März / Juni 2010 - Flaschenpost aus Naruto

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März / Juni 2010 - Flaschenpost aus Naruto
Nr. 4 /5 März - Juni 2010
Flaschenpost aus Naruto
Leben und Erleben in Lüneburgs japanischer Partnerstadt
Naruto im Neunte-Fieber
Für Naruto ist die 9. Symphonie von Beethoven mehr als nur ein Stück klassische Musik. Es ist
ein Stück Heimat und Identität, etwas mit dem man sich hier genauso identifiziert wie mit dem
Awa-Tanz, den Gezeitenstrudeln oder den Früchten, die in der Umgebung angebaut werden.
Seit 29 Jahren findet alljährlich am ersten Wochenende im Juni eine Aufführung der Neunten
im Kulturzentrum Naruto statt, doch insbesondere seit Einweihung der Narutoer Meeresbrücke
vor 25 Jahren, welche die Stadt an den Ballungsraum Osaka-Kobe-Kyoto anschloss, kommen
in jedem Jahr mehr Gäste in die Stadt. Ein Erfahrungsbericht.
Anja Hankel betreut als
Koordinatorin für internationale Beziehungen
seit August 2009 die
Städtepartnerschaft zwischen der japanischen
Stadt Naruto und Lüneburg von japanischer
Seite aus. Ihre vierteljährlich
erscheinende
„Flaschenpost“ soll den
Bürgern Lüneburgs einen aktuellen, persönlichen und lebendigen
Eindruck vom Leben und
den Geschehnissen ihrer
Partnerstadt am anderen
Ende der Welt vermitteln.
Naruto, 06. Juni 2010
„Silencium!“ - „Ruhe bitte!“
Hauptaufführung im Kulturzentrum Naruto: voll konzentriert steht der Dirigent
Keiichi Kanda vor einer
Mammut -Aufgabe. Das
Symphonieorchester Tokushima, vier Solisten und 592
Chorlaien aus 44 japanischen
und internationalen Chören
werden an diesem Wochenende den Bewegungen seines
In dieser Ausgabe…
werden Sie unter anderem erfahren:
Was es mit der Zahl 592 bei der diesjährigen
Aufführung der Neunten in Naruto auf sich
hatte.
S. 1
Wer Kerry Candaele ist und was er mit Beethovens Neunter Symphonie vorhat.
S.2
Warum am Brunnen vor dem Tore jetzt 51 Linden-, 30 Kirsch- und 255 Ahornbäume stehen .
S. 2
Warum hier jedes Jahr am ersten April nichts
mehr so ist wie zuvor.
S. 3
Wie alljährlich der weibliche Nachwuchs in
Japan gefeiert wird.
S. 4 & 5
Wie die Partnerschaft zwischen Lüneburg und S. 6 & 7
Naruto mit Leben gefüllt wird.
S. 8
 Wozu sich Freiwillige neuerdings einmal im
Monat am Narutoer Koike-Strand versammeln.
Taktstocks zu folgen haben darunter auch ich.
Als mich Anfang des Jahres
der Chor der Stadt bat,
gemeinsam mit ihnen die
deutsche Aussprache der
„Ode an die Freude“ zu
üben, sah ich es als Chance,
einmal hinter die Kulissen
einer solchen Aufführung zu
schauen. Natürlich war mir
die Neunte inzwischen ein
Begriff, aber dort, bei der
Probe, bei der Musik
schlitterte ich von einer
Gänsehaut zur nächsten. Das
bislang noch abstrakte Wort
„Neunte“ wurde plötzlich mit
Leben gefüllt und daher
entschloss ich mich
kurzerhand, dem Chor
beizutreten. Trotz fehlender
Gesangserfahrung.
Sechs Monate später nun
stehe ich also auf der Tribüne
der Alt-Stimmen, alle warten
gespannt auf ihren Einsatz
bis der Bariton im 4. Satz
endlich den erlösenden Ruf
„Oh Freunde!“ intoniert und
der Chor einstimmt.
Nun geht alles wie von
allein;
die Stimmlagen
greifen ineinander, harmonieren miteinander; gemeinsam arbeiten sich Chor,
Solisten und Orchester durch
die Mittelpartie vor: „Seid
umschlungen, Millionen!
Diesen Kuss der ganzen
Welt!“ tönt es einstimmig ob es das ist, was Beethoven
sich vorgestellt hatte?
Lange kann ich nicht darüber
nachsinnen, denn nun steht
der Endspurt zum krönenden
Höhepunkt bevor, bei dem
das „Freude, schöner Götterfunken!“ noch einmal
ausgiebig zelebriert wird,
sich Chor, Orchester und
Solisten in Tempo und
Temperament immer weiter
steigern um dann gemeinsam
einen Schlusspunkt zu setzen
- und dann, für den Bruchteil
einer Sekunde herrscht
gespenstische Stille im Saal,
bevor das Publikum aufjubelt
und applaudiert und die
konzentrierte Anspannung
von allen Mitwirkenden
abfällt.
Flaschenpost aus Naruto
Seite 2
„Following the Ninth“ - Der Neunten auf der Spur
...heißt ein Filmprojekt des
US-amerikanischen
Dokumentarfilmers Kerry
Candaele, der eigens zur
Aufführung der Neunten in
Naruto angereist war. Neben
Aufnahmen von den zwei
Aufführungstagen schoss er
ein Interview mit Prof.
Kawakami, dem Leiter des
Deutschen Hauses, erkundete das ehemalige Lagergelände, filmte das Deutsche
Haus und seine Ausstellung.
Seit einigen Jahren reisen er
und sein Team rund um den
Globus und besuchen
Schauplätze, die auf eine
beso ndere Weise mit
Beethoven und der Neunten
in Verbindung stehen.
Candaele möchte auf diese
Weise nicht nur die
Umstände der Entstehung
der letzten Symphonie
Beethovens ergr ünden,
sondern vor allem, was die
Symphonie den Menschen in
verschiedenen Erdteilen
bedeutet.
Schließlich ist sie nicht nur
ein kolossales Klangerlebnis,
sondern beinhaltet eine
Gesellschaftsutopie, ein
Plädoyer für eine Welt der
Gleichheit: „Alle Menschen
werden Brüder“.
Dafür bereiste er bereits Orte
wie Bonn, Beethovens
Geburtsort; wie Wien, wo er
komponierte und dirigierte;
wie Peking, wo die Neunte
bei den Studentenprotesten
1989 die staatlichen Lautsprecheransagen mundtot
machte und die Protestierenden vereinte; wie Santiago de Chile, wo es als
Freiheitslied den Demonstranten zum Durchhalten
und Weitermachen im
Kampf gegen Diktator
Pinochet half; wie Berlin, wo
sie als „Ode an die Freiheit“
zu den Feierlichkeiten der
Wiedervereinigung gespielt
wurde.
Die Neunte - sie hat in jedem
Land ihre eigene Geschichte.
In Japan hängt sie untrennbar
mit der Erstaufführung in
Bando zusammen, von wo
aus sie innerhalb kurzer Zeit
im gesamten Land zu ihrer
bis heute anhaltenden,
großen Popularität gelangte
und wie kein anderes Musik-
stück für das Band zwischen
Japan und Deutschland steht.
Anfang 2011 soll Candaeles
Film unter dem Titel „Following the Ninth - In the Footsteps of Beethoven„s Final
Symphony.“ zunächst in den
USA erscheinen. Unter
http://followingtheninth.com
steht bereits ein stimmungsvoller und bildgewaltiger
Trailer bereit.
Filmemacher Kerry Candaele
Einweihung des “Lindenwalds im Deutschen Park”
Bando, 4. April 2010.
Zugegeben, der Frühling hat
in diesem Jahr sowohl in
Deutschland als auch in
Japan etwas auf sich warten
lassen. In Japan hieß das in
diesem Jahr vor allem
Nieselregen und Wind,
Wind, Wind.
Pünktlich zum 4. April, an
dem in einer öffentlichen
Zeremonie der Lindenwald
im Deutschen Park eingeweiht wurde, zeigte sich das
Wetter gnädig. Strahlende
Frühingssonnenstrahlen inmitten prächtiger, weiß-rosa
blühender Kirschbäume
bildeten die Kulisse zur
feierlichen Einweihung des
Waldes, der bereits 1976
angelegt und seitdem
kontinuierlich gepflegt und
seit dem 30. Jubiläum der
Städtepartnerschaft mit
Naruto im Jahr 2004 um
Wege und Sitzgelegenheiten
erweitert wurde.
Insgesamt wurden neben der
Linde, welche 2005 vom
Lüneburger Civitan-Club
gespendet wurde, fünfzig
vo m Studienwerk für
deutsch-japanischen Kulturaustausch e.V. gespendete
Linden, dreißig Kirschbäume
als Symbol Japans sowie 225
Ahornbäume gepflanzt; so
wechselt der Park in jeder
Jahreszeit sein Angesicht.
Neben Vertretern der Stadt allen voran Bürgermeister
Izumi und Leute, die sich für
den Deutsch-Japanischen
Austausch einsetzen - fand
sich zur Einweihung auch
eine Abordnung des Chors
ein, der alljährlich in Naruto
Der Neunte-Chor aus Naruto singt die „Ode an die Freude“
Beethovens 9. Symphonie
begleitet - und natürlich
Vertreter des Deutschen
Hauses.
Der Park wurde angelegt, um
für die künftigen Generationen die Erinnerung an den
kulturellen Austauschs zwi-
schen den Gefangenen des
Lagers Bando mit der
lokalen Bevölkerung und
den damit verbundenen
Beginn der deutsch japanischen Freundschaft vor
fast 100 Jahren lebendig und
wach zu halten.
Flaschenpost aus Naruto
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April in Japan: Schulbeginn und … Abteilungswechsel?
Ganz Japan, April 2010.
Die japanische Arbeitswelt
ist in ein festes System
gebettet, zu dem regelmäßige
Abteilungswechsel gehören.
Wenn im April jeden Jahres
die Angestellten in Japan –
einhergehend mit dem
Beginn des neuen Geschäftsjahres - die Abteilungen
wechseln, ist das zunächst
oft eine recht traurige
Angelegenheit. Andererseits
gibt es ihnen aber auch die
Möglichkeit, neue Kollegen
und Aufgabengebiete einzuarbeiten.
Solche Wechsel erfolgen
jedoch nicht erst, wenn man
in das Arbeitsleben eingetreten ist – Japaner gewöhnen sich schon von klein auf
an diesen Rhythmus. Bereits
im Kindergarten werden
Ende März die Kinder, die in
die Vorschule oder Grundschule wechseln, während
einer feierlichen Zeugnisübergabe-Feier verabschiedet, bevor sie dann im
April in einer ebenso feierlichen Zeremonie in der
neuen Einrichtung aufgenommen werden. Zeugnisübergabe-Zeremonien und
Verabschied ungs -Veranstaltungen hatte ich schon so
manche erlebt – sei es in
Schulen oder auf der Arbeit.
Im März hatte ich zum ersten
Mal die Gelegenheit, an
einer solchen Veranstaltung
im Kindergarten unserer
Kinder teilzunehmen. Ich
war überrascht, wie formell
und emotional das ganze ist:
die Kindergarten-Aula war
zu diesem Zweck festlich mit
Blumen geschmückt worden,
alle Kinder, die verabschiedet wurden, erschienen
herausgeputzt wie MiniErwachsene in Anzügen und
Kleidchen, die Erzieher
(innen), Eltern und Gäste
sämtlich in Schwarz gekleidet mit dem obligatorischen
B l u me n - An s t e c k e r a m
Revers, der zu formellen
Zeremonien in Japan nicht
fehlen darf.
Schon bald nach Beginn der
Feier wurde mir bewusst,
dass hier mehr passierte, als
nur die Verabschiedung der
Kinder: Viele Erzieherinnen
und Kinder hatten schon
vo m Kr ab b e lal ter a n
zusammen jeden Tag im
Kindergarten verbracht; die
Kleinen hatten im Kindergarten Laufen gelernt und
sind von vielen der Erzieherinnen in ihren ersten
Lebensjahren ein gutes Stück
begleitet worden. Für die
meisten ist ihre Arbeit weit
mehr als nur ein Job - die
Kinder und Erzieherinnen
haben ein sehr inniges und
herzliches Verhältnis.
Um die vergangenen Jahre
noch einmal Revue passieren
zu lassen, wurde eine
Leinwand aufgebaut und –
während im Hintergrund
leise Trauermelodien abgespielt wurden - eine Diashow
mit den Fotos der Kinder aus
ihrer Zeit im Kindergarten
gezeigt – vom Krabbel- bis
zum Vorschulalter. Ereignisse im Laufe des Jahres,
Spannendes, Erfolge,
Gelerntes, Freunde – jedes
Kind wurde einzeln
gewürdigt. Dazu hatten die
Erzieherinnen noch ein paar
Worte der Kinder aufgenommen und zu den jeweiligen
Fotos abgespielt. Da blieb
kein Auge trocken: Sämtliche Erwachsene weinten
wie auf einer Beerdigung bei
diesen Erinnerungen.
Nach den Reden der
Leiterin sowie des Elternvertreters wurde es ernst: die
Zeugnisvergabe stand an.
Dazu hatten die Kinder
einstudiert, wie sie aufstehen, nach vorne laufen, das
Zeugnis empfangen, hochhalten und dem jeweils
wartenden Elternteil überreichen sollten. Mehrere
Verbeugungen inklusive. So
war das also: nicht erst bei
der Zeugnisübergabe in der
Schule geht das los, nein
bereits im Kindergarten wird
das einstudiert. Etwas
befremdend mutete es schon
an, die Kleinen wie Roboter
auf imaginären Linien
Feierliche Zeugnisverlesung
laufend und mit einstudierten
steifen Bewegungen ihr
Zeugnis in Empfang nehmen
zu sehen. Jedes Kind wurde
einzeln aufgerufen und als es
vorne vor der Leiterin stand,
um sein Zeugnis zu erhalten,
noch einmal gelobt und sein
Charakter beschrieben, bevor
das Zeugnis verlesen und
… und Übergabe
überreicht wurde.
Die Kinder langweilten sich
kö stlich während d ie
Zeremonie ihren Lauf nahm
und die Eltern und Erzieher
abwechselnd ihre Tränen
trockneten – waren aber auch
sichtlich stolz, als sie ihr
Zeugnis erhielten. Viele
Erinnerungsfotos wurden an
diesem
Vormittag
Stolz wird es präsentiert...
geschossen und so manches
Versprechen, sich auch bald
wieder mal zu treffen, auch
wenn man nun nicht mehr im
gleichen Kindergarten ist,
gemacht.
Nachdem die Kita dann drei
Tage geschlossen war, um
die Räume umzubauen und
für die neuen Kinder und das
neue Kindergartenjahr alles
… und Mama übergeben.
herzurichten, ging der Alltag
wieder los – diesmal
allerdings in neuen Gruppen.
Die Kinder waren in die
nächst höheren Gruppen
gewechselt. Schon im
Vorfeld wurde viel darüber
spekuliert, welche Erzieherinnen wohl die Gruppe
wechseln werden. In Japan „Wir bleiben für immer Freunde!“
wird das nämlich „über die
Traurig war der Abschied...
Köpfe hinweg“ von den
Vorgesetzten entschieden
und bleibt bis Anfang streng
geheim. Die Spannung und
Hoffnung steigt, je näher der
Beginn des neuen Jahres
rückt.
Wir hatten Glück: die
Erzieherin unseres Sohnes
Doch schon einen Monat später
übernahm wieder seine
sehen sich alle wieder Gruppe.
...
Treffpunkt: Deutsches Haus!
Flaschenpost aus Naruto
Seite 4
Hina-Matsuri - Das Fest der Mädchen
Nachdem wir uns in der letzten Ausgabe der Flaschenpost ausführlich mit der japanischen
Variante des Valentinstages und der White Days - den Tagen der Verliebten - beschäftigten,
werden wir uns in diesem Heft eine Altergruppe tiefer umschauen. Denn dort kann Japan mit
zwei besonders farbenfrohen Feiern aufwarten: dem “Kükenfest” - auch “Tag der Mädchen”
oder “Puppenfest” genannt - und dem “Knabenfest”.
Hiketa, 3. März 2010.
W ied er s i nd e s d ie
Supermarktlautsprecher, die
seit Wochen scheinbar nur
ein Lied kennen. Mit dem
auf und ab der eingänglichen Melodie des “HinaMatsuri”-Liedes wird der
Mädchen im Festtagskimono
geneigte Kunde ab Mitte
Februar langsam auf das
Puppenfest am 3. März eingestimmt. Aus den Speichern
tauchen Jahrs zuvor sorgsam
verstaute Kisten auf und
auch eine unhandliche
Tribüne und schweres Tuch
finden unter staunenden
Kinderaugen ihren Weg in
das Wohnzimmer.
Um das Geheimnis zu lüften
- die Kisten beherbergen eine
ganze Prozession von
Puppen, die gemeinsam von
Mutter und Tochter einige
Tage vor dem 3. März auf
einer mehrstufigen Tribüne
aufgestellt werden.
Überall lauern Entdeckungen
Wenn Sie beim Wort
„Prozession“ an den japanischen Kaiserhof dachten,
liegen Sie goldrichtig. Die
oberste Stufe des Podestes
gebührt nämlich dem Kaiserpaar. Eingehüllt in brokatene
Gewänder der Heian-Zeit
(die höfische Epoche der
japanischen Geschichte, ca.
8.-12. Jahrhundert) thronen
Ein siebenstufiges Hina-Podest: Oben thront das japanische
Kaiserpaar, darunter die Gefolgsleute. Auf den untersten
Stufen findet man die Aussteuer der Tochter des Hauses.
sie erhaben über dem Volke.
Drei Hofdamen auf der
nächst tieferen Stufe sorgen
mit zwei Sorten Reiswein
und Süßspeisen für das
leibliche Wohl des hohen
Paares. Der Wein soll die
Macht haben, das Leben zu
verlängern und Unglück
abzuwehren.
Für gediegene lautliche
Untermalung steht auf der
nächsten Stufe ein fünfköpfiges Orchester mit traditionellen Musikinstrumenten
bereit: drei Trommeln, eine
Querflöte und der Fächer des
Sängers verraten ihre Ver-
Von Kindern gefertigte Puppen
Flaschenpost aus Naruto
bindung zum Noh-Theater,
der Unterhaltungsform der
gehobenen Schichten.
Auf der vierten Stufe finden
sich zwei Minister - ein alter
und ein junger - die vom
Kaiser die neuesten Erlässe
empfangen und ihn über die
neuesten Entwicklungen
unterrichten. Zwischen ihnen
steht auf Stelltabletten ein
Mahl bereit. Die Anzahl der
Stufen sollte allerdings
ungerade sein, denn diese
Zahlen gelten in Japan wie in
China als glücksverheißend.
Auf Stufe Nr. 5 warten,
zwischen einem Mandarinen
- und einem Kirschbäumchen sitzend, die Torwachen dem Kaiserpaar auf.
Auf den Stufen 6 und 7
finden sich die Aussteuer Mobiliar und Kücheninventar - sowie einstmals
übliche Gefährte: eine Sänfte
und ein Zugwagen.
Über den genauen Ursprung
Seite 5
des Puppenfestes streiten
sich die Gelehrten noch.
Sicher scheint, dass es im 1.
Jahrtausend aus China
überkommen ist und dann
„japanisiert“ wurde. Sicher
ist auch, dass es in der EdoZeit, der Ära des Herrscherhauses Tokugawa, die das
Land vom 17. bis zum 19.
Jahrhundert nach außen
abschlossen, zu einer
ungeahnten Blüte des Festes
kam. Der relative Wohlstand
jener vergleichsweise friedlichen Zeit ermöglichte ein
Wetteifern um die schönsten
und teuersten Puppen auf
dem Hina-Podest, was bald
so weit ging, dass die Politik
einschritt. Erlasse verboten
zeitweilig allzu luxuriöse
Puppen.
Wie nachhaltig diese Weisungen griffen (oder nicht),
lässt sich alljährlich in
Hiketa, einem westlich von
Naruto an der Seto-Inlandsee
Ein kostbares dreistufiges Podest aus schwarz lackiertem
Holz. Die Kugeln an den Zweigen symbolisieren Blüten.
gelegenen Hafenstädtchen,
abschätzen. Der Ort ist
berühmt für sein alljährlich
stattfindendes Puppenfest
und öffnet Gästen aus ganz
Japan im wahrsten Sinne des
Wortes Tor und Tür. Entlang
einer festgelegten Route
durch die Altstadt stehen in
Hauseingängen, Schreinen,
Tempeln und Geschäften
Podeste mit prunkvollen
Puppen. Von antiken Exponaten, die bis in die Edo-Zeit
zurückdatieren, bis zu
moderner Kunst und Ramsch
ist alles dabei.
Besonders reizvoll ist bei der
Gelegenheit nicht nur das
Betrachten der Puppen,
sondern auch das entdecken
der Winkel und Ecken des
Städtchens: In so manchem
Innenhof steht man plötzlich
vor alten Gerätschaften und
Apparaturen, mit denen einst
Buchweizennudeln oder
Zucker hergestellt wurde;
hier und da entpuppt sich ein
Hinterhof als Kleinod
japanischer Gartenkunst;
unerwartet setzt man in einer
schattendunklen Nebengasse
den Fuß in ein kleines
Museum - und nicht zuletzt
gewähren offene Türen und
Fenster ab und an einen
Einblick in die Häuser und
das Leben des Städtchen überall kommt man leicht ins
Gespräch.
Und so fanden wir letzten
Endes auch heraus, was es
mit dem Fest auf sich hat. Es
geht darum, die Puppen um
ein gesundes, gesegnetes und
glückliches Aufwachsen der
Mädchen zu bitten - und
darum, dass es später einen
gute Partie macht und eine
glückliche Ehe führt.
Kinder der Grundschule von
Hiketa in prunkvollen
Theaterkostümen
Der Charm Hiketas
Flaschenpost aus Naruto
Seite 6
Familie Vortmüller aus Deutsch Evern - Nach 25 Jahren wieder in Naruto
Als ich zu Beginn dieses Jahres erfuhr, dass eine Familie Vortmüller aus Lüneburg im Frühjahr nach Naruto kommen würde,
war mir, als hätten sich alte Bekannte angekündigt. Obwohl wir uns noch nie zuvor begegnet waren.
Der Grund für dieses Déjàvu war ein Artikel in der
Lüneburger Landeszeitung
vom 20. August 2009, den
ich kurz nach meiner
Ankunft für meine Kollegen
im Rathaus Naruto übersetzt
hatte – und welcher Eileen
und Friedrich „Fritz“
Vortmüller portraitierte.
Während seinerzeit nämlich
die Narutoer Freundschaftsdelegation durch Deutschland tourte, fieberten die
leidenschaftlichen JapanFans aus Deutsch Evern ihrer
Ankunft schon eifrig entgegen. Ein wenig hatte ich
durch den Artikel also schon
über ihre Verbundenheit mit
Japan erfahren: wie sie sich
in der Deutsch-Japanischen
Gesellschaft Lüneburg engagieren – und auch dass sie
vorhätten, im kommenden
Jahr nach langer, langer Zeit
wieder einmal nach Naruto
zu reisen. Da schloss sich der
Kreis also wieder.
Was bisher geschah
Ganze 25 Jahre ist es her,
seit Vortmüllers zum letzten
Mal in Japan waren –
damals, 1985, noch unverheiratet und kinderlos.
Beides sollte nicht lange so
bleiben: Ihre beiden Söhne
Michael Taro und Niklas Jiro
sind inzwischen bereits
selbst erwachsen. Beide
tragen offiziell japanische
Zweitnamen und teilen die
Begeisterung ihrer Eltern für
das Land: Sohn Niklas war
erst im Frühjahr 2009 aus
Naruto zurückgekehrt, wo er
ein Semester an der High
School verbracht hatte.
Seit einigen Jahren pflegen
sie außerdem die Freundschaft mit Frau Yumi
Nishioka. Seit sie das erste
Mal als Homestay-Partner
während ihres Delegationsbesuches in Lüneburg bei
Familie Vortmüller zu Gast
war, kommt sie aller zwei
Jahre regelmäßig wieder –
aus der Homestay-Begegnung ist eine herzliche
Freundschaft erwachsen.
Aus der Zeit des ersten
Naruto-Besuches vor 25
Jahren bestehen zudem noch
viele Brieffreundschaften,
wie die mit der Familie
Hirata und so manch enger
japanischer Freund wartete
gespannt auf den Besuch der
Vortmüllers in Naruto.
Besuch in Naruto
Bevor es allerdings nach
Naruto ging, schauten sich
die Vortmüllers noch
Zu Gast zur Teezeremonie bei Familie Nishioka und Frau Maeda
eine Woche lang im
westlichen Japan um:
Hiroshima, Kyoto und die
Insel Awaji standen auf dem
Rei sep la n, a uc h h ier
warteten alte Freunde. Für
Naruto hatten sie jedoch
extra viel Zeit - volle neun
Tage - eingeplant. Schließlich würde sich das Gesicht
der Stadt in den letzten 25
Kirschblütentee
Jahren vermutlich
verändert haben.
sehr
Gerade recht zur
Kirschblüte
Das Wetter hätte sich zwar
etwas frühlingshafter geben
können, doch auch ohne dem
verwandelten sich pünktlich
zur Ankunft der Vortmüllers
Flaschenpost aus Naruto
die hiesigen Gefilde in
weißrosafarbene Blütenmeer e aus blühenden
Kirschbäumen. Das mag
vielleicht etwas schwülstig
klingen, aber wer einmal bei
gutem Wetter zur Kirschblüte in Japan war, wird sich
mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit bei ähnlichen
gedanklichen Formulie -
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Shikoku hat, erneut ausgiebig zu genießen. Glücklich über ein Wiedersehen
nach so langer Zeit hatten
Freunde und Bekannte sich
bestens auf die Ankunft der
Vortmüllers vorbereitet,
hatten Willkommensfeiern,
Ausflüge und ein Picknick
unter den blühenden SakuraBäumen organisiert – gleich
Um den Awa-Tanz kommt keiner herum
rungsversuchen für sein
Reisetagebuch erwischt
haben.
Sight- & Friendseeing
In den folgenden acht Tagen
hatten die drei dann die
Gelegenheit, die örtliche
Tradition der Gastfreundschaft, die ihre Wurzeln in
der Bewirtung der Pilger auf
Jiro bei der Teezeremonie
Erinnerungen ausgetauscht
und auch Jiro nahm sich
abends die Zeit, Freunde aus
seiner Zeit an der Narutoer
Highschool wieder zu
treffen.
Im Deutschen Haus
Zum Abschluss ihres
Aufenthaltes in Naruto
besuchten sie am 5. April
das Deutsche Haus. Bislang
kannten Fritz und Eileen
Vortmüller das neue
Deutsche Haus nur von
Fotos, denn damals, vor 25
Jahren, nutzte die Stadt
noch das alte Deutsche
Haus, das inzwischen als
Speicher herhalten muss.
Ich durfte die beiden durch
die Ausstellung führen und
zusammen mit Herrn Fujita,
dem Verwalter des Deutschen Hauses, besuchten sie
anschließend die nähere
Umgebung hier in Bando –
den Deutschen Park und die
Gedenksteine für die in
japanischer Kriegsgefangenschaft gestorbenen deutschen Soldaten, den Tempel
Ryozenji – Ausgangspunkt
einer jeden Shikoku-Pilgerfahrt und den OasahikoSchrein, eines der schintoistischen Hauptheiligtümer
Shikokus. Ganz beeindruckt
zeigten sie sich von der
Ausstellung über das
K r i e g s g e fa n g e n e n l a g e r
Bando mit dem liebevoll
Das geht nur in Naruto - dank
Mona Lisa auf Kacheln
gestalteten Neunte-Theater.
Abschied
Obwohl die Taschen voller
Mitbringsel und Geschenke
aus Deutschland am Ende
leer waren, mussten nach
d em P acken für d ie
Heimreise sogar noch zwei
große Pakete auf der Post
aufgegeben werden - so viele
Geschenke hatten die
Vortmüllers hier bekommen.
Die neuen Erinnerungen
durften direkt im Flugzeug
mit nach Hause fliegen.
Naruto sagt „Bis bald,
Familie Vortmüller“
– hoffentlich nicht erst
wieder in 25 Jahren!
zwei Mal hatten sie sogar
Gelegenheit, an einer
Teezeremonie teilzunehmen.
Neben den Touristenzielen,
die Naruto und Umgebung
zu bieten haben, wie z.B. die
Strudel-Brücke, das OtsukaKunstmuseum und die Otani
-Töpferei in Naruto, das
Awa-Tanzmuseum in Tokushima oder Indigo-Färberei
im benachbarten Aizumi,
standen aber auch
Trainingsstunden in Aikido und
Kyudo (der Kunst des
Bogenschießens), den Hobby
-Sportarten der Vortmüllers
auf dem Plan – wie oft bietet
sich einem schon die
Gelegenheit, in deren
Heimatland zu trainieren?
Oft wurden bis spät Eileen Vortmüller vor einem Modell des Kriegsgefangenenlagers
Flaschenpost aus Naruto
Seite 8
Beach Cleaning @ Koike Beach
Impressum
Redaktion der
“Flaschenpost”:
Anja Hankel
Deutsches Haus in Naruto
779-0225
Tokushima-ken, Naruto-shi,
Oasa-cho, Hinoki,
Aza, Higashiyamada 55-2
Tel.: 088-689-0099
Fax: 088-689-0909
Email:
[email protected]
www.lueneburg.de
Sarah Auffret (26), ist
seit 2007 Assistenzsprachlehrerin für Englisch in
Naruto und engagiert sich
seit dem Frühjahr 2010
für die Reinigung von
Koike-Beach
Naruto, 19. Juni 2010.
“Malerisch!” ist mein erster
Gedanke, als ich gegen
Mittag zusammen mit Sarah
Auffret und Michael Gemmell, beides Kollegen, die
wie ich über das JET-Programm nach Japan gekommen sind, einen schmalen,
schattigen Waldweg Richtung Küste entlanglaufe. Als
Michael, ausgebildeter Biologe, innehält, um uns an
einem Teich auf ein
versteckt nistendes Nachtreiherpärchen aufmerksam
zu machen, schließen auch
mein Mann mit den beiden
Kindern und Herr Yamaguchi auf. Gemeinsam laufen
wir weiter Richtung Meer,
kommen in ein kleines Tal,
dessen Reisterrassen von
steilen Berghängen abgegrenzt werden; dahinter
sehen wir eine Kaimauer und
einen schmalen Streifen der
Inlandsee - dort liegt “Koike
Beach”, unser heutiges Ziel.
Wir bilden an diesem Tag
die Nachhut einer von Sarah
ins Leben gerufenen Aufräumaktion. Die Französin
mit englischen Wurzeln, die
seit drei Jahren an verschiedenen Schulen in Naruto
Englisch unterrichtet, ist in
ihrer freien Zeit oft und gern
draußen unterwegs, erkundet
zu Fuß oder mit dem Fahrrad die Umgebung und
entdeckt dabei idyllische
Fleckchen, die so manchem
Einheimischen b islang
verborgen geblieben sein
dürften.
Als sie im Januar dieses
Jahres - in Begleitung einiger
Freunde unterwegs auf dem
S h i ko k u - W a nd er we g erwartungsvoll einen Entdeckerblick über die Kaimauer
wagte, bei der auch wir nun
angelangt sind, blieb ihr vor
Entsetzen der Mund offen
stehen. Links und rechts
eingesäumt von steil aufragenden Kliffen, tut sich ein
Sammelsurium aus Abfällen,
Plastikflaschen, alten Fischereibojen, rostendem Elektronikschrott, verrottendem
Styropor, Kabeln, Stricken
und - Schuhen, Schuhen,
Schuhen auf.
Sarah erzählt uns, dass sie in
der Aktion heute Vormittag
gemeinsam mit einem Team
aus über 50 freiwilligen Helfern, darunter Schüler der
Oberschule Naruto, Mitglieder des International Understanding Clubs und Studenten der Universität Naruto
den Strand vom gröbsten
Müll befreit hat. An je einem
Wochenende im Monat
trommelt sie seit dem
Frühjahr über ihren Unterricht, ein soziales Netzwerk
im Internet und ihren
Internet-Blog freiwillige
Helfer zusammen, um Stück
für Stück den Strand vom
Unrat zu befreien. Dass wir
hier heute nicht auf Müll
sondern wieder auf Kieselsteinen stehen, (die unsere
Kinder hingebungsvoll ins
Wasser werfen) ist ihr
Verdienst.
Bewaffnet mit einigen mitgeb rachten Säcken und
Arbeitshandschuhen machen
wir uns derweil an die
Arbeit: der Müll muss
sortiert gesammelt werden.
Ähnlich wie Deutschland hat
auch Japan ein System der
Mülltrennung. Einige Stunden später machen wir uns
mit fünf vollen Säcken und
zugegeben, nicht besonders
wohlriechend auf den Weg
zum Sammelplatz. Wir
packen sie mit zu den
übrigen und zählen für die
Statistik noch einmal durch:
10 Säcke mit Dosen, 10 mit
Glasflaschen, 67 Säcke
Plastikflaschen, 114 Säcke
mit Plaste und Styropor davon allein 6 mit Schuhen.
Am Strand liegt immer noch
mindestens 5 mal so viel.
Die Geschichte dieser
Müllkippe ist wohl die vieler
wilder Halden - ihre Abgeschiedenheit; das Meer, das
Müll und Treibgut anspült;
Fischer, die kaputte Bojen
nicht entsorgen. Naruto ist,
wie jede andere Stadt,
bemüht, seine Strände so gut
es geht sauber zu halten.
Koike ist allerdings ein
blinder - und vor allem für
die Fahrzeuge der Stadtreinigung unzugänglicher
Punkt.
War, muss man vielmehr
sagen - Sarahs Aktion hat
viel Aufmerksamkeit auf
sich gezogen: Zeitungen und
Magazine berichteten bereits
darüber, auch das Frühstücksfernsehen war bei
einer der Aktion vor Ort. Mit
Hilfe Frau Shimadas, einer
engagierten Lehrerin ist
Sarah inzwischen mit
Vertretern der Stadt ins
Gespräch gekommen und
versucht nun gemeinsam mit
Fischern, Anrainern und dem
Clean Center der städtischen
Müllbeseitigung, eine einvernehmliche Lösung zu finden.
Aktuelle Infos auf http://beachcleaningnaruto.blogspot.com