlich-jüdische Verhältnis angesichts der geschichtlichen Verantwortung der Schoa keine Schlussstrichforderung geben darf. Davon nicht unabhängig ist der Parallelisierung von Antisemitismus und Islamophobie entschieden entgegenzutreten.37 Die Eigenart des christlich-jüdischen Verhältnisses bleibt unüberholbar erhalten. Unter dieser Voraussetzung gilt nach wie vor, was die „Verlautbarung zum Missionsverständnis“ der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau vom 20.8.2008 festhält: „Mission als Bezeugung des Evangeliums ist ein unverzichtbarer Bestandteil christlicher Identität.“ Die Verlautbarung flankiert zusammen mit einer muslimischen Stellungnahme ein gemeinsames Kommuniqué „Mission und Religionsfreiheit in einem säkularen Staat“, in dem Vertreter der beiden Landeskirchen, der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen (IRH) und der DITIB ein weit gehendes Bekenntnis zur Freiheit der Religionsausübung, der Mission und der Konversion unterzeichnet haben.38 Zwar versucht sich die muslimische Stellungnahme vom Missionsbegriff über die Differenzierung von „Mission“ und „Einladung zum Islam“ (da’wa) energisch zu distanzieren, doch sollten die aus dem universalen Wahrheitsanspruch der beiden Religionen erwachsenden Probleme nicht nur der einen oder anderen Seite zuMATERIALDIENST DER EZW 7/2009 249 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 250 geschoben werden.39 Und man sollte sich künftig nicht künstlich überrascht zeigen, wenn die zum „Herzschlag der Kirche“ (Eberhard Jüngel) gehörende Missionsdimension zur Sprache gebracht wird.40 Abraham und die Ismael-Linie Abraham schien in den Hintergrund gerückt zu sein, nachdem von vielen Seiten begründete Skepsis gegenüber der verbindenden Kraft des gemeinsamen „Abrahamischen“ in den monotheistischen Religionen geäußert worden ist – bis hin zu der bedeutenden Dialoginitiative von muslimischer Seite „A Common Word“, die nicht zufällig völlig ohne Abraham auskommt.41 Neuerdings erhält Abraham wieder Auftrieb.42 So hebt auch die Arbeitshilfe der Evangelischen Kirche im Rheinland „Abraham und der Glaube an den einen Gott“ erneut die Bedeutung des Patriarchen hervor.43 Besonderes Gewicht erhält dabei die Verheißungs- und Segensgeschichte für die Familie und die Nachkommen Abrahams. Die Familienmetapher erzeugt eine hohe Plausibilität des Dialogs auf einer gemeinsamen Grundlage, obgleich damit schon im Blick auf das Judentum Schwierigkeiten verbunden sind.44 Häufig wird Ismael und dem Ismaelsegen (Gen 17,20; 21,13.17-20) eine wichtige Brückenfunktion zum Islam zugeschrieben. Thomas Naumann, auf den man sich dabei bezieht, geht so weit, für Isaak und Ismael von „einer gemeinsamen Segens- und Bundeskonzeption“ auszugehen.45 Der Abrahambund gilt daher als „ungekündigter Bund Gottes mit Isaak und Ismael“, der das Wirken Muhammads und den Islam „in der Strahlkraft dieser Verheißungen“ und damit den „Islam als Heilsweg des biblischen Gottes“ verstehen lassen kann.46 Wir können an dieser Stelle nicht auf die damit aufgeworfenen Fragen eingehen, 250 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 sondern beschränken uns darauf, dem einige Hinweise auf die islamische Ismaelrezeption gegenüberzustellen. In Fortführung des oben zur islamischen Grundentscheidung der kanontheologischen Diskontinuität Gesagten ist die Frage zu stellen, welche dialogische (nicht nur innerchristliche) Relevanz dieser Versuch des theologischen Brückenschlags hat – ganz abgesehen davon, dass das genealogische Argument nicht gleichsam automatisch theologische Geltung beanspruchen kann! Denn es fällt auf, dass Ismael für Muhammad zunächst offenbar kaum eine Rolle spielt, jedenfalls nicht als Abrahamssohn. Das zeigt sein relativ spätes und eher beiläufiges Auftauchen in der koranischen Chronologie (Sure 19,54). Er bleibt in der ganzen mekkanischen Zeit ohne Verbindung zu Abraham. Es wirkt so, als habe Muhammad keine klare Vorstellung von seiner Zuordnung gehabt. Erst später klären sich die Familienverhältnisse, etwa dass Ismael der Sohn Abrahams und der Bruder Isaaks ist. In Medina lautet die Väterformel nicht mehr „meine Väter Abraham, Isaak und Jakob“ (Sure 12,38), sondern „Gott deiner Väter Abraham, Ismael und Isaak“ (Sure 2,133). Jetzt (erst) wird Ismael als Abrahams Erstgeborener Isaak vorgeordnet und rückt so an die erste Stelle. Scharf tritt dies zu Tage in der Zuspitzung auf die ausschließliche Nennung Abrahams und Ismaels im Gründungstext für die Kaaba und die Wallfahrtsriten in Sure 2,124-128. Beide stehen hier für die islamisch konstitutive Hinwendung nach Mekka, die mit der Abwendung von Jerusalem verbunden ist. Ismael steht vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Juden und Christen in besonderer Weise für die Islamisierung der biblischen Überlieferung. Von daher ist die genealogische Konstruktion der Abraham-Ismael-Araber-Linie aus islami- inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 251 scher Sicht zwingend. Sie war allerdings noch nicht Sache der ersten Generationen. Hier begegnete man dem jüdischchristlichen Anspruch auf die Abrahamskindschaft mit dem strikt nicht-genealogischen Argument, ein solcher Anspruch bestehe nicht aufgrund von Abstammung, sondern aufgrund von Glauben (s. Sure 3,68; vgl. Joh 8,39). Es war die Stoßrichtung des frühen Islam, über alle Stammesund Volksgrenzen hinweg auf den individuellen Glauben und die persönliche Aneignung des moralischen Vorbilds abzuheben (Sure 2,124!). Dem entspricht, dass Ismael ursprünglich in keinerlei Verbindung zu einem arabischen Stamm stand, auch nicht in Form etwa altarabischer Prophetennamen. Der Name Ismael ist nichtarabischer Herkunft und in vorislamischer Zeit nicht geläufig. Wäre Ismael von den mekkanischen Verwandten Muhammads und vom Propheten selbst als Stammvater der Araber angesehen worden, müsste er einer ganz anderen, prominenteren Darstellung schon in den frühen Suren gewürdigt worden sein. Es konnte bislang allerdings kein einziger vorislamischer Beleg für den arabischen Gebrauch des Namens beigebracht werden.47 Das alles heißt natürlich nicht, dass die Bedeutung Ismaels nicht im Laufe der Zeit Wandlungen unterliegen kann, wie es auch durch die Verknüpfung von arabischen mit biblischen Genealogien in der islamischen Theologie lange nach Muhammad der Fall war. (Die Vorlage dazu lieferte die frühjüdische und rabbinische Literatur.) Doch ist nicht zu übersehen, dass es dabei nicht um ethnische Verwandtschaft ging, sondern um die religiöse Legitimierung der millat Ibrahim (Religion Abrahams, Sure 3,67; 2,135). Es ist andererseits meines Wissens noch keine ernst zu nehmende Anstrengung von muslimischer Seite bekannt geworden, den abrahamischen Dialog über Is- mael konkret auf die Bibel und biblische Verheißungen zu beziehen oder gar auf diese Weise zu begründen. Dessen sollte man sich zumindest bewusst sein, und es sollte bedacht werden, ob die IsmaelThese im christlich-muslimischen Dialog nicht eine ganz und gar einseitige (Wunsch-)Projektion auf den Islam ist, die wenig mit dessen Selbstverständnis, viel jedoch mit den dogmatischen Voraussetzungen des trialogischen Projekts zu tun hat. Für die christliche Wahrnehmung mag die Wiederentdeckung des Ismaelsegens und die damit verbundene Sicht auf die Abraham-Ismael-Araber-Linie ein neuer Impuls für den Dialog sein, und Muslime mögen sich über das Entgegenkommen freuen. Als theologische Kompensation an der Stelle der islamisch nicht vorhandenen Dialogizität im Blick auf den biblischen Abrahambund48 taugt die Berufung auf den Segen Ismaels nicht. Die Brücke ans andere Ufer hängt, um im Bild zu bleiben, in der Luft. Zwischenfrage an die Trialoglogik Die Familiengeschichte Abrahams reicht nicht aus, um einen Trialog zu begründen. Selbst das Abrahamische Forum in Deutschland hat schon gelegentlich darauf hingewiesen, dass der Begriff Trialog eine Verkürzung sei, da er etwa die Bahá’í ausschließe, für die Abraham ebenfalls eine große Persönlichkeit ist. In der Tat: Warum nicht auch die Bahá’í? Und was wäre mit der Neureligion der Mormonen oder den in Deutschland durchaus ins Gewicht fallenden Zeugen Jehovas oder mit der Neuapostolischen Kirche und so fort? Zwar gelten die genannten Gemeinschaften nicht als „abrahamisch“ und nicht alle als Religionen, doch die Anfrage sollte angesichts der auch dort hervorgehobenen Bedeutung Abrahams nicht einMATERIALDIENST DER EZW 7/2009 251 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 252 fach als ketzerisch von der Hand gewiesen werden. Nicht dass damit eine unmittelbare Vergleichbarkeit ausgesagt und alles auf eine Ebene gezogen wäre – aber eben: Was legitimiert dann die Grenzziehung, die die eine sich auf Abraham beziehende Religion ein- und die andere ausschließt? Es ist davon auszugehen, dass sich durchaus theologische Anknüpfungspunkte zu anderen religiösen Traditionen finden ließen, die Dialoge in ganz anderen Zusammensetzungen rechtfertigen würden. Das heißt: Wenn nicht theologisch willkürliche Setzungen oder rein quantitative oder gesellschaftspolitische Erwägungen entscheiden sollen – die im Blick auf die Muslime zweifellos ein tatsächliches Gewicht haben –, leuchtet die Beschränkung auf die drei nicht recht ein. Die innere Plausibilität des „abrahamischen“ Trialogs scheint sich mir zu einem nicht unerheblichen Teil aus der spezifisch islamischen Wahrnehmung der drei Religionen zu speisen, die wohl häufig unreflektiert als neutrale Gegebenheit betrachtet wird: Aus islamischer Sicht sind Juden und Christen „Schriftbesitzer“ (ahl al-kitab), also im Vergleich zu Andersreligiösen herausgehoben. Von hier aus erschließt sich die (islamische) Logik des Trialogs, die allerdings weder einfach mit einer religionswissenschaftlichen gleichzusetzen ist noch aus christlicher Perspektive zwingend erscheint. Selbstverständlich spricht im Prinzip nichts gegen den Trialog, zum Beispiel aus praktischen Gründen. Aber gerade in dieser Hinsicht gilt doch, dass Vertreterinnen und Vertreter aller Religionen aufgefordert sind, nach Bedarf gemeinsame gesellschaftliche Aufgaben gemeinsam in Angriff zu nehmen und konstruktiv für das Gemeinwohl zu wirken. Je nach Möglichkeit und Präsenz von Religionen vor Ort sind dann alle gefragt. Der Trialog darf 252 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 nicht zu einer elitären Veranstaltung von akademischem Interesse werden. Fazit Wir haben – einseitig – auf die Wahrnehmung theologischer Differenzierungen im Blick auf den bilateralen Dialog mit Muslimen angesichts des Dialogs mit dem Judentum Wert gelegt. Sie ergeben sich aus den unterschiedlichen „Veranlassungen“ von Gott zu reden (Michael Weinrich). Die religionsgeschichtliche Nähe ist evident, sie ist ein starkes Argument für den Trialog. Ebenso augenfällig entspricht sie jedoch nicht einem „gleichseitigen Dreieck“ und wäre theologisch nicht ernst genommen, würde man mittels der Familienmetapher eine gemeinsame, etwa „abrahamische“ Basis für den Dialog schlicht voraussetzen. Diese muss je gemeinsam erarbeitet werden. Dabei implizieren die Thematisierung von Unterschieden und die Zurückhaltung bei Verwandtschaftsbekundungen keine Abgrenzung oder gar Abwertung, vielmehr wird gerade so der letzten Entzogenheit der Wahrheit Gottes wie auch der geschichtlichen und theologischen Gestalt ihrer Selbsterschließung Respekt entgegengebracht. Sonst müsste ja auch der Dialog mit hinduistischen, buddhistischen oder andersreligiösen Mitbürgerinnen und Mitbürgern von vornherein hoffnungslos diskriminierend sein. Nein, auch mit ihnen ist wie mit Muslimen ein Dialog „auf Augenhöhe“ nötig und möglich, ohne dass eine theologische Anerkennung des je Anderen im Sinne einer „Glaubens- und Weggemeinschaft vor und zu Gott“49 zu fordern wäre. Die Forderung der Anerkennung der Identität Gottes als Vorbedingung für Dialog („Augenhöhe“) erweist sich als Prokrustesbett für zeitgemäße Dialogkonzeptionen. Meines Erachtens besteht die wesentliche Aufgabe des Dialogs hingegen in dem inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 253 konstruktiven und das gesellschaftliche Miteinander befördernden Umgang mit den unüberwindbaren Unterschieden. Wer hier Vorbedingungen diktiert und anderslautende Meinungen bevormundet, fällt einer dogmatistischen religionstheologischen Engführung zum Opfer, die in der Regel gerade den Andersdenkenden vorgeworfen wird. Es ist rational nicht einzusehen, weshalb gemeinsame Glaubensinhalte die Voraussetzung für einen sinnvollen, konstruktiven und menschlich wertschätzenden Dialog im Kontext der gemeinsamen gesellschaftlichen Anforderungen bilden sollten. Glaube ist ein unverfügbares Geschenk, das sich aus sich heraus nicht sinnvoll mit einem Besser oder Schlechter verknüpfen lässt. Das Zeugnis des Glaubens (martyria) weiß um die Schwachheit und Vorläufigkeit seiner menschlichen Gestalt und verweist gerade nicht auf seine eigene Durchsetzungskraft, sondern vertraut auf die Selbstdurchsetzungskraft der Wahrheit. Dass Christen und Muslime denselben Gott meinen, wird sich als theologische Perspektive angesichts des Anstößigen der christlichen Gotteserkenntnis für Juden und für Muslime zu bewähren haben. Trialog? Dazu sind schließlich die konkreten Fragestellungen und Problemlagen der jeweiligen bilateralen Dialoge zu unterschiedlich, jedenfalls bislang. In der Praxis vor Ort sollte es vorläufig bei den wichtigen und wachsenden bilateralen dialogischen Beziehungen bleiben, die – wo immer nötig – selbstverständlich erweitert werden. Dann aber sollte nicht ein elitäres Kriterium „Trialog“, sondern das der Präsenz und der Begegnungsmöglichkeiten von Religionsgemeinschaften vor Ort entscheidend sein. Anmerkungen 1 2 3 Trialog ist schon seit vielen Jahren ein Thema, auch auf Evangelischen Kirchentagen. So machte schon in Stuttgart 1999 ein „Trialog dreier Religionen“ von sich reden, dessen zentrale Bedeutung im Blick auf die europäische Einigung „und damit auch für die Leitung des Protestantentreffens“ damals hervorgehoben wurde. In Hannover 2005 gab es einen „Abrahamitischen Trialog“ („Wenn deine Tochter dich morgen fragt“) und in Köln 2007 immerhin einen „Musikalischen Trialog der Weltreligionen“. – Auf dem Bremer Kirchentag vom 20.-24.5.2009 fand ein Halbtag Trialog statt, der eine Bibelarbeit und ein Podiumsgespräch umfasste. Interview: www.katholisch.de/Nachricht.aspx?NId= 1196 (alle Internetseiten abgerufen am 30.5.2009). Martin Bauschke, Der jüdisch-christlich-islamische Trialog, in: Michael Klöcker / Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen. Religionen und Glaubensgemeinschaften in Deutschland, Landsberg a. L. 1997ff (Lieferung 2004), II-4.2.17; ders., Der jüdisch-christlich-islamische Trialog. Wissenschaftliche Studie, München 2007. Bauschke lässt das Phänomen bis auf die convivencia von Juden, Christen und Muslimen im maurisch-andalusischen Spanien zurückgehen und nimmt den Terminus „der Kürze halber und dem weithin eingebürgerten Sprachgebrauch entsprechend“ schon 2001 selbst- 4 5 6 7 verständlich auf (s. den gleichen Artikel des Handbuchs in der Fassung von 2001, 1). Dialog heißt „Gespräch“ (von griech. dialégesthai), die Vorsilbe diá hat semantisch nichts mit zwei zu tun – auch wenn mit Dialog „insbesondere“ ein Zwiegespräch gemeint sein kann –, so dass dem ein Trialog (Vorsilbe tri von griech. treis, tria) als dreiseitiges Gespräch zur Seite gestellt werden könnte. Allerdings bringt das Wort das Gemeinte so prägnant auf den Punkt, dass eine Einbürgerung des Begriffs im gewünschten Sinne auch gegen die Philologie in der Praxis stattfindet. Man sollte die Sprachentwicklung an der Stelle sicher gelassen sehen. S. aber das Fazit unten. Zu einer problem- und strukturorientierten Darstellung des Trialogs s. M. Bauschke, in: Handbuch der Religionen, a.a.O. Ständige Konferenz von Juden, Christen und Muslimen in Europa („Bendorfer Konferenzen“), www.jcm-europe.org; dazu M. Bauschke, in: Handbuch der Religionen, a.a.O., 21. Erwähnenswert ist für die Zeit davor eine der ersten Trialogpublikationen auf Deutsch: Isma’il Raji alFaruqi (Hg.), Judentum, Christentum, Islam. Trialog der Abrahamitischen Religionen, Frankfurt a. M. 1986 (amerik. Orig. Trialogue of the Abrahamic Faiths, 1982); sie dokumentiert eine Tagung mit MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 253 inhalt0709.qxd 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 18.06.2009 12:35 Seite 254 Beiträgen von Michael Wyschogrod, Krister Stendahl, Muhammad Abdul ar-Ra’uf u. a. Die Literatur dazu ist inzwischen unüberschaubar gewachsen. Vgl. insbesondere Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, Düsseldorf 42006; ders., Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007, 548-623 (673f Lit.!); zu diesem Grundlagenwerk des Trialogs auch meine Rezension in: ThLZ 4/2009, 414-418. Karl-Josef Kuschel, Muss der jüdisch-christliche Dialog zum Trialog mit dem Islam werden? Pro (Contra von Christian Staffa), in: Jüdische Allgemeine vom 17.3.2005, zit. nach www.lomdim.de/ md2005/03/05.html. Dort auch die folgenden Zitate. M. Bauschke, in: Handbuch der Religionen, a.a.O., 18f. K.-J. Kuschel, Juden – Christen – Muslime, a.a.O., 23-29. K.-J. Kuschel, Muss der jüdisch-christliche Dialog zum Trialog mit dem Islam werden? A.a.O. Kuschel schon 2002: „Die Glaubensexistenz von Christen ist vom Kern her trialogisch strukturiert. Christen können ihr Glaubenszeugnis nicht ohne das jüdische und muslimische und umgekehrt Juden und Muslime nicht ihr Glaubenszeugnis ohne die jeweils anderen reflektieren. Die trialogische Grundstruktur des Glaubens gilt für alle drei Kinder Abrahams“ (www.phil.uni-sb.de/projekte/imprima tur/2002/imp020802.html). Martin Bauschke / Walter Homolka / Rabeya Müller (Hg.), Gemeinsam vor Gott. Gebete aus Judentum, Christentum und Islam, Gütersloh 2004, 19. Vgl. dazu meine Rezension in: Jud 1/2005, 87-89. M. Bauschke, in: Handbuch der Religionen, a.a.O., 2. S. dazu auch unten: Zwischenfrage an die Trialoglogik. Michael Weinrich, Glauben Christen und Muslime an denselben Gott? Systematisch-theologische Annäherungen an eine unzugängliche Frage, in: Evangelische Theologie 4/2007, 246-263, hier z. B.: 249. 250, weiter: „Es gehört zum Wesen dieser verschiedenen Veranlassungen, von der Wirklichkeit Gottes zu reden, dass sie als solche nicht zur Disposition stehen.“ – Ich stütze mich im Folgenden auf die ausgezeichnete Darlegung des Themas, die differenziert und mit der nötigen Sensibilität auch für die Grenzen unseres rationalen Zugriffs vorgeht und als Ganze unbedingt lesenswert ist. Hans-Joachim Eckstein, Die Anfänge trinitarischer Rede von Gott im Neuen Testament, in: Rudolf Weth (Hg.), Der lebendige Gott. Auf den Spuren neueren trinitarischen Denkens, Neukirchen-Vluyn 2005, 31-59 (online unter: www.uni-tuebingen.de/ ev-theologie/downloads/Eckstein_Anfaenge-trinita rischer-Rede.pdf). Vgl. die neue rheinische Arbeitshilfe: Den rheinischen Synodalbeschluss zum Verhältnis von Christen und Juden weiterdenken – den Gottesdienst erneuern, Arbeitshilfe zum trinitarischen Reden von 254 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 19 20 21 22 23 Gott, zum Verhältnis der Völker zu Israel, zur theologischen Bedeutung des Staates Israel und zur Gestaltung von Gottesdiensten in Verbundenheit mit dem Judentum, hg. von der Evangelischen Kirche im Rheinland, 2008. Gegen die von Hans Küng – und im Dialog häufig – vertretene These eines im Grunde selbst Christen kaum zumutbaren, durch späte „heidenchristliche“ Ausweitung und hellenistische Überfremdung „aufgeweichten Monotheismus“ (Hans Küng, Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, München 2004, 604. 617). – Die entscheidenden Grundlagen für eine sogenannte „hohe Christologie“ finden sich nicht etwa am Ende, sondern bereits am Anfang des neutestamentlichen Entstehensprozesses zu Beginn der 50er Jahre des 1. Jahrhunderts, vgl. H.-J. Eckstein, Die Anfänge trinitarischer Rede, a.a.O. (online), 5. Er fährt dort fort: „Erkennt man in 1 Kor 8,6 wie in anderen christologischen Formeln ein bereits geprägtes Bekenntnis, dann reichen die literarisch greifbaren Anfänge der trinitarischen Rede von Gott im Neuen Testament zumindest in die vierziger Jahre des 1. Jh. zurück.“ M. Weinrich, Glauben Christen und Muslime an denselben Gott? A.a.O., 251: „Es geht dabei wohlgemerkt entschieden nicht um die Vergottung eines Menschen, sondern um die Vermenschlichung Gottes. Die sachliche Pointe liegt darin, dass Gottes Hingabe für den Menschen noch einmal er selbst ist – er gibt den Menschen nicht nur irgendetwas und behält sich zugleich auch ein anderes Verhältnis zur Welt vor, sondern in der Selbsthingabe bekommt die Bedingungslosigkeit seiner Zuwendung zur Welt ihre entscheidende Pointe (Joh 3,16).“ Ebd., 252: „Es ist durchaus kein Zufall, dass es gerade die älteren Antitrinitarier waren, die das Alte Testament für die christliche Selbstvergewisserung ausschalten wollten, während die Vertreter des Trinitätsmotivs alles an der Kontinuität zum Alten Testament hängen sahen.“ – Zur Trinitätslehre als Auslegung der Einheit Gottes jetzt auch eine weitere rheinische Arbeitshilfe: Abraham und der Glaube an den einen Gott. Zum Gespräch zwischen Christen und Muslimen, hg. von der Evangelischen Kirche im Rheinland, 2009, Teil 1. Vgl. dazu die Arbeitshilfe: Den rheinischen Synodalbeschluss zum Verhältnis von Christen und Juden weiterdenken, a.a.O., und insbesondere den Impuls, der von der jüdischen Erklärung „Dabru emet“ aus dem Jahr 2000 ausging und eine kontroverse Diskussion ausgelöst hat: Rainer Kampling / Michael Weinrich (Hg.), Dabru emet – Redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003; Hubert Frankemölle (Hg.), Juden und Christen im Gespräch über „Dabru emet – Redet Wahrheit“, Paderborn / Frankfurt a. M. 2005. Kirche und Israel. Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden, im Auftrag hg. von Hans Schwier, Leuenberger Texte Bd. 6, Frankfurt a. M. 2001, 59. Vgl. M. inhalt0709.qxd 24 25 26 27 28 29 30 31 32 18.06.2009 12:35 Seite 255 Weinrich, Glauben Christen und Muslime an denselben Gott? A.a.O., 254-257, sowie insbesondere aber die Arbeitshilfe: Den rheinischen Synodalbeschluss zum Verhältnis von Christen und Juden weiterdenken, a.a.O., 13-25. Nikolaus Klein, Entschiedenes Nein zur Judenmission, in: Orientierung 8/2009, 85-86, hier: 86. Goethe hatte im „West-östlichen Divan“ formuliert: „Wenn Islam Gottergeben heißt, Im Islam leben und sterben wir alle.“ Zum Postulat eines den abrahamischen Religionen gemeinsamen islam (klein geschrieben: Hingabe an Gott) vgl. H. Küng, Der Islam, a.a.O., 114. – Zum ursprünglichen Sinn des Verbs aslama („das Gesicht ganz zu Gott hinwenden“): Tilman Nagel, Islam. Die Heilsbotschaft des Korans und ihre Konsequenzen, Westhofen 2001, 33-34. Der Mensch ist schöpfungsgemäß Stellvertreter Gottes (khalifa, Sure 2,30) und als solcher vor allem Diener Gottes (abd Allah, Sure 19,93; 2,21). Dies verbindet selbstverständlich die muslimische mit der jüdischen Sicht. S. aber den folgenden Abschnitt. Unabhängig von der in der Forschung umstrittenen Frage, ob und, wenn ja, in welcher Form die Bibel oder Teile der Bibel zur Zeit der Entstehung des Korans auf Arabisch greifbar waren oder nicht. Vgl. zum Prae der Bibel Israels nur etwa die „Hermeneutik des Alten Testaments“ von Christoph Dohmen, in: ders. / Günter Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Kohlhammer-Studienbücher Theologie Bd. 1/2, Stuttgart u. a. 1996, 133-213, hier besonders: 135158. Erich Zenger hat im Blick auf das Verhältnis von AT und NT den Begriff einer „Hermeneutik der kanonischen Dialogizität“ geprägt, s. etwa die inzwischen in der 7. Auflage erschienene Einleitung in das Alte Testament, Kohlhammer-Studienbücher Theologie Bd. 1/1, Stuttgart u. a. 2008, Teil A. Vgl. zuletzt die durch Papst Benedikt XVI. durch die neuformulierte Karfreitagsfürbitte „Pro Iudaeis“ im außerordentlichen lateinischen Ritus im Februar 2008 angestoßene Kontroverse. – S. zum Ganzen die ebenso materialreiche wie theologisch eindringliche Arbeit von Robert Brandau, Innerbiblischer Dialog und dialogische Mission. Die Judenmission als theologisches Problem, Neukirchen-Vluyn 2006; ferner Rolf Rendtorff, / Hans Hermann Henrix, Die Kirchen und das Judentum. Bd. I: Dokumente von 1945-1985, Paderborn / München 1988; Hans Hermann Henrix / Wolfgang Kraus (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Bd. II: Dokumente von 1986-2000, Paderborn / Gütersloh 2001. EKD-Studie Christen und Juden III. Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum, Gütersloh 2000, 44f, in der Diskussion bei R. Brandau, Innerbiblischer Dialog, a.a.O., 413-421. Ferner die Arbeitshilfe: Den rheinischen Synodalbeschluss zum Verhältnis von Christen und Juden weiterdenken (a.a.O.), wo in den Anhängen A und B der Be- 33 34 35 36 37 38 39 schluss und die Thesen „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ von 1980 wieder abgedruckt sind. Vgl. Eberhard Jüngel, Mission und Evangelisation. Referat zur Einführung in das Schwerpunktthema der EKD-Synode in Leipzig 1999, zit. nach R. Brandau, Innerbiblischer Dialog, a.a.O., 139. – Die Erklärung der Leuenberger Kirchengemeinschaft aus dem Jahr 2001 geht davon aus, dass die Anerkennung der bleibenden Erwählung der Juden einen Auftrag der Kirche, Juden zur Konversion zum Christentum zu bewegen, ausschließt, vgl. Kirche und Israel, a.a.O., 72. Jüngel, zit. nach R. Brandau, Innerbiblischer Dialog, a.a.O., 139. Die mutatis mutandis bei allen Dialogpartnern vorauszusetzen und zu erwarten ist. Vgl. Wilfried Härle, Aus dem Heiligen Geist. Positioneller Pluralismus als christliche Konsequenz, in: Lutherische Monatshefte 7/1998, 21-24 (s. auch www.religio. de/dialog/498/15_03-06.htm; Langfassung: Die Wahrheitsgewißheit des christlichen Glaubens und die Wahrheitsansprüche anderer Religionen, in: Zeitschrift für Mission 3/1998, 176-189). Zur Kritik daran: R. Brandau, Innerbiblischer Dialog, a.a.O., 154-170. „Aus der Bezeugung des Evangeliums in Israel ist ja die Kirche hervorgegangen. Sie müsste ihre eigene Herkunft verleugnen, wenn sie das Evangelium ausgerechnet Israel gegenüber verschweigen wollte“ (Jüngel, zit. nach R. Brandau, Innerbiblischer Dialog, a.a.O., 139). Auf dieser Linie sind auch die EKD-Leitlinien zum Verhältnis mit anderen Religionen zu sehen: Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen. Theologische Leitlinien, EKDTexte Nr. 77, hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hannover 2003 (www.ekd.de/download/Texte_77.pdf). Vgl. zu diesem eigenen Thema nur Matthias Küntzel, Das „Zentrum für Antisemitismusforschung“ auf Abwegen. Über die Gleichsetzung von Antisemitismus und „Islamophobie“ (www.matt hiaskuentzel.de/contents/das-zentrum-fuer-antisemi tismusforschung-auf-abwegen); zur umstrittenen Tagung des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin im Dezember 2008 auch meine Hinweise in Antisemitismus – Islamfeindlichkeit – Islamophobie, in: MD 2/2009, 64-65. Sogenannte „Kasseler Erklärung“, s. dazu www. kcid.de/phpwcms/index.php?id=14,158,0,0,1,0 und Friedmann Eißler, Kasseler Erklärung zu Mission und Religionsfreiheit, in: MD 11/2008, 432f. Die Unterzeichnung des Kommuniqués stieß umgehend auf innerislamischen Widerstand. Selbstverständlich kennt der Islam in der Sache auch Mission, vgl. dazu nur die umfangreiche Studie von Henning Wrogemann, Missionarischer Islam und gesellschaftlicher Dialog. Eine Studie zu Begründung und Praxis des Aufrufes zum Islam (da’wa) im internationalen sunnitischen Diskurs, Frankfurt a. M. 2006. MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 255 inhalt0709.qxd 40 41 42 18.06.2009 12:35 Seite 256 Die EKD-Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft“ (EKD-Texte 86, Hannover 2006) hatte nicht zuletzt in diesem Punkt heftigen Widerspruch erfahren. Wenig glaubwürdig wirkte die Empörung eines muslimischen Dialogbeauftragten, der in der Thematisierung der Mission etwas ganz Neues sehen wollte und sich dabei zu der die Dinge auf den Kopf stellenden Behauptung hinreißen ließ: „Die EKD erhebt einen Wahrheitsanspruch für das Christentum“! („Mehr Liebe!“ – Fragen an Bekir Alboga, in: Rheinischer Merkur vom 15.2.2007, 25). Vgl. www.acommonword.com; dazu die von mir herausgegebene Dokumentation: Muslimische Einladung zum Dialog. Dokumentation zum Brief der 138 Gelehrten („A Common Word“), EZW-Texte 202, Berlin 2009. Vgl. meine Überlegungen zu der Frage: Gibt es eine abrahamische Ökumene? Zur Konstitution eines Begriffs und seinen religionstheologischen Implikationen, in: Ralph Pechmann / Dietmar Kamlah (Hg.), So weit die Worte tragen. Wie tragfähig ist der Dialog zwischen Christen, Juden und Muslimen? Gießen 2005, 261-287 (kürzere Fassung in: theologische beiträge 4/2005, 173187). Bernd Schröder, Abrahamische Ökumene? Modelle der theologischen Zuordnung von christlich-jüdischem und christlich-islamischem Dialog, in: ZThK 105 (2008), 456-487; Martin Bauschke, Der Spiegel des Propheten. Abraham im Koran und im Islam, Frankfurt a. M. 2008; K.-J. Kuschel, Juden – Christen – Muslime, a.a.O.; Christfried Böttrich / Beate Ego / Friedmann Eißler, Abraham in Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2009. 256 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 43 44 45 46 47 48 49 Abraham und der Glaube an den einen Gott, a.a.O., Teil 2. Vgl. Matthias Morgenstern, Das Judentum – eine Tochterreligion des Christentums? Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis von Judentum und Christentum, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 11 (2006), 44-56. Thomas Naumann, Ismael – Abrahams Sohn und abrahamischer Erzvater, in: Blätter Abrahams. Beiträge zum interreligiösen Dialog, hg. von Manfred Görg / Stefan Jakob Wimmer, München 2003, 58-79, zit. nach: K.-J. Kuschel, Juden – Christen – Muslime, a.a.O., 614. Vgl. weiter Thomas Naumann, Ismael – Abrahams verlorener Sohn, in: Rudolph Weth (Hg.), Bekenntnis zu dem einen Gott? Neukirchen-Vluyn 1999, 70-89; ders., Die biblische Verheißung für Ismael als Grundlage für eine christliche Anerkennung des Islam? In: Andreas Renz / Stephan Leimgruber, Lernprozess Christen Muslime. Gesellschaftliche Kontexte – Theologische Grundlagen – Begegnungsfelder, Münster 2002, 152-170. Zit. nach K.-J. Kuschel, Juden – Christen – Muslime, a.a.O., 619. Vgl. zu diesem Abschnitt Hanna N. Josua, Ibrahim, Khalil Allah. Eine Anfrage an die Abrahamische Ökumene, Proefschrift ter verkrijging van de graad van Doctor in de Godgeleerdheid aan de Evangelische Theologische Faculteit te Heverlee (Leuven) / Belgien 2005, 328-333. S. oben bei Anm. 30. K.-J. Kuschel, Juden – Christen – Muslime, a.a.O., 110. inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 257 BERICHTE In bestimmter Hinsicht ist das Phänomen „Messianische Juden“ keineswegs neu. So heißt es in der EKD-Studie „Christen und Juden III“: „Seit den Anfängen der christlichen Kirche hat es immer wieder Juden gegeben, die sich dem Glauben an Jesus geöffnet haben und sich taufen ließen. Die Urgemeinde in Jerusalem bestand ausschließlich aus solchen, die anfängliche Ausbreitung des christlichen Glaubens im Lande Israel geschah gleichfalls unter ihnen.“ Andererseits hält die Studie fest: „Der religiöse Status der Messianischen Juden und ihrer Gemeinden ist weithin ungeklärt. Von Seiten der klassischen christlichen Kirchen und Konfessionen werden sie meist nicht wahrgenommen ... Von den jüdischen Autoritäten werden sie nicht als Juden anerkannt, sie gelten höchstens als abtrünnige Juden. In das christlich-jüdische Gespräch sind die Messianischen Juden infolgedessen in der Regel nicht einbezogen. Die Messianischen Juden selbst betonen jedoch, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung und Intensität, dass sie sich dem jüdischen Volk zugehörig fühlen und sich zugleich als Teil der Gemeinschaft aller Christusgläubigen sehen“ (Christen und Juden III. Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum. Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2000, 62 und 64-65). Im Folgenden berichtet Stefanie Pfister, Autorin einer jüngst veröffentlichten Dissertation zum Thema (s. Anm. 1), über Formen messianisch-jüdischen Lebens in Deutschland. Über dieses Phänomen wird es auch in Zukunft kontroverse Debatten geben. Dennoch gilt es von einer eigenständigen religiösen Bewegung gleichsam zwischen Judentum und Christentum Kenntnis zu nehmen, die sich in dem genannten Spannungsfeld entwickelt hat und in den letzten Jahren gewachsen ist. Stefanie Pfister, Sendenhorst Messianische Juden Zur gegenwärtigen messianisch-jüdischen Bewegung in Deutschland1 Messianische Juden glauben an Jesus als den Messias Israels. Sie haben sich seit 1995 als feste Bewegung im deutschen Raum etabliert und treffen sich in knapp 40 Gemeinden und Gruppen mit etwa 1000 regelmäßigen Besuchern, so dass der renommierte Experte für den jüdischchristlichen Dialog, Hans Hermann Henrix, 2007 von einer „überraschenden Wirklichkeit des gegenwärtigen messianischen Judentums“2 sprach. Historische Spuren Die ersten Christen in der Jerusalemer Urgemeinde glaubten, dass Jesus der verheißene Messias Israels sei. Sie taten dies als innerjüdische Gruppe und lebten weiter im jüdisch-religiösen Kontext. Mit der Aufnahme der Heidenchristen entstand eine gemischte Gemeinde. Verschiedene Faktoren wie die Aufnahme der (unbeschnittenen) Heidenchristen, neue reliMATERIALDIENST DER EZW 7/2009 257 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 258 giöse Riten und die Distanz der Judenchristen zu den jüdischen Freiheitskämpfen führten zu Trennungsprozessen zwischen den Judenchristen und der jüdischen Gemeinschaft. Da sich die heidenchristliche Kirche ab dem frühen 2. Jahrhundert aufgrund der aufkommenden Substitutionstheologie selbst als das wahre Israel betrachtete, verwehrte sie es den judenchristlichen Mitgliedern, weiter an ihrem jüdischen Erbe festzuhalten. Das führte dazu, dass die Judenchristen als eigenständige Gruppierung „verschwanden“. Dennoch konnten sie bis ins 5. Jahrhundert und in einigen Kirchen sogar darüber hinaus religiöse „Spuren“ wie Bräuche oder Symbole hinterlassen. In den späteren Jahrhunderten zwang die heidenchristliche Kirche Juden zur Taufe, Juden erlitten Verfolgungen und Pogrome, und somit gab es lange keine judenchristliche Bewegung mehr. Puritaner und die Pietisten im 17. und 18. Jahrhundert interessierten sich besonders für das Judentum und suchten das Gespräch mit Juden. Die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts belebten wiederum die pietistische Frömmigkeit, und es entstanden die Pfingst-, die charismatische und die evangelikale Bewegung. Die Erweckungsbewegung förderte das Entstehen judenmissionarischer Werke, wodurch erstmals seit Jahrhunderten Juden wieder freiwillig den Glauben an Jesus als den Messias Israels annahmen, dabei aber in die jeweiligen Kirchen aufgenommen wurden und dort blieben. Manche judenchristlichen Gruppierungen waren nur von kurzer Dauer. Erst im 19. und 20. Jahrhundert schlossen sich die an Jesus Christus glaubenden Juden, die sich nun „Hebräische Christen“ nannten, zu Verbindungen zusammen. Die bedeutendsten waren die „Hebrew Christian Union“ (HCU, 1865 entstanden) und die „Hebrew Christian Alliance of America“ 258 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 (HCAA, 1915 entstanden). Die HCAA wurde später Teil der 1925 gegründeten „International Hebrew Christian Alliance“ (IHCA), deren erster Vorsitzender Leon Levinson wurde. Dieses internationale Netzwerk vereinigte erstmals die bis dahin gegründeten nationalen Allianzen in Europa und Amerika. Innerhalb der hebräisch-christlichen Bewegung trafen sich zu Beginn der 1970er Jahre einzelne Gruppen, die viele jüdische Elemente in ihre Gottesdienstformen integrierten. Angeregt durch die amerikanischen evangelikal-charismatischen Aufbruchsbewegungen und durch ein neues jüdisches Identitätsbewusstsein entstand 1975 auf einer hebräisch-christlichen Konferenz in Amerika die Bewegung messianischer Juden. Seitdem nennen sich die Verbindungen messianisch-jüdische Allianzen. Messianische Juden weltweit und in Deutschland Mittlerweile hat sich das messianische Judentum weltweit verbreitet, wobei sich die stark divergierenden Schätzungen auf 50 000 bis 332 000 messianische Juden in 165 bis 400 Gemeinden belaufen.3 In den Vereinigten Staaten lebt die größte Zahl messianischer Juden (40 000 bis 60 000).4 Die Gottesdienstformen amerikanischer messianischer Gemeinden enthalten viele jüdische Elemente, obwohl über die Hälfte der Besucher Nichtjuden sind. Für Israel geben B. Skjøtt und K. Kjær-Hansen 1999 eine Zahl von knapp 5000 messianischen Juden an.5 Das messianische Judentum in Israel ist durch eine außerordentlich große sprachliche und kulturelle Vielfalt gekennzeichnet, und messianische Juden müssen ihre jüdische Identität weniger rechtfertigen als anderswo, da ihnen diese weniger abgesprochen wird. Die messianisch-jüdische Bewegung in den inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 259 GUS-Staaten ist noch sehr jung, da sie mithilfe verschiedener evangelikaler Werke nach dem Zusammenbruch des Kommunismus entstanden ist. Die Theologie der Gemeinden in Israel, den USA und den GUS-Staaten wird meist als evangelikal bezeichnet.6 In Deutschland führte der Zweite Weltkrieg zu einem kompletten Abbruch nicht nur jüdischen Lebens, sondern auch der judenchristlichen Bewegung, so dass es bis Mitte der 1990er Jahre keine hebräisch-christliche bzw. messianisch-jüdische Bewegung in Deutschland gab. Ohne die Einwanderung russischer Juden aus der ehemaligen Sowjetunion im Rahmen des Kontingentflüchtlingsgesetzes wäre es weder zu einer Wiederbelebung jüdischer Gemeinden noch zu der Entwicklung einer aktiven messianisch-jüdischen Bewegung gekommen. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wanderten zwischen 1993 und 2006 insgesamt 198 189 jüdische Zuwanderer ein7, die von mindestens einem jüdischen Elternteil abstammen. Jüdische Gemeinden in Deutschland erkennen allerdings die patrilineare Weitergabe der jüdischen Identität nicht an, da laut traditionell-halachischer Definition nur die Personen Juden sind, die von einer jüdischen Mutter geboren wurden oder zum Judentum konvertierten. Dadurch wird vielen Zuwanderern die Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde erschwert. Angesichts sprachlicher und kultureller Unterschiede sowie religiöser Unkenntnis der Zuwanderer stehen die jüdischen Gemeinden bis heute vor enormen Herausforderungen der Integration.8 Von den Einwanderern war bis Ende 2006 erst knapp die Hälfte Mitglied in einer jüdischen Gemeinde geworden (99 671 von insgesamt 107 794 Mitgliedern).9 Eine Besonderheit in Deutschland stellt das Verhältnis zwischen Juden und Chris- ten dar, das durch den christlich-jüdischen Dialog geprägt ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekannten das Zweite Vatikanische Konzil, die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und weitere Kirchen ihre Mitschuld am Holocaust, erteilten dem Antisemitismus eine Absage und betonten mit Blick auf Römer 9-11 die bleibende Erwählung Israels. Aus historischen und theologischen Gründen lehnen die meisten Kirchen und jüdischen Gemeinschaften die Mission an Juden ab.10 Evangelikale Christen und an Jesus glaubende Juden unterstützen zwar den Konsens des christlich-jüdischen Dialogs in Bezug auf die Ablehnung von Antisemitismus und Antijudaismus, versehen jedoch die bleibende Erwählung Israels mit einer anderen theologischen Bedeutung: Sie betonen, dass Gottes Bund mit Israel bestehen bleibe, damit „ganz Israel“ bei der Parusie Jesu errettet werde, indem es an den Messias Jesus glaube. Dies ist ein Grund für die distanzierte Haltung evangelikaler Christen gegenüber der Absage an die Judenmission. Ein anderer Grund ist der Auftrag Jesu, den christlichen Glauben allen Menschen zu verkünden.11 Zur Etablierung messianischer Gemeinden in Deutschland kam es durch engagierte messianische Juden, die bereits Anfang der 1990er Jahre durch den Kontakt mit evangelikalen Gläubigen in der ehemaligen Sowjetunion konvertiert waren. Diese Pioniere pflegten Kontakte zu den evangelikalen Werken „Beit Sar Shalom Evangeliumsdienst“ (BSSE, gegr. 1996) als deutscher Zweig der internationalen „Chosen People Ministries“ (CPM), zur „Arbeitsgemeinschaft für das messianische Zeugnis an Israel“ (amzi, seit 1985 in Deutschland) und zum „Evangeliumsdienst für Israel“ (EDI, gegr. 1971), so dass durch gemeinsame missionarische Aktivitäten die ersten Gemeinden entstanden. Mittlerweile gibt es 20 Gemeinden und MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 259 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 19 messianisch-jüdische Deutschland. Seite 260 Gruppen in 1995 wurde die Gemeinde „Beit Schomer“ in Berlin gegründet, 1996 drei weitere Gemeinden: „Schma Israel“ in Esslingen (jetzt in StuttgartVaihingen), „Beit Chesed“ in Düsseldorf und „Adonai Zidkenu“ in Hamburg. 1998 entstand eine Gemeinde in Berlin („Freude am Baum des Lebens“) und eine in Mülheim / Ruhr. 1999 wurde in Hannover die Gemeinde „Schofar Chesed Jeschua“ gegründet, 2000 „Bnej Ha Or“ in München, „Adat Adonai“ in Heidelberg und „Adon Jeschua“ in Stuttgart-Feuerbach. 2000/ 2001 wurde die „messianische Versammlung“ in Koblenz übernommen, und es entstand die „messianische Gemeinde“ in Bremen. Seit 2001 gibt es eine Gemeinde in Aachen, die charismatische Gemeinde „Jajin Chadasch“ in Chemnitz und die „messianische jüdische Gemeinde“ in Stuttgart-Feuerbach. 2002 etablierte sich die Gemeinde „Kinder Israels“ in Augsburg, 2003 „Zion“ in Wuppertal und 2004 die charismatische Gemeinde „Kalah Jeschua“ in Köln. Gruppen12 existieren seit 1998/1999 in Frankfurt und Karlsruhe, seit 2001/2002 in Essen, Chemnitz, Potsdam und Wismar. Seit 2003 treffen sich Gruppen in Würzburg, Erfurt und Bad Pyrmont, seit 2004 existiert der „Club“ in Köln. Seit etwa 2004/2005 kommen messianische Juden in Schwerin, Gießen, Köln, Bamberg, Duisburg und Solingen zusammen, und seit 2006 gibt es eine Gruppe in der Nähe von Bonn. Insgesamt fünf Gemeinden (Berlin, Düsseldorf, Aachen, München, Heidelberg) und vier Gruppen (Potsdam, Erfurt, Würzburg, Osnabrück) wurden durch Mitarbeiter des BSSE initiiert. Der EDI unterstützt zwei Gemeinden (Stuttgart-Vaihingen, Hamburg) und vier Gruppen (Karlsruhe, Schwerin, Chemnitz, bei Bonn). Amzi steht in Verbindung mit der Gemeinde in Hannover. Unabhängig von Werken oder Organisationen sind sechs Gemeinden entstanden (Bremen, Augsburg, Mülheim / Ruhr, zweite Gemeinde in Berlin, Stuttgart-Feuerbach, Koblenz). Des Weiteren gibt es acht unabhängige Gruppen (Frankfurt, Wismar, Bad Pyrmont, Gießen, Essen, Freiburg, zwei in Köln). Gemeinde und Gottesdienst Allein schon die hebräischen Namen der Gemeinden, die sich an verschiedene Bi260 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 belzitate anlehnen, machen auf sich aufmerksam: „Beit Schomer“ (Haus des Hirten) in Berlin, „Schma Israel“ (Höre Israel) in Stuttgart oder „Bnej Ha Or“ (Söhne des Lichts) in München. Die Mitglieder- und Besucherzahlen fallen eher gering aus, werden allerdings von Mitgliedern der Bewegung deutlich überschätzt. Zum Zeitpunkt der Untersuchung der Autorin (2004-2005)13 gibt es in den Gemeinden und Gruppen ca. 1000 regelmäßige Besucher, von denen zwischen 55% und 75% messianische Juden sind. Von den nichtjüdischen Besuchern sind knapp ein Drittel in Deutschland geborene Nichtjuden, mehr als ein Drittel eingewanderte russische Nichtjuden und etwas weniger als ein Drittel Eingewanderte „deutsch-russischer Herkunft“, also Spätaussiedler. Die niedrigste Teilnehmerzahl bei einem messianisch-jüdischen Gottesdienst oder einer Versammlung betrug 8 bis 10, die höchste 100 bis 150 (in Düsseldorf und Berlin). Bemerkenswert ist eine äußerst homogene Mitgliederstruktur: So reisten 95% der befragten messianischen Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ein, der Zeitpunkt ihrer Konversion, der von ihnen „Entscheidung für den Glauben / Annahme des Glaubens an Jesus als Messias“ genannt wird, erfolgte bei der Mehrheit (82%) in den Jahren 1991 bis 2005. Die meisten messianischen Juden schlossen sich zwischen 2001 und 2005 (59%) einer messianisch-jüdischen Gemeinde an, wobei seit 2001 auch mehr Nichtjuden als Juden zu den Gemeinden hinzustoßen.14 Bei einer messianisch-jüdischen Gottesdienstfeier, die meist an einem Schabbat und in russischer Sprache stattfindet, fallen zunächst die vielen jüdischen Symbole auf wie Menora (siebenarmiger Leuchter), israelische Flagge, Schofar (Widderhorn), Kippa (Kopfbedeckung), inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 261 Tallit (Gebetsschal). Auch die Liturgie ist stark jüdisch geprägt: Die Teilnehmer zünden die Schabbatkerzen an, rezitieren das Schema’ Jisrael (das jüdische Glaubensbekenntnis nach 5. Mo 6,4, meist in gekürzter Form), singen hebräische Lieder und halten den Schabbatkiddusch oder begehen die Havdala-Zeremonie (Heiligung des Schabbats bzw. Unterscheidungsritual zum Übergang vom Schabbat zum Wochentag). Ein Mitarbeiter liest aus der Tora und legt sie aus, der Gemeindeleiter spricht den Aaronitischen Segen und über die Kinder den Segen „Möge Gott dich wie Ephraim und Manasse bereiten“ oder „Möge Gott dich wie Sarah, Rebekka, Rachel und Lea zubereiten“. Manche Gemeinden rezitieren Gebete aus dem Siddur (jüdisches Gebetbuch), und oft erschallt am Ende des Gottesdienstes der Ausruf „Amen. Baruch atta“ (Amen. Gepriesen seist du). Viele jüdische Rituale fehlen aber auch, wie zum Beispiel das Achtzehnbittengebet (Amida), das Kaddischgebet oder das Lied „Adon Olam“. Andere werden „messianisch-jüdisch“ interpretiert: Im Anzünden der Schabbatkerzen wird ein Hinweis auf Jeschua als das Licht der Welt und den Herrn des Schabbats gesehen, und das Rezitieren des Schema’ Jisrael bezieht auch den Glauben an Jesus als den Messias ein. Die Toraauslegung erfolgt immer in Bezug auf das Neue Testament. In den messianisch-jüdischen Gemeinden entstehen auch eigene Symbole, Formulierungen oder Rituale: Häufig findet sich das eingeschobene Kurzbekenntnis „Jeschua ha-Maschiach“ in Gebeten, Liedern und Auslegungen wieder. Die angezündete Menora als Symbol erfüllter Messiashoffnungen ist in vielen Gemeinden zu finden. Auch das Symbol des Davidssterns, der mit einer Menora und dem urchristlichen Fischzeichen verbunden ist, ist in den Gemeinden beliebt und drückt den Wunsch nach Einheit von jüdischen und nichtjüdischen an Jesus Glaubenden aus, so wie sie im frühen Urchristentum bestanden habe. Gemeinsamkeiten mit einem christlichevangelikalen Gottesdienst sind die offene, direkte, oft vereinfachende Predigtform, die frei formulierten, spontan wirkenden Gebete der Teilnehmer, die Lobpreislieder, die persönlichen Kontakte vor und nach dem Gottesdienst sowie die rege Mitgestaltung der Gottesdienste durch Gemeindemitglieder. Auch bei den Glaubensaussagen der Rituale, Lieder, Gebete und Wortauslegungen überwiegen christliche Glaubensinhalte wie der Glaube an die Trinität, der Glaube an Jesus als den Messias Israels oder dessen soteriologische Funktion. Alle Gemeinden begehen die Feste des Judentums mit großer Ernsthaftigkeit und richten viele Zeremonien wie Hochzeit, Bar Mizwa, Bat Mizwa (Feier zur Religionsmündigkeit) nach jüdischer Tradition aus. Besonders interessant ist die Feier des Pessachfestes: Messianische Juden folgen zwar einer jüdischen Pessach-Haggada und übernehmen viele biblisch-jüdische Gedanken wie Opferung und Auslösung, verbinden diese aber mit messianisch-jüdischem Glauben: Bei der Pessachfeier gilt Jesus als das Lamm, das die Menschen von der Sünde befreien kann, und das Mazzabrot (Afikoman), das bei einer jüdischen Zeremonie geteilt, dann versteckt und später wieder gefunden wird, ist hier ein Hinweis auf Jesu Tod am Kreuz (Teilung), sein Begräbnis (Versteck) und seine Auferstehung (wieder gefundener Afikoman). Viele Gemeinden begehen mit der Einnahme des Afikomans und des dritten Bechers Pessachweines das Abendmahl, da Jesus während des Pessachmahles die entsprechenden Einsetzungsworte gesprochen habe. Indem sie das Abendmahl in die Pessachfeier integrieren, verbinden MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 261 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 262 messianische Juden den Ritus des jüdischen Festes mit der Einsetzung des Neuen Bundes. Durch diese Interpretation der jüdischen Feier übernehmen sie einerseits Elemente des rabbinischen Judentums (Ablauf des Sedermahles zu Pessachbeginn), pflegen Gedanken des biblischen Judentums (Opferung, Auslösung) und führen gleichzeitig Elemente der judenchristlichen Bewegung (Herrenmahl, Neuer Bund) weiter. Es gibt drei verschiedene Gemeindeformen, die sich insbesondere durch die Gottesdienstformen unterscheiden: In einigen Gemeinden zeigt sich die Tendenz, mehr christliche Inhalte (Vaterunser, Abendmahl) und Symbole (Kreuz) und weniger jüdische Rituale und Symbole zu verwenden. Bei den meisten Gemeinden werden jedoch viele Symbole aus dem Judentum übernommen, messianisch-jüdisch interpretiert und eigene liturgische Abläufe gefunden. Einige andere Gemeinden suchen sogar verstärkt ihre jüdische Identität auszudrücken. Hier werden Gebete aus dem Siddur gesprochen, das Schema’ Jisrael wird in voller Länge rezitiert, weitere jüdische Liturgieelemente werden übernommen, und viele Mitglieder betonen ihre jüdische Identität durch das Tragen einer Kippa oder des Tallits. Messianisch-jüdische Glaubensartikel15 Auf einer Konferenz 1998 bekannten etwa 100 messianische Juden sowie die Gemeindeleiter Wladimir Pikman, Kirill Swiderski (BSSE), Anatoli Uschomirski (EDI) und Mischa Braker (amzi) 13 messianisch-jüdische Glaubensartikel: Wir glauben, dass die Bibel von Gott inspiriert ist. Sie ist sein einzigartiges, unbestreitbares, unteilbares und wahres Wort an alle Menschen. Die Bibel ist eine Sammlung von jüdischen heiligen Schriften, die als Altes und Neues Testament eine untrennbare Einheit bilden. ● 262 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 Wir glauben, dass Gott Einer ist und sich den Menschen als Vater, Sohn (Messias Jeschua) und Heiliger Geist offenbart. ● Wir glauben, dass Jeschua der verheißene Messias Israels ist, und dass er, von einer Jungfrau geboren, wahrer Gott ist. Wir glauben, dass er ein sündloses Leben führte, viele Zeichen und Wunder tat, als Sündopfer für unsere Schuld starb und von den Toten auferstand. Er ist jetzt bei Gott zur rechten Hand des Vaters und wird bald zurückkehren in Macht und Herrlichkeit. ● Wir glauben, dass jeder Mensch aufgrund seiner Sünde dem Gericht Gottes verfallen ist. Rettung aus dem Gericht geschieht in der völligen Wiedergeburt durch den heiligen Geist. Die Wiedergeburt zeigt sich im Glauben an den Messias Jeschua und in der Buße. ● Wir glauben, dass der Heilige Geist auch heute wirkt. Er allein bewirkt, dass Menschen zum Glauben kommen und geistlich wachsen. ● Wir glauben an die Auferstehung der durch Glauben Gerechtfertigten, an die ewige und selige Gemeinschaft mit Gott und Jeschua und dass alle anderen in ewiger Verurteilung und Qual bleiben. ● Wir glauben, dass alle an den Messias Jeschua Gläubigen geistlich in der Familie der Kinder Gottes verbunden sind, unabhängig von Nationalität oder Wohnort. ● Wir glauben, dass der Glaube eines Menschen seine Nationalität nicht ändert, und dass Juden, die an Jesus glauben, weiterhin zu Israel, dem auserwählten Volk Gottes gehören. ● Wir glauben, dass an Jeschua gläubige Juden als Glieder des Volkes Israel und der geistlichen Familie der Kinder Gottes ihrem biblisch-jüdischen Erbe verpflichtet sind. ● Wir unterstützen den biblischen Zionismus, das heißt das Recht für Juden, in Israel zu leben. ● Wir glauben, dass messianisches Judentum heute die Fortsetzung des biblischen, rechtmäßigen Judentums ist. ● Wir glauben, dass ein richtiges Schriftverständnis und ein darauf gegründetes Leben nur möglich [sind], wenn wir die biblisch jüdischen Wurzeln verstehen. Dadurch können heidnische Einflüsse, die das Christentum 2000 Jahre hindurch geprägt haben, erkannt und ausgesondert werden. ● Wir glauben, dass unsere biblische Verpflichtung darin besteht, die Wahrheit von Jeschua allen Menschen zu bringen, den Juden zuerst. ● inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 263 Verbreitet wurden die Glaubensartikel vor allem vom Evangeliumsdienst für Israel (EDI).16 Insgesamt werden sie von neun Gemeinden und sechs Gruppen direkt oder mit Zusätzen anerkannt.17 Weitere drei Gemeinden (Berlin, Düsseldorf und Aachen) des BSSE stimmen ihnen neben den Statements ihrer eigenen Organisation („Doctrinal Statements“ der CPM) zu. Drei Gruppen (Essen, Köln, Gießen) stimmen den Glaubensartikeln zu, ergänzen sie aber um die „Statements of Faith“ der Organisation „Jews for Jesus“. Die Gemeinde in München (BSSE) und die Gruppe in Potsdam geben ausschließlich die Doktrinen der CPM an. Zwei Gemeinden stimmen dem Bekenntnis nicht in allen Punkten zu und möchten daher in Zukunft ein eigenes Glaubensbekenntnis entwickeln.18 Zwei weitere Gemeinden haben bereits ein eigenes Glaubensbekenntnis entwickelt: die Gemeinde Adon Jeschua in Stuttgart-Feuerbach19 und die Gemeinde Adat Adonai in Heidelberg. In beiden Glaubensbekenntnissen wird die jüdische Identität verstärkt betont.20 Laut den 13 Glaubensartikeln betrachten messianische Juden die Hebräische Bibel und das Neue Testament als eine untrennbare Einheit, als von Gott verbal inspiriert und daher als höchste Autorität für Leben und Handeln. Sie bekennen den trinitarischen Glauben, dass Jeschua der verheißene Messias Israels und wahrer Gott ist, und dessen soteriologische Funktion. Messianische Juden glauben an die geistliche Verbindung der durch den Glauben an „Messias Jeschua“ Gerechtfertigten. Bis hier erinnern die Bekenntnisse an evangelikal-christliche Glaubensinhalte, dann folgen jedoch die typischen messianisch-jüdischen Artikel: Messianische Juden betonen neben ihrer Zugehörigkeit zu der Gemeinde aus den Nationen auch ihre bleibende jüdische Identität: „dass Juden, die an Jesus glauben, weiterhin zu Israel, dem auserwählten Volk Gottes gehören“. Sie legen Wert auf ihr „biblischjüdisches“ Erbe, bekennen die Unterstützung des Zionismus und die evangelistische „Verpflichtung“, „die Wahrheit von Jeschua allen Menschen zu bringen, den Juden zuerst. Konversion zum messianisch-jüdischen Glauben Das Konversionsereignis nimmt bei messianischen Juden einen hohen Stellenwert ein. Sie können meist ausführlich über ihre „Entscheidung“ berichten. Den Kommunismus und Atheismus in der ehemaligen Sowjetunion schildern sie in aller Regel als alltäglichen Bestandteil ihres Lebens vor der Konversion. Damit begründen sie ihr mangelndes jüdisches Identitätsbewusstsein zu jener Zeit. Jedes Konversionsereignis bleibt individuell. Bemerkenswert ist allerdings der allgemeine Konsens der befragten Personen in Bezug auf ein „Passiv-aktiv-passiv-aktiv-Konversionsschema“: Die Konvertiten schilderten ein ihnen passiv widerfahrendes „Gotteserlebnis“ oder eine „Erkenntnis der Existenz Gottes“, das sich lange vor ihrer Konversion ereignete. Dann berichten sie, dass sie aktiv nach Gott oder dem Sinn suchten, die Bibel lasen oder Gottesdienste besuchten. Anschließend schildern alle wiederum ein passives Widerfahrnis, das die Konversion auslöste (Eingreifen Gottes, Heilung, plötzliche Erkenntnis, ein außergewöhnliches Ereignis) und zu einer aktiven Lebensübergabe führte. Obwohl 85% der befragten messianischen Juden meiner empirischen Studie angeben, dass ihnen die jüdische Herkunft nach der Konversion „wichtiger“ geworden sei, berichten die Konvertiten von Schwierigkeiten im Umgang mit ihrer jüdischen Identität. Probleme entstünden dort, wo lange vor ihrer Konversion ihre MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 263 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 264 eindeutige Zuordnung zum Jüdischen aufgrund ihrer patrilinearen Abstammung infrage gestellt wird oder wo ihr Glaube an den Messias Jesus mit ihrer jüdischen Identität in Konflikt gerät. So lassen sich auch hier drei verschiedene „Typen“ messianischer Juden unterscheiden: Typ A: Hier hat die jüdische Identität eine untergeordnete, ungeklärte bis keine Bedeutung. Die Konvertiten betrachten sich eher als „Christen“ denn als Juden. Ein Beispiel ist Pawel (28 Jahre), der sich patrilinear jüdisch definiert: „Für mich ist bisschen schwer, weil ich nach jüdischem Gesetz kein Jude bin. Weil meine Mutter Russin ist, noch schlimmer: Sie ist halb Russin, halb Kasachin. Und nur mein Vater ist nach jüdischem Gesetz der Jude ... Die Juden hier in Deutschland nehmen mich als Juden an, akzeptieren mich, aber ich bin doch bisschen anders ... Das ist – die Identitätsfrage ist – eine schwere Frage für mich persönlich ... Bei uns war das einfach ein Zeichen im Pass, weil im Pass stand Staatsangehörigkeit und Nationalität. Natürlich war Jude eine Nationalitätsangehörigkeit.“21 So werde er zwar innerhalb der messianisch-jüdischen Gemeinde als Jude anerkannt. Und er spüre auch die jüdische Abstammung: „Das ist ziemlich stark – die Urgeneration in mir.“ Dennoch bezeichnet er sich religiös eindeutig als einen Christen, „weil ich glaube an Gott – und ich glaube dass Jeschua der Messias war.“ Typ B: Der Konvertit fühlt sich durch seinen neuen Glauben einerseits der Gemeinde aus den Nationen zugehörig. Andererseits identifiziert sich der Konvertit mit dem Volk Israel, da er sich als physischer Nachkomme Abrahams betrachtet und weil für ihn der Glaube an Jesus, den jüdischen Messias, unbedingt zum jüdischen auserwählten Volk gehört. Die messianisch-jüdische Gemeinde stellt für diese Konvertiten die optimale Möglich264 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 keit dar, ihr jüdisches Erbe weiter zu pflegen. Der Konvertit betrachtet sich und die anderen messianischen Juden in Bezug auf Römer 9 und 11 daher als den gegenwärtigen „Überrest“ Israels. Doch auch den nicht an Jesus glaubenden Juden wird aufgrund ihrer Erwählung eine Konversion bei der Parusie Jesu zugestanden. Typ C: Der dritte Typus widmet sich zusätzlich verstärkt der jüdischen Identität. So ist der 72-jährigen Interviewpartnerin Galja ihre Gemeinde nicht „jüdisch genug“. Sie benutzt jüdische Gebetsformen, lernt hebräisch, studiert eingehend die Tora und liest Gebete aus dem Siddur. Diese Typenbildung spiegelt sich auch in den Selbstbezeichnungen wider. 10,6% der Befragten bezeichnen sich eher als „Christen“ und 11,4% als „Hebräische Christen“ (A). Die jüdischen Selbstbezeichnungen überwiegen dagegen deutlich mit „messianischer Jude“ (42,3%) oder „jesusgläubiger Jude“ (24,4%) bei den Typenbildungen B und C.22 Schlussbemerkungen Da es sich bei den messianischen Juden keineswegs um eine homogene Bewegung handelt, sondern um verschiedene Gruppen und Gemeinden, deren Mitglieder von Identitätssuche, persönlichen Biographiefragen und dem messianisch-jüdischen Glauben gekennzeichnet sind, ist es schwierig, konkrete Aussagen im Blick auf die Zukunft zu machen. Nathan Kalmanowicz, Mitglied des Zentralrats der Juden, geht davon aus, dass die messianisch-jüdische Bewegung langfristig keinen Erfolg haben wird.23 Sprecher der messianischen Juden dagegen erwarten eine stetig wachsende Bewegung, die zunehmend deutschsprachig werden wird: „Die russischsprachige messianische Gemeindebewegung, wie sie heute in Deutschland aufgebrochen ist, halte ich inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 265 für eine Übergangslösung ... Es ist nur eine Frage der Zeit, wann durch nachfolgende Generationen daraus eine deutschsprachige Bewegung wird.“24 In Heidelberg finden zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits deutschsprachige Gottesdienste statt. Durch das verschärfte Zuwanderungsgesetz von 2005 wird die Einwanderung von Juden begrenzt, daher werden weniger neu eingewanderte (messianische) Juden zu der Bewegung hinzukommen. Da die Einwanderer auch die Aufnahmezusage einer jüdischen Gemeinde brauchen, wird der Anschluss an eine messianisch-jüdische Gemeinde eher erschwert. Es kann nicht übersehen werden, dass sich eine eigenständige religiöse Bewegung zwischen Juden- und Christentum entwickelt hat, die auch internationale Kontakte aufweist. Während messianische Juden durch ihre Evangelisationsbemühungen unter Juden von der jüdischen Gemeinschaft als aufdringlich und im christlich-jüdischen Dialog als empfindliche Störung wahrgenommen werden, weist Ulrich Laepple auf die „theologiegeschichtliche Bedeutung von Judenchristen“ und die „aktuelle Bedeutung der messianischen Juden (weltweit und in Israel)“ für einen christlich-jüdischen Dialog hin.25 Werden die messianisch-jüdischen Gruppen und Gemeinden unter den gegenwärtigen Bedingungen weiterhin ein religiös-politisches Thema bleiben, so stellen sie mittlerweile zweifellos eine religiöse Bewegung mit typisch messianisch-jüdischem Repertoire dar, das zwar Schnittmengen mit den evangelikalen Christen und den Juden aufweist, sich aber auch ohne deren Anerkennung weiter entwickeln wird. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 Vgl. auch Stefanie Pfister, The Present Messianic Jewish Movement in Germany, in: Mishkan 58 (2009), 6-20; dies., Messianische Juden in Deutschland. Eine historische und religionssoziologische Untersuchung, Dortmunder Beiträge zu Theologie und Religionspädagogik Bd. 3, Münster 2008. Hans Hermann Henrix, Schweigen im Angesicht Israels? Zum Ort des Jüdischen in der ökumenischen Theologie, in: Salzburger Ringvorlesung, Salzburg 2007. Die verschiedenen Schätzungen sind zusammengefasst in S. Pfister, Messianische Juden, a.a.O., 93. Vgl. Tuvya Zaretsky, Das Evangelium – auch für Juden. Impulse aus der messianischen Bewegung, Basel / Gießen 2006, 41. Vgl. Kai Kjær-Hansen / Bodil Skjøtt (Hg.), Facts & Myths about the Messianic Congregations in Israel, Jerusalem 1999, 18, 70, 72. Vgl. Kai Kjær-Hansen / Ole Kvarme, Messianische Juden. Judenchristen in Israel, Erlangen 1983; K. Kjær-Hansen / B. Skjøtt (Hg.), Facts & Myths, a.a.O.; Daniel Cohn-Sherbok, Messianic Judaism, London / New York 2000; zusammengefasst in: S. Pfister, Messianische Juden, a.a.O., 76-97. Mit Aufnahmezusagen von 1991 und 1992: max. 226 651, inklusive Familienangehörige; Jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, in: 8 9 10 11 12 Bundesministerium des Innern / Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.), Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung, Berlin 2007, 83-87. Vgl. Karen Körber, Juden, Russen, Emigranten. Identitätskonflikte jüdischer Einwanderer in einer ostdeutschen Stadt, Frankfurt a. M. 2005; Judith Kessler, Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990, www.berlin-judentum.de/gemeinde/migration.html, Abschnitt 4.2.2, 21.3.2009. Vgl. Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschlang / ZWST (Hg.), Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr 2007 (Auszug), Frankfurt a. M. 2008, 2. Vgl. Stellungnahmen und Dokumente in: Rolf Rendtorff / Hans Hermann Henrix, Die Kirchen und das Judentum Bd. 1. Dokumente von 1945-1985, Paderborn / München 21989; Hans Hermann Henrix / Wolfgang Kraus (Hg.), Die Kirchen und das Judentum Bd. 2. Dokumente von 1986-2000, Paderborn 2001. Vgl. T. Zaretsky, Evangelium, a.a.O., 19-30. Eine „religiöse Gruppe“ ist in Anlehnung an Neidhardt diejenige religiöse Sozialform mit einem sehr geringen Organisationsgrad, deren „Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse MitglieMATERIALDIENST DER EZW 7/2009 265 inhalt0709.qxd 13 14 15 16 17 18 19 20 18.06.2009 12:35 Seite 266 derbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist“ (Friedhelm Neidhardt, Das innere System sozialer Gruppen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31, 1979, 642). Mit „Gruppe“ werden hier die zahlenmäßig kleineren messianisch-jüdischen Versammlungen, Bibelkreise oder auch Hauskreise bezeichnet. Kommt es durch die Ausprägung der Lehre und der Zunahme der Besucherzahlen zu fest ausgeprägten Strukturen mit hohem Organisationsgrad, eigener Liturgie, Bekenntnis und manchmal auch Mitgliedschaftskriterien, so sprechen wir von einer „messianisch-jüdischen Gemeinde“. In einer Gemeinde gibt es im Gegensatz zu einer Gruppe einen festen Leiter. Weitere Merkmale sind eine Gemeindesatzung, ein Gemeindename, eine feste Gottesdienstliturgie, bestimmte Rituale, Gebete oder Redewendungen und das Feiern der jüdischen Feste. In den Gruppen gibt es weniger ausgeprägte Strukturen, kaum feste liturgische Abläufe und oft auch kein gemeinsames Bekenntnis, da hier nicht immer alle zum Glauben an Jesus als den Messias Israels konvertiert sind. So ist bei den Gruppen eine hohe Dynamik zu verzeichnen. Einige haben sich neu gebildet (Duisburg, Solingen), andere bereits wieder aufgelöst (Villingen bei Freiburg, Herborn), wieder andere haben sich gerade zu einer Gemeinde gefestigt. Die empirische Untersuchung im Jahr 2004-2005 umfasste 14 teilnehmende Beobachtungen in elf verschiedenen Gemeinden/Gruppen, 211 gültige Fragebögen aus 16 verschiedenen Gemeinden und Gruppen und drei analysierte (von zwölf geführten) narrative Konversionserzählungen. Hinzu kommen 36 geführte Experteninterviews mit Gemeindeleitern und Verantwortlichen in der Bewegung. Vgl. S. Pfister, Messianische Juden, a.a.O., 163-213. Ebd., 232-235. EDI (Hg.), Eine messianische Gemeinde stellt sich vor, Faltblatt „Schma Israel“, Leinfelden-Echterdingen 2000. Vgl. Wladimir Pikman, Erste Konferenz messianischer Gläubiger in Deutschland, in: EDI (Hg.), Freundesbrief „Gesandt zu Israel“ 3/1998, 3-4. Gemeinden: Stuttgart-Vaihingen, Hamburg, Hannover, Koblenz, Mülheim/Ruhr, Wuppertal. Gruppen: Wismar, Frankfurt, Karlsruhe, Chemnitz, Schwerin, Würzburg. Die drei charismatischen Gemeinden (Stuttgart-Feuerbach, Köln, Chemnitz) ergänzen die Artikel um die Charismen des Heiligen Geistes. Die Gemeindeleiter der unabhängigen Gemeinden in Berlin und Augsburg möchten die Bedeutung der Tora mehr herausstellen. Israelitische messianische Gemeinde Adon Jeschua (Hg.), Unser Glaubensbekenntnis, http://menoraonline.de/adon-jeschua/deutsch/glauben.htm, 21.3.2009. Roman Vidonyak, Die Grundlagen des Glaubens mit Kommentaren innerhalb der Gemeindesatzung der Gemeinde „Adat Adonai“, Heidelberg, abgedruckt in: S. Pfister, Messianische Juden, a.a.O., 389-394. 266 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 21 22 23 24 25 Ausschnitt aus dem Narrativen Interview 7, ebd., 106. Vgl. ebd., 215-314. Nathan Kalmanowicz, zitiert in: Toby Axelrod, Vereinnahmung statt Dialog. Die Frontlinie im Kampf um die jüdische Seele liegt in Berlin-Lichterfelde, in: Jüdische Zeitung vom 16.12.2006, 23. Henry Fischbein, Über die Einheit der messianischen Gläubigen. Eine Botschaft für Christen, http://menora-online.de/adon-jeschua/deutsch/ christ-de.htm, 21.3.2009. Ulrich Laepple, Den Juden die Kirche, der Kirche die Juden erklären. Heinz David Leuner, Judenchrist und Brückenbauer (1906-1977), in: Theologische Beiträge 4/5, 2007, 223. INFORMATIONEN JEHOVAS ZEUGEN Weitere Bundesländer erkennen Jehovas Zeugen als Körperschaft an. (Letzter Bericht: 12/2008, 469f) Nach jahrelangem Rechtsstreit wurde die Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen im Juli 2006 im Land Berlin als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt (vgl. MD 10/2006, 389-391). Im Mai 2009 hatte nun die Presseabteilung der Zeugen im Taunus viel zu tun, folgten doch nach und nach weitere Bundesländer der juristischen Einschätzung Berlins und verliehen der Religionsgemeinschaft ebenfalls den Körperschaftsstatus, darunter Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Bayern, Schleswig-Holstein, Sachsen, das Saarland, Brandenburg und Thüringen. Ein juristischer Erfolg in Österreich kam hinzu: Als 14. Religionsgemeinschaft wurden Jehovas Zeugen Anfang Mai vom zuständigen Bundesministerium staatlich anerkannt und haben damit nun einen öffentlich-rechtlichen Status. Der Körperschaftsstatus in den deutschen Bundesländern wurde von Jehovas Zeugen nach eigenen Angaben nicht aus fi- inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 267 nanziellen Gründen angestrebt – Steuerbefreiungen hätten sie schon als gemeinnützige Vereine gehabt. Durch die Körperschaft könnten jedoch die Leitungsstrukturen und die rechtliche Vertretung vereinfacht werden. Die Anerkennung gewährt darüber hinaus die Rechte, Kirchensteuern zu erheben, Beamte anzustellen und in Rundfunkräten mitzuwirken. Das alles scheinen Jehovas Zeugen jedoch nicht zu beabsichtigen. Weil der Staat dem Herrschaftsbereich Satans zugerechnet wird, ist eine strikt apolitische Grundhaltung Programm. Die öffentlich-rechtlichen Medien werden verteufelt, und Wahlen werden aus religiösen Gründen abgelehnt. Auch Kirchensteuern will die Gemeinschaft nicht erheben, weil der Empfang von Dienstleistungen in den Königreichssälen nicht von finanziellen Gegenleistungen abhängig gemacht werde. Ebenso ist schulischer Religionsunterricht für Jehovas Zeugen kein Thema, weil die religiöse Erziehung einzig Aufgabe der Eltern sei. Allerdings würde die WachtturmGesellschaft die Vermittlung christlicher Werte durch kostenfreie Publikationen und die gottesdienstlichen Zusammenkünfte in den Königreichssälen fördern. Die von Brooklyn aus zentralistisch agierende Wachtturm-Gesellschaft, die besonders durch ihre gigantische Publizistik auffällt, funktioniert offensichtlich auch ohne Beamte reibungslos. Vor genau 130 Jahren, am 1. Juli 1879, veröffentlichte Charles Taze Russell (1952-1916) die erste Ausgabe seiner Zeitschrift „Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence“, die eine unvorstellbare Erfolgsgeschichte aufweist. Russell, der ausdrücklich ein Christentum ablehnte, das Menschen an eine Organisation bindet, gründete deshalb eben keine Religionsgemeinschaft, sondern einen Verlag, die „Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft“. Eine über- aus lukrative Firmenidee: Heute weist die Wachtturm-Gesellschaft stolz darauf hin, die weltweit meistverbreitete religiöse Zeitschrift herauszugeben. Die Zahlen sprechen für sich, denn die Monatsschrift wird derzeit in 174 Sprachen übersetzt und erscheint mit einer durchschnittlichen Auflage von 37 Millionen Exemplaren. Die gesunde wirtschaftliche Substanz sollte jedoch nicht vom Inhalt ablenken! Der unbeirrbare Kampf der Zeugen für die staatliche Anerkennung steht in deutlichem Widerspruch zu ihrer strikten Distanzierung vom Staat. Weil Jehovas Zeugen diesen Widerspruch nicht plausibel auflösen können, liegt die Vermutung auf der Hand, dass es um Image-Gewinn geht. Die in Frage stehende Verfassungstreue und die Ablehnung von Bluttransfusionen lassen einzelne Bundesländer wie Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen derzeit noch zögern, den beantragten Körperschaftsstatus zu verleihen – man möchte diese religiöse Sondergemeinschaft nicht aufwerten. Im Jahr 2001 starb ein 16-jähriger Junge in Baden-Württemberg, weil seine Eltern – beide Jehovas Zeugen – eine lebenswichtige Bluttransfusion ablehnten. Vor einem Jahr musste eine 29-jährige Zeugin Jehovas in Hessen sterben, weil sie bei Komplikationen im Zusammenhang mit der Geburt ihres zweiten Kindes ebenfalls eine Bluttransfusion durch ihre Patientenverfügung verweigert hatte. Ohne Zweifel besteht eine nicht zu unterschätzende Konfliktträchtigkeit bei Mitgliedern von Jehovas Zeugen, weil sie beispielsweise alle anderen Religionen verteufeln und Andersgläubigen ewige Vernichtung androhen. Sie verweigern ihren Mitgliedern den Zugang zu kritischer Literatur und stellen lebensrettende Bluttransfusionen nicht in das Ermessen des Einzelnen, sondern lehnen sie aus biblischtheologisch nicht haltbaren Gründen ab. MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 267 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 268 Jehovas Zeugen ist der Nachweis gelungen, die formaljuristischen Bedingungen für den Körperschaftsstatus zu erfüllen. Weil die freiheitlichen Grundrechte der Mitglieder jedoch nach wie vor eingeschränkt werden, sind bleibende öffentliche Aufmerksamkeit für diese Sondergemeinschaft und Kritik an ihr nötig. Michael Utsch NEUAPOSTOLISCHE KIRCHE „Christus – meine Zukunft“. Eindrücke vom europäischen Jugendtag der NAK. (Letzter Bericht: 7/2008, 169f) Vom 21. bis 24. Mai 2009 fand im Düsseldorfer Messegelände der erste Europa-Jugendtag (EJT) der Neuapostolischen Kirche (NAK) statt. Über 35 000 hauptsächlich jugendliche Dauerteilnehmer waren gekommen, am Abschlussgottesdienst nahmen sogar etwa 46 000 Menschen aller Altersgruppen teil. Die Teilnehmer kamen aus ganz Europa, aber auch aus Australien, den USA und anderen außereuropäischen Ländern. Um es vorweg zu sagen: Der Jugendtag war für die NAK ein großer Erfolg. Nicht nur logistisch wurde dieser größte Event souverän gemeistert. Die vornehmlich jugendlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen das Treffen fröhlich, ja begeistert an, die Stimmung war ausgezeichnet, fast wie auf einem Kirchentag. Der Stammapostel wurde herzlich, z. T. begeistert begrüßt. Der EJT bedeutet einen weiteren Schritt der NAK heraus aus dem eigenen Milieu, aus der „Selbstisolierung“ (Volker Kühnle auf dem EJT), hinein in die Gesellschaft. Auch die wohlwollenden Grußworte des Bundespräsidenten und des Düsseldorfer Oberbürgermeisters machten dies deutlich. Trotz guter Stimmung ist der EJT nicht mit katholischen, evangelischen oder öku268 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 menischen Kirchentagen zu vergleichen. Organisatorisch handelt es sich beim EJT nicht um ein Laientreffen, zu dem natürlich auch Kirchenvertreter eingeladen werden, sondern um eine offizielle Veranstaltung der NAK. Das muss kein Nachteil sein. Gleichwohl wäre für die Zukunft zu fragen, ob nicht eine stärkere inhaltliche Beteiligung anderer als ausschließlich der Amtsträger der NAK möglich ist. Gerade die Struktur von Kirchentagen zeigt, wie durch die organisatorische Distanz zur offiziellen Kirche auch eine selbstkritische Diskurskultur und damit echte partizipative Elemente in der Kirche gefördert werden können. Für den ersten EJT wäre dies aber wohl noch eine Überforderung gewesen. Auch war es schade, dass die engagierten Kritiker innerhalb der NAK und in ihrem Umfeld keinen eigenen Raum auf dem EJT hatten. Inhaltlich bezogen sich fast alle Veranstaltungen auf den Binnenraum der NAK bzw. auf die Förderung und Vertiefung des persönlichen und des gemeinsamen Glaubens („Ich bin...“ – Jesus stellt sich vor; Glaube im Alltag; Gott mit allen Sinnen erleben; Bibelbox; viele musikalische Angebote) oder auf konkrete Lebensfragen (Powersticks – Social Competence Concepts; Suchtgefahren in der Jugend; Die Kunst der Komunikation). Der Zusammenhang mancher Workshops mit den Themen Glaube und Kirche war nicht wirklich deutlich (Digitale Bildbearbeitung; journalistisches Schreiben); sie orientierten sich mehr am Interesse der jugendlichen Besucher. Veranstaltungen, in denen gesellschaftlich oder ethisch relevante Themen aufgegriffen wurden, fehlten weitgehend. Ausnahmen bildeten aber z. B. „Biotechnik und unser Glaube“ oder „Christ sein in einem multikulturellen Europa“. Beeindruckend war der Informationsstand der „Regenbogen-NAK“, einer Interessengemeinschaft homo-, bi- und inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 269 transsexueller Christen in der NAK, der an prominenter Stelle gegenüber dem Bischoff-Verlag platziert war. Das Interesse an diesem Stand war groß. Die NAK hatte die Präsentation der Initiative unterstützt. Die Atmosphäre in den Hallen war durchweg locker und fröhlich. Zwischen den Podien liefen selbstgedrehte Filme, über die das Publikum in schallendes Gelächter ausbrach. Es waren Sketche über manche langweiligen NAK-Gottesdienste, voller Selbstironie und Kreativität. Großes Interesse fand die Podiumsveranstaltung „Miteinander reden – zueinander finden (Ökumene)“. Die Halle war überfüllt. Apostel Volker Kühnle diskutierte unter der Moderation von NAK-Kirchensprecher Peter Johanning mit EZW-Referent Michael Utsch. Zunächst führte Kühnle in die Geschichte der Ökumene ein, stellte dann die Entwicklung in der NAK dar, die zu einem verstärkten Interesse an ökumenischen Beziehungen geführt habe. Nächstes Ziel sei nicht nur eine Gastmitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), sondern, wenn möglich, auch eine Beteiligung am 2. Ökumenischen Kirchentag 2010 in München. Kühnle orientierte seine ökumenischen Zielvorstellungen am Modell der „versöhnten Verschiedenheit“, bei der er die Wassertaufe als gemeinsames ökumenisches Band und als Verpflichtung zum weiteren Gespräch sah. Die Diskussion strittiger theologischer Fragen müsse man noch vertagen, bis der neue Katechismus der NAK erschienen sei. Peter Johanning fragte, warum in der ökumenischen Begegnung für die NAK strengere Maßstäbe gelten würden als für andere. Dass dies nicht der Fall ist, sondern es zunächst einer verbindlichen Darstellung neuapostolischer Lehre als notwendigem Referenzrahmen für ein ökumenisches Gespräch bedarf, hatte im Grunde Apostel Kühnle mit seinem Hinweis auf den aus- stehenden Katechismus selbst deutlich gemacht. Michael Utsch wies auf die theologische Bedeutung des Stammapostolats in der NAK hin, die letztlich Gottes Bedeutung und Rang relativiere und damit auch ein ökumenisches Hindernis darstelle. Übrigens war es versäumt worden, die Düsseldorfer Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen über das Projekt EJT überhaupt zu informieren. Der Abschlussgottesdienst am Sonntag in der LTU-Arena fand im fast voll besetzten Stadion statt. Die Stimmung war locker, trotz einiger Längen. Der Schlusssegen wurde durch nicht enden wollende LaOla-Wellen verlängert. Stammapostel Leber, der von der guten Atmosphäre sichtlich berührt war, predigte nacheinander von drei Altären aus über Phil 3,13 und akzentuierte dabei für evangelische Ohren den Lohngedanken und die dem Glauben vorauslaufende eigene Bemühung etwas zu stark. Leber begrüßte ausdrücklich die geladenen Vertreter apostolischer Gemeinden, an die gewandt er in Anlehnung an Phil 3,13 sagte: „Ich strecke mich aus, auch im Namen der Kirche, nach der Versöhnung!“ Zuvor hatte er ausdrücklich Fehler der NAK gegenüber den apostolischen Gemeinden eingeräumt. Es war schade, dass er die Ökumene mit keinem Wort erwähnte. Im Anschluss an die Abendmahlsfeier wurde das Abendmahl für Entschlafene gefeiert. Eine seelsorgerliche oder sozialpsychologische Bedeutung z. B. für die Hinterbliebenen ist durchaus erkennbar, aber seine theologische Bewertung als Sakrament oder auch seine stellvertretende Durchführung ist für evangelisches Empfinden doch höchst befremdlich. Insgesamt hatte der EJT vor allem eine Binnenwirkung, er diente der Stärkung der Gemeinschaft und der Selbstvergewisserung der NAK. Das neu gewonnene Selbstbewusstsein wird für die theologiMATERIALDIENST DER EZW 7/2009 269 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 270 schen und strukturellen Veränderungen, die noch vor der NAK liegen, dringend benötigt. Der Bundespräsident schrieb in seinem Grußwort: „Wer offen bleibt für die Herausforderungen der Zeit, wer sich nicht verschließt in Ängstlichkeiten und festgefahrenen Meinungen, der kann wirklich die Zukunft gestalten.“ Dies ist der NAK nach dem insgesamt sehr gelungenen EJT von Herzen zu wünschen. Andrew Schäfer, Düsseldorf FIAT LUX Der „Orden Fiat Lux“ vor dem Ende? (Letzter Bericht: MD 9/2006, 355f) Es verdichten sich die Hinweise, dass die Neuoffenbarungssekte „Fiat Lux“ des Tieftrance-Mediums Erika Bertschinger-Eicke alias „Uriella“ (geb. 1929) vor dem Ende stehen könnte. Aus Aussteiger-Kreisen war schon länger bekannt, dass es um den Mitgliederbestand und die Disziplin des angeblichen „Ordens“, vor allem aber um Uriellas Gesundheitszustand, nicht zum Besten stehe. Die einst medienversessene Uriella ist schon seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten, so dass die Spekulationen dementsprechend wild ins Kraut schossen. Auch für ihre eigenen Anhänger ist sie nicht mehr sichtbar, denn zu der offenbar schwerkranken Frau hat wohl nur noch eine ganz kleine Anzahl Vertrauter überhaupt Zugang. Nun gibt es erste Belege dafür, dass die Gerüchte einen realen Hintergrund haben. Durch Indiskretionen wurden zwei angebliche Botschaften von Jesus Christus an Uriella bekannt, die dokumentieren, in welch katastrophalem Zustand sich einerseits der „Orden“ und andererseits Uriella selbst befinden müssen. In einer sogenannten „Kurzbotschaft“ vom 8.2.2009 heißt es: „Alle Aufträge, die von GOTT erteilt werden, haben den Vorrang gegen270 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 über den täglichen Arbeiten, den Mahlzeiten und anderem mehr. Die Priorität haben stets Gehorsam, Pflicht, Verantwortung und Rettung eines Schöpfungsteils. Hier geht es um Eure, sich seit Jahrzehnten für Euch verzehrende und ergebenst dienende Ordensmutter Uriella. Ihr Leben steht auf des Messers Schneide! Jene, die diese Bewährungsprüfung bewusst nicht bestehen wollen und damit die Sünde wider den HEILIGEN GEIST begehen, mögen sich, bitte, freiwillig vom ORDEN distanzieren. Dadurch erfolgt auch die Trennung im Jenseits. Bei diesen sogenannten Ordensträgern handelt es sich um keine wahren FIAT LUX-Kinder, sondern um Nutznießer, die von GOTT in den letzten Atemzügen des jetzigen Aeons ohnehin nicht gebraucht werden können. GOTTES Segen. AMEN!“ Offenbar fruchteten aber weder die Drohungen mit dem Jenseits noch der Hinweis auf Uriellas Krankheit bzw. ihr „auf des Messers Schneide“ stehendes Leben. Denn am 20.3.2009 kam es zu einer zweiten Botschaft ähnlichen Inhalts: „Für GOTTVATER und Mich“ – gemeint ist wohl Jesus Christus – „ist es zutiefst erschütternd, dass 90% aller Ordensträger – trotz jahrelanger, intensiver Geistesschulung –, sich weigern, einen Auftrag ordnungsgemäß auszuführen! Jene, die in einem Angestelltenverhältnis stehen und für ihre Dienstleistungen honoriert werden, versündigen sich ganz besonders schwer. Es ist der gleiche Ungehorsam, der in der Ewigkeit zum Engelsturz führte. Sture Auflehnung, Besserwisserei, Gleichgültigkeit, Geltungssucht, Eigenwillen, Hochmut und Stolz sind u. a. die Hauptursache des Ungehorsams. Kein Erdenmensch mit diesen verheerenden Untugenden, hat auf AMORA [der nach Uriellas Vorstellung durch Katastrophen gereinigten Erde, C.R.] Zutritt. Wer auf eine Amnestie GOTTES spekuliert, lebt in einer gewaltigen inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 271 Täuschung!“ Die Botschaften zeigen sehr deutlich, dass Uriellas Ehemann „Icordo“ alias Eberhard Bertschinger-Eicke trotz oder vielleicht gerade wegen seines anscheinend sehr despotischen Führungsstils die Gemeinschaft nicht mehr unter Kontrolle hat. Jedenfalls stürzten sich deutsche wie Schweizer Medien, die von den beiden kurzen Botschaften Kenntnis erhielten, begierig auf die Neuigkeiten von jener schrillen Figur, der sie einst immer bereitwillig ein Forum boten. Icordo verweigerte zunächst jeden Kommentar, empfing dann aber doch Anfang Mai zwei Reporter der Schweizer Boulevardzeitung „SonntagsBlick“. In dem Gespräch scheint Uriellas Ehemann bestätigt zu haben, dass die „Ordensmutti“ tatsächlich an Krebs erkrankt ist. Der „SonntagsBlick“ schrieb: „Sicher ist: Uriella hat extreme Schmerzen. Doch sie erträgt ihr Leid bis zum letzten Blutstropfen im Kelch. Morphium gegen die Schmerzen darf sie keines nehmen, denn sonst kann sie die göttlichen Botschaften nur noch verschwommen empfangen. Denn diese erreichen sie noch immer. Zwar nicht mehr wie früher in Volltrance, dafür per Telefon ... Je länger das Gespräch dauert, desto mehr kommt Uriellas Stellvertreter in Fahrt. Er räumt sogar Fehler ein. Der Orden hätte bei seinen Weltuntergangs-Prophezeiungen keine Daten nennen sollen. Gott hält sich halt nicht immer an den Zeitplan. Die Fiat-Lux-Gemeinde ist auf die Zeit nach Uriellas Tod vorbereitet. Fest steht, dass Icordos Frau erdbestattet wird und einen Grabstein bekommt. Wo, bleibt geheim. Weil Uriella als Sprachrohr Gottes die höchste geistige Sphäre erreicht hat, darf sie nach ihrem Tod im Paradies bleiben – so sehen es jedenfalls die Sektenmitglieder. Sie glauben an die Wiedergeburt. Icordo selbst behauptet, er sei im 15. Jahrhundert der Zürcher Reformator Ulrich Zwingli gewesen. Die Geistheilerin wird für ihre Jünger auch im Paradies das Licht ihrer Gemeinde bleiben. ‚Wenn ich diese Erde einmal verlasse, bin ich mit meinem Geist immer noch beim Orden Fiat Lux’, sagte sie in einem ihrer letzten Interviews. Ob dies allerdings auch Uriellas Anhänger so sehen, ist fraglich. Nachfolger Icordo fehlt das Charisma, um die Sekte zusammenzuhalten. Dies zeigte sich auch letzten Donnerstag. Dem Tag, als Uriella vor 33 Jahren in Egg ZH zum ersten Mal in Volltrance eine Botschaft empfangen hatte. Gerade noch ein paar Dutzend Angehörige kamen nach Ibach (D), um die göttliche Eingebung zu feiern. Parkten vor drei Jahren noch Hunderte weißer Autos vor dem Sektenzentrum im Schwarzwald, waren es vor drei Tagen noch gut 50. Dass die Sekte schrumpft, fiel auch Ibachs Bürgermeister Artur Meiners auf. An seiner Abschiedsfeier Anfang Mai erschienen nur noch wenige Anhänger. ‚Sie gaben mir ein Ständchen und sangen minutenlang: heilig, heilig.’ Icordo redet und redet. Gerade als er freudig in die Kamera lacht, ruft ihn ein Jünger ans Telefon – Uriella wolle ihn sprechen. Minuten später ist er wie verwandelt zurück. ‚Der Heiland wünscht nicht, dass unser Gespräch veröffentlicht wird.’ Drohen tut er nicht mit dem Fegefeuer, sondern mit dem Anwalt. Die Todgeweihte hat ihn immer noch unter Kontrolle“ (SonntagsBlick, 10.5.09). Interessant ist an dem Artikel zweierlei: Zum einen, dass sich angesichts des zu erwartenden Ablebens von Uriella die Doktrin des „Ordens“ offenbar gewaltig geändert hat, denn früher ging man bei „Fiat Lux“ immer davon aus, dass es nie zu einem Tod Uriellas kommen werde, weil zuvor die Reinigung der Erde und deren Umwandlung in „Amora“ zu erwarten sei. Zum andern bestätigt sich einmal mehr, dass „Fiat Lux“ nur noch sehr wenige Anhänger aufweist. Der „SonntagsBlick“ verMATERIALDIENST DER EZW 7/2009 271 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 272 öffentlichte zu dem Bericht ein Foto des erwähnten Abschiedsständchens für den Ibacher Bürgermeister. Zu sehen sind darauf ein dirigierender Icordo und relativ alte „Fiat Lux“-Mitglieder. Dies bestätigt den Eindruck von Beobachtern, dass vor allem jüngere Sektenmitglieder den „Orden“ längst verlassen haben. Übrig geblieben sind jene älteren Damen und Herren, die schlicht keine Ausstiegsperspektive haben. Was aus ihnen wird, wenn Uriella nicht mehr lebt, bleibt abzuwarten. Die Prognose des hier Schreibenden: Icordo ist tatsächlich zu unbeliebt, um die Gemeinschaft dauerhaft zusammenhalten zu können. Wahrscheinlich zerfällt der „Orden“ deshalb in Mini-Grüppchen, unter denen es dann möglicherweise zum Streit kommt, bei welchem nun Uriella tatsächlich als „Licht ihrer Gemeinde“ geistig anwesend ist. Solche Abspaltungen gab es auch schon in der Vergangenheit. Fest steht jedenfalls, dass der „Orden Fiat Lux“ in seiner jetzigen Form bald Geschichte ist. Christian Ruch, Chur/Schweiz MORMONEN Zwischen Mission und Wertesehnsucht. Jugendliche entdecken Stephenie Meyers Bis(s)-Romane. Seit 2006 ist Stephenie Meyers Liebesroman „Bis(s) zum Morgengrauen“ (Originaltitel: „Twilight“) in deutschen Buchläden erhältlich. Die Geschichte um den Vampir Edward Cullen und die Highschool-Schülerin Bella Swan ist ein Welterfolg, der sich bisher schon über 42 Millionen Mal verkauft hat. Der Filmstart von „Twilight“ brachte am Premierenwochenende (November 2008) 280 Millionen US-Dollar in die Kinokassen. Mittlerweile erobern die vier Bis(s)Bände (www.bella-und-edward.de) auch hierzulande die Bestsellerlisten. Allein in 272 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 Deutschland sind rund 360 Fanclubs entstanden. In ihren Büchern erzählt die 34-jährige Amerikanerin, die als aktives Mitglied der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (Mormonen) mit ihrem Mann und drei Kindern in Arizona lebt, dass die perfekte Liebe vor allem enthaltsam ist. Auf ihrer Website (www.stepheniemeyer. com) findet man den Hinweis, dass ihr Glaube großen Einfluss auf ihr Leben und Schreiben hat. Es stellt sich schnell die Frage, ob die Bis(s)-Bestseller, die deutliche Parallelelen zu mormonischen Glaubensinhalten aufweisen, als bewusstes Missionsmittel angesehen werden können. Die Mormonen verfügen über ein herausragendes mediales Angebot an Filmen, Spielen, Magazinen und Büchern, mit denen Glaubensinhalte vermittelt werden. Da bei einem bekannten mormonischen Online-Anbieter die TwilightSaga in der Kategorie „Young Adult / Fiction“ auftaucht, kann wohl angenommen werden, dass die Liebesgeschichte mormonische Grundsätze vorbildlich transportiert. Die wohl auffälligste Parallele ist die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe. Diese Thematik greift Meyer auf und verpackt ihre Sicht der Dinge elegant. Sie schafft eine Konstellation, die den Geschlechtsverkehr zwischen Bella und Edward unmöglich macht. Der Liebesakt, in dem Edwards Vampirkräfte für Bella lebensgefährlich wären, wird als Kontrollverlust dargestellt. Um Edward näher sein zu können, entscheidet sich Bella schließlich, auch ein Vampir zu werden. Durch eine gefährliche Verwandlung, bei der die naive Bella der Sterblichkeit entsagt, kann sie ihren Traum verwirklichen. Die Bedingung ist jedoch, dass Edward und Bella heiraten und sie ein Studium beginnt. Damit ist in dem Buch eine weitere Besonderheit der Mormonen verankert: die Notwendigkeit inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 273 der Heirat für ein vollwertiges Leben. Viele Rezensionen greifen dies kritisch auf und beschreiben die Protagonistin als unemanzipatorisch. Meyer wehrt sich auf ihrer Website gegen den Vorwurf. Feminismus definiert sie als „Möglichkeit zur Selbstverwirklichung“ und erklärt, dass Bella sich bewusst für Liebe und Selbstaufgabe entscheidet. Wer noch etwas genauer sucht, findet in den Bis(s)-Werken weitere mormonische Glaubensinhalte. Doch es sollte nicht aus dem Blick geraten, dass bestimmte Lebenskonzepte (zum Beispiel die Heirat oder die große Bedeutung der Familie) nicht nur mormonisch verankert sind, sondern genauso gut zum Christentum gehören. Ist es nicht auch möglich, dass Meyer, tief verwurzelt in mormonischen Glaubens- und Gedankenmustern, intuitiv und wie selbstverständlich die eigenen Wertmaßstäbe literarisch umsetzt, ohne dabei bewusst ein missionarisches Anliegen zu verfolgen? Fest steht: Meyers erfolgreicher FantasyLiebes-Mix um Edward und Bella löst bei der Leserschaft Begeisterung aus. Besonders junge Mädchen, Teil einer Generation, die sich von dem unübersichtlichen Angebot der Lebens- und Identitätswelten oft überfordert fühlt, kommen hier mit Werten in Berührung, die Tragfähigkeit und Dauer versprechen – und auch christlicher Natur sind. Möglicherweise findet vor allem der Wunsch nach Halt und Orientierung Ausdruck in der Begeisterung für Meyers fiktive Zeilen – nicht mehr und nicht weniger – und das ist kein schlechtes Zeichen. Die Jugendlichen glauben auf einmal wieder an die eine große Liebe. Man kann nicht ausschließen, dass Meyer missionarisch wirken möchte. Doch wer festen Halt in seinem Glauben findet, die damit verbundenen Grundsätze und Werte als richtig erachtet, wird sich beim Erfinden einer fiktiven Erzählung kaum davon distanzieren. Warum auch? Ob die Parallelen zum Mormonentum bewusster, gezielter Natur sind, kann deshalb nicht geklärt werden. Wer weiterhin den Vorwurf des Missionsversuches erheben möchte, dem sei er gestattet. Zugeben muss man aber vor allem eins: Es ist ein lesbarer. Laura Tiziana Corallo, Hannover IN EIGENER SACHE Zum Tod von Hermann Brandt. In den letzten Jahren hat der 2005 emeritierte Professor für Missions- und Religionswissenschaft an der Universität Erlangen viele anregende und gewinnbringende Beiträge für diese Zeitschrift beigesteuert, etwa zur Frage nach der Exklusivität des Christentums (MD 8/2000, 257ff) oder – wenige Monate nach dem 11. September 2001 – Überlegungen zum Thema „Neigt der Islam zur Gewalt?“ (MD 3/2002, 83ff). Weitere Texte aus seiner Feder befassten sich mit interkulturellen Überlegungen zu „Religion im Computer“ (MD 3/2006, 105ff) oder mit hintergründigen wie auch provozierenden Beobachtungen zur kirchlichen Praxis, so in seiner Neujahrs-Betrachtung „Zur Magie des Jesus-Namens“ (MD 1/2007, 22ff) oder im Beitrag „Die öffentliche Taufe – ein Auslaufmodell?“ (MD 5/2007, 174ff). In seinem letzten Aufsatz für den MD wartete Brandt als feinsinniger Beobachter heutiger religiöser Phänomene mit einer Analyse des mittlerweile legendären Pop-Songs „The Sound of Silence“ auf, den er „zwischen Prophetie und Wellness“ verortete (MD 12/2007, 446ff). Hermann Brandt wurde 1940 in Münster/Westfalen geboren. Nach dem Theologiestudium führte ihn sein Weg zum Lutherischen Weltbund nach Genf, wo er MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 273 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 274 eine Forschungsassistenz wahrnahm. 1969 wurde er in Göttingen mit einer Arbeit über den dänischen Systematischen Theologen Hans Lassen Martensen promoviert. Nach seinem Vikariat lehrte er von 1971 bis 1977 Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule der Evangelischen Kirche lutherischen Bekenntnisses in São Leopoldo/Brasilien. Mit seiner Rückkehr nach Deutschland übernahm er ein Gemeindepfarramt in der Lippischen Landeskirche. 1983 wechselte er als Oberkirchenrat in das Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, wo er für Fragen der Ökumene und des jüdisch-christlichen Dialogs zuständig war. 1990 erfolgte die Habilitation Brandts an der Universität Hamburg im Fach Religions-, Missionsund Ökumenewissenschaft. Drei Jahre später wurde Brandt zum Professor an die Universität Erlangen berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 lehrte. Brandt gilt in Deutschland als einer der maßgeblichen Interpreten und Übersetzer der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. In seinem Beitrag „Vom Umgang der Religionen mit Sterben und Tod“, ursprünglich ein Vortrag, den er vor dem Hospizverein in Erlangen gehalten hatte, schrieb der Missions- und Religionswissenschaftler an dieser Stelle im Jahr 2003, fünf Jahre vor seinem eigenen Tod (MD 11/2003, 417ff): „So verschieden die Religionen in ihrem Todesverständnis und ihren Trauer- und Begräbnis-Riten sind: Der Tod ist eine Realität, die nicht verdrängt wird ... Wie geht man mit Tod und Sterben um? Wichtig ist hierbei, dass es Personen gibt, die das wissen. Oft ist es schon eine Entlastung, wenn Menschen da sind, die raten können, besonders bei plötzlichen Todesfällen. Zeremonien, Riten werden oftmals als etwas Äußerliches belächelt. Ich meine aber, sie bieten Stabilisierung und 274 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 Orientierung, die man nicht geringschätzen sollte.“ Am 21. Mai 2009, dem Fest Christi Himmelfahrt, ist Hermann Brandt nach schwerer Krankheit im Alter von 68 Jahren in Erlangen verstorben. Wenige Tage später wurde er auf dem Neustädter Friedhof unter großer Anteilnahme kirchlich beerdigt. Die Redaktion des MD verliert mit Hermann Brandt einen äußerst kompetenten Autor. Er und seine Beiträge werden uns fehlen. Matthias Pöhlmann STICHWORT Familienaufstellungen nach Hellinger Seit Dezember 2008 ist die Systemische Therapie neben der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie als drittes Verfahren krankenkassenfinanzierter Psychotherapie zugelassen. Die wissenschaftliche Anerkennung und kassenrechtliche Zulassung beruht auf den zahlreichen Wirksamkeitsnachweisen des familientherapeutischen Ansatzes. Moderne Psychotherapie verbindet also tiefenpsychologische, kognitiv-verhaltenstherapeutische und systemische Sichtweisen, um seelische Störungen zu behandeln. Die Familienaufstellung ist eine bewährte Methode systemischer Psychotherapie. Besonderes Augenmerk wird hier auf gegenseitige Einflussnahmen, Erwartungen und Abhängigkeiten innerhalb eines Systems – z. B. einer Familie – gelegt. Bei einer Aufstellung, ursprünglich „Familienskulptur“ genannt, wird ein Familienmitglied gebeten, die (anwesenden) Familienmitglieder netzwerkartig in Form einer Skulptur aufzustellen. Unterschiedliche Beziehungsqualitäten innerhalb eines Systems können damit so dargestellt werden, wie sie von inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 275 einem Mitglied wahrgenommen werden: Seelische Nähe und Distanz drücken sich in räumlicher Entfernung aus, Zu- und Abgewandtheit in der Körperhaltung, Gefühle in Form bestimmter Gesten und vieles mehr. Bert Hellinger hat diese bewährte Methode aufgegriffen und nach eigenen Vorstellungen und Erfahrungen verändert. Im Unterscheid zum Original stellt Hellinger nicht mehr die Familienmitglieder selbst, sondern beliebige Stellvertreter auf, die angeblich die Gefühle der betroffenen Personen unwillkürlich übernehmen. „Familienstellen nach Hellinger“ hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten rasant verbreitet – es war die mit Abstand erfolgreichste Psychotherapie-Methode der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts. Berichten zufolge arbeiten mittlerweile allein im deutschsprachigen Raum mehr als 2000 Anbieter mit dieser speziellen Aufstellungsmethode. Heute hat sie sich in Richtung der beiden Schwerpunkte Professionalität und Spiritualität weiterentwickelt. Die Fachwelt hat jedoch wegen mangelnder Fachlichkeit und der weitreichenden Ansprüche dieser Methode längst mit ihr gebrochen. Nach intensiven Diskussionen haben die beiden großen Fachverbände für systemische Familientherapie in den Jahren 2003 und 2004 in Stellungnahmen begründet, warum sie vor dieser Methode warnen (vgl. MD 1/2005, 27f). Kommt also die Sprache auf das Familienstellen, ist zunächst zu klären, ob es sich um die klassische Familienskulptur oder das Familienstellen nach Hellinger handelt. Begründer und Entwicklung des Verfahrens Suitbert Hellinger (geb. 1925) war bis 1971 Priester in einem Missionarsorden. Dann verließ er den Orden, heiratete und arbeitete selbständig als Psychotherapeut. Von 1974 bis 1979 besuchte er verschiedene therapeutische Fortbildungen, ohne jedoch einen anerkannten Abschluss zu erlangen. Seit 1993 veröffentlicht Hellinger mit großem Erfolg seine Bücher, die kein systematisches Lehrwerk enthalten, sondern eher meditative Einsichten vermitteln und Fallbeispiele darstellen. Seitdem hat sich diese Methode weit ausgebreitet. Um die Aufstellungsarbeit in einen professionellen Rahmen zu stellen, hat die 1996 gegründete „Internationale Arbeitsgemeinschaft Systemische Lösungen nach Bert Hellinger“ klare fachliche Standards festgelegt. Diese müssen erfüllt werden, um in einer qualifizierten „AufstellerListe“ geführt zu werden (vgl. www.iagsystemische-loesungen.de). Weil Aufstellungen zunehmend auch bei Organisationen und Strukturen angewendet wurden, änderte der Fachverband 2003 seine Satzung und seinen Namen in „Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellungen“ (DGfS). Zu dieser Weiterentwicklung trugen auch die zunehmenden Spannungen mit Bert Hellinger bei. Spätestens seit 2001 hat sich nämlich Hellinger selbst von der wissenschaftlichen Variante des von ihm begründeten Verfahrens verabschiedet. Heute betreibt er mit seiner Frau Maria Sophie eine „Hellingerschule“, in der er ein „Neues Familienstellen“ oder auch „Geistiges Familienstellen“ anbietet und darin ausbildet (www.hellinger.com). Durch ein „Gehen mit dem Geist“ soll es möglich sein, sich einer kosmischen Kraft anzuschließen, die hinter allen Bewegungen wirkt. Was ist das Neue der geistigen Aufstellungsarbeit? Am auffälligsten ist die veränderte Ausgangslage: Es wird kein System mit Stellvertretern mehr räumlich aufgestellt, sondern ein Klient schildert nur noch kurz ein Anliegen. Aufgestellt wird nur noch virtuell – im Geist. Ein Klient präsentiert also ein Problem und nennt MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 275 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 276 die betroffenen Personen. Der Aufsteller stellt sich dann den Menschen in seiner Lage vor und wartet auf einen Hinweis aus der geistigen Welt, den er in einem Satz zusammenfasst. Fallbeispiele auf Hellingers Internetseite dokumentieren eindrücklich die magische Aura, die den Meister umgibt. Es reicht ihm und seinen Schülern, in nur einem Satz das Problem angedeutet zu bekommen. Dann schließen sie die Augen, gehen in tiefe Sammlung und warten auf das entscheidende Wort oder den entscheidenden Satz. Die Sätze haben prophetischen Charakter und sollen starke Wirkungen entfalten. Die eher professionell orientierte DGfS sieht das neue geistige Familienstellen als spekulativ und unwissenschaftlich an. Die spirituelle Variante erfreut sich allerdings etwa in Europas größtem Osho-Institut in Köln großer Beliebtheit, wo eine eigene Schule Ausbildungen in systemischer Aufstellungsarbeit anbietet (www.tao-systemstellen.de), und auch im freikirchlichen und charismatischen Umfeld gibt es Ausbildungen für christliches Familienstellen (Scharrer 2009). Hellingers „Ordnungen der Liebe“ Hellinger behauptet, besondere Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten entdeckt zu haben, die eine intakte Familie oder ein intaktes System kennzeichnen würden. Sein diesbezügliches Wissen habe er aus den langjährigen Erfahrungen mit Aufstellungen gesammelt, die sich immer wieder bestätigt hätten. Die Hauptursache für persönliche Konflikte und Fehlentwicklungen sieht Hellinger in dem über mehrere Generationen hinweg übernommenen Erbe an Gefühlen, Meinungen und Lebensprinzipien. Weiterhin spielen äußere Ereignisse bei Hellinger eine zentrale Rolle. Ihre Wirkungen durch die Generationen hindurch sollen durch die Auf276 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 stellungen sichtbar gemacht werden. Wichtig sei: Wer ist früh gestorben – jünger als etwa mit 25 Jahren? Gibt es Verbrechen und schwere Schuld in der Familie? Gab es frühere Beziehungen der Eltern oder Großeltern? Gibt es besondere Schicksale wie z. B. Behinderung, Auswanderung, nichteheliche Geburt, Adoption? Anders als in der traditionellen Familientherapie spielen bei diesem Ansatz gefühlsmäßige Beziehungen, Sympathien oder Antipathien eine geringe Rolle. Stellt eine Person ihre Familie spontan und gesammelt auf, dann nehmen nach Hellingers Auffassung die Stellvertreter an ihren Plätzen Gefühle der Familienmitglieder wahr, die sie vertreten. Hier wirkt nach Hellinger das wissende Energiefeld der Familienseele. Angeblich nehmen die Stellvertreter klar und eindeutig wahr, von wem in der Familie Gefühle und Verhalten übernommen worden sind. Die Stellvertreter hätten angeblich Zugang zu einer tieferen Schicht oder Wahrheit der Beziehungen in dem fremden System – ein bisher unerklärliches Phänomen. In der praktischen Arbeit mit Aufstellungen lerne der Therapeut, immer mehr diesem Phänomen zu vertrauen und sich von ihm leiten zu lassen. Hellinger vermutet rätselhafte und geheimnisvolle Verknüpfungen, die starke Bindungen über die Generationen hinweg erzeugen würden. Angeblich wirken Aufstellungen auch auf Familienmitglieder, die keine Ahnung davon haben, dass ihre Familie aufgestellt wurde. Aufgabe des Therapierenden sei es, Bindungen zu entdecken und eine gute Ordnung zu suchen, bei der sich jeder an seinem Platz der Aufstellung wohlfühle. Dabei soll er die Aussagen Hellingers über die in Familien herrschenden Ordnungen nutzen und rituelle Sätze weitergegeben, z. B. „Ich achte deinen Tod und dein Schicksal“, wenn jemand früh verstorben ist. Durch die Reaktionen der Stellvertre- inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 277 ter erkenne er, ob der eingeschlagene Kurs richtig ist. Grundlage des Familienstellens bilden die von Hellinger formulierten Gesetzmäßigkeiten einer Familie und die von ihm vorgeschlagenen „Lösungen“ von Beziehungskonflikten. Diese „Ordnungen der Liebe“ – so der Titel seines Hauptwerkes (Hellinger 2001) – fußen auf traditionellen tugendhaften Werten wie Achtung, Ehre, Gewissen, Demut, Unschuld oder Bindung. Die Ideale werden durch direktive Lösungsvorschläge des Therapeuten auf die dargestellte Familiensituation angewendet. Weil diese sehr konservativ anmutenden Ordnungen und Regeln heute kaum noch beachtet würden, seien viele Beziehungssysteme gestört und erkrankt. Durch das Befolgen von Hellingers Regeln könne „die Liebe wieder fließen“, oder in Konflikte verstrickte Geschäftspartner könnten wieder konstruktiv miteinander arbeiten. Einschätzung In der Regel wird bei den Aufstellungen zu wenig psychologische Beziehungsarbeit geleistet. Der oft mühsame und schmerzhafte Prozess des Abschiednehmens von illusionären Wünschen oder idealisierten Übertragungen wird hier unzulässigerweise verkürzt. Wie sollen in einer 20-minütigen Aufstellung Jahrzehnte alte Familienfehden heilen? Deutungen und Interpretationen können nur zufällig ausfallen, wenn weder eine präzise Diagnose erhoben wird noch eine überprüfbare Krankheits- bzw. Gesundheitslehre vorliegt. Mit Sicherheit dürften die Personen der Stellvertreter mehr Einfluss auf die Lösung des Familienkonflikts nehmen, als das dem Wahrheitsanspruch der Methode recht sein kann. Tauschte man stellvertretende Personen aus: Würden sie in gleicher Weise die spezifischen „Beziehungswahrheiten“ einer Familiendynamik erspüren und sich dementsprechend umplatzieren? Weil bei den Stellvertretern individuelle und damit „feldunabhängige“ Faktoren Einfluss nehmen, liegt die Gefahr der Willkür und Beliebigkeit auf der Hand (vgl. Haas 2005). In der akademischen Psychologie stoßen Hellingers Systemaufstellungen bisher auf keinerlei Resonanz. Das sehr schwammig und vage verwendete Spiritualitäts-Konzept wird auch weiterhin der sozialwissenschaftlichen Akzeptanz im Wege stehen. Im beraterischen und therapeutischen Bereich sieht es anders aus. Hier gibt es einige Fachleute, die das Hellinger’sche Familienstellen ergänzend in ihre Behandlung mit einbeziehen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, mit welchem Anspruch und zu welchem Zweck diese Methode eingesetzt wird. Als diagnostisches Hilfsmittel kann sie in erfahrenen Händen hilfreich sein, als rigoroses Deutungsinstrument kann sie hingegen auch gefährlich werden. Eine unreflektierte Verbindung zwischen psychologischer Beratung/Therapie und weltanschaulich geprägten Konzepten der Spiritualität ist problematisch. Ohne die Transparenz und das Mitteilen der jeweiligen Voraussetzungen können spirituelle Verfahren vereinnahmend wirken oder sogar missbräuchlich eingesetzt werden. Hellinger selbst hat sich längst aus dem Kontext der professionell geschulten Heilbehandlungen gelöst und versteht sich heute als Philosoph. Wie man aber etwa das „wissende Feld“ zu diagnostischen Zwecken behutsam und verantwortlich in einem Beratungsgespräch einsetzen kann, darüber wird bisher viel zu wenig nachgedacht. Aber nur ein fachlich verantworteter Umgang mit den teilweise überraschenden Einsichten kann die traumatischen Erfahrungen verhindern, die ein kürzlich erschienener Therapiebericht doMATERIALDIENST DER EZW 7/2009 277 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 278 kumentiert. In sehr eindringlichen Bildern schildert die Oldenburger Schriftstellerin Elisabeth Reuter ihre schädigenden Therapie-Erfahrungen mit einem Arzt und Psychotherapeuten, der seine Patientin nach Hypnotherapie und Gestaltmethoden schließlich mit Hellinger’schen Ritualsätzen drangsalierte. Hier ist ein weiteres Mal der Machtmissbrauch dargestellt worden, der die seelische Hilfsbedürftigkeit von Menschen ausnutzt. Weil der Bedarf nach Halt und Orientierung gerade auch an Beraterinnen und Therapeuten herangetragen wird, ist es dringend nötig, deutlich zwischen einem professionellen Heilverfahren und einem weltanschaulichen Heilsversprechen zu unterscheiden. Als Fazit kann festgehalten werden: • Hellinger hat auf Wahrnehmungs-Phänomene in zwischenmenschlichen Beziehungen aufmerksam gemacht, die beeindrucken und zumindest im Moment nicht erklärt werden können. • Hellinger hat es versäumt, einen Verstehensrahmen des Phänomens „wissendes Feld“ zu entwickeln und daraus ein Therapiekonzept zu entwerfen. • Der Aufstellungsarbeit mangelt es an einer regelrechten Konfliktverarbeitung und einer tragenden therapeutischen Beziehung. • Hellingers Attitüde des Wissenden und seine Immunisierung gegen Kritik machen seine Methode gefährlich für Anwender, die es nicht in ein therapeutisches Konzept einbetten. • Das inflationäre Aufstellen mit quasi-religiösen Heils-Erwartungen und das Versprechen schneller Lösungen richten mehr Schaden an, als dass sie nützen. Hellinger, Bert, Religion, Psychotherapie, Seelsorge, München 2000 Krech, Hans / Kleiminger, Matthias (Hg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, Gütersloh 62006, 991-999 Nelles, Wilfried / Breuer, Heinrich, Der Baum trägt reiche Frucht. Dimensionen und Weiterentwicklung des Familienstellens, Heidelberg 2006 Reuter, Elisabeth, Gehirn-Wäsche. Macht und Willkür in der „systemischen Psychotherapie“ nach Bert Hellinger, Berlin 2005 Scharrer, Erwin, Heilung für die Seele. Familienstellen auf biblischer Basis, Holzgerlingen 2009 Utsch, Michael, Hellingers „Geistiges Familienstellen“ in der Kritik, in: MD 9/2007, 249250 Utsch, Michael, Ordnungen der Liebe – Hellingers Systemaufstellungen, in: Hempelmann, Reinhard u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität, Gütersloh 22005, 161-170 AUTOREN Laura Tiziana Corallo, geb. 1986, Studentin der Religionswissenschaft und Germanistik an der Leibniz Universität Hannover, Praktikantin bei der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen der Ev.luth. Landeskirche Hannovers. Dr. theol. Friedmann Eißler, geb. 1964, Pfarrer, EZW-Referent für Islam und andere nichtchristliche Religionen, neue religiöse Bewegungen, östliche Spiritualität, interreligiösen Dialog. Dr. phil. Stefanie Pfister, geb. 1975, Lehrerin für Deutsch, evangelische Religionslehre und Sport an der Erich-Klausener-Realschule in Münster. Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Pfarrer, EZW-Referent für Esoterik, Okkultismus, Spiritismus, Satanismus. Dr. phil. Christian Ruch, geb. 1968, Historiker, Mitglied der katholischen Arbeitsgruppe „Neue religiöse Bewegungen“, Chur/Schweiz. Literatur Andrew Schäfer, geb. 1961, Pfarrer, Referent für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Ev. Kirche im Rheinland, Düsseldorf. Haas, Werner, Familienstellen – Therapie oder Okkultismus? Heidelberg 2005 Hellinger, Bert, Ordnungen der Liebe. Ein KursBuch, Heidelberg 2001 Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psychologe und Psychotherapeut, EZW-Referent für christliche Sondergemeinschaften, Psychoszene und Scientology. 278 MATERIALDIENST DER EZW 7/2009 inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 279 NEUE EZW-TEXTE Reinhard Hempelmann / Friedmann Eißler / Michael Utsch / Matthias Pöhlmann Religionstheologie und Apologetik Zur Identitätsfrage in weltanschaulichen Dialogen EZW-Texte 201, Berlin 2009, 80 Seiten Der Text bietet einen Ausschnitt der Themen, mit denen sich die EZW gegenwärtig befasst. Der Beitrag von Reinhard Hempelmann weist auf den Zusammenhang von Religionstheologie und Apologetik hin. Die Begegnung mit fremden Religionen und Weltanschauungen nötigt dazu, die Wahrnehmung für den fremden und den eigenen Glauben zu schärfen. Friedmann Eißler analysiert Standortbestimmungen zum christlich-muslimischen Dialog. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Identitätsfrage eine neue Relevanz bekommen hat. Der Beitrag von Michael Utsch beschäftigt sich mit religiöser Identitätsbildung in entwicklungspsychologischer Perspektive. Matthias Pöhlmann skizziert die moderne Esoterik als universalreligiöse Bewegung. Friedmann Eißler (Hg.) Muslimische Einladung zum Dialog Dokumentation zum Brief der 138 Gelehrten („A Common Word“) EZW-Texte 202, Berlin 2009, 132 Seiten Der Brief von 138 muslimischen Religionsführern und Gelehrten an Papst Benedikt XVI. und die Weltchristenheit vom 13. Oktober 2007 hat schon heute Geschichte geschrieben. Wohl noch nie ist eine muslimische Dialoginitiative auf eine solch breite Resonanz in der christlichen Welt gestoßen. Der EZW-Text 202 dokumentiert – nach einer Einführung von Friedmann Eißler – den Offenen Brief „A Common Word Between Us and You“ und das Kommuniqué von Neapel (beide vom Oktober 2007). Außerdem enthält er ein Dutzend Erstreaktionen aus dem christlichen Raum. Die meisten wurden zuerst auf Englisch verfasst und werden hier in Übersetzung zur Verfügung gestellt. Alle EZW-Texte sind per Abonnement oder im Einzelbezug erhältlich. Wenden Sie sich bei Interesse bitte schriftlich (EZW, Auguststr. 80, 10117 Berlin), per Fax (030/28395-212) oder per Mail ([email protected]) an uns. Weitere Informationen finden Sie unter www.ezw-berlin.de. inhalt0709.qxd 18.06.2009 12:35 Seite 280 IMPRESSUM Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), im EKD Verlag Hannover. Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12 Internet: www.ezw-berlin.de E-Mail: info @ezw-berlin.de Redaktion: Matthias Pöhlmann, Ulrike Liebau E-Mail: [email protected] Für den Inhalt der abgedruckten Artikel tragen die jeweiligen Autoren die Verantwortung. Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber wieder. Verlag: EKD Verlag, Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover, Telefon (05 11) 27 96-0, EKK, Konto 660 000, BLZ 250 607 01. Anzeigen und Werbebeilagen: Anzeigengemeinschaft Süd, Augustenstraße 124, 70197 Stuttgart, Postfach 100253, 70002 Stuttgart, Telefon (0711) 60100-66, Telefax (07 11) 60100-76. Verantwortl. für den Anzeigenteil: Wolfgang Schmoll. Es gilt die Preisliste Nr. 23 vom 1. 1. 2009. Bezugspreis: jährlich € 30,– einschl. Zustellgebühr. Erscheint monatlich. Einzelnummer € 2,50 zuzügl. Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungen sind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresende möglich. – Alle Rechte vorbehalten. Bei Abonnementwunsch, Adressenänderungen, Abbestellungen wenden Sie sich bitte an die EZW. Druck: Maisch & Queck, Gerlingen /Stuttgart. inhalt01.qxd 18.12.2007 08:11 Seite 2 18.06.2009 12:36 Seite 1 ISSN 0721-2402 H 54226 EZW, Auguststraße 80, 10117 Berlin PVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226 MATERIALDIENST umschlag0709.qxd Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 72. Jahrgang 7/09 Juden, Christen und Muslime Vom Dialog zum Trialog der Religionen? Messianische Juden in Deutschland „Fiat Lux“ vor dem Ende? Verliebt in einen Vampir Stephenie Meyers Bis(s)-Romane „Stichwort“: Familienaufstellungen nach Hellinger Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen