Ein 4-jähriges Mädchen mit Schiefhals und Gangstörung

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Ein 4-jähriges Mädchen mit Schiefhals und Gangstörung
FORTBILDUNG
Ein 4-jähriges Mädchen
mit Schiefhals und Gangstörung
Claudia Sengler | Deutsches Rheumaforschungszentrum Berlin
Anamnese und Befund
Ein 4-jähriges Mädchen wird wegen eines seit mehreren Wochen bestehenden
Schiefhalses und einer Gangstörung vorgestellt. Es ist das erste Kind gesunder,
nicht konsanguiner Eltern. Schwangerschaft, Geburt und bisherige Entwicklung
verliefen unauffällig.
Die Eltern berichten ein auffälliges,
„staksiges“ Gangbild, das seit mehreren
Wochen bestehe, und eine Laufverweigerung insbesondere bei längeren Strecken. Außerdem klage die Tochter über
Fußschmerzen. Wegen einer allgemeinen
Ungeschicklichkeit erhält sie seit einigen
Monaten Physio- und Ergotherapie.
Laut den Unterlagen einer externen Klinik zeigt sich bei der Erstvorstellung eine
Schiefhaltung des Kopfes mit auch passiver allseitiger Bewegungseinschränkung
der Halswirbelsäule (HWS). Das Gangbild
wirkt steif und staksig. Der übrige pädiat-
risch-internistische und neurologische Befund ist unauffällig; kein Fieber oder Gewichtsverlust. Psychomotorisch wirkt das
Mädchen altersgerecht entwickelt, wenngleich recht zurückhaltend und ruhig.
Im Labor zeigen sich wiederholt eine
hypochrome mikrozytäre Anämie sowie
ein mäßig erhöhter CRP-Wert (zwischen
3 und 5 mg/dl). Differentialblutbild, Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte sind normal. Sonographien des Abdomens und der
Muskulatur, elektrophysiologische Untersuchungen sowie MR-Tomographien des
Kopfes und der Wirbelsäule sind unauffällig. Eine nähere diagnostische Zuordnung
oder ursächliche Klärung der Symptomatik gelingt zunächst nicht.
Einige Wochen später wird das Mädchen erneut vorgestellt, da Schiefhals und
Gangstörung sowie ein erhöhtes CRP
fortbestehen. Nun waren den Eltern auch
Schwellungen der Knie- und Fußgelenke
aufgefallen (vergleiche Abb. 1). Auf gezielte
Nachfrage berichtet die Mutter, vor allem
morgens für ca. 15 Minuten nach dem Aufstehen eine gewisse Steifigkeit in den Bewegungen ihrer Tochter bemerkt zu haben.
Bei der Untersuchung finden sich mäßige Bewegungseinschränkungen (gemessen
mit der Neutral-Null-Methode) mit jeweils
endgradiger Schmerzhaftigkeit, nur teils
einhergehend mit Schwellungen – symmetrisch in den proximalen Interphalangealgelenken der Digiti II – IV sowie in allen
großen Gelenken (Schulter-, Ellenbogen-,
Hüft-, Knie-, Sprunggelenke). Die Halswirbelsäule ist in allen Ebenen stark bewegungseingeschränkt, der Kopf wird leicht
schräg gehalten. Sonographisch zeigen sich
deutliche Synovialisverdickungen und in
den Kniegelenken auch Ergüsse (Abb. 2).
Wie lautet Ihre Diagnose?
Abb. 2: Arthrosonografie (Longitudinalschnitt)
des rechten Kniegelenks. Ausgeprägter Erguss
mit Binnenechos
im Recessus
suprapatellaris.
Abb. 1: 3-jähriges Mädchen mit
Schwellungen der Knie- und
Fußgelenke (Beispiel).
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Kinderärztliche Praxis 85, 170 – 172 (2014) Nr. 3 www.kipra-online.de
FORTBILDUNG
Radiologisch zeigen sich in den Hand- und
Kniegelenken keine Hinweise auf Erosionen, auch die HWS zeigt regelrechte knöcherne Strukturen.
Im Labor finden sich die hypochrome
mikrozytäre Anämie (Hb 9,9 g/dl, MCH
19,1 pg, MCV 66,9 fl) mit leichter Thrombozytose (506/nl) sowie ein mäßig erhöhter
CRP-Wert (4,1 mg/dl) bei unauffälligem
weißen Blutbild. Rheumafaktoren und
ANA sind negativ, HLA-B27 ist positiv.
Die Borrelienserologie ist negativ.
Anhand dieser Befunde wird die Symptomatik als Manifestation einer juvenilen
idiopathischen Arthritis mit polyartikulärem Gelenkbefall und Mitbeteiligung der
Halswirbelsäule eingeordnet.
Definition der juvenilen idiopathischen Arthritis (JIA)
Die juvenile idiopathische Arthritis wird
definiert als Arthritis eines oder mehrerer
Gelenke unklarer Ätiologie mit Beginn vor
dem 16. Geburtstag und einer Mindestdauer
von 6 Wochen. Es werden gemäß der ILARKlassifikation [1] 7 verschiedene Subtypen
unterschieden (siehe auch Übersicht von Dr.
K. Minden in dieser Ausgabe, Seite 162 ), in
welche die Krankheitsbilder der Patienten
anhand von klinischen und labormedizinischen Befunden eingeordnet werden. Bei
dem hier vorgestellten Mädchen liegt demnach eine RF-negative Polyarthritis unter
Beteiligung der HWS vor; das macht eine
Besonderheit dieser Kasuistik aus.
Die Häufigkeit der Beteiligung der kleinen Gelenke der Wirbelsäule an der JIA
wird in der Literatur kontrovers diskutiert;
die Angaben zur Prävalenz reichen von 5 %
bis zu 80 % der Patienten.
Eine kürzlich publizierte Arbeit [2]
berichtet bei 65 % der Patienten mit polyartikulärer JIA (pJIA) Auffälligkeiten
der HWS in Röntgen-Untersuchungen;
das Vorhandensein dieser Läsionen korrelierte mit der Schwere der Erkrankung.
Allerdings gab die Hälfte der Patienten mit
radiologischen Auffälligkeiten keine Beschwerden an. Daher sollte bei Vorliegen
einer pJIA auch ohne die Angabe von Beschwerden der Wirbelsäule eine mögliche
Beteiligung bedacht werden.
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Wesentliches für die Praxis . . .
◾ Bei „Bewegungsstörungen“ im
weiteren Sinne ist nicht nur an
neurologische, sondern auch an
„periphere“ Ursachen, wie Entzündungen, respektive Funktionseinschränkungen der Gelenke
zu denken.
◾ In der Anamnese können gezielte Fragen nach Morgensteifigkeit
oder tageszeitlicher Fluktuation
der Schmerzen (morgens eher
entzündlich, abends eher belastungsinduziert) differentialdiagnostisch weiterhelfen.
◾ Ergänzend zur klinischen Untersuchung des Bewegungsapparats
ist die Sonographie von Gelenken
eine wertvolle Methode für Diagnostik und Verlaufsbeurteilung.
Bei Vorliegen von HWS-Beschwerden
im Rahmen einer JIA sollte eine Bildgebung mit kontrastmittelgestützter MRT
durchgeführt und eine antientzündliche
Therapie eingeleitet werden. Falls sich klinisch und/oder radiologisch (z. B. erneute
MRT nach 6 Monaten) keine Besserung ergibt, sollte die Therapie - wie bei peripherer Arthritis auch – eskaliert werden (z. B.
Ergänzung der MTX-Therapie mit einem
Biologikum).
Diese Kasuistik soll daher auch das Augenmerk auf die mögliche Beteiligung der
HWS bei JIA richten, insbesondere bei Patienten mit polyartikulärem Verlauf.
Differentialdiagnosen
Die Differentialdiagnose von Beschwerden am Bewegungsapparat im Kindesalter
ist vielfältig und umfasst neben neurologischen Krankheitsbildern postinfektiös
reaktive Erkrankungen wie die Purpura
Schönlein-Henoch oder reaktive Arthritiden, aber auch andere immunologisch
vermittelte Erkrankungen wie M. Crohn
sowie schließlich hämatologisch-onkologische Krankheiten wie Leukämien, Knochentumore oder Neuroblastome. Wegweisend sind oft – wie in diesem Fall – die
sorgfältige Anamnese und der klinische
Befund sowie die gezielte apparative Untersuchung. Letztlich hat erst die sonographische Untersuchung das gesamte Ausmaß der chronischen Entzündungen in
den Gelenken offenbart und sich im Verlauf auch als wertvoll für das Therapiemonitoring erwiesen.
Therapie und Verlauf
Die hier beschriebene Patientin erhielt zunächst systemische Glukokortikoide als
i.v. Puls über 3 Tage, nicht-steroidale Antirheumatika sowie eine Basistherapie mit
MTX. Innerhalb der darauffolgenden Wochen besserte sich der Gelenkstatus deutlich; Schwellungen, Synovialisverdickungen, Ergüsse und Bewegungseinschränkungen sowie das CRP waren rückläufig.
Nach Umstellung der MTX-Therapie
von parenteraler auf orale Applikation etwa 6 Monate nach Diagnosestellung und
Therapiebeginn kam es erneut zu geringen,
auch etwas schmerzhaften Bewegungseinschränkungen bei wieder ansteigendem
CRP-Wert. Daher wurde eine EtanerceptTherapie begonnen, die zu einer vollständigen Normalisierung des Gelenkstatus sowie
der Entzündungszeichen im Blut führte.
Literatur
1. Petty RE, Southwood TR, Manners P et al. (2004) International League of Associations for Rheumatology classification
of juvenile idiopathic arthritis: Second revision, Edmonton,
2001. J Rheumatol 31: 390 – 392
2. Elhai M, Wipff J, Bazeli R et al. (2013) Radiological cervical
spine involvement in young adults with polyarticular juvenile idiopathic arthritis. Rheumatology 52(2): 267 – 75
Korrespondenzadresse
Dr. med. Claudia Sengler
Deutsches Rheumaforschungszentrum Berlin
Charitéplatz 1, 10117 Berlin
Tel.: 030/28 46 07 68
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