Neuroenhancement: Der Traum vom optimierten Gehirn

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Neuroenhancement: Der Traum vom optimierten Gehirn
 Heft 3/2010
Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung
Neuroenhancement:
Der Traum vom optimierten
Gehirn
Liebe Leserin, lieber Leser!
19.00 Uhr, die Augen brennen, doch eigentlich
sieht es ganz gut aus auf meinem Schreibtisch. Nur das Editorial für das MDK-Forum
ist noch nicht mal ansatzweise in Form
gebracht. Entweder bleibt’s liegen oder …
Power aus der Pillendose!
Wir leben in einer »Leistungsgesellschaft«.
Berufliche und soziale Auf-, aber auch Abstiege
hängen stark vom individuellen Leistungsvermögen ab. Bereits Schüler und Studenten
erleben einen starken Leistungsdruck, dem sie
in manchem Fall mit »Hirndoping« abhelfen.
Die Pharmaindustrie stellt eine ständig
wachsende Palette von Muntermachern zur
Verfügung – »Neuroenhancement« heißt
das schick auf Neudeutsch. Vorsicht bei der
Einnahme ist angebracht, zumal der ­Nutzen
oft zweifelhaft scheint.
Wollen wir die unkontrollierte Einnahme
von stimulierenden Psychopharmaka als
Normalität akzeptieren – gewissermaßen als
Fortsetzung von Kaffee und Schokolade mit
anderen Mitteln? Oder sollen wir solche
Praktiken ablehnen, weil sie Abhängigkeiten
erzeugen können und ihre langfristigen
Folgen noch nicht erforscht sind? Entziehen
wir uns mit der Akzeptanz dieser Praktiken
nicht der Einsicht, dass zu viel Leistungsdruck
die Menschen auf die Dauer krank machen
kann? Endgültige Antworten mag es darauf
nicht geben, dennoch wollen wir im Schwerpunkt dieser Ausgabe Anregungen für die
Diskussion geben.
Ihr Dr. Ulf Sengebusch
Ak tu e lle s
Gute Frage Je länger, je lieber? Interview mit Dr. Lili Grell
zu Krebstherapien und ihrem Nutzen 2
Die politische Kolumne Prämie durch die Hintertür 32
tite lth e m a
Neuroenhancement Der Traum vom optimierten Gehirn 5
Interview mit Prof. Dr. Klaus Lieb und Dr. Dr. Andreas Franke Urinprobe vor der Prüfung? Studie zu »Hirndoping«
bei Schülern und Studierenden 7
Wachmacherpillen am OP-Tisch 9
Schlauer, wacher und bewusster?
Heilsversprechen in postmodernen Zeiten Pro und Contra Doping fürs Gehirn 10
12
m d k | wiss e n u n d stan d pu n k te
Verhandlungspoker
geht weiter Wo stehen wir
bei den Pflegenoten? 13
Begutachtung von Berufskrankheiten im MDK Hessen
Arbeitsplatz übt oft späte Rache 15
We itbli ck
Krebspatientinnen über Haarausfall und Perückenkauf:
Nacktheit der besonderen Art 17
Interview mit Prof. Dr. Rupert Gerzer Mission: Possible Body Integrity Identity Disorder
Verstümmelt endlich glücklich 18
20
19-Jährige gründet MS-Stiftung
Wie eine Watsche ins Gesicht 22
G e su n d h e it u n d Pfleg e
Interview mit Prof. Dr. Jürgen Windeler zu Neuregelungen auf dem Arzneimittelmarkt »Ein kluger Schritt« 23
Arztbewertung im Internet: Check your Doc! 25
Patientenrechte In Österreich geht das ganz praktisch 27
Interview mit dem Patientenbeauftragten Wolfgang Zöller
Vor amerikanischen Verhältnissen schützen 28
Junge Pflegebedürftige im Heim: Tanztee
ist nicht angesagt 29
1
aktuelles
Der MDK Westfalen-Lippe unter neuer
ärztlicher Leitung
Am 1. August 2010 hat Dr. Martin Rieger
(49) die Aufgabe des Ärztlichen Direktors
im Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe übernommen. Der Facharzt für Innere Medizin
mit Schwerpunkt Kardiologie tritt die
Nachfolge von Dr. Ulrich Heine an, der
seit April 2010 die Geschäfts­führung
des M D K Westfalen-Lippe wahrnimmt.
Seit mehr als 13 Jahren ist Rieger beim
M D K Westfalen-Lippe sozialmedizinisch
tätig. In dieser Zeit hat er als »Ärztlicher
Qualitätsmanager« maßgeblich zum
Aufbau eines Qualitäts­­management­
systems beigetragen. Weitere Schwerpunkte waren die Einrichtung eines
Wissens- und Fortbildungsmanagements
sowie die Öffentlichkeitsarbeit.
Darüber hinaus engagiert sich
Rieger in Gremien wie der Lipida­
pheresekommission der Kassenärzt­
lichen Vereinigung Westfalen-Lippe
oder der Arbeitsgruppe Kardiologie der
Geschäftsstelle für Qualitätssicherung
der Ärztekammer Westfalen.
Dr. Martin Rieger
Führungsspitze des MDS wieder
komplett
Ab dem 1. Oktober übernimmt Dr. Stefan Gronemeyer die Funktion des
Leitenden Arztes und stellvertretenden
Geschäftsführers beim Medizinischen
Dienst des Spitzenverbandes Bund der
Krankenkassen ( M D S ). Dies beschloss
der M D S -Verwaltungsrat in seiner
Sitzung am 31. August. Der 49-jährige
Facharzt für Innere Medizin und
Kardiologe tritt die Nachfolge von
Prof. Jürgen Windeler an, der seit dem
1. September an der Spitze des Instituts
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen ( I Q W i G ) steht.
Nach dem Studium an der Freien
Universität Berlin war der gebürtige
Düsseldorfer viele Jahre klinisch tätig
– zuletzt als Leitender Oberarzt in einer
großen Rehabilitationseinrichtung in
Essen. Im Jahr 2005 begann er seine
Tätigkeit beim M D S als Fachgebietsleiter
Rehabilitation / Geriatrie und leitet seit
2007 in Personalunion den Bereich
Sozialmedizin – Teilhabe / Pflege.
Gronemeyer ist verheiratet und hat
zwei Kinder.
Dr. Stefan Gronemeyer
m d k forum 3/10
Rösler beruft neuen GesundheitsSachverständigenrat
Bundesgesundheitsminister Rösler hat
am 13. Juli den neuen Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung
im Gesundheitswesen ernannt. Dem
Rat gehören an: Prof. Ferdinand Gerlach
(Institut für Allgemeinmedizin, Johann
Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt
am Main), Prof. Wolfgang Greiner (Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und
Gesundheitsmanagement, Universität
Bielefeld), Prof. Marion Haubitz
(Abteilung Nephrologie, Medizinische
Hochschule Hannover), Prof. Doris
Schaeffer (Lehrstuhl für Versorgungsforschung und Pflegewissenschaft,
Universität Bielefeld), Prof. Matthias
Schrappe (Institut für Patienten­
sicherheit, Rheinische Friedrich-WilhelmUniversität Bonn, stv. Ratsvorsitzender),
Prof. Gregor Thüsing (Institut für
Arbeitsrecht und Recht der Sozialen
Sicherheit, Rheinische Friedrich-­
Wilhelm-Universität Bonn) Prof.
Eberhard Wille (Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Universität Mannheim,
Ratsvorsitzender). Nicht mehr zum Rat
gehören: Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey,
Prof. Dr. Gerd Glaeske sowie Prof. Dr.
Rolf Rosenbrock.
Ausland-Attest kein Beweis für
Arbeitsunfähigkeit
Ein im Ausland ausgestelltes ärztliches
Attest reicht nicht ohne weiteres für
den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit.
Das Attest muss den Anforderungen
an inländische Bescheinigungen
entsprechen und vor allem nachvollziehbar darlegen, dass eine zur
Arbeitsunfähigkeit ( AU ) führende
Erkrankung vorliegt. Das urteilte das
Landes­arbeitsgericht Rheinland-Pfalz
am 24. Juni 2010 (Az.: 11 Sa 178/10).
Das Gericht zweifelte an einer
AU -Bescheinigung aus der Türkei. Dort
hatte ein Arzt dem Kläger 30 Tage Bett­­
ruhe verordnet und zugleich bescheinigt, danach sei der Kläger wieder
arbeitsfähig. Zwar komme einem ärzt­­
lichen Attest ein »hoher Beweiswert«
zu. Das gelte jedoch nicht, wenn es
unschlüssig sei. Hier sei nicht erkennbar, wieso nach dreißig Tagen Bettruhe
der Kläger wieder als arbeitsfähig
ange­sehen werde, ohne dass eine
erneute Kontrolluntersuchung erfolgt
sei. Eine Revision ließ das Gericht
nicht zu.
Hohe Kosten durch Demenz und
Depressionen
Gut die Hälfte der Kosten von psychischen Erkrankungen und Verhaltens­
störungen fielen im Jahr 2008 auf nur
zwei Diagnosen: Demenzerkrankungen
und Depressionen. Die Kosten für diese
Erkrankungen sind seit 2002 um 32%
gestiegen und damit stärker als bei
allen anderen Diagnosen. Das ist eines
der neuen Ergebnisse der Krankheitskostenrechnung des Statistischen
Bundesamtes.
Insgesamt lagen die Krankheitskosten im Jahr 2008 bei gut 250 Milliarden
Euro, für psychische Erkrankungen und
Verhaltensstörungen bei knapp 29
Milliarden. Insgesamt sind die Krankheitskosten seit 2002 um 16% gestiegen, die Kosten durch psychische
Erkrankungen von 2002 bis 2008 mit 22%
besonders stark. Sie bilden die Krankheitsgruppe mit den dritthöchsten
Kosten: In die Krankheitskostenrechnung fließen – neben medizinischen
Heilbehandlungen – auch sämtliche
Gesundheitsausgaben für Prävention,
Rehabilitation und Pflege ein.
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gute frage
m d k forum 2/10
Interview mit Dr. Lili Grell zu Krebstherapien und ihrem Nutzen Je länger, je lieber?
M ö g l i c h s t g r o SS e E f f e k t i v i t ä t und möglichst wenig Nebenwirkungen – das versprechen viele neue Medikamente gegen Krebs. Das Ziel ist nachvollziehbar und respektabel, doch gleichzeitig schnellen die Kosten in die Höhe.
Dr. Lili Grell vom MDK Westfalen-Lippe skizziert für uns Möglichkeiten, aber auch Grenzen neuer Krebstherapien.
MDK Forum Wenn man vom Nutzen
einer Krebstherapie spricht, denken
Nicht-Mediziner zuerst an Heilung.
Worum geht es in den Nutzenbewertungen?
Dr. med. Lili Grell Es wäre schön, alle
Krebsarten könnten geheilt werden
und alle zugelassenen Arzneimittel
würden zu einer Heilung führen. Bei
manchen bösartigen Erkrankungen
gelingt dies auch, aber leider nicht
bei allen.
Aus sozialmedizinischer Sicht ist
Nutzen das, was dem Patienten hilft,
was für Patienten wichtig und relevant
ist. Dieser Nutzen betrifft nicht die
Wirkung auf zum Beispiel Stoffwechselparameter, deren Bedeutung für
die Patienten unklar ist.
MDK Forum Viele neue Therapien
treiben die Kosten einer Krebs­
behandlung in neue Höhen. Stellt
man das in Relation zum Nutzen?
Grell Nein, den Preis eines
Arzneimittels bestimmt in Deutschland – als eines der ganz wenigen
Länder – der pharmazeutische
Unternehmer selbst. Wie in der Wirtschaft üblich, wird der Preis genommen, den der »Kunde« zu zahlen
bereit ist. Wirkstoffe wie Acetylsalicylsäure, zum Beispiel als Aspirin,
sind ja nicht ohne Nutzen, im
Gegenteil, der Wirkstoff ist immer
noch Standard für viele Indikationen. Trotzdem sind sie günstig.
MDK Forum Sie haben einmal
gesagt, dass es in Krebs-Studien
nicht mehr darum geht, wie viel
länger ein Patient dank eines neuen
Medikaments lebt, sondern nur
noch darum, wie lange es dauert, bis
der Tumor nach erfolgter Behandlung wieder zurückkehrt. Trotzdem
werden sie verordnet. Geht da
etwas schief?
Grell Es wird niemand bestreiten,
dass eine relevante Verlängerung des
Überlebens oder Verbesserung
der Lebensqualität für einen Tumorkranken von Nutzen ist, wenn eine
Heilung nicht möglich ist. In den
letzten Jahren beobachten wir aber,
dass immer mehr Krebs­medi­­ka­­
mente auf der Grundlage von Studien
zugelassen werden, die gerade dies
nicht nachweisen. So ist die Zielgröße dieser Studien häufig das
Tumoransprechen. Darunter versteht
man die Verringerung der mit
bildgebenden Verfahren nachweisbaren Tumormasse, z. B. um die
Hälfte oder das völlige Verschwinden.
Gemessen wird auch die Zeit, bis die
Tumormasse wieder zunimmt, als
»progression-free survival« bezeichnet. Auch aus Sicht der Zulassungsbehörden ist das Tumoransprechen
eine Ersatzzielgröße, ein sogenannter
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gute frage
m d k forum 3/10
Surrogatparameter, und kein
zuverlässiger Parameter für den
Nutzen der Therapie. Dadurch
wissen weder behandelnde Ärzte
noch Patienten, ob das Leben
verlängert wird und ob die Lebensqualität beeinträchtigt wird – oder
eben nicht.
Auch für Situationen, in denen
der Krebs geheilt werden kann, wie
in frühen Stadien des Brustkrebses
beispielsweise, erfolgt die Zulassung
neuer Medikamente immer häufiger
nicht erst, wenn die Heilung nach­
gewiesen wird, sondern schon auf
der Grundlage von Ersatzgrößen,
deren Vorhersagewert unklar ist. Der
Verlass auf Surrogatparameter kann
schlimmstenfalls dazu führen, dass
Patienten eine erfolgreiche Therapie
vorenthalten wird. Wenn man
Surrogatparameter vermeiden will,
ist es sinnvoll, die neue Therapie mit
patientenrelevanten Parametern
als Endpunkt in direkt vergleichenden
Studien gegen die bestverfügbare
Therapie zu prüfen.
MDK Forum Noch ist es Zukunftsmusik – können Sie uns erklären, wie
die individualisierte Krebstherapie
wirken soll? Handelt es sich dabei
überhaupt noch um Medikamente
im herkömmlichen Sinne?
Grell Viele Krebsbehandlungen
sind sehr belastend für die Patienten, und nicht alle profitieren davon.
Unter diesem Aspekt wäre es
wünschenswert, verlässliche
Vorhersageparameter zur Verfügung
zu haben. Beispiel Brustkrebs: Bei
der Erkennung von Risikofaktoren
für das Fortschreiten der Krebs­
erkrankung sind große Fortschritte
erzielt worden und es findet schon
heute eine für jede Frau maßgeschneiderte Therapie statt. Die
Prognose, aber auch zum Beispiel
der Hormon­rezeptorstatus und
vieles mehr werden berücksichtigt.
Oder nehmen wir den Dickdarmkrebs. Dabei wird ein genetischer
Marker für eine bestimmte Anti­
körperbehandlung bestimmt. Bereits
durchgeführte Studien haben gezeigt,
dass ein bestimmter Genstatus mit
besseren Verläufen assoziiert war.
­Allerdings ist dies keine Garantie für
Heilung, auch hier gibt es Therapieversager. Doch vielleicht gelingt es,
die Anzahl der unnötig behandelten
Patienten zu reduzieren. Das wäre
auch ein Erfolg.
Bei der medikamentösen Krebsbehandlung sind neben Zytostatika
und antihormonellen Substanzen in
letzter Zeit Antikörper entwickelt
worden und Stoffe, die in den Signal­
stoffwechsel der Tumorzellen
eingreifen. Bei diesen neuen
Arzneimitteln gibt es bei manchen
Tumorarten bereits Nachweise einer
Lebensverlängerung, aber bei
anderen ist ein solcher Beweis
kurzfristig nicht zu erwarten. Ob die
Erwartungen erfüllt werden können,
muss die Zukunft zeigen.
MDK Forum Stichwort Neben­
wirkungen: Gibt es Standards der
Bewertung dafür, welche Neben­
wirkungen eher zu tolerieren sind
als andere?
Grell Anders als bei der Bewertung
der Wirksamkeit gibt es einen
internationalen Bewertungsstandard
für Nebenwirkungen bedauerlicherweise noch nicht. Wie vergleichende
Einschätzungen von Nebenwir­
kungen in methodischer Hinsicht
durchgeführt werden können, um zu
belastbaren Empfehlungen und
Regelungen zu kommen – zum
Beispiel bei der Erstellung von
Leitlinien, systematischen Bewertungsberichten und der Arznei­
mittel-Richtlinie des Gemeinsamen
Bundesauschusses – ist ein wich­
tiges Thema für die nahe Zukunft.
Hiermit beschäftigt sich auch die
Sozialmedizinische Expertengruppe 6 »Arzneimittelversorgung«
der mdk-Gemeinschaft auf dem
Diskussionsforum »Vergleichende
Bewertung der Nebenwirkungen
von Arzneimitteln«.
MDK Forum Werden diese neuen
Therapien den Abwägungsprozess
Kosten gegen Nutzen nicht noch
einmal verschärfen?
Grell Nein, das hat nichts mit der
Art der Therapie zu tun, sondern
mit der Qualität der Nutzenbelege.
Würden wir nur erfolgversprechende
Behandlungen in der Krankenver­
sicherung bezahlen, wäre reichlich
Geld vorhanden.
MDK Forum Wie muss man im
Einzelfall damit umgehen? Wie
muss aber auch das Gesundheits­
system oder auch die Gesellschaft
insgesamt damit umgehen?
Grell Keiner von uns – auch ich
nicht – kann vorhersagen, wie wir im
Angesicht einer lebensbedrohenden
Erkrankung mit Hoffnungslosigkeit
umgehen. Können meine Angehörigen und ich die Situation annehmen
oder muss es irgendwo Hoffnung
geben, sei sie noch so unrealistisch?
Letzteres löst einen Therapie­
aktionismus aus. Ich selber habe
auch Krebspatienten behandelt, es
war für mich als Ärztin sehr schwer,
Patienten und Angehörige über
die sogenannte infauste Prognose
aufzuklären. Jede Behandlung ist
da einfacher.
Auch der zweifelsohne notwendige Ausbau der palliativen Versorgung wird allein nicht die Lösung
sein. Wir alle müssen uns damit
befassen, dass der Tod zum Leben
gehört und Krankheit nicht immer
ein reparaturfähiger Zustand ist. Wir
brauchen in unserer Gesellschaft
eine Enttabuisierung des Themas
Tod. Nach meiner persönlichen
Überzeugung muss auch der
Spiritualität ausreichend Raum
gegeben werden. Nur so können wir
stark genug sein, diese Kranken
liebevoll zu begleiten, und auf
unnötige Therapien vielleicht
verzichten.
Die Fragen stellte
Christiane Grote
Dr. Lili Grell, Leiterin der Sozial­
medizinischen Expertengruppe
­»Arzneimittelversorgung«
titelthem a: neuroenhancement
m d k forum 3/10
Der Traum
vom optimierten
Gehirn
T a b l e t t e n f ü r e i n e n w a c h e n G e i s t , D r a g e e s g e g e n M ü d i g k e i t und Pulver zur Verbesserung der Kon­
zentration – in zahlreichen Medien wird über eine Zunahme des Konsums von Medikamenten zur kognitiven
­Leistungssteigerung bei Studenten und Arbeitnehmern berichtet. Wie aber steht es in der gesellschaftlichen Praxis
­tatsächlich um Konsum und Nutzen von sogenannten »Neuroenhancern«? Und welche Folgen ergeben sich daraus?
Manchmal gibt es Tage, da geht einfach alles schief. Nachmittags findet ein entscheidendes Meeting statt, bei dem
Sie wichtige Arbeitsergebnisse präsentieren sollen. Sie
aber bekommen vor Müdigkeit die Augen kaum auf: Das
Kind hatte Bauchschmerzen und hat die halbe Nacht geweint. Nun stellen Sie auch noch fest, dass Zulieferungen
Ihrer Kollegen lückenhaft sind und nachträglich bearbeitet werden müssen. Gleichzeitig stapeln sich auf Ihrem
Schreibtisch bereits Kundenanfragen und neue Aufträge.
Wie verlockend wäre es, wenn man solche Situationen
mit einem effektiven und einfachen Mittel in den Griff bekäme: mit einer Pille etwa, welche die Müdigkeit vertreibt
und die Konzentration erhöht. Einfach einwerfen, und
schon gelingt die Arbeit wie von selbst.
Kaffee oder Leistungspille?
Doping am Arbeitsplatz – ist das ein Trend der Zukunft?
Schon lange nutzen wir verschiedenste Stimulanzien, um
uns für den täglichen Arbeitsalltag fit zu machen: Der
Kick einer Tasse Kaffee, der beruhigende Griff nach einem
Stückchen Schokolade sind in Büros weit verbreitet. Seit
neuestem jedoch nutzen Menschen auch Medikamente,
um ihre kognitiven Leistungen zu steigern.
»Neuroenhancement« nennen Fachleute die Idee, mithilfe von Psycho- oder Neuropharmaka bei gesunden MenNeuroenhancement
schen die Konzentration zu verfür die einen, Hirndoping
bessern, das Kurz- oder Langzeitfür die anderen
gedächtnis zu festigen oder einfach die Aufmerksamkeit zu erhöhen. Kritiker sprechen
auch gern vom »Hirndoping«.
Es fehlen klare Doping-Regeln wie im Sport
Lange war eine solche pharmakologische Leistungssteigerung nur eine bloße Fiktion. Doch inzwischen mehren
sich Berichte, dass Studenten und Arbeitnehmer tatsächlich auf Pillen zurückgreifen, um ihre geistige Fitness zu
steigern. Und damit stellt sich auch die Frage, wie man gesellschaftlich mit solchem Verhalten umgehen soll. Denn
anders als beim Doping im Sport gibt es bislang für die
Verbesserung geistiger Fähigkeiten keine klaren Regeln.
Trainiert jemand mit Kreuzworträtseln oder Kopfrechnen
seine grauen Zellen oder nimmt ein Schüler Nachhilfe,
um dem Unterricht besser folgen zu können, wird dies
meist sehr hoch geachtet.
Bei pharmakologischen Mitteln jedoch fühlen viele
Menschen ein Unbehagen: Entsteht so nicht eine ZweiKlassen-Gesellschaft aus denjenigen, die Pillen einwerfen, und
Leistungspillen können
solchen, die dies nicht tun? Wird
langfristig den Leistungsdurch eine Toleranz von Hirn­ druck noch erhöhen
doping möglicherweise sozialer
Druck aufgebaut, diese Mittel selbst zu nutzen, um konkurrenzfähig zu bleiben – oder sie den eigenen Kindern
zu geben?
Bevor man sich in philosophische Erörterungen stürzt,
sollte jedoch geklärt werden, welche Mittel es derzeit
überhaupt gibt, wer sie anwendet – und welche Wirkung
sie bei Gesunden entfalten.
Die Medikamente, die im Zentrum des Interesses stehen, werden normalerweise für die Behandlung von psychischen oder kognitiven Störungen eingesetzt. Es handelt sich um Antidementiva wie Donepezil oder Pirace­
tam, die bei Patienten mit Alzheimer oder Demenz den
Hirnstoffwechsel anregen und einem Abbau geistiger
Leistungen entgegenwirken. Hinzu kommen Psychophar­
maka wie Modafinil, die bei chronischer Müdigkeit, Narkolepsie oder Depressionen verschrieben werden und bei
Gesunden die Aufmerksamkeit steigern sollen, sowie Amphetamine wie Methylphenidat, die gegen Unruhe und
Nervosität eingenommen werden. Auch Antidepressiva
wie Fluoxetin, in den usa unter dem Namen Prozac verkauft, gelten wegen ihrer antriebssteigernden Wirkung
als beliebte Lifestyle-Drogen.
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titelthem a: neuroenhancement
Verschreibungspflicht lässt sich umgehen
Zwar sind die Mittel verschreibungspflichtig, dank Internet-Apotheken im Ausland ist es jedoch leicht geworden,
auch ohne Rezept an die Pillen zu gelangen. Legal ist das
nicht. Und doch warnen erste Studien davor, dass der
Konsum von Neuroenhancern zunimmt. Bereits 2005 publizierte der us-amerikanische Forscher Sean McCabe
von der University of Michigan eine Studie, für die er mehr
als 10 000 Studenten von 119 Colleges quer durch die usa
befragt hatte. Vier Prozent gaben an, innerhalb des vergangenen Jahres illegal verschreibungspflichtige Sub­
stanzen wie Methylphenidat eingenommen zu haben.
Auch bei Wissenschaftlern scheint der Griff zur Pille
zumindest eine Option: Bei einer nicht repräsentativen
Umfrage des Wissenschaftsmagazins Science aus dem
Jahr 2008 gab von 1500 Teilnehmern jeder Fünfte der
Großteils amerikanischen Forscher an, Methylphenidat
oder Modafinil zu nehmen, um die eigene Geistesleistung
zu steigern.
Eine weitere Auswertung bislang publizierter Studien
aus dem Jahr 2008 schlüsselte die Erkenntnisse der Wissenschaft weiter auf: Demnach zeitigen Antidepressiva
bei Gesunden keine kurzfristigen Effekte, Studien zu
langfristigen Wirkungen fehlen. Auch für MethylpenidatProdukte wie Ritalin wurden keine Belege für eine signifikante Wirksamkeit gefunden. Allein subjektiv fühlten
sich die Befragten besser. Für Antidementiva gibt es noch
gar keine aussagekräftigen Studien.
Die Situation in Deutschland
Ist das Hirndoping also auf dem Vormarsch? Für DeutschEinzig bei Modafinil gab es stichhaltige Belege, dass es
land lässt sich dies bislang nicht bestätigen. Dies zumindest zeigt eine repräsentative Umfrage des dak-Gesund- Einbrüche in der Geistesleistung nach einmaligem Schlaf­
heitsreportes aus dem Jahr 2009. Von 3000 befragten Er- e­ ntzug kompensiert. Wurden die Probanden jedoch
werbstätigen im Alter von 20 bis 50 Jahren gab zwar jeder mehrmals ihres Schlafs beraubt, verminderten sich die
Fünfte an, jemanden zu kennen, Leistungen nach Einnahme des Medikaments. »Das
der schon einmal solche Medika- wachsende öffentliche Interesse an Neuroenhancement«,
Wirksamkeit von Neuro­
mente ohne medizinisch triftige schreiben die Forscher um Dimitris Repantis von der
enhancern ist nicht belegt
Gründe eingenommen habe. Selbst ­Berliner Charité nüchtern, »steht in bemerkenswertem
zur Pille gegriffen hatten indes gerade einmal 1,6% der Gegensatz zu dem Mangel an Belegen für EnhancementStudienteilnehmer.
Wirkungen verfügbarer psychopharmakologischer WirkDie Folgerung des dak-Gesundheitsreports ist eindeu- stoffe.«
tig: »Diese Zahlen stützen nicht die Annahme, dass es sich
Hinzu kommt: Wer schon einmal zu Ritalin und Co.
beim ›Doping am Arbeitsplatz‹ bzw. ›Enhancement aktiv ­gegriffen hatte, klagte über Nebenwirkungen, die von
Erwerbstätiger‹ um ein (bereits) weit verbreitetes Phäno- Herz- und Kreislaufbeschwerden über Kopfschmerzen bis
men handelt. Vielmehr verstärkt sich der Eindruck, dass hin zur psychischen Abhängigkeit reichten.
in der Öffentlichkeit ein verzerrtes Bild dargestellt wird.«
Schaut man sich die Wirkung der Medikamente bei GeLeistung um jeden Preis?
sunden genauer an, erhärtet sich diese Vermutung. Denn Dennoch scheint das Neuroenhancement auf die Mendie Wirksamkeit der Neuroenhancer ist nicht belegt. schen eine gewisse Faszination auszuüben. Für die BefürWenn überhaupt, ergab eine Studie von Reinoud de Jongh worter ist es womöglich der Traum vom geistigen Schlavon der Utrecht University aus dem Jahr 2006, nutzen die raffenland, in dem man berufliche Erfolge feiert, ohne dafür
Pillen nur Menschen, die kognitive Defizite haben. Leute Opfer zu bringen. Für die Kritiker die pharmakologische
mit überdurchschnittlicher Leistungsfähigkeit – Studen- Verfestigung gesellschaftlicher Strukturen, die Leistungsten oder Manager zum Beispiel – schneiden nach der fähigkeit vor die Bedürfnisse des Individuums stellen.
­Einnahme der Medikamente in der Regel schlechter ab
Sicher ist: Die Optimierung des Gehirns wird so schnell
als vorher.
nicht aus dem Fokus verschwinden. Das glaubt auch Armin
Grunwald, Philosoph und Technik-Ethiker am Karlsruher
Institut für Technologie, der die Enhancement-Bestrebungen mit dem Wunsch nach Schönheits-ops vergleicht.
»Für Enhancement-Technologien wird es einen Markt
­geben«, sagt er, »wir werden damit umzugehen haben.«
Tanja Krämer, Mag. phil,
Wissenschafts­
journalistin in Bremen. [email protected]
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titelthem a: neuroenhancement
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Interview mit Prof. Dr. Klaus Lieb und Dr. Dr. Andreas Franke
Urinprobe vor der Prüfung?
Studie zu »Hirndoping« bei Schülern
und Studierenden
E r s t m a l s w u r d e i n D e u t s c h l a n d im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung die Bereitschaft von
­S chülern und Studierenden erhoben, Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung, sogenannte pharmakologische
Neuroenhancer, einzunehmen. Prof. Dr. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni­
versitätsmedizin Mainz, und Dr. Dr. Andreas G. Franke befragten rund 1500 Schüler und Studierende aus Hessen und
Rheinland-Pfalz zu Wissen, Einstellungen und Konsumverhalten gegenüber potenziell leistungssteigernden Substanzen.
MDK Forum Herr Professor
Dr. Lieb, zu welchen Ergebnissen
hat Ihre Studie bzgl. Häufigkeit und
Bereitschaft geführt?
Prof. Dr. Klaus Lieb Von den etwa
1000 befragten Schülern und 500
Studenten aus verschiedenen
Bundesländern haben etwa 4%
angegeben, bereits mindestens
einmal in ihrem Leben Stimulantien
(Amphetamine oder Methylphenidat)
zur geistigen Leistungssteigerung
eingenommen zu haben, und nicht
etwa zum »Highwerden« oder aus
Abenteuerlust.
Dr. Dr. Andreas Franke Insgesamt
konnten wir eine sehr hohe Bereitschaft feststellen, solche Substanzen
einzunehmen, wenn diese sicher
und frei verkäuflich wären, keine
Nebenwirkungen hätten und nicht
abhängig machten. Dann wären fast
80% der Befragten bereit, einzunehmen. Nur 11% würden grundsätzlich
keine pharmakologischen Leistungssteigerer einnehmen. Gegenüber
den 4%, die bereits tatsächlich
Stimulantien eingenommen hatten,
ist das eine enorm hohe Bereitschaft. Der Aspekt der Illegalität der
Beschaffung von Drogen wie
Amphetaminen bzw. verschreibungspflichtigen Substanzen ohne
Rezept hält offensichtlich viele
davon ab, diese Substanzen einzunehmen.
MDK Forum Welche Ursachen /
Motive führen zur Einnahme von
Neuroenhancern?
Lieb In unserer Studie hat
sich gezeigt, dass die Konsumenten
einen starken Leistungsdruck
erleben, ob in der Schule, beim Sport
oder im Privatleben. Dieser Druck
führt offenbar dazu, dass sie Konzentration und Wachheit steigern
wollen, um die eigene Lernleistung
zu verbessern. Es sind vor allem
Schüler und Studenten mit schlechteren Leistungen, die zu solchen
Substanzen greifen, um vor der
Prüfung möglichst viel in kurzer Zeit
lernen zu können. Diese Gruppe
zeigt auch einen häufigeren Konsum
anderer legaler und illegaler Drogen
wie zum Beispiel Alkohol und
Cannabis. Sie sehen sich eher als
benachteiligt an und empfinden
ihren Konsum nicht als unfair den­
jenigen gegenüber, die kein Hirn­
doping betreiben. Der durchschnittliche oder gute Schüler oder Student
greift seltener zu leistungssteigernden Substanzen.
MDK Forum Gibt es eine Altersskala? Wann fängt die Einnahme im
Durchschnitt an?
Franke Im Durchschnitt findet
die erste Einnahme von Stimulantien im Alter von 19 bis 20 Jahren
statt. Das Alter der ersten Einnahme
von Koffeintabletten liegt mit 14
bis 15 Jahren deutlich niedriger.
MDK Forum Welche Nebenwirkungen können die Substanzen haben?
Lieb Amphetamine und Methylphenidat haben selbstverständlich
auch Nebenwirkungen. Sie ver­
ursachen sehr häufig Schlafstörungen
und Nervosität, können zu Ab­
hängigkeiten führen und Psychosen
sowie depressive oder manische
Syndrome auslösen. Diese Gefahr
besteht vor allem dann, wenn bei
den Konsumenten eine Veranlagung
für solche Erkrankungen besteht.
Insgesamt sollte man diese Risiken
nicht in Kauf nehmen.
MDK Forum Laut Focus erhalten in
den usa bereits 16% der Schulkinder
solche »neurocognitive enhancer«.
Geben auch bei uns Eltern ihren
Prof. Dr. Klaus Lieb
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m d k forum 3/10
titelthem a: neuroenhancement
Kindern bereits konzentrations­
fördernde und leistungssteigernde
Substanzen, und welche Gefahren
können damit verbunden sein?
Franke In den usa sind neben
Methylphenidat auch Amphetaminsalze zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (adhs) zugelassen, in Deutschland nur Methylphenidat. Wenn
man davon ausgeht, dass ca. 5–6%
der Kinder und Jugendlichen ein
adhs haben, kann die therapeutische
Verwendung dieser Substanzen
die hohe Rate von 16% Konsumenten
von »neurocognitive enhancern«
nicht erklären. Es gibt Berichte, dass
Kinder mit adhs oder deren Eltern
auch gesunden Kindern diese
Substanzen (weiter)geben. Mit
unserer Studie können wir jedoch
keine Aussage zur Situation in
Deutschland machen, da wir das
nicht untersucht haben. Die Anwendung bei gesunden Kindern ist
besonders kritisch zu sehen, weil
diese Substanzen in die Gehirnentwicklung eingreifen können und
Langzeitstudien zur Sicherheit
komplett fehlen.
MDK Forum Gibt es in Deutschland
eine Studie, die den Konsum unter
Minderjährigen bereits untersucht
hat?
Franke Nein, eine Studie, die den
Missbrauch von Substanzen zur
geistigen Leistungssteigerung bei
Minderjährigen in Deutschland
untersucht hat, ist uns nicht bekannt; aber sie wäre wünschenswert,
wenn auch methodisch aufwendig.
Wir haben unsere ausschließlich
volljährigen Probanden allerdings
auch gefragt, ob sie überhaupt schon
einmal in ihrem Leben derartige
Substanzen eingenommen haben.
Auf diese Weise haben wir die
Zeit vor der Volljährigkeit auch mit
einbezogen.
MDK Forum Ist in Deutschland
grundsätzlich eine steigende
Tendenz der Einnahme zu erkennen?
Wenn ja, auf welche Datenquelle
greifen Sie zurück?
Lieb Die Einnahme von Substanzen
ist kein neues Phänomen. Früher
wurde beispielsweise Captagon zum
pharmakologischen Neuroenhancement eingenommen, und Stimulantien wie die Amphetamine sind schon
seit über siebzig Jahren bekannt,
Methylphenidat seit circa sechzig
Jahren. Ob die Einnahme in Deutsch­­
land zunimmt, können wir nicht
sagen, da wir nur eine Querschnitts­­
unter­suchung durchgeführt haben.
Auch andere wissenschaftliche
Studien liegen unseres Wissens
nicht vor. Die Konsumraten von
Stimulantien bei Schülern und
Studierenden in den usa liegen
allerdings höher (5–9%). Es ist daher
nicht auszuschließen, dass auch die
Prävalenzrate in Deutschland in
Zukunft ansteigt, da häufig Trends
aus den usa in Deutschland mit
einer gewissen Verzögerung in
gleichem Ausmaß aufgegriffen
werden.
MDK Forum Welche Auswirkungen
auf unsere Gesellschaft sehen Sie
durch die Einnahme von leistungssteigernden Substanzen?
Lieb Welche Auswirkungen ein
weit verbreiteter Konsum von
pharmakologischen Neuroenhancern auf unsere Gesellschaft hätte,
ist schwer zu beantworten. Ich
denke, dass sich unsere Gesellschaft
erst mal klar darüber werden muss,
wie sie mit diesem Phänomen
umgehen will. Dazu gehört Antworten
zu finden auf Fragen wie: Ist es fair,
solche Substanzen einzunehmen?
Ist es Betrug, sie vor einer Prüfung
einzunehmen? Sollte es Kontrollen
geben? Wie sollen wir mit dem
Druck auf diejenigen umgehen, die
kein Hirndoping betreiben wollen,
indirekt aber dazu gezwungen
werden, weil viele andere es tun?
Viele dieser Fragen sind sicherlich
Zukunftsfragen, da bisher keine der
aktuellen Substanzen dazu geeignet
ist, deutliche kognitive Leistungssteigerungen hervorzurufen. Sie
können eigentlich nur dafür sorgen,
dass sich Schüler und Studierende
länger wach halten können, intel­
ligenter oder klüger wird man
dadurch sicher nicht.
MDK Forum Welche Präventionsmaßnahmen kann man einführen
und sollte man dies überhaupt tun?
Lieb Information und Aufklärung
sind sehr wichtig. Man sollte die
Substanzen weder als »Smarties«
verharmlosen noch verteufeln,
sondern kritisch informieren. Dies
gilt nicht nur für die Informationen
über mögliche Nebenwirkungen,
sondern auch für die begrenzte
Wirkung der Substanzen. Die derzeit
geltenden strengen gesetzlichen
Regularien sind aufgrund der
verbundenen Risiken notwendig.
Die Fragen stellte
Burga Torges
Buchtipp
K l aus Li e b :
Hirndoping: Warum wir nicht
alles schlucken sollten
Umfassendes deutschsprachiges
Sachbuch zum Thema pharma­
kologisches Neuroenhancement
bzw. Hirndoping. Es gibt einen
fundierten wissenschaftlichen Über-
blick über die aktuelle medizinische,
sozialwissenschaft­liche und ethische Diskussion zum Thema.
9
titelthem a: neuroenhancement
m d k forum 3/10
Wachmacherpillen
am OP-Tisch
E t w a z w e i M i l l i o n e n D e u t s c h e haben schon einmal am Arbeitsplatz Psychopharmaka eingenommen. Dies geht
aus dem Gesundheitsreport 2009 der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) hervor. Auch Chirurgen sind bei
wachsendem Leistungsdruck versucht, Medikamente zu schlucken, die sie möglichst lange konzentriert arbeiten lassen.
Studienergebnisse zeigen, dass ein Drittel der Chirurgen den Gebrauch von Neuroenhancern nachvollziehen kann.
Welche Rolle die Wachmacherpillen für Operateure tat- auf Lehrer – leiden Chirurgen zunehmend unter Burn-out.
sächlich spielen, ist bisher unklar. Die Deutsche Gesell- Schlechtes Arbeitsklima sowie eine hierarchische Organischaft für Chirurgie (dgch) untersuchte nun erstmals sationsstruktur sind gemäß den Befragungsergebnissen
die Lebensqualität von Chirurgen in Deutschland. Darin weitere Faktoren, die sich belasbefragte sie die Teilnehmer auch nach der Bereitschaft, tend auswirken. Zu ähnlichen
Chirurgen leiden nach
ihre berufliche Leistung medikamentös zu steigern. Einschätzungen kommt eine im
Lehrern am häufigsten unter
Dr. Thomas Bohrer, Oberarzt an der Universitätsklinik April im Deutschen Ärzteblatt
Burn-Out
Würzburg, stellte die Ergebnisse im April auf dem veröffentlichte Studie von Medi127. Chirurgenkongress in Berlin vor. Knapp 3000 Chirur- zinsoziologen der Universitätskliniken Hamburg und
gen nahmen an der bisher größten Studie dieser Art teil. Düsseldorf. Das Team um Prof. Olaf von dem Knesebeck
und Prof. Johannes Siegrist hat 1300 chirurgisch tätige
Klinikärzte befragt. Das Ergebnis: Etwa ein Viertel ist
Distanz geht durch Smart Pills verloren
Aufwendige Operationen und lange Klinikdienste verlan- von einer Gratifikationskrise, das heißt von einem Missgen von Chirurgen Arbeitszeiten, die Körper und Geist verhältnis von Verausgabung und Belohnung, betroffen.
­erheblich belasten. Da liegt die Versuchung nahe, nach Etwa ein Fünftel der chirurgisch tätigen Ärzte hat einige
Substanzen zu greifen, die ausgleichen und dämpfen, vor Male im Monat daran gedacht, den Beruf aufzugeben.
allem aber aufmerksam, konzentriert und wach halten: Knapp 45% sehen die Qualität der Patientenversorgung
Modafinil oder auch Methylphenidat – bekannter als Rita- manchmal oder oft durch Überarbeitung gefährdet.
lin –, entwickelt für die Therapie von krankhaftem Schlafdrang oder Aufmerksamkeitsdefiziten. Dass diese Mittel
auch für Chirurgen attraktiv sein können, zeigen Bohrers
Studienergebnisse: »Den zunehmenden Gebrauch leistungssteigernder Medikamente, sogenannter Neuroenhan­
cer, halten 33% der Befragten für nachvollziehbar oder
­absolut nachvollziehbar« erklärt Dr. Bohrer.
»Bei einem chirurgischen Eingriff sind in hohem Maße
klare Urteilsfähigkeit und hohe Entschlusskraft gefragt«,
sagt Prof. Hartwig Bauer, Generalsekretär der dgch. Diese
Fragen der Zukunft
könnten durch das sogenannte Neuroenhancement be- Ist die Einnahme von leistungssteigernden Mitteln nicht
einträchtigt sein. Auch die nötige Distanz zum Operations­ zwangsläufig die Folge, mit steigenden Belastungen fergeschehen könne durch die »Smart Pills« verloren ­gehen. tigzuwerden? Haben wir es mit einer Entwicklung zu tun,
Kritik übt Bauer auch an einem im vergangenen Jahr ver- die sich noch aufhalten lässt? Wenn der Druck und die
öffentlichten Memorandum von sieben Experten unter- ­Arbeitsbelastung steigen, wäre es naiv, einfach über die
schiedlicher Fachrichtungen. Darin finden diese »keine Wettbewerbsgesellschaft zu schimpfen und alle Arbeitüberzeugenden Einwände gegen eine pharmazeutische nehmer zu Abstinenz zu verpflichten. Die Menschen beVerbesserung des Gehirns und der Psyche«. Ein ­Risiko se- wältigen ihre Anforderungen seit je mit psychoaktiven
hen die Autoren lediglich in einer körperlichen Abhängig- Substanzen, sei es nun mit Kaffee, Kokain, Alkohol oder
keit. »Ein liberalisierter Umgang, der mangels qualifizier- Nikotin. Es ist utopisch anzunehmen, aufputschende Psyter Studien schlicht auf Unsicherheit und Unwissenheit chomittel ohne Risiken haben zu können. Gesellschaft und
basiert, wäre jedoch das falsche Signal«, meint Bauer.
Forschung werden nicht umhinkommen, das bestehende
Arsenal der Drogen und Medikamente zu ­bewerten und
über einen verantwortlichen Gebrauch zu diskutieren.
Qualität der Patientenversorgung gefährdet
Wenn auch nicht der Gebrauch von Neuroenhancern AusMartin Dutschek,
löser der Studie von Bohrer war, so geht sie doch auf mögLeiter Unternehmens­
liche Ursachen ein. Mehr als andere Berufsgruppen – bis
kommunikation beim
MDK Niedersachsen.
[email protected]
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titelthem a: neuroenhancement
m d k forum 3/10
Schlauer, wacher und bewusster?
Heilsversprechen in postmodernen Zeiten
G e g e n a l l e p e r s ö n l i c h e n Ä r g e r l i c h k e i t e n g i b t e s e i n e P i l l e , wir schlucken uns Lebensqualität
und Attraktivität, Seelenheil und Lust in Pillenform herbei! Vor allem aus den USA kam in den letzten Jahren eine
­vermeintliche ­Wundermittelentdeckung nach der anderen. Melatonin, DHEA, Prozac oder Viagra sind nur einige Beispiele. Die zum Neuroenhancement eingesetzten Donepezil und Piracetam sind die vorläufig letzten in dieser Kette.
Melatonin sollte neben einem erfüllten Sexualleben auch
helfen bei Alzheimer, Aids, Autismus oder Krebs und
dem vermeintlich größten aller Übel, dem Alter. Der Nutzen: zweifelhaft. dhea (Dehydroepiandrosteron) wird
auch als »Anti-Altersstoff« angeboten. Befürworter meinen, dass sich damit Alterserscheinungen wie Muskelabbau oder Krankheiten wie Osteoporose, Impotenz, Alzheimer oder Krebs bekämpfen ließen. Skepsis ist auch hier
angebracht. Ende der 80er Jahre kam Prozac in den usa
auf den Markt, ein Mittel gegen Depressionen (ein sog. Serotonin-Reuptake-Hemmer, bei uns als Fluctin im Handel). Es wurde aber auch bald von Gesunden geschluckt:
Es aktiviert, macht gute Laune. Für Peter Kramer, Psychi-
ater und bekannter Befürworter von Prozac, glichen die
Möglichkeiten des neuen Medikaments der »kosmetischen Psychopharmakologie«, die Psychotherapie werde
überflüssig. Und dann die nächste Mega-Droge: War
Prozac noch als Mittel gegen psychische »Hänger« be-
Fünf Gruppen von Arzneien für das Gehirndoping
1. Methylphenidat wird außer zur A D H S -Therapie auch
bei Narkolepsie und zur Steigerung der Wirksamkeit von Anti­­­
depressiva bei therapieresistenten Depressionen verwendet.
Schüler und Studenten, aber auch Wissenschaftler und
Manager konsumieren Methylphenidat zur Steigerung ihrer
Konzentration. Hochdosiert wirkt das Präparat sogar
­euphorisierend.
2. Modafinil, indiziert etwa bei Narkolepsie und Schicht­
arbeiter-Syndrom, ist auch bei Geschäftsreisenden mit Jetlag
beliebt. Studenten und Manager machen sich den Wirkstoff
zunutze, um auf den Punkt fit zu sein – etwa bei Prüfungen
oder Präsentationen.
3. Betablocker wie Metoprolol helfen Patienten mit
Bluthochdruck oder Herzinsuffizienz und werden auch zur
Migräneprophylaxe verwendet. Gesunde Menschen nehmen das Präparat gegen ihre Prüfungsangst ein.
4. Spezifische Antidementiva werden offenbar nicht nur
zur Demenztherapie verwendet. Seit bekannt ist, dass einige
der Mittel in klinischen Tests an Piloten deren kognitive
Leistung steigerten, erfreuen sich diese Präparate auch unter
gesunden Zeitgenossen zunehmender Beliebtheit.
5. Amphetamine und amphetaminähnliche illegale Drogen
wie Ecstasy und Speed werden auch gerne zur Steigerung
der Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz eingenommen.
Tanja Wenzel, M D K Bayern
kannt geworden, kündeten die Gazetten über Monate von
der Wirkung des Mittels Viagra gegen körperliche »Hänger« beim Mann. Viagra wirkt, keine Frage. Die unkontrollierte Verfügbarkeit über das Internet und der Konsum
von Männern mit Herzerkrankungen können aber zu erheblichen Problemen führen: »Exitus beim Koitus«.
Pharmakonzerne bestimmen Diskussionen
um Lifestyle-Mittel mit
Das »Viagra-Phänomen« hat auch Einzug gehalten in
die Bereiche von Cognitive Enhancement, Gehirn- oder
Mind-Doping. Arzneimittel, zugelassen zur Anwendung
bei Krankheiten oder Symptomen, die mit einer Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten verbunden sind,
werden auch von gesunden Menschen geschluckt: Mittel zur Be2007: etwa 29 Milliarden
handlung der Alzheimer-KrankDollar Marktvolumen
heit wie Donepezil oder Pirace­
weltweit für Lifestyle-Mittel
tam gehören ebenso dazu wie
Psychostimulanzien, die bei adhs oder Narkolepsie angewendet werden. Mittel wie Methlyphenidat oder Modafinil werden in diesem Zusammenhang immer wieder
­genannt. In einer sozialen Umwelt, in der Leistungsfähigkeit und geistige Fitness als besondere Werte gelten und
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titelthem a: neuroenhancement
m d k forum 3/10
Menschen danach bewertet werden, ob sie mit »wachem«
Bewusstsein und »schnellem« Verstand ihre Arbeits- oder
Lebensaufgaben bewältigen, wird der Wettbewerb um
möglichst gute Ergebnisse in Ausbildungen und Prüfungen zur Basis für die individuelle Zukunftssicherung erhoben.
Es kann daher nicht erstaunen, dass sowohl Einzelpersonen als auch internationale Pharmakonzerne nicht
nur ein hohes Interesse an dieser Entwicklung haben,
sondern die Diskussionen um Lifestyle-Mittel auch mitbestimmen. Im Jahre 2007 wurde das Marktvolumen für
solche Produkte immerhin auf rund 29 Milliarden Dollar
weltweit geschätzt, etwa so viel, wie hierzulande im gleichen Jahr für die gkv-Arzneimittelversorgung insgesamt
ausgegeben wurde. Und die Firmen haben durchaus renommierte Begleiter für ihre Forschungsanstrengungen
und ihre Umsatzhoffnungen: So hatte der bekannte Neurobiologe und Nobelpreisträger Eric Kandel, der mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten einen Beitrag zum molekularen Verständnis der kognitiven Fähigkeiten unseres
Gehirns geleistet hat, schon im Jahre 2003 gemutmaßt,
dass es innerhalb der nächsten fünf Jahre die erste Pille
gegen das Vergessen geben würde. Damit soll das Poten­
zial unseres Gehirns gezielter und vollständiger genutzt
werden können. Nun sind diese fünf Jahre vorbei, ein
wirklich passendes Produkt, das der Ankündigung von
Eric Kandel gerecht würde, hat die Pharmaindustrie allerdings bis heute noch nicht anbieten können.
Hirndoping für alle?
Doch täuschen wir uns nicht: Das Interesse von Pharmafirmen wird weitergehen und umso mehr verstärkt werden, je mehr das Bedürfnis und der Bedarf nach solchen Mitteln wächst: Dem Disease-Mongering wird ein
Need-Mongering folgen, die Kreierung eines angeblichen
Bedarfs, der sich dann auch noch auf wohlformulierte
­Gedanken aus einem im November 2009 publizierten Memorandum von sieben Experten aus den Bereichen Philosophie, Jura, Psychiatrie, Medizin zur Nutzung von pharmazeutischem Neuro-Enhancement (»Gehirndoping«)
beziehen kann (siehe Homepage der Zeitschrift Gehirn
und Geist). Dort heißt es unter anderem: »Während nämlich die ethische Fachdebatte zum Thema Neuroenhancement inzwischen ein hohes argumentatives Niveau erreicht hat, wird das Phänomen
in populären Medien überwieFortsetzung des geistigen
gend sorgenvoll kommentiert,
Optimierungsstrebens mit
wobei die Triftigkeit der geäuanderen Mitteln?
ßerten Bedenken nur selten
hinterfragt wird. Demgegenüber wollten die Autoren des
Memorandums der öffentlichen Debatte einen nachhal­
tigen Impuls geben, indem sie neben den Risiken auch
die Chancen darstellen, die aus der medikamentösen
Steigerung des Wohlbefindens und der geistigen Leistungsfähigkeit erwachsen.« Es gebe keine »überzeugenden grundsätzlichen Einwände gegen eine pharmazeutische Verbesserung des Gehirns oder der Psyche«, denn
das sei nur die Fortsetzung eines zum Menschen gehörenden geistigen Optimierungsstrebens mit anderen Mit-
teln. In dem Memorandum kommt weniger die Sorge
über die Seelen der Menschen zum Tragen als Probleme
der »Verteilungsgerechtigkeit«. Die Parole lautet: Hirn­
doping für alle, es sei durchaus ethisch vertretbar, dem
Schwinden der kognitiven Fä­­hig­
keiten durch bestimmte ArzneiGesundheitliche Risiken
mittel Einhalt zu gebieten wie
müssen Industrie-unab­
man dies auch durch eine Lesehängig evaluiert werden
brille im Alter zum Ausgleich der
Altersweitsichtigkeit tue, so jedenfalls eine der Mitautorinnen des Memorandums in einem Interview.
Die profitorientierten Pharmaunternehmen und Biotech-Startups werden auch diesen Markt für sich erobern
und das Bedürfnis bzw. den individuellen Bedarf nach der
Vermeidung von kognitiven »Hängern« ebenso mit dem
Angebot von Arzneimitteln beantworten wie sie dies bei
körperlichen »Hängern« mit Viagra und Co. getan haben.
Die Machbarkeit wird das Angebot bestimmen. Darum
dürfen die gesellschaftlichen Chancen und Risiken nicht
auch noch von denen bewertet werden, die ein wie auch
immer geartetes ökonomisches Interesse an der Ent­
wicklung des »Viagra für unser Gehirn« haben. Die ge­
sellschaftliche Verträglichkeit und die gesundheitlichen
­Risiken solcher absehbaren Strategien müssen vielmehr
Industrie-unabhängig evaluiert werden, bevor das »Gehirndoping für Gesunde« auf unserem Pharmamarkt als
neue Begehrlichkeit angeboten wird. Das »Soma« aus der
»Schönen neuen Welt« von Aldous Huxley lässt grüßen!
Prof. Dr. Gerd Glaeske
Zentrum für Sozial-
politik (ZeS), Universität
Bremen
gglaeske@zes.
uni-bremen.de
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titelthem a: neuroenhancement
m d k forum 3/10
Doping fürs Gehirn
W ä h r e n d d i e e i n e n v o r d e n i n d i v i d u e l l e n u n d g e s e l l s c h a f t l i c h e n L a n g z e i t f o l g e n der Einnahme
von sogenannten »Smart Pills« warnen, halten die anderen sie für eine normale Entwicklung in unserer Leistungs­
gesellschaft. Prof. Dr. Reinhard Merkel von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg plädiert daher
für die Selbstbestimmung des Individuums. Grenzen beim Neuroenhancement werden hingegen von Prof. Dr.
Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, dringend angemahnt.
Präparate, die die mentalen
Fähigkeiten verbesserten und
deren Nebenwirkungen vernachlässigbar gering wären,
wären genauso positiv zu beurteilen wie zum Beispiel die vernünftige Ernährung, die
ja eindeutig einen Neuro-Enhancement-Effekt hat. Das
Einnehmen von Mitteln zu Zwecken, die man traditionellerweise auf anderen Wegen und mit viel mehr Aufwand,
wie zum Beispiel guter Schulbildung, erreicht, mit einer
prinzipiell negativen Aura zu umgeben, ist unangemessen. Man vergleiche das mit der Einnahme von Koffein:
Wir versuchen schon immer, mit künstlichen Mitteln die
Bedingungen unserer mentalen Fähigkeiten zu verbessern. Von Dingen, die erhebliche Nebenwirkungen haben
und deren positive Wirkungen nicht beglaubigt sind, ist
selbstverständlich abzuraten; aber verboten oder auch
nur verbietbar sind sie deshalb bei uns noch lange nicht:
zum Beispiel Zigaretten oder Alkohol. Man sollte nicht
vergessen, dass es im Streit um Enhancements stets auch
um die Grundrechte der autonomen Persönlichkeit geht.
Das soll kein Plädoyer für Neuroenhancement-Präparate
(nep) sein, aber sehr wohl eines für die Freiheit und Autonomie der Rechtsperson zur Selbstbestimmung ihrer
eigenen Belange. Dass der Leistungsdruck, der in unserer
Gesellschaft sehr stark ist, durch die Verbreitung dieser
Mittel größer wird, ist gewiss nicht auszuschließen. Es
darf aber dabei nicht vergessen werden, wo dieser Druck
herkommt: aus der ökonomischen Organisation unserer
Lebenswelt. Es wäre eine absolut naive Vorstellung, zu
behaupten, ein Verbot von neps würde den kompetitiven
Druck auf die Individuen im sozialen Alltag mildern. Die
Rückfrage liegt nahe, ob dann nicht auch alle traditionellen Strategien einer allgemeinen Verbesserung mentaler
Fähigkeiten, beispielsweise die Optimierung der Schulbildung unserer Kinder, den sozialen Leistungsdruck
ganz genauso verstärken müssten. Wer wollte deshalb
ernsthaft eine Verschlechterung der Schulbildung fordern?
pro
Prof. Dr. jur. Reinhard Merkel lehrt
Strafrecht und Rechtsphilosophie
an der Universität Hamburg.
Er ist Mitautor des Memorandums
»Das optimierte Gehirn«
Selbstverständlich ist nichts dagegen einzuwenden, dass wir
als Mitglieder einer modernen Leistungsgesellschaft versuchen, mit unseren Leistungen immer weiter über uns hinauszuwachsen. Doch zur
Disposition steht: Mit welchen Mitteln und zu welchen
­Risiken für den Konsumenten und die Gesellschaft? Wer
Koffein, Methylphenidat und Amphetamine als »Smart
Pills« in einem Atemzug nennt und so tut, als seien sie
nicht unterschiedlich, informiert fahrlässig falsch. Die
Einnahme von Methylphenidat unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz und ist nur Patienten mit bestimmten
Erkrankungen wie einem adhs erlaubt, Amphetamine
sind illegale Drogen – und das zu Recht, denn beide Sub­
stanzen haben erhebliche Nebenwirkungen, können psychische Erkrankungen auslösen oder zu Abhängigkeiten
führen. Wer jetzt eine Liberalisierung der Einstellung
zum pharmakologischen Neuroenhancement fordert,
unterschlägt, dass wir auf die meisten Fragen, die sich
­daraus für uns und unsere Gesellschaft ergeben könnten,
keine Antworten haben. Eine Liberalisierung würde aber
solche Antworten voraussetzen, wenn wir verantwortungsvoll und mündig mit solchen Substanzen umgehen
können sollen. Solche Fragen sind etwa: Wie wirken diese
Substanzen bei Gesunden bei Langzeiteinnahme? Inwiefern muss dem Gehirn als Sitz unserer Persönlichkeit ein
besonderer Schutz vor Einflussnahme eingeräumt werden? Gefährdet pharmakologisches Neuroenhancement,
wenn es denn verbreitet wäre, die Fairness im gesellschaftlichen Wettbewerb oder die individuelle Freiheit,
sich dafür oder dagegen zu entscheiden? Wie könnte sich
unser gesellschaftliches Miteinander dadurch verändern? Alles der Regulation eines Marktes zu überlassen,
wäre verantwortungslos. Wir müssen nicht alles tun, was
wir können. Auch in anderen Bereichen wie der Gentechnik setzen wir Grenzen. Beim pharmakologischen Neuroenhancement tun wir gut daran, wirksame Grenzen wie
das Arzneimittelgesetz beizubehalten und über weitere
Grenzziehungen nachzudenken.
contra
Prof. Dr. med. Klaus Lieb
Direktor der Klinik für Psychiatrie
und Psychotherapie der
Universitätsmedizin Mainz
mdk | wissen und standpunk te
m d k forum 3/10
Wo stehen wir
bei den Pflegenoten?
Verhandlungspoker geht weiter B i s J a h r e s e n d e sollen die Transparenzvereinbarungen überarbeitet sein. Darauf hatten sich GKV-Spitzenverband
und die Verbände der Leistungserbringer Mitte Juni geeinigt. Derzeit sondieren die Vertragsparteien, ob die Trans­
parenzvereinbarungen kurzfristig überarbeitet werden können. Ein Ende der Verhandlungen scheint nicht in Sicht.
Die Bilanz nach gut einem Jahr Pflegenoten kann sich
sehen lassen: Ca. 10 800 Pflegeeinrichtungen hat die mdk
geprüft, seit am 1. Juli 2009 die neuen Qualitäts­prüfungsRichtlinien in Kraft getreten sind. Rund 8700 Trans­
parenzberichte waren Mitte August nach Auskunft der
Datenclearingstelle beim vdek veröffentlicht, davon
5100 für Pflegeheime und 3600 für ambulante Pflegedienste.
Mit Abschluss der Pflege-Transparenzvereinbarungen
(ptv) für Pflegeheime im Dezember 2008 bzw. im Januar
2009 für ambulante Pflegedienste wurde Neuland betreten; Vorbilder gab es weder national noch international.
Deshalb hatten sich die Verhandlungspartner darauf verständigt, die Kriterien und die Notensystematik evaluieren zu lassen. Am 22. Februar fand in Berlin ein Workshop
zu den Transparenzkriterien und dem Bewertungssystem
von Pflegeeinrichtungen statt. Auf Einladung des gkvSpitzenverbandes stellten Experten der mdk-Gemeinschaft Vertretern von Kassen und Leistungserbringern sowie der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit die Ergebnisse einer Evaluation vor, in der sie 928 Qualitätsprüfungen in Pflegeheimen und 231 Prüfungen in ambulanten
Pflegediensten untersucht hatten.
mdk-Konzept: Defizite bei Risikokriterien
sollen zu Abwertungen führen
Die Vertreter von mds und mdk kommen zu der Einschätzung, dass die Notensystematik grundsätzlich geeignet
ist, Qualitätsunterschiede zwischen Pflegeeinrichtungen
darzustellen. Allerdings hat ihre Analyse auch erbracht,
dass sich zum Teil Mängel bei personenbezogenen Kriterien – zum Beispiel bei der Vermeidung von Druckgeschwüren – nicht ausreichend in der Bereichs- und in der
Gesamtnote niederschlagen. Besonders gravierend ist
dies bei Kriterien, deren Nichterfüllung mit deutlichen
Beeinträchtigungen der Lebensqualität oder mit gesundheitlichen Schäden verbunden sein kann. In dem Bericht
werden für die stationäre Pflege 9 von insgesamt 38 per­
sonenbezogenen Kriterien als sogenannte Risikokriterien
identifiziert. Bezogen auf diese Kriterien gibt es eine relevante Zahl von »Ausreißern«, in denen gute Bereichs- und
Gesamtnoten mit einem »mangelhaft« bei einem Risikokriterium einhergehen. Die Autoren schlagen deshalb vor,
bei einer mangelhaften Bewertung dieser Risikokriterien
das Bereichsergebnis und die Gesamtnote abzuwerten.
Das zwischen gkv-Spitzenverband und Leistungs­
erbringern vereinbarte Evaluationskonzept sah darüber
13
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m d k forum 3/10
mdk | wissen und standpunk te
hinaus eine wissenschaftliche Begleitung vor. Hiermit wurden die Pflegewissenschaftlerinnen Prof. Dr. Martina Has­­
seler, Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, und Prof. Dr. Karin Wolf-­Ostermann, Alice Salomon
Hochschule in Berlin, beauftragt. Ende Juli haben sie ihr
mehr als dreihundert Seiten starkes Gutachten dem »Beirat zur Evaluation der Pflege-Transparenzvereinbarungen«
vorgelegt, dem neben Vertretern der Pflegekassen und
der Verbände der Leistungserbringer auch Pflegewissenschaftler und Patientenvertreter angehören.
Wie die Expertise der mdk-Gemeinschaft kommen
auch die beiden Wissenschaftlerinnen zu dem Ergebnis,
dass Risikokriterien stärker gewichtet werden sollten, »so
dass Einrichtungen / Dienste, die diese wesentlichen ›Risikokriterien‹ nicht erfüllen, eine schlechte Benotung hierbei
Wissenschaftliches
nicht durch andere – weniger
Gutachten Ende Juli
­relevante – Kriterien kompensievorgestellt
ren können«. Weiter schlagen sie
vor, sämtliche Transparenzkriterien noch einmal auf ihre
Aussagekraft hin zu überprüfen und die Auswahl entsprechend anzupassen.
Vonseiten der Leistungserbringer ist immer wieder der
Vorwurf erhoben worden, die mdk-Qualitätsprüfungen
­seien »dokumentationslastig« – eine Kritik, die von den
Medizinischen Diensten nicht geteilt wird. Hasseler und
Wolf-Ostermann empfehlen nun, »statt der Prüfung der
Qualität auf der Basis von Pflegedokumentationen Indikatoren bzw. Kriterien zu entwickeln und zu wählen, die
Aussagen machen können über die erbrachten Leistungen,
die der Heimbewohner / der Kunde tatsächlich erhält.«
Kritik üben die Wissenschaftlerinnen auch an dem
Stichprobenverfahren. Insgesamt lägen durchschnittlich
geringe Fallzahlen vor. Dennoch wollen auch sie aus pragmatischen Gründen an der 10%igen Stichprobenauswahl
festhalten. Zudem sprechen sie sich dafür aus, dass mindestens zehn statt bisher fünf Personen einbezogen werden. Überarbeitet werden sollte nach dem Urteil der Wissenschaftlerinnen auch die Berechnungssystematik bzw.
Notenvergabe – und zwar sowohl auf der Ebene von Einzelkriterien als auch auf der Ebene von Bereichs- und Gesamtnoten.
Beirat empfiehlt schrittweise Umsetzung
Als ein »gutes Signal« für die Transparenz in der Pflegequalität wertet Gernot Kiefer, Vorstand des gkv-Spitzenverbandes, die Berichtsergebnisse. »Der mit den Pflegenoten eingeschlagene Weg ist der richtige«, ist er überzeugt.
Der Beirat rät den Vertragspartnern bezüglich der
Empfehlungen »wegen der Komplexität die Umsetzung
in kurz-, mittel- und langfristigen Entwicklungsschritten
vorzunehmen«. Da national und international über­
tragbare wissenschaftliche Grundlagen fehlen, ist nach
­Einschätzung des Beirats auch ein langfristiger Weiter­
entwicklungsprozess, etwa bei der Überprüfung wissenschaftlicher Gütekriterien, erforderlich.
Mitte des Jahres haben die Vereinbarungspartner die
Verhandlungen wieder aufgenommen. »Bisher ist das ein
zähes Ringen«, so Jürgen Brüggemann, der für den mds
als Berater an den Verhandlungen teilnimmt. Dabei gehe
es unter anderem um die Frage, was als aussagefähige
Informationsquelle anzuerkennen sei. »Den Leistungs­
erbringern geht es darum, neben
Pflegedokumentation und InauVerhandlungsmaschine
genscheinnahme auch andere In­
wieder angeworfen
­formationsquellen zu etablieren.
Das können zum Beispiel Auskünfte der Mitarbeiter sein«,
so Brüggemann. »Das darf aus unserer Sicht aber nicht dazu
führen, dass man so lange prüft, bis man irgendwann ein
positives Ergebnis hat.«
Querelen gibt es auch innerhalb der Reihen der Leistungserbringer. Ende August verließen der Arbeitgeberund BerufsVerband privater Pflege (abvp), die Bundesarbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege (bah) und der
Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (vdab)
die Beratungen. Sie warfen den anderen Verhandlungspartnern vor, kein Interesse an einer grundlegenden
Überarbeitung zu haben. Einzelschritte zur Veränderung
der ptv aber seien »Zeitverschwendung«. Den Vorwurf
wiesen die anderen Verhandlungspartner – gkv-Spitzenverband, Vertreter der Sozialhilfeträger und die anderen
Leistungserbringer – zurück. »Gerade weil Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen sich ihrer vom Gesetzgeber
übertragenen Verantwortung bewusst sind, wollen sie bis
Ende des Jahres erste konkrete Schritte für kurzfristige
Veränderungen vorlegen«, hieß es in einer gemeinsamen
Presseerklärung. Mittel- und langfristige Schritte sollen
folgen.
Münsteraner Urteil untersagt Veröffentlichung
Unruhe droht auch von anderer Seite: Ungefähr 200 Einrichtungen haben nach Auskunft des vdek bisher gegen
die Veröffentlichung ihres Transparenzberichtes geklagt.
In erster Instanz ging etwa die Hälfte der Verfahren zugunsten der Kassen aus. In zweiter Instanz sind erst neun
Verfahren verhandelt worden; in sieben Fällen haben die
Kassen Recht bekommen, in zwei Fällen die Einrichtungen. Das zuletzt veröffentlichte Urteil des Sozialgerichts
Münster vom 20. August untersagte erstmalig in einem
Klageverfahren die Veröffentlichung eines Transparenzberichts im Internet. Geklagt hatte ein Pflegeheim aus
dem Kreis Borken. »Die Pflegenoten haben Bewegung in
die Qualitätsdiskussion in der Pflege gebracht und Transparenz hergestellt, wo es vorher keine gab«, kommentierte Dr. Peter Pick, Geschäftsführer des mds, das Urteil.
»Grundsätzlich haben sich die Pflegenoten bewährt. Wir
sollten jetzt das Instrument so weiter entwickeln, dass
die Kinderkrankheiten behoben werden.« Und auch
beim gkv-Spitzenverband bleibt man zuversichtlich: »Wir
sehen der weiteren rechtlichen Prüfung gelassen ent­
gegen«, betonte dessen Sprecher Florian Lanz.
Christiane Grote leitet
das Fachgebiet »Presseund Öffentlichkeitsarbeit«
des M D S .
c. g ro te @ m d s - ev. d e
mdk | wissen und standpunk te
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Begutachtung von Berufskrankheiten im MDK Hessen
Arbeitsplatz übt oft späte Rache
B e r u f s k r a n k h e i t o d e r n i c h t ? Neben den Betroffenen haben auch die Krankenkassen ein Interesse an Klärung,
um Erstattungsansprüche gegenüber anderen Sozialversicherungsträgern geltend zu machen. Dazu greifen sie auf
Ex­perten des MDK wie Dr. Matthias Löffler zurück. Mit viel Akribie und Spürsinn deckt er beim MDK Hessen Berufskrankheiten und deren Ursachen auf. Für die Kassen lohnt sich das: Rund fünf Mio. Euro werden ihnen jährlich erstattet.
Helmut W. war nie ein starker Raucher – und trotzdem:
Lungenkrebs. Im September 1999 wird ihm im Univer­
sitätsklinikum Gießen der rechte Lungenoberlappen entfernt. Die histologische Untersuchung des entnommenen Gewebes lässt für Hoffnung keinen Platz: Der Tumor
hat sich schon in die Thoraxwand gefressen.
Bis in die 80er Jahre war W. als Abrissarbeiter auf dem
Bau tätig. Damals war Asbest als Wärmedämmung und
Brandschutz weit verbreitet. Die Wahrscheinlichkeit, dass
er dem hoch kanzerogenen Mineral ausgesetzt war, ist groß. W.
Helmut W.:
meldet seinen Verdacht einer
Lungenkrebs durch Asbest?
Berufskrankheit der Berufsgenos­
senschaft (bg). Im Falle einer Anerkennung als Berufskrankheit, so hofft er, wäre seine Familie durch eine Hinterbliebenenrente zumindest finanziell abgesichert. Auch
andere Stellen wie Arbeitgeber, behandelnder Arzt oder
die Krankenkasse sind dazu berechtigt und zum Teil sogar verpflichtet. Der Unfallversicherungsträger leitet dann
das Feststellungsverfahren ein und prüft, ob eine Berufskrankheit vorliegt.
Versicherte müssen Berufskrankheit nachweisen
»Von der Verdachtsmeldung bis zum Feststellungsbescheid ist es oft ein weiter Weg«, weiß Dr. Matthias Löffler.
Seit 1992 arbeitet der fünfzigjährige Arbeitsmediziner
beim mdk Hessen, seit 1998 ist er dort auf Ersatzansprüche spezialisiert. Einen solchen Verdacht kann nicht nur
der Versicherte an die Berufsgenossenschaft oder einen
anderen zuständigen Unfallversicherungsträger melden.
Lungenkrebs ist als Folge einer Asbesteinwirkung am
Arbeitsplatz als Berufskrankheit anerkannt. Die Tumorauslösende und -fördernde Wirkung von Asbest gilt als
wissenschaftlich gesichert. Trotzdem sind im Feststellungsverfahren einige Hürden zu überwinden. »Der Ver­
sicherte selbst muss nachweisen, dass die Krebserkrankung auf die berufliche Asbestbelastung zurückzuführen
ist und nicht etwa aufs Rauchen oder andere Risiken der
privaten Lebensführung«, erläutert Löffler. Laut Berufskrankheitenverordnung ist dieser Nachweis erbracht,
wenn sich radiologisch oder histologisch Strukturen darstellen lassen, die typisch sind für eine Asbeststauberkrankung der Lungen oder der Pleura. Oder wenn sich
für den Arbeitsplatz eine kumulative AsbestfaserstaubBelastung von mindestens 25 Faserjahren belegen lässt.
Ursachenforschung – erster Teil
Im Falle von W. alles Fehlanzeige. Die histologische Untersuchung an der Uni Gießen ergibt lediglich Pigment­
einschlüsse und ein paar Silikogranulome im entnommenen Gewebe – kein ungewöhnlicher Befund für die Lunge
eines Abbrucharbeiters und zudem ohne Krankheitswert.
Zwar glaubt der medizinische Gutachter, den die Berufsgenossenschaft beauftragt hat, ebensolche asbestverdäch­
tigen Strukturen im Computertomogramm zu erkennen.
Doch der hinzugezogene Zweitgutachter will den Befund
ohne eine weitere Gewebeuntersuchung nicht bestätigen.
Er empfiehlt stattdessen, »zu
­gegebener Zeit« eine Obduktion
Löffler: »Wäre ich nicht
vornehmen zu lassen. Auch der
Arbeitsmediziner geworden,
technische Aufsichtsdienst, der
dann Gerichtsmediziner«
im Auftrag der Berufs­genos­sen­
schaft Arbeitsplätze auf ihre Sicherheit überprüft, stützt
Herrn W.s Verdacht nicht. Die kumulierte Asbestbelastung,
der W. über Jahre ausgesetzt war, bemisst er auf ­gerade
einmal 1,3 Faserjahre.
Für die Berufsgenossenschaft sind die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit nicht
­erfüllt. Im Oktober 2000 lehnt sie W.s Antrag ab. Im März
darauf ist W. tot.
Dr. Matthias Löffler
16
m d k forum 3/10
mdk | wissen und standpunk te
z. B. die steroidbedingte Osteoporose, die als Folge der
Ursachenforschung – zweiter Teil
Ein Jahr danach landet der Fall auf Matthias Löfflers Langzeitbehandlung eines Berufsasthmas mit Cortison
Schreibtisch. W.s Krankenkasse, die aok Hessen, hat ihn auftritt, für eine altersbedingte Erkrankung gehalten.
mit der Begutachtung beauftragt. Erneut werden Erst- ­Sollen Erstattungsansprüche geltend gemacht werden,
und Zweitgutachten sowie Untersuchungsberichte studiert, bedeutet die Identifizierung der Berufskrankheiten-VerTomografien nach einem Hinweis auf eine Asbestbelas- dachtsfälle somit schon die erste Hürde.
tung abgesucht. Nach gründlicher Durchsicht muss Löffler seinen Kollegen von der bg recht geben: Die vorliegen­
Hohe Erstattungsansprüche für die Krankenkassen
den Unterlagen lassen keine belastbare Aussage über eine Für die Krankenkassen ist es da ein Vorteil, dass sie auch
Asbestexposition zu. Fest steht für ihn aber auch: »Die unabhängig vom Versicherten tätig werden können, um
bg hat nicht erschöpfend ermittelt. Absolut fehlerfrei ar- ihre Ersatzansprüche gegenüber anderen Sozialversichebeitet aber keine Institution«, fügt er gleich darauf hinzu. rungsträgern geltend zu machen. In finanzieller Hinsicht
Wenn doch Fehler passieren, ist es Löfflers Job, sie zu fin- lohnt sich das allemal. Im Fall W. wurden der aok 47 368 €
den, zunehmend auch in Kooperation mit den Berufs­ erstattet, in anderen Einzelfällen waren es sogar bis zu
genossenschaften. Im Fall von W. waren notwendige wei- 160 000 €. Mehr als zehn Millionen Euro erwirtschafteten
terführende Untersuchungen schlicht unterlassen worden. Löffler und sein Team mit der Begutachtung zu BerufsSo hatte der Pathologe das Lungenresektat zwar akribisch krankheiten im Erhebungszeitraum September 1998 bis
auf alle Arten von krebsverdächtigen Veränderungen hin Dezember 2002 allein für die aok in Hessen. Das sind
untersucht – mit einer gezielten Asbestosediagnostik aber rund 2,5 Millionen Euro pro Jahr. Seitdem sind weitere gehatte ihn niemand beauftragt. Die Stellungnahme des setzliche Krankenkassen dem Beispiel der aok gefolgt,
Landesgewerbearztes lag nicht vor. Die seinerzeit empfoh­ so dass sich die jährlichen Erstattungen über alle Kassen
lene Obduktion wurde nie veranlasst, und seit W.s Beer­ heute auf fast fünf Millionen Euro belaufen.
digung waren ein verregneter Sommer und ein milder
Winter ins Land gegangen – keine guten Voraussetzungen
edv-Programm zur Identifizierung von Verdachtsfällen
für eine posthume Gewebeentnahme.
Die Erfolgsquote bei Durchsetzung der Ansprüche ist
hoch: Jeder dritte aufgegriffene Fall wird positiv entschieden. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet das ProSpürsinn wird belohnt
Gerade diese scheinbar aussichtslosen Fälle reizen Löff- gramm, das Löffler zu diesem Zweck in Zusammenarbeit
ler: Quasi detektivisch ermittelt er wenn nötig auch fern- mit der aok entwickelt hat. Aus
ab von Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Daten­­ den Leistungsdatenbanken der
»Der Gerechtigkeit auf die
banken und befragt Beteiligte. Grübeln, Knobeln, Hinter- Krankenversicherung filtert es
Sprünge helfen«
fragen bringen ihn letztlich auch im Fall W. auf die rich­ anhand der Diagnoseschlüssel
tige Fährte: W. war doch damals der rechte obere Lungen- gezielt die Versicherungsfälle heraus, die als Berufslappen entfernt worden – was war mit dem Resektat ge- krankheiten infrage kommen können. Diese Auswahl prüft
schehen? Ein paar Telefonate und sein Spürsinn wird die Software dann anhand des Berufsschlüssels auf
­belohnt: Der Lungenlappen hat die Gießener Uni-Klinik ­Plausibilität. Darüber hinaus erhält der Sachbearbeiter
nie ver­lassen. Formalin-fixiert und in Paraffin gegossen wertvolle Entscheidungshilfen in Form weiterführender
liegt er nach wie vor in den Regalen der Pathologie. Auf Erklärungen. Seine Stärken entfaltet das Programm vor
Löfflers Hinweis leitet die Berufsgenossenschaft nun allem dort, wo eine große Zahl an Fällen zu verwalten ist,
die »weiterführende Amtsermittlung« ein: Eine Asbestose­ von denen aber nur einige wenige zu Erstattungen führen.
diagnose bringt endlich den lang gesuchten Nachweis:
Matthias Löffler empfiehlt den Krankenkassen diese
Asbest­körperchen und fibrotische Verwachsungen sind »besondere Form der Versichertenbetreuung«, wie er die
unter dem Mikroskop deutlich zu erkennen. Für W.s Begutachtung in Erstattungsfragen nennt, nicht allein im
­Witwe hat damit dreieinhalb Jahre nach dem Tod ihres Hinblick auf den finanziellen Gewinn. Auch aus Gründen
Mannes das Warten ein Ende: Die Berufsgenossenschaft der Kundenbindung hält er das Engagement für sinnvoll:
gesteht ihr eine monatliche Hinterbliebenen-Rente von »Hinterbliebene, die Sie als Kasse bei der Durchsetzung
950 € zu sowie 4000 € Sterbegeld
ihrer Ansprüche unterstützen, bleiben Ihnen danach als
In vielen anderen Fällen kommt es gar nicht erst zu Versicherte lange treu.« Für den mdk-Gutachter bedeutet
­einer Verdachtsmeldung. Nach internen Schätzungen seine Arbeit darüber hinaus eine persönliche Befriedigung.
schalten die Kassen nur in jedem siebten Fall von berufs­ »Meist sind es die kleinen Leute, die von Berufskrank­
bedingter Erkrankung die zustän- heiten betroffen sind«, erklärt Löffler seine Motivation.
Zwischen schädigender
dige Berufsgenossenschaft ein. »Damit auch diese ihre rechtmäßigen Ansprüche geltend
Die Gründe dafür sind vielfäl- machen können, helfen wir der Gerechtigkeit nötigenEinwirkung und Krankheit
tig: Bei berufsbedingten Krebs­ falls auf die Sprünge.«
können Jahrzehnte liegen
erkrankungen führt häufig die
­lange Latenzzeit zwischen Exposition und Ausbruch der
Krankheit dazu, dass die Ursache verkannt wird. Auch die
Dina Koletzki de Salazar
mittelbaren Krankheitsfolgen werden oft nicht mit der
ist Referentin
Primärerkrankung in Zusammenhang gebracht. So wird
Kommunikation beim
mdk Hessen.
[email protected]
weitblick
m d k forum 3/10
Krebspatientinnen über Haarausfall und Perückenkauf:
Nacktheit der besonderen Art
F r a u e n w i e d i e S ä n g e r i n Sinéad O’Connor sind die Ausnahme: Sie gehen mit geschorenem Kopf in die Öffentlichkeit – für viele Frauen undenkbar! Doch viele Krebspatientinnen müssen nach einer Chemotherapie mit dem Verlust
ihrer Haare fertigwerden – vielleicht die belastendste Nebenwirkung der Therapie. Eine Perücke kann hier helfen und
das Selbstwertgefühl wieder stärken. Diese gibt es zum Beispiel in den Filialen des Berliner Unternehmens »Die Perücke«.
Karla Wittenstein ist das, was man als »toughe Lady«
­bezeichnen würde: stets adrett gekleidet und zurecht­
gemacht, selbstbewusst und unabhängig. Genau so sitzt
sie in einer Kabine des Perückengeschäfts »Die Perücke«
am Berliner Kurfürstendamm und erzählt ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Krebserkrankung und wie sie sie
gemeistert hat. 1995 erkrankt die Berlinerin zum ersten
Mal an Brustkrebs. Bei einer Operation wird das befallene
Gewebe entfernt, die Brust jedoch erhalten. Ganz ohne
Chemotherapie überwindet sie den Krebs. Doch 2007 ist
er wieder da. Dieses Mal kommt sie nicht so glimpflich
­davon: Eine Brust wird ihr entfernt und im Anschluss
folgt die Chemotherapie. Da viele Chemotherapien mit
Haarausfall einhergehen, muss sich Karla Wittenstein nun
auch mit dem drohenden Verlust ihrer Haare auseinan­
der­setzen. Da sie schon seit längerem Kundin des Berliner
Geschäfts ist und dort Haarteile kauft, fällt ihr der Schritt
nicht schwer, sich in ihrem Perückengeschäft beraten
zu lassen.
Dort kennt man sich aus mit dieser speziellen Situation.
Rund 40% der Kundinnen sind Chemotherapie-Patientinnen. Einige kommen lange, bevor die Haare auszufallen
beginnen, andere erst dann, wenn sie bereits mit dem
Haarverlust kämpfen. Doch alle stehen vor demselben
Problem, denn die Haare spielen für die weibliche Identität eine besonders große Rolle. »Vielen Frauen wurde im
Vorfeld schon eine oder sogar beide Brüste entfernt. Das
ist an sich schon schlimm genug«, erklärt Karin Gilsenbach, seit vierzig Jahren Inhaberin des Geschäfts. »Wenn
dann auch noch der Haarausfall hinzukommt, ist das
sehr ­belastend. Man sieht sofort, dass etwas anders ist,
nicht wie bei einer anderen Krankheit, die man zum Beispiel unter der Kleidung verstecken kann.«
Die Mitarbeiterinnen des Perücken-Geschäfts raten
immer dazu, sich schon früh mit dem Thema »Zweithaar«
auseinanderzusetzen. Auf diese Weise kann am besten
­eine Perücke ausgesucht werden, die dem eigenen Haar mög­
Man kann die Krankheit
­lichst ähnlich ist. »Wenn sich
nicht verstecken
die Kundinnen dann zum ersten
Mal mit der Perücke sehen, die ihren eigenen Haaren so
ähnlich sieht, sind die meisten erleichtert. Dann wissen
sie, dass sie auch nach dem Haarausfall noch genauso
aussehen werden wie vorher«, erklärt Gilsenbach. Wenn
der Haarausfall einsetzt, haben die Kundinnen die
­Möglichkeit, sich auch das restliche Haar entfernen zu
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m d k forum 3/10
weitblick
lassen. Dafür gibt es in dem Geschäft eine Kabine, in die
sie sich zurückziehen können. »Das ist ein ganz entscheidender Moment. Einige können es kaum erwarten, weil
ihre Haare dann nicht mehr überall herumfliegen. An­
dere brechen in Tränen aus.«
Karla Wittenstein gehört zu der ersten Gruppe. Noch
vor der Chemo holte sie sich eine passende Perücke. »Ich
wollte mich schon mal darauf einstellen, wie ich aus­
sehen würde.« Als der Haarausfall während der Therapie
dann massiv einsetzte, ließ sie sich von ihrem Mann die
Haare abrasieren. Heute, drei Jahre später, ist ihr Haar
immer noch nicht wieder voll und gesund. Ein starkes
­Medikament, das sie zur Vorbeugung vor einer erneuten
Erkrankung einnimmt, verhindert den normalen Haarwuchs. An das Tragen der Perücke hat sich die Sechzig­
jährige jedoch gewöhnt. »Zu Hause laufe ich nur ohne
­Perücke herum. Das Tolle ist: Wenn man spontan etwas
unternehmen möchte, zieht man sich einfach nur die Perücke auf, und fertig. Kein zeitraubendes Frisieren mehr.«
Karla Wittenstein hat mit der Chemotherapie eine komplette Typveränderung durchgemacht. Jahrelang lief sie
mit einer langen, streng nach hinten gebundenen Mähne
herum. Heute trägt sie eine gesträhnte Kurzhaarfrisur.
Ein fransiger Schnitt mit dem Namen »Paulinchen«.
»Viele Kundinnen nutzen die Gelegenheit und pro­
bieren etwas Neues aus. So hatten wir zum Beispiel eine
Kundin, die sich für die Arbeit eine Perücke geholt hatte,
die ihren eigenen Haaren ganz ähnlich war, um nicht aufzufallen. Für die Samstagabende hatte sie jedoch eine
blonde, wallende Mähne – gerade um aufzufallen«, erzählt Kai Gilsenbach, Junior-Chef von »Die Perücke«.
Die Krankenkassen unterstützen die ChemotherapiePatientinnen beim Kauf der Perücke. Die Gilsenbachs
­haben Modelle bereits ab 49 € im Angebot. Wer jedoch
­etwas qualitativ Hochwertiges haben möchte, zahlt bis
zu 500 € für die Kunsthaare. »Qualitätsunterschiede gibt es
vor allem in der Verarbeitung. Wenn man zum Beispiel
e­ inen Scheitel trägt, kann man an dieser Stelle bei einigen
Modellen sehen, dass es nicht die echten Haare sind. Bei
einem Qualitätsstück ist das nicht möglich«, erklärt die
Inhaberin.
Gertrud Peters ist erst seit kurzem Kundin des Perückengeschäfts. Die 67-jährige Rentnerin hatte vor einem
halben Jahre eine Brustamputation und anschließend
Chemotherapie. »Die verbliebenen Haare abzurasieren
fand ich gar nicht so schlimm«, berichtet Peters. »Als ich
jedoch zu Hause war und zufällig am Spiegel vorbeiging, habe
Wer ist das?
ich mich sehr erschrocken. Ich
Ich bin das nicht !
dachte: ›Wer ist das? Ich bin das
nicht.‹« Im Gegensatz zu Karla Wittenstein trägt Gertrud
Peters auch zu Hause stets eine Perücke. »Lange Zeit
konnte ich mir auch nicht auf den Kopf fassen, weil es so
ungewohnt war, dass dort keine Haare mehr sind.« Wie
bei vielen Krebs-Patientinnen sind Gertrud Peters auch
die Augenbrauen und Wimpern ausgefallen. Für sie ein
Verlust, der fast noch schwerer zu ertragen war als das
Fehlen der Kopfhaare. »Es ist eine Nacktheit der ganz
­besonderen Art, fast unerträglich.«
Zwar gibt es viele Kosmetik-Kurse speziell für KrebsPatientinnen, doch viele wissen das nicht und versuchen,
mithilfe von Kajal, Mascara oder Lidschatten die fehlenden Gesichtshaare wieder herbeizuzaubern. »Das Thema
Aussehen überhaupt kommt in der Krebsberatung zu kurz«,
sagt Karla Wittenstein. »Dabei ist das wesentlich für das
eigene Wohlbefinden. Während der Chemo geht es ­einem
zwischendurch wirklich sehr schlecht. Wenn man aber in
den Spiegel guckt und man ist trotzdem hübsch zurechtgemacht, gibt einem das ein gutes Gefühl.«
Friederike Geisler,
Stabsstelle Kommuni­
kation beim MDK
Niedersachsen. [email protected]
Interview mit Prof. Dr. Rupert Gerzer
Mission: Possible
M a r s 5 0 0 – Die bisher längste Weltraumsimulation will die Auswirkungen von langer Isolation auf die Gruppendynamik der »Astronauten« untersuchen. Den »Flug zum Mars« nutzt das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
auch, um Erkenntnisse über Salzhaushalt, Blutdruckregulation und Knochenstoffwechsel des Menschen zu erhalten.
MDK Forum Herr Professor Gerzer,
Sie leiten das Institut für Luft- und
Raumfahrtmedizin beim dlr. Was
genau ist der Zweck Ihrer Versuche?
Prof. Rupert Gerzer Mit kooperierenden Forschern aus deutschen
Kliniken untersuchen wir Gruppendynamik und psychophysiologische
Leistungsfähigkeit der Crew und wie
sich Astronauten im Krankheits- oder
Notfall versorgen können. Eine
weitere Gruppe beschäftigt sich da­
mit, wie sich Mikrobiologie und
Gesundheit einer Crew in geschlossenen Systemen entwickeln. Außerdem werden Salz- und Flüssigkeitshaushalt, Blutdruckregulation und
Knochenstoffwechsel beobachtet.
MDK Forum Je mehr Salz man zu sich
nimmt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man eines Tages
an Bluthochdruck leidet. Werden zu
dieser These neue Aspekte erwartet?
Gerzer Wir wollen wissen, was man
für die Medizin an neuen Erkenntnis­
sen gewinnen kann. In diesen Fragen
haben wir uns eng mit anderen
19
weitblick
m d k forum 3/10
Wissenschaftlern zusammengeschlossen, zum Beispiel mit Prof. Jens
Tietze von der Uni Erlangen. Wir
fragen uns, was passiert, wenn man
unter definierten Bedingungen dem
normalen Menschen unterschied­
liche Salzmengen gibt. Jeder Doktor
sagt: Esst wenig Salz, sonst gibt es
Probleme mit dem Blutdruck. Der
wiederum kann Schlaganfall und
andere Probleme verursachen. Aber
den Beweis, dass viel Salz wirklich
hohen Blutdruck beim Menschen
verursacht, haben wir noch nicht.
Die Astronauten erhalten während
des Testes drei unterschiedliche
Salzdiäten. Da gibt es zwei Forschungsrichtungen. Erstens: Wie
wirkt sich das Salz auf den Blutdruck
und zweitens auf die Knochen aus?
Vor einigen Jahren haben wir bei
Astronauten in der Erdumlaufbahn
festgestellt, dass es mit dem Salzhaushalt Phänomene gibt, die nicht
im Lehrbuch stehen. Das heißt für
uns: Die Regulation des Salzhaus­hal­
tes ist bis jetzt nicht richtig verstanden. In Laborversuchen haben wir
auch festgestellt, dass hoher Salz­­
konsum den Knochenabbau fördert.
Hoher Salzverzehr ist für den
Knochenabbau schädlicher als lange
Ruhezeiten im Bett. Eine Langzeitstudie, bei der festgehalten und
kontrolliert wird, wie viel Salz die
Probanden genau zu sich nehmen,
gab es bisher noch nicht. Vorstellbar
ist, dass der Effekt von Salz auf den
Blutdruck sogar noch höher ist,
als wir bisher angenommen haben.
Prof. Dr. Rupert Gerzer
MDK Forum Hätte man das nicht
auch in einem klinischen Verfahrens
überprüfen können?
Gerzer Die Kosten für solch eine
Studie sind extrem hoch. Wir haben
jetzt den Vorteil, dass wir die Umgebung der Weltraum-Simulation nutzen
können. Auf diese Weise sind die Kos­­
ten für uns nicht annähernd so hoch.
MDK Forum Ein Hauptproblem in
der Raumfahrtmedizin ist ja die
­Knochenproblematik. So besteht die
Vermutung, dass der erste Mensch,
der einen Fuß auf den Mars setzt, sich
diesen auch gleich brechen wird,
weil das Skelett auf der Reise
entkalkt wird. Wie könnte man so
eine Situation untersuchen?
Gerzer So problematisch ist es
glücklicherweise nicht. Mittlerweile
wissen wir, wie die Astronauten
trainieren müssen, damit der Kno­
chenabbau so weit wie möglich
unterdrückt wird. Ganz aufzuhalten
ist er aber dennoch nicht. Er
konzentriert sich jedoch auf die
Teile des Körpers, die in der Schwerelosigkeit entlastet werden. Es gibt
auch einen Unterschied zur Osteoporose, die vor allem ältere Menschen betrifft. Der Knochenabbau
bei Astronauten ist eher mit dem
Knochenabbau zu vergleichen, der
eintritt, wenn man immer nur im Bett
liegt. Trotz Training gibt es immer
noch Bereiche des Körpers, bei
denen der Knochenabbau bis zu 2%
im Monat voranschreiten kann.
Die Überlegung ist jetzt, dass für
das Training – bisher haben sich die
Astronauten mit Laufband, Fahr­
radergometer oder Gewichtheben
getrimmt – neue Methoden her­
müssen. Eine dieser neuen Methoden ist die Herstellung von künst­
licher Schwerkraft in der Raum­
station. Mittels einer Zentrifuge, die
den Astronauten in Bewegung setzt,
ihn dreht. Wenn dazu noch ein
wenig Ausdauertraining kommt,
könnte das dem Knochenabbau
entgegenwirken.
MDK Forum Lassen sich bei diesen
Forschungen auch Rückschlüsse für
Patienten außerhalb der Raumfahrt
ziehen?
Gerzer Es gibt schon einige Anwen­
dungen von Forschungsergebnissen
in der Medizin. Zum Beispiel bei Kin-
dern mit Knochen- bzw. Stabilitäts­
problemen, wie der Glasknochenkrankheit oder Fehlbildungen. Solch
ein Projekt wird an der Uniklinik in
Köln durchgeführt und von einer
großen Krankenkasse unterstützt.
Womöglich lässt sich die Idee der
Bewegungszentrifuge für die
Rehabilitation von Patienten, die
lange bettlägerig waren, nutzen.
MDK Forum Die Uni Mainz führt bei
Mars 500 Tests zur medizinischen
Selbstversorgung durch. Bekommen
die Astronauten eine Art Schnitt­
musterbogen mit, wie sie sich selbst
helfen können?
Gerzer Hier geht es auch um
telemedizinische Betreuung bzw.
Telepräsenz, die generell für die
medizinische Versorgung in Zukunft
von Bedeutung sein wird. Zum
Beispiel: Wie bekommt der Astronaut den nötigen Rat von seinem
Computer? In der Vergangenheit
wurde der Patient zur Expertise
gebracht. In Zukunft wird es darum
gehen, wie kommt die Expertise
zum Individuum, damit es möglichst
erst gar nicht zum Patienten wird.
Die Fragen stellten Dr. Uwe Sackmann und Martin Dutschek
Das Mars-500-Experiment
Beim Mars-500-Experiment des russischen Instituts für Biomedizinische
Probleme ( ibm p ), der europäischen
Weltraumorganisation e sa und des
Deutschen Zentrums für Luft- und
Raumfahrt ( d l r ) werden der Flug zum
Mars, die Landung und anschließende
Rückkehr zur Erde simuliert. Mit Ausnahme von Schwerelosigkeit und Strahlung
werden die Bedingungen im All möglichst real simuliert. Die Crew erlebt
Isolation, Verpflegung und Notfälle wie
bei einer realen Langzeitmission.
Während der 520 Tage dauernden
Simulation sind allein rund 100 Versuche
in den Bereichen Psychologie und
Psychophysiologie, klinische Diagnostik,
Physiologie und Mikrobiologie geplant.
Mit insgesamt 11 Projekten ist das
Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum ( D L R ) am längsten Isolationsversuch der
Geschichte beteiligt.
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weitblick
m d k forum 3/10
Body Integrity Identity Disorder
Verstümmelt endlich glücklich
B e v o r B e r n d H . i n d e n S u p e r m a r k t g e h t , plant er immer eine halbe Stunde Extra-Zeit ein. Denn er muss
sich präparieren. Mit geübtem Griff nimmt er sein rechtes Bein in die Hand. Das Klebeband hat er schon parat.­
Zwei, drei Runden um die Hüfte, dann sitzt der Fuß fest am Gesäß und der Geschäftsmann kann in seine eigens angefertigte Ein-Bein-Hose steigen. Jetzt noch die Krücken und im Spiegel erscheint das perfekte Abbild eines Amputierten.
Das ist der Moment, in dem sich ein Glücksgefühl in
Bernd H. ausbreitet. Denn was für andere Menschen unvorstellbares Leid bedeutet, ist für ihn das Idealbild seines Körpers. Bernd leidet unter Body Integrity Identity
Disorder (biid). Ein selten vorkommendes und noch
­wenig erforschtes Phänomen,
B I I D betrifft meist
das seinen Namen im Jahr 2004
von dem New Yorker Psychiater
Menschen mit gehobenem
Michael First erhielt. AbgesicherBildungsstand
te Zahlen zur Häufigkeit von biid
gibt es bislang nicht. Die deutsche biid-Homepage hat
zzt. rund 150 Mitglieder, Forscher schätzen die Prävalenz
weltweit auf mehrere Tausend. Die Betroffenen fühlen
sich fremd in ihrem gesunden Körper und wünschen sich
die Amputation von einem oder mehreren Gliedmaßen,
eine Lähmung oder sogar die Erblindung.
Sie nennen sich selbst »Wannebes« – Möchtegerns,
­abgeleitet aus dem engl. »Want to be« – und mit dem so­
genannten »Pretending« versuchen sie im Vorfeld ein
­Gefühl der erwünschten Beeinträchtigung zu erzeugen.
So wie Bernd H. sich zum Einbeinigen macht, versuchen
andere mit der Benutzung eines Rollstuhls oder einer Prothese so zu tun, als sei die gewünschte Behinderung vorhanden.
Ursachen unerforscht
Prof. Dr. Erich Kasten vom Institut für Medizinische Psychologie an der Universität zu Lübeck beschäftigt sich
seit vielen Jahren mit biid. »Umfangreiche psychologische Tests haben ergeben, dass es bei biidlern keine
Korrelationen mit irgendwelchen Psychosen oder Neurosen gibt und die Betroffenen meist geistig und seelisch gesund sind.«
Auch Heike S. führt nach außen hin ein ganz normales
Leben. Doch die Ingenieurin wünscht sich seit ihrer Kindheit nichts sehnlicher, als zu erblinden. »Es geht mir nicht
um das Mitleid der anderen. Ich möchte auf gar keinen
Fall, dass mir jemand hilft. Mich reizt die Herausforderung, mit der Behinderung leben zu können. Ich weiß,
dass ich das schaffen kann.«
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weitblick
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biid betrifft zumeist Menschen mit einem gehobenen aber von einem Körperteil auf ein anderes wechselte.«
Bildungsstand. »Diese Menschen sind intelligent, ehrgeiEin weiterer Aspekt, der sich mit einer neuronalen Dyszig, sportlich und überwiegend männlich Sie sehen Behin- funktion schlecht erklären lässt, ist, dass viele Betroffene
derte als ›Helden‹ an, die die extremen Einschränkungen Stümpfe erotisch finden. Nach Daten von Erich Kasten
spielt die sexuelle Komponente bei einem Drittel der Bemeistern«, weiß Prof. Erich Kasten.
Über die tatsächlichen Ursachen von biid rätseln die fragten gar keine Rolle, bei einem weiteren Drittel eine
Fachleute. Auf der Basis der bislang gefundenen Daten untergeordnete und beim letzten Drittel eine erhebliche
entwickelte Professor Kasten ein multikausales Model, Rolle.
das auf der Theorie beruht, dass sich biid aus drei Komponenten zusammensetzt: dem Wunsch, behindert zu
Medizinische Hilfe abgelehnt
sein, einer minimalen neurologischen Schädigung und Das Amputieren gesunder Gliedmaßen verstößt gegen
einer erotischen Komponente.
den hippokratischen Eid, deswegen befinden sich biidler
biid wurde zunächst als psychotisch, als Form von Fe- oft in einer für sie ausweglosen Situation. Denn finden
tischismus oder Zwangsstörung eingestuft. Das Ergebnis sie keinen Arzt, der die Verstümmlung mit medizinischem
der Studie von Prof. First in den usa an 52 Betroffenen Sachverstand durchführt, greifen die Betroffenen in Ex­
­widersprach diesen Annahmen. Die Symptomatik tritt trem­fällen irgendwann selbst zur Elektrosäge, schießen
schon im Kindesalter auf. Dies unterscheidet sie von sich mit einer Waffe ins Knie,
Psychotikern, bei denen eine Selbstamputation akut im legen Gliedmaßen zum AbsterBetroffene streben
schizophrenen Schub erfolgt. biidler leiden dagegen ben stundenlang in Trockeneis
Aufnahme der Krankheit
oft jahrzehntelang unter ihrem Wunsch und sehen ein, oder täuschen Unfälle im Ausin die I C D an
dass ihre Begierde anormal ist. Sie sind bemüht, diesen land vor. Sie hoffen, dass biid
Wunsch nicht in die Realität umzusetzen. Entsprechend in die internationale Klassifikation der Krankheiten icd
aufgenommen wird. Aber auch dann bleibt es sicher
wurde das Vorliegen einer Wahnerkrankung verneint.
Auch einer körperdysmorphen Störung entsprechen schwierig, Ärzte zu finden, die diese Eingriffe vornehmen.
biid-Betroffene nicht, da diejenigen, die eine Amputation
erreichen konnten, künftig offenbar zufrieden sind und
Heilungschancen ungewiss
keinesfalls die Entfernung weiterer Körperteile wünschen. »Es ist bislang kein Fall einer dauerhaften Heilung von
­ iid ohne Amputation bekannt«, erklärt Prof. Kasten.
Die meisten der von Erich Kasten untersuchten Betrof- b
fenen können den gewünschten Amputationsstumpf »Medikamente haben bis jetzt keinen Nutzen gebracht,
­exakt fühlen. »Theorien für die Entstehung von biid be­ außer in Phasen extremer Depression. Serotoninwiedersagen, dass der Betroffene das Körperteil zwar normal aufnahmehemmer haben nach Berichten Betroffener eine
­bewegen und fühlen kann, es aber mangelhaft in die Verbesserung des seelischen Befindens bewirkt, aber die
­hirnorganische Gesamtreprä- Sehnsucht nach den Körperveränderungen verstärkt
Das Amputieren gesunder
sentation des eigenen Körpers und die Hemmungen vor einer Verwirklichung deutlich
eingebunden ist. Ein in bild- gemindert.« Psychotherapien können helfen, mit den mit
Gliedmaßen verstößt gegen
gebenden Verfahren nachweis- ­b iid verbundenen Belastungen, Schuld- und Scham­
den hippokratischen Eid
barer Hirnschaden liegt je- gefühlen und Unsicherheiten besser umzugehen und das
doch nicht vor. Hypothetisch angenommen werden könnte angegriffene Selbstwertgefühl zu verbessern.
Die Lübecker Universität plant derzeit eine Therapieeine diffizile Störung im embryonalen oder fötalen Stadium
der Entwicklung. Die Betroffenen fühlen sich dadurch studie. »Bevor jemand zum Skalpell greift«, so sagt Erich
erst ›komplett‹, wenn das Äußere dem inneren Selbstbild Kasten, »müssen wir wissen, ob und in welchem Ausmaß
eine Psychotherapie den Betroffenen helfen kann.« Bisentspricht.«
Eine weitere Ursache könnte eine Schädigung im Be- lang gibt es dazu keine standardisierte Studie. Denkbar
reich der temporoparietalen Junktion sein. Hier fließen wäre, mit körperorientierten Therapieverfahren eine Inte­
sensorische Informationen des Körpers zusammen. Stu- gration des abgelehnten Körperteils in das Gesamtbewusst­
dien unterstützen die Theorie, dass Veränderungen des sein zu fördern. Möglicherweise lassen sich mit verhaltens­
Körperschemas eventuell auf eine Dysfunktion dieses therapeutischen Techniken auch Gedanken an die AmpuHirnteils zurückgeführt werden können.
tation allmählich ausblenden. »Immerhin«, so sagt Erich
Dennoch hält der Prof. Erich Kasten biid nicht für eine Kasten, »haben wir in den letzten Jahren große Fortschritrein neurologisch bedingte Störung. »Bei einer neuro­ te gemacht. Die meisten biidler sind sehr wissenschaftsnalen, hirnorganischen Dysfunktion müsste sich eine freundlich, da sie sich ihren Drang nach Amputation
verminderte Implementierung des jeweiligen Körperteils selbst nicht erklären können und bereit sind mitzuhelfen,
eher schräg um den entsprechenden Körperteil wickeln. die Ursachen zu finden.«
Der Amputationswunsch richtet sich aber an dem aus,
was man üblicherweise als Bild einer unfallbedingten
Amputation vor Augen hat. Zudem müsste er sich auch
­lebenslang auf dasselbe Bein beziehen. WidersprüchBurga Torges ist
lich dazu gibt es Fälle, bei denen die Präferenz z. B. für
Mitarbeiterin im
das zu amputierende Bein von rechts auf links, niemals
Fachgebiet Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des mds.
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19-Jährige gründet MS-Stiftung
Wie eine Watsche ins Gesicht
M i t 1 9 J a h r e n e r h ä l t N a t h a l i e T o d e n h ö f e r die Diagnose multiple Sklerose (MS). Doch anstatt vor der un­­­heil­
baren Krankheit zu kapitulieren, gründet sie mithilfe ihres Vaters, des ehemaligen Burda-Managers und CDU-Politikers
Jürgen Todenhöfer, die Nathalie-Todenhöfer-Stiftung. Sie bietet MS-Patienten Beratung und finanzielle Hilfen an.
Startkapital und Geschäftsbeziehungen zur Verfügung
stellt. »Die Arbeit der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft ist sehr gut, weil die Betroffenen dort gut beraten
werden. Allerdings brauchen Menschen mit ms oft auch
finanzielle Hilfe.« Seit 2006 besteht die Nathalie-Todenhöfer-Stiftung. In der Woche melden sich bis zu einhundert Betroffene bei ihr. Die Stiftung berät und hilft bei
konkreten Problemen, wie zum Beispiel dem behindertengerechten Umbau eines Badezimmers oder der Finanzierung eines Elektro-Rollstuhls.
Krankheit mit 1000 Gesichtern
Ursprünglich hatte Nathalie Todenhöfer nach dem Abitur
auf einem englischen Internat ein Studium in Mailand
­geplant. Doch auf dem Weg zur Einschreibung an der italienischen Uni knicken ihr die Beine weg. Zunächst lebt
sie normal weiter in Italien. Doch nach einiger Zeit wird
sie schwächer und sucht einen Arzt auf, der ihr die Dia­
gnose stellt: multiple Sklerose. »Mein erster Gedanke war:
Okay, ich habe eine Krankheit, nehme Medikamente dagegen und dann geht das schon«, erzählt die mittlerweile
25-Jährige. »Doch an der Reaktion meiner Freunde habe
ich erkannt, was die Diagnose für mich bedeutet.«
Sie informiert sich über ms im Internet. »Das war ein
großer Fehler. Dort schreiben nämlich nur Menschen,
­denen es richtig schlecht geht. Und so hat man schnell
das Gefühl, bald auch im Rollstuhl sitzen zu müssen.«
In der Zeit danach durchlebt Nathalie Todenhöfer die
ganze Bandbreite der ms: Von Lallen über Taubheit bis
hin zu Kraftlosigkeit in den Beinen. Von den Medikamenten bekommt sie starke Kopfschmerzen und muss ihr
Studium in Mailand abbrechen. »Ich musste akzeptieren,
dass sich mein Leben nun ändert, das war nicht einfach.«
Heute geht es Nathalie Todenhöfer verhältnismäßig
gut. Mithilfe eines weiteren Medikaments konnte sie ihre
Schübe unterdrücken. Zwar wird sie schnell müde und ist
schwach auf den Beinen. Ansonsten sieht man der jungen
Frau die Krankheit jedoch nicht an.
Anlaufstelle für bis zu 100 Betroffene pro Woche
Im Kontakt mit anderen ms-Patienten wird Nathalie
­Todenhöfer deutlich, dass viele körperlich stark eingeschränkt sind und Hilfe benötigen. Deshalb gründet sie
eine Stiftung mit der Unterstützung ihres Vaters, der das
Nathalie Todenhöfer sieht bei ihrer Arbeit mit anderen
Betroffenen fast täglich, wie ihr Leben in einigen Jahren
aussehen könnte. So hat sich gleich zu Anfang eine gleichaltrige Frau gemeldet, die von mehreren schwerwiegenden Symptomen betroffen war, starke Schmerzen hatte,
blind war und weder reden noch schlucken konnte. »Sie
hatte dennoch ihren Lebenswillen nicht verloren«, sagt
die Münchnerin. Darüber nach­zudenken, was ihr selbst
in zehn oder zwanzig Jahren passieren könnte, versucht
Nathalie Todenhöfer nicht. »Es bringt ja nichts, der Verlauf der Krankheit ist nicht voraussagbar. Deshalb nennt
man ms ja auch die Krankheit mit den 1000 Gesichtern.«
Nathalie Todenhöfer hat die Erfüllung in der Arbeit für
die Stiftung gefunden. »Manchmal ist es wie eine Watsche
ins Gesicht, wenn man sieht, wie schlecht es anderen
geht. Dann bin ich dankbar dafür, dass ich noch einigermaßen normal leben kann.«
Friederike Geisler
Multiple Sklerose – wer ist betroffen?
Rund 120 000 Menschen in Deutschland sind von M S betroffen;
jährlich werden 2500 neu diagnostiziert. Weltweit sollen es Schätzungen zufolge 2,5 Millionen Menschen sein.
Die Erkrankungshäufigkeit steigt mit der geografischen
Entfernung vom Äquator. Frauen erkranken doppelt so häufig
wie Männer. Die Erkrankung wird in der Regel zwischen dem dreißigsten und dem vierzigsten Lebensjahr festgestellt,
seltener tritt sie auch schon im Kindes- und Jugendalter
auf. Erst­diagnosen nach dem sechzigsten Lebensjahr sind die
Ausnahme. www.nathalie-todenhoefer-stiftung.de
23
gesundheit und pflege
m d k forum 3/10
Interview mit Prof. Dr. Jürgen Windeler zu Neuregelungen auf dem Arzneimittelmarkt
»Ein kluger Schritt«
W e n n d a s A r z n e i m i t t e l m a r k t n e u o r d n u n g s g e s e t z (AMNOG) wie geplant in Kraft tritt, kommen auf das ­Institut
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln neue Aufgaben zu. Über die Reform und die
sich daraus ergebenden Herausforderungen sprachen wir mit dem neuen Leiter des IQWiG, Prof. Dr. Jürgen Windeler.
MDK Forum Herr Professor
­ indeler, Ihr Start beim iqwig am
W
1. September geht mit einem der
stärksten regulativen Eingriffe in
den Arzneimittelmarkt einher. Was
sind aus Ihrer Sicht die zentralen
Neuerungen des Gesetzentwurfes
zum Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz?
Prof. Dr. Jürgen Windeler Es ist zum
einen der erste Versuch seit vielen
Jahren, nach den sogenannten
Transparenzkommissionen für
Arzneimittel und den zwei gescheiterten Entwürfen für Positivlisten
zu einer systematischen Nutzen­
bewertung zu kommen – unter
vielleicht deutlich besseren Rahmenbedingungen. Und die zweite
Neuerung ist die Offenlegung von
Studien und die Offenlegung der
Ergebnisse. Die Nutzenbewertung
ist zwar auf neu zugelassene bzw.
in der Zulassung geänderte Arznei­
mittel beschränkt. Man kann sich
aber leicht auch eine entsprechende
Bewertung für andere Arzneimittel
vorstellen.
MDK Forum Kommen wir zur
Offenlegung der Studien …
Windeler Das ist eine große
Errungenschaft und Ergebnis der
Diskussion der letzten Jahre. Damit
haben wir dann wirklich die Chance,
strukturierte und qualitätsgesicherte
Informationen über alle laufenden
Studienprojekte und deren Schicksal
zu erfahren. Das wird Institutionen
wie dem iqwig und dem Medizi­
nischen Dienst die Bewertungen
erleichtern, weil sie so an umfassende
Informationen zu bestimmten
Arzneimitteln kommen können.
MDK Forum Wie beurteilen Sie
den vorgesehenen Mechanismus
zur Preisbildung?
Windeler Bemerkenswert am
amnog ist doch der vorgesehene
Ablauf: Zuerst erfolgt die Bewertung
des Nutzens auf Basis der Methoden
der evidenzbasierten Medizin und
gemessen an patientenrelevanten
Kriterien. Dann erst wird über Preise
entschieden – und zwar ohne
explizite Kosten-Nutzen-Bewertungen.
Wo ein Zusatznutzen nicht belegt ist,
braucht man auch keine weiteren
Preisverhandlungen zu führen. Wo
der Zusatznutzen belegt ist, führt
man dann eben Preisverhandlungen.
Was man dann für die Preisver­
handlungen zugrunde legt, das würde
ich den Verhandlungsparteien
über­lassen. Ich halte viel von der
­Entscheidung, einen eher kleinen
Schritt, aber eben doch einen
deutlichen Schritt zu gehen.
MDK Forum Und die Rolle der
Kosten-Nutzen-Bewertungen?
Windeler Kosten-Nutzen-Bewer­
tungen sind eine gute Idee, aber die
Umsetzung dieser Idee hat bis zum
heutigen Tag nicht zu einer einzigen
Entscheidung geführt. Denn der
Gemeinsame Bundesausschuss
(g-ba) hat keine Erfahrungen mit
Entscheidungen, die auf Kosten-­
Nutzen-Bewertungen beruhen. Und
die Politik ist auch nicht darauf
vorbereitet. Mit dem amnog werden
die Kosten-Nutzen-Bewertungen
folgerichtig in ihrer Bedeutung
zurückgefahren. Sie kommen erst
in zweiter Linie zum Einsatz,
zum Beispiel dann, wenn bei einem
Arzneimittel ein Zusatznutzen
festgestellt wird, die Beteiligten
sich in den Preisverhandlungen
aber nicht einigen können.
MDK Forum Geplant ist, dass PharmaHersteller zur Marktein­führung
eines neuen Medikaments ein
Dossier vorlegen, das den Nutzen
bzw. Zusatznutzen gegenüber
einer Vergleichstherapie belegt. Die
Bewertung durch das iqwig soll
dann innerhalb von drei Monaten
vorliegen. Wie praktikabel ist ein
­solches Vorgehen?
Windeler Ganz entscheidend
werden die Anforderungen sein, die
inhaltlich, formal und strukturell
an das Hersteller-Dossier gestellt
werden. Das amnog sieht vor, dass
der g-ba in seiner Verfahrensordnung wesentliche Inhalte und
Eckpunkte für das Dossier und auch
das Verfahren insgesamt beschreiben
soll. Der g-ba hat bis Ende Januar
2011 Zeit, diese Anforderungen zu
formulieren. Ich gehe davon aus,
dass an der Erarbeitung der Verfahrensbeschreibung das iqwig
beteiligt wird. Übrigens gibt es erste
Äußerungen, dass Hersteller sich
aktiv auf die neue Situation einstellen
und bereits an Dossiers arbeiten.
MDK Forum Können Hersteller
wie auch schon in der Vergangenheit
negative Studien unter den Tisch
fallen lassen?
Windeler Die Gefahr besteht –
ohne Zweifel. Und wenn das passiert,
­müssen wir natürlich darauf
reagieren. Trotzdem: Das Konzept
ist gut und allemal wert, ausprobiert
zu werden. Die Nutzenbewertung
an sich ist deutlich gestärkt worden.
MDK Forum Es scheint so, als ob
viele Forderungen der Kassenseite
und des iqwig erfüllt seien. Gibt es
überhaupt noch etwas, was noch
offenbleibt?
Windeler Ich bin überzeugt, dass
das amnog ein großer und in der
Ausgestaltung auch kluger Schritt
ist. Natürlich kann man sagen, man
möchte zum Beispiel sicherstellen,
dass die Hersteller-Dossiers mit der
Nutzenbewertung veröffentlicht
werden. Hierzu fehlt eine Regelung
im amnog. Man kann also noch
mehr Transparenz, noch mehr
Offenheit über das, was den Nutzen-
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m d k forum 3/10
gesundheit und pflege
bewertungen zugrunde liegt,
fordern. Trotzdem: Ich kann mit dem,
was jetzt drinsteht, sehr gut leben.
Dass das amnog wie jedes andere
Gesetz Ausweichstrategien zulässt
– entweder bewusst zulässt oder aber
offenlässt – das ist einfach so. Man
kann das nicht bis zum Exzess regeln.
MDK Forum Welche Ausweich­
strategien sind das?
Windeler Vorstellbar ist, dass ein
Hersteller einen Zusatznutzen gar
nicht erst reklamiert und sich damit
einer Nutzenbewertung entzieht.
Er erhält dann zwar nur einen
Fest­­­­betrag, aber niemand bekommt
wirklich mit, dass er ein vergleichsweise schlechtes Präparat, mög­
licherweise sogar schlechter als
Vergleichspräparate, auf den Markt
gebracht hat. Hiervor bietet das
amnog keinen Schutz durch eine
systematische Bewertung.
Denn: In erster Linie geht es um
die Preisgestaltung – und das ist der
kleine Haken an der Sache. Der Kern
einer Nutzenbewertung ist sehr zu
begrüßen, aber es ist nicht so, dass
jedes Medikament einer Nutzen­
bewertung unterzogen wird. Und es
ist auch nicht so, dass die Nutzen­
bewertung über den Marktzugang
generell entscheidet, wie man es
sich bei dem Begriff der sogenannten
vierten Hürde eigentlich vorstellt.
Es geht »nur« um die Preisgestaltung
danach. Unter diesem Aspekt gibt es
bestimmte Ausweichmöglichkeiten,
die man im Auge behalten muss.
Prof. Dr. Jürgen Windeler
MDK Forum Wie schätzen Sie die
Umsetzungschancen des amnog ein?
Windeler Positivlisten sind bisher
immer in letzter Minute gescheitert.
Das kann ich auch hier nicht
ausschließen. Sie sind an der
Auffassung der Länder gescheitert,
dass mittelständische Unternehmen
von einer Positivliste besonders
betroffen sein würden. Anders gesagt:
Sie sind gescheitert an dem Interesse
der Industrie, das sich die Bundesländer zu eigen gemacht haben. Dies
sagt zwar auch etwas über die
Produkte dieser Unternehmen, macht
im Übrigen aber vor allem die Inter­­
essen der Länder deutlich: Arbeitsplätze. Hier besteht auch zukünftig
das Risiko, dass Regelungen verhindert werden, die für die Patienten
und das Gesundheitssystem von Vorteil wären. Die Global Player werden
sich nach kurzer Zeit damit abfinden, weil sie ein solches Verfahren
aus ­anderen Ländern kennen.
MDK Forum Wenn das amnog wie
geplant also zum 1. Januar 2011 in
Kraft tritt, dann hat das iqwig auf
jeden Fall viele und vielfältige neue
Aufgaben. Wie stellen Sie sich
als neuer iqwig-Chef darauf ein?
Windeler Die neuen Aufgaben sind
natürlich schon alte Aufgaben des
iqwig – allerdings in neuer Aus­
gestaltung. Die fachliche Kompetenz
und die Kompetenz bezogen auf
bestimmte Verfahrensabläufe ist
also vorhanden. Es wird jetzt die
besondere Herausforderung sein,
die gesetzlich vorgesehene Bear­bei­
tungszeit von drei Monaten einzuhalten. Zum Vergleich: Die derzeitige
Bearbeitungszeit beim iqwig liegt
bei 18 Monaten. Aber das amnog
nimmt u. a. Anhörungs­­ver­fahren aus
der vorgesehenen Drei­monatsfrist
heraus. Genau diese haben bisher
entscheidende zeitliche Ressourcen
beim iqwig in Anspruch genommen.
Sie werden demnächst vorher und
hinterher im Gemeinsamen Bundesausschuss stattfinden.
Außerdem: Mit der Verpflichtung
der Hersteller, Dossiers vorzulegen,
werden andere Arbeitsschritte,
die das iqwig bisher selber gemacht
hat, auf die Hersteller verlagert.
Insofern gibt es gute Chancen, die
drei Monate für diese innovativen
neu zugelassenen Arzneimittel auch
zu realisieren. Klar ist aber schon
jetzt: Mit dem derzeitigen Personal,
mit den derzeitigen Ressourcen ist
das nicht zu realisieren.
MDK Forum Drei Monate – das klingt
ein wenig nach »quick and dirty«?
Windeler Ich glaube nicht. Der
Hersteller legt ein Dossier mit den
Inhalten vor. An dieses Dossier – und
das ist der entscheidende Punkt –
sind Anforderungen zu stellen, die
dann eine fundierte Bewertung
ermöglichen. Auf gar keinen Fall
darf man tolerieren, dass Anbieter
einem möbelwagenweise Leitz­
ordner vor die Tür kippen.
Außerdem können wir die Bewertung sehr eng an der Zulassung
machen und damit zusätzlich zu den
Herstellerdossiers auf Zulassungsunterlagen zurückgreifen. Das
ist auch im amnog so angedacht.
Wünschenswert wäre auch der
Zugriff auf europäische Zulassungsbehörden. Und natürlich hat bis
zu dieser Nutzenbewertung die
Erprobung dieses Medikamentes
noch in einem vergleichsweise
engen Feld stattgefunden. Das heißt,
der Hersteller hat noch einen guten
Überblick. Alles zusammen sind dies,
glaube ich, gute Voraussetzungen,
dass das »quick« gehen kann – und
dieses »quick« muss nicht »dirty« sein!
MDK Forum Wo wollen Sie im iqwig
weitere Schwerpunkte setzen?
Windeler In Deutschland unter­
ziehen wir Arzneimittel einer sehr
weitreichenden Bewertung in
verschiedenen Dimensionen. In
anderen Bereichen schauen wir nur
oberflächlich oder gar nicht hin!
Das gilt zum Beispiel für Diagnostik
oder bestimmte Medizinprodukte,
aber auch für Operationsverfahren
oder für Psychotherapien. Ich werbe
explizit im Interesse der Patienten
dafür, dass auch in anderen Bereichen
die Prinzipien der Nutzen­bewertung
eingeführt und ernst genommen
werden! Dieses Institut macht mehr
und soll mehr machen als nur
Arznei­­mittelprüfung.
Das Gespräch führte
Christiane Grote
gesundheit und pflege
m d k forum 3/10
Arztbewertung im Internet:
Check your Doc!
Im I n t e r n e t g i b t e s z u n e h m e n d P o r t a l e , auf denen Patienten ihren Arzt oder ihre Ärztin bewerten können.
Doch wie steht es um die Qualität dieser Internetangebote selbst, was können sie leisten und wie aussagekräftig
sind die Bewertungen? Diese und weitere Fragen hat der Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement der Universität
­Erlangen-Nürnberg untersucht. Dr. Martin Emmert gehörte dem Studienteam an und berichtet hier über die Ergebnisse.
Arztbewertung im Internet? Ein Thema, von dem man
noch vor einiger Zeit gedacht hätte, so etwas würde es
nicht geben. Wohl auch ein Indiz dafür, dass der »Halbgott in Weiß« zunehmend kritischer betrachtet wird. Dass
durchaus erhebliche Unterschiede in der medizinischen
Leistungsfähigkeit der Ärzteschaft bestehen, bestreiten
ja nicht einmal Mediziner selbst. Daher ist das Bemühen
um mehr Transparenz durchaus zu begrüßen. Für den
­Patienten soll es einfacher werden, einen guten Arzt zu
finden, und die Ärzte selber sollen zu einer besseren Leistungserbringung motiviert werden. Da bislang wenige
Untersuchungen zu dem Thema vorhanden sind, wird
im Folgenden ein kurzer Überblick über relevante Fragestellungen gegeben.
Derzeit dürfte es in Deutschland etwa zwanzig Arztbewertungsportale geben. In unserer 2009 veröffentlichten
Studie »Arzt-Bewertungsportale im Internet: Eine qualitative Betrachtung«, haben wir 15 Portale identifiziert. Seitdem sind neue Portale hinzugekommen, erste Übernah-
men fanden statt und erst kürzlich hat das Pionierportal
Helpster seine inhaltliche Ausrichtung geändert.
Auch wenn auf einigen Portalen einige wenige Ärzte
­bereits eine hohe Anzahl an Bewertungen aufweisen, so ist
für die große Mehrheit erst eine bzw. noch keine Bewertung
vorhanden. Damit weisen die Portale einen eingeschränkten Nutzen für Patienten auf, die nach Bewertungen für
ihren Arzt suchen.
Können Portale tatsächlich Qualität identifizieren?
Da die Definition eines »guten Arztes« sehr kontrovers
­diskutiert wird, haben wir untersucht, inwieweit Arzt­
bewertungsportale dabei helfen können, eine gute Arzt­
praxis zu finden. Dafür wurden die einzelnen – unterschiedlich umfangreichen – Fragenkataloge der Portale
mit 11 Kriterien abgeglichen, die das Ärztliche Zentrum
für Qualität in der Medizin (äzq) zum Erkennen einer
­guten Arztpraxis aufgestellt hat. Hat ein Portal ein Kriterium voll erfüllt, bekam es dafür in unserer Untersuchung
25
26
m d k forum 3/10
gesundheit und pflege
zwei Punkte, maximal konnten 22 Punkte erreicht wer- ­Ernährung hören und nicht wenige Ärzte klagen über Paden. Das Ergebnis fiel überwiegend ernüchternd aus. Das tienten, die bereits bei den ersten Schluckbeschwerden
mit zehn Punkten am besten bewertete Portal von Med- ein Antibiotikum verschrieben haben möchten. Fällt die
führer deckte die Qualitätskriterien des äzq zu 45,5% ab, Entscheidung des Arztes dann nicht so aus wie vom Patiden zweitbesten Wert erzielte das Portal von Docinsider enten gewünscht, wenn auch vom medizinischen Stand(32%) mit sieben Punkten.
punkt gerechtfertigt, kann dies zu Unzufriedenheit fühDie meisten Portale fokussierten sich dabei auf ähn­ ren, die sich auf einem Portal negativ widerspiegeln könnliche Aspekte, wie die respektvolle Behandlung durch te. Und das, obwohl es genau andersherum sein müsste.
den Arzt bzw. das Praxispersonal oder die Erreichbarkeit
des Arztes und der Arztpraxis. Ob ein Patient Hinweise auf
Welchen Nutzen haben Mediziner
weiterführende Informationsquellen und Beratungsange­
und Patienten von Bewertungen?
bote erhält, wurde hingegen auf keinem Portal themati- Wie sollte man nun mit den Ergebnissen der Portale umsiert. Einige Portalbetreiber (z. B. Medführer, Docinsider) gehen? Mediziner sollten die Bewegung auf keinen Fall
haben inzwischen ihren Fragenkatalog in diese Richtung unterschätzen. Sie können die Ergebnisse als kostenloses
überarbeitet.
Feedback nehmen, um die eigene Freundlichkeit oder die
Die erreichten Punkte ergeben sich neben der inhalt­ des Praxispersonals zu überprüfen. Des Weiteren sollte
lichen Ausgestaltung auch aus der Anzahl der Fragen. das Stichwort »Selektives Kontrahieren« durch KrankenJe nach Portal beantwortet der Bewerter zwischen vier kassen in diesem Zusammenhang genannt werden. Nicht
(Helpster) und dreißig (Medführer) Fragestellungen. Da- ganz unmöglich, dass die Patientenmeinung in Zukunft
bei nimmt der Abdeckungsgrad zwar mit einer steigen- eine gewisse Rolle bei der Ausden Anzahl von Fragen zu, der zusätzliche Gewinn mit wahl der Leistungserbringer spie- Auf die Qualifikation eines
­zunehmender Anzahl der Fragestellungen allerdings ab. len könnte. Für gkv-Versicherte
Arztes kann man über die
So erreichte beispielsweise Medführer die ermittelten könnte künftig der Nachteil be- Bewertung nicht schließen
zehn Punkte durch insgesamt dreißig Fragestellungen, stehen, dass privat Versicherte
Doc­insider die ermittelten sieben Punkte mit 13 Frage- zunehmend die gut bewerteten Ärzte aufsuchen werden
stellungen.
und so die zur Verfügung stehende Zeit für die BehandEine Herausforderung liegt auch in der richtigen lung gkv-Versicherter zurückgehen könnte. Patienten
­Anzahl von Fragen. Patienten füllen umso unwahrschein­ sollten die Portale nicht als ein abschließendes Informalicher einen Bewertungsbogen aus, je länger dieser ist. tionsmedium betrachten. Derzeit machen die Portale es
Wohl auch deshalb werden inzwischen auf einigen Porta- nicht überflüssig, sich auch weiterhin bei Freunden und
len zwei Fragenkataloge angeboten, eine Kurz- und eine Bekannten umzuhören, Beratungsstellen aufzusuchen
Langversion. Schmähkritik etc. findet man auf den Porta- bzw. den eigenen Arzt zu fragen. Um das in Zukunft leisten
len kaum, spezielle Suchfilter sind hierfür von den Portal- zu können, ist noch ein erheblicher Kraftakt vonnöten.
betreibern installiert worden.
Ob die aok diesen mit ihrem kürzlich ins Leben ge­
rufenen »Arztnavigator« leisten wird, kann derzeit noch
nicht beantwortet werden. Positiv anzumerken ist, dass
Manipulation ist möglich
Ein Manko vieler Portale ist ihre Manipulationsanfällig- die Bewertungen für einen Arzt erst ab einer gewissen
keit. Aufgrund der im Internet gängigen Registrierung Mindestanzahl freigeschaltet werden. Und auch wenn beper E-Mail-Adresse ist es für geübte Internet-Nutzer kein reits erste Meldungen über Fehlbewertungen erschienen
Hindernis, mehrere Bewertungen sind, so ist aufgrund der personalisierten Registrierung
Die meisten Portale
für einen Arzt abzugeben. Gerade von einer geringeren Manipulationsgefahr auszugehen.
deswegen sollten Bewertungen
fragen nur die Patienten­
erst ab einer gewissen Mindestan­
Werden die Bewertungsportale überhaupt genutzt?
zufriedenheit ab
­zahl freigegeben werden. Je höher Trotz intensiven Marketings der Betreiber nutzen laut
dabei die Anzahl der Bewertungen, desto geringer ist die ­einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung
Wahrscheinlichkeit, dass mögliche Falschmeldungen ins nur 2% der Bevölkerung die Portale. Von den restlichen
Gewicht fallen.
98% haben nur 11% von den Portalen überhaupt Kenntnis
Auf den meisten Portalen wird ausschließlich die Pati- genommen. Die Bereitschaft, eine Bewertung abzugeben,
entenzufriedenheit abgefragt, vereinzelt noch Angaben um andere bei der Arztsuche zu unterstützen, ist aber
zu Wartezeiten, Verkehrsanbindung etc. gemacht. Diese ­vorhanden. Auch in der nahen Zukunft wird die Qualität
Informationsbasis ist zu gering, um aussagekräftige Rück­ eines Arztes auf keinem der Portale präsentiert. Aber es
s­ chlüsse auf die Qualität eines Arztes zu ziehen. Angaben werden Bemühungen folgen, um die Informationsbreite
zu Fort- und Weiterbildungen von Arzt- und Praxisper­ für die interessierte Bevölkerung zu erweitern. Damit
sonal, qm-Systemen, Spezialisierungen und auch wissen- kann zumindest die Wahrscheinlichkeit erhöht werden,
schaftliche Beiträge wären von Interesse. Das würde auch an einen guten Arzt zu gelangen.
dazu beitragen, die sog. Soft Skills eines Arztes nicht überzubewerten. Nicht jeder Raucher wird gerne ermahnt,
Dr. rer. pol. Martin Emmert,
mit dem Rauchen aufzuhören, nicht jeder Übergewichtige
Dipl.-Kfm. Lehrstuhl für
will den Hinweis auf mehr Sport und eine gesündere
Gesundheitsmanagement
Uni Nürnberg-Erlangen.
martin.emmert@wiso.
uni-erlangen.de
gesundheit und pflege
m d k forum 3/10
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Patientenrechte
In Österreich geht das
ganz praktisch
W ä h r e n d i n D e u t s c h l a n d die politischen Parteien seit Jahren um ein Patientenrechtegesetz rangeln, haben
unsere Nachbarn in Österreich seit über zehn Jahren eine pragmatische Lösung gefunden, um Patientinnen und
Pa­tienten schneller zu ihrem Recht kommen zu lassen: außergerichtliche Patientenanwaltschaften helfen im Streitfall.
Insgesamt neun Patientenanwaltschaften gibt es bei unseren südlichen Nachbarn. Es sind unabhängige und weisungsfreie Serviceeinrichtungen zur Sicherung der Rechte und Interessen von Patienten sowie – in einigen Bundesländern – von pflegebedürftigen Menschen. In den
meisten Bundesländern erstreckt sich ihre Arbeit auf die
Spitäler. Über die Zuständigkeit entscheidet der Sitz der
Gesundheitseinrichtung und nicht der Wohnort des Patienten. Wer Hilfe bei Missständen, Mängeln und Streitfällen benötigt, kann sich kostenlos an die Patientenanwaltschaften wenden. Sie versuchen, zum Beispiel bei Behandlungsfehlern, vor Einschaltung der Schiedsstellen und
Gerichte den Streit beizulegen.
»Das ›außergerichtliche Fehlermanagement‹ hat nicht
nur für die Patienten, sondern auch für die Einrichtungen
große Vorteile«, erklärt Dr. Gerald Bachinger, Leiter der
Niederösterreichischen Patienten- und Pflegeanwaltschaft.
»Der Konflikt wird schnell und unbürokratisch aufgearbeitet, es gibt kein Kostenrisiko
für die Parteien und aussichts­
Außergerichtliches
lose Gerichtsprozesse können im
Fehlermanagement dient
Patienten und Einrichtungen Vorfeld vermieden werden.« Obwohl sich die Patientenanwaltschaften als Sprachrohr für die Patienten verstehen, sind
sie nicht berechtigt, Vertretungen vor Gericht zu übernehmen. »Die Konfliktparteien müssen sich darauf verlassen
können, dass wir nach bestem Wissen und Gewissen vorgehen und uns ausschließlich nach fachlichen Gesichtspunkten orientieren«, ergänzt Bachinger. Die zumeist von
Juristen geleiteten Patientenanwaltschaften kooperieren
in einer bundesweiten Arbeitsgemeinschaft.
Dr. Gerald Bachinger
Zusammenarbeit gesetzlich geregelt
Gesetzlich geregelt ist auch, dass die Krankenhäuser mit
den Patientenanwaltschaften zusammenarbeiten müssen.
Das schließt die Herausgabe von Behandlungsunterlagen
und eine dazugehörige Stellungnahme mit ein.
Etwa 70% aller Beschwerden haben keine Aussicht auf
erfolgreiche haftungsrechtliche Weiterverfolgung. »Bei offensichtlichen Behandlungsfehlern treten wir gleich an die
Haftpflichtversicherungen heran,
bei zweifelhaften Fällen besteht
Das Rechtsverständnis in
die Möglichkeit, Gutachten einzu- Deutschland erstickt
holen bzw. die Schiedsstellen zu
pragmatische Lösungen
befassen. Die Versicherer wissen
inzwischen, dass unsere Forderungen angemessen sind«,
sagt Bachinger. »Etwa 90% der Fälle, denen wir nachgehen,
können außergerichtlich abgeschlossen werden.«
Auf dem Weg zu einem Patientenrechtegesetz in Deutschland
Die schwarz-gelbe Regierung hat im Koalitionsvertrag
vorgesehen, die Patientenrechte in einem eigenen Patientenschutzgesetz zu bündeln, das in Zusammenarbeit mit allen
Beteiligten am Gesundheitswesen erarbeitet werden soll.
Patientenrechte betreffen viele Bereiche des Verhältnisses
zwischen Arzt und Patient – angefangen bei der Einsicht von
Behandlungsunterlagen bis hin zur juristischen Bewertung
bei Behandlungsfehlern. Die Rechte der Patienten sind
hierzulande in unterschiedlichen Gesetzen verankert,
wie zum Beispiel im Haftungsrecht, im ärztlichen Berufsrecht,
im Arzneimittelrecht und im Krankenversicherungsrecht.
Patientenrechte sind bisher eher durch Interpretationen der
Rechtspraxis, insbesondere durch Rechtsprechung, ent­
standen.
Seit Jahren machen sich in Deutschland verschiedene
Interessengruppen wie z. B. Verbraucherschützer oder Patien­­­ten­
organisationen für ein Patientenrechtegesetz stark. Im
August 2009 kündigte die damalige Justizministerin Brigitte
Zypries ( S P D ) erneut ein Patien­­tenrechtegesetz an, damit
Betroffene ihre Ansprüche gegen Ärzte einfacher verfolgen
können. Die Arbeitsgruppe Patientenrechtegesetz der
S P D -Bundestagsfraktion hat im Mai Eckpunkte für ein Gesetz
beschlossen, das Rechte und Pflichten von Patientinnen
und Patienten sowie Leistungserbringern ausdrücklich regelt
und zusammenfasst.
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gesundheit und pflege
Zu Bachingers Team gehören unter anderem ein Arzt
und ein Krankenpfleger. Benötigen sie zusätzliche medizinische oder pflegefachliche Expertise, stehen einigen
Patientenanwaltschaften auch Budgets für externe Gutachter zur Verfügung. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit beträgt sechs bis neun Monate und kann bei
komplizierten Fällen auch bis zu 15 Monate dauern.
Entschädigungsfonds zahlt unbürokratisch
Was in Deutschland noch Zukunftsmusik ist, hat sich in
Österreich seit vielen Jahren bewährt: der Entschädigungsfonds. Wenn die Haftung fraglich ist, kann der Entschädigungsfonds einen gewissen finanziellen Ausgleich
schaffen. Dafür fließen von den 10 € täglicher Krankenhauszuzahlung des Patienten 0,73 € in den Fonds. »Sinn
des Fonds ist nicht die Entlastung der Haftpflichtversicherungen«, erklärt Bachinger. Wenn später doch noch
die Haftpflicht eintritt, muss der Patient die Summe an
den Fonds zurückzahlen. Über die Zahlungen aus dem
Fonds entscheidet eine fünfköpfige unabhängige Kommission, in der unter anderem ein Richter und ein Arzt
vertreten sind. In Niederösterreich ist die maximale Entschädigungssumme mit 150 000 € relativ hoch. In anderen
Bundesländern kann sie weit darunterliegen. »Wegen der
hochgradigen Einzelfallorientierung und den großen
Entscheidungsspielräumen der Entschädigungsfonds halte ich ein derartiges Vorgehen in Deutschland für schwer
durchführbar«, sagt Bachinger.
Vorbeugen statt zahlen
Neben der Regulierung von Beschwerden liegt Bachinger
besonders der präventive Ansatz am Herzen. »Viele Patien­
ten kommen zu uns, weil sie nicht wollen, dass anderen
Patienten Ähnliches passiert.« Deswegen trifft sich der
­Jurist regelmäßig mit den Qualitätsmanagern der Kranken­
häuser, um über »Lernpotenziale« aus abgeschlossenen
Fällen zu berichten und zu diskutieren. »Mein Ziel ist es,
dass es erst gar nicht zum Fehler kommt.«
Bachinger würde das System der Patientenanwaltschaften durchaus auch für Deutschland empfehlen. Das
setze allerdings ein kulturell anderes juristisches Verständnis voraus. »Ich kann mir vorstellen, dass das Rechtsverständnis in Deutschland oft pragmatische Lösungen
zum Wohl des Patienten im Keim erstickt.«
Martin Dutschek
und Dr. Uwe Sackmann
Interview mit dem Patientenbeauftragten Wolfgang Zöller
Vor amerikanischen Verhältnissen
schützen
S e i t 2 0 0 4 g i b t e s e i n e n P a t i e n t e n b e a u f t r a g t e n der Bundesregierung in Deutschland, der für die Belange
der Patientinnen und Patienten zuständig ist. 2009 hat Wolfgang Zöller (CSU-MdB) dieses Amt übernommen. Zöller
plant bis Ende des Jahres einen Entwurf für ein Patientenrechtegesetz vorzulegen. Wir befragten ihn zu Inhalten.
MDK Forum Herr Zöller, was sind
Ihrer Meinung nach die wichtigsten
Punkte, die ein Patientenrechte­
gesetz enthalten müsste?
Wolfgang Zöller Die derzeit zersplitterte, unklare und selbst für Juristen
schwer zu überblickende Rechtslage
macht es den Patientinnen und
Patienten schwer, ihre Ansprüche
durchzusetzen. Deshalb muss
Klarheit darüber hergestellt werden,
welche Rechte und Pflichten sich für
die Beteiligten z. B. aus dem Behandlungsvertrag ergeben. Wichtig
wird auch die Stärkung der Rechte
gegenüber Leistungserbringern,
eine bessere Information des
Patienten und eine Implementierung von Risiko- und Fehlermelde-
systemen sein. Zudem muss die
Position der Opfer von Behandlungsfehlern gestärkt werden.
MDK Forum Wie kann ein Patientenrechtegesetz dazu beitragen, dass
in Zukunft weniger Fehler passieren?
Wolfgang Zöller Wir benötigen eine
wesentlich bessere Fehlerprävention
und Fehlervermeidungskultur.
Fehler müssen nicht erst selbst
gemacht werden, um aus ihnen zu
lernen. Hierfür sind mehr Infor­
mationen über die Schwachstellen
in Behandlungsabläufen notwendig.
Deshalb möchte ich flächendecken­de
Risikomanagement- und Fehler­
meldesysteme im ambulanten und
stationären Bereich implemen­
tieren.
MDK Forum Die spd spricht sich für
eine Beweislastumkehr bei schweren
Behandlungsfehlern aus. Wieso sind
Sie dagegen?
Wolfgang Zöller
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gesundheit und pflege
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Wolfgang Zöller Eine allgemeine
Umkehr der Beweislast könnte dazu
führen, dass Patienten bestimmte
Behandlungen nicht mehr angeboten oder Fehler vertuscht werden.
Zudem steht zu befürchten, dass die
Haftungsprämien für die Ärzte in
die Höhe getrieben werden und dann
hier bald amerikanische Verhältnisse herrschen würden, in denen
für die Absicherung gegen Klagen
mehr Geld ausgegeben werden muss
als für die Behandlung der Patienten.
Nicht ausschließen möchte ich
jedoch eine Beweislastverlagerung
auf den Arzt in gravierenden Fällen,
zum Beispiel, wenn die Herausgabe
von Dokumenten verweigert wurde.
MDK Forum Sie erhalten tagtäglich
viele E-Mails von Patienten, die sich
nicht ordnungsgemäß behandelt
fühlen. Was sind die häufigsten
Fragestellungen, die an Sie heran­
getragen werden?
Wolfgang Zöller Die an mich
gerichteten Anliegen der Patientinnen und Patienten erfassen alle
Bereiche des Gesundheitswesens,
wie z. B. den Verdacht eines Behandlungsfehlers, die Ablehnung
­bestimmter Maßnahmen durch die
Krankenkasse oder den Austausch
von Arzneimitteln in der Apotheke.
Patientinnen und Patienten,
die sich an mich wenden, bekommen
kurzfristig eine verständliche
Antwort. Dabei wollen mein Team
und ich den Menschen einen Weg
aufzeigen, wie sie zu ihrem Recht
kommen können.
Die Fragen stellte
Friederike Geisler
Junge Pflegebedürftige
im Heim: Tanztee ist nicht
angesagt
J ü n g e r e P f l e g e b e d ü r f t i g e müssen anders versorgt werden und haben andere Interessen als Ältere. Darauf gehen
immer mehr Pflegeheime mittlerweile mit speziellen Angeboten ein. Die Pflege von »jüngeren« Bewohnern stellt das
Personal jedoch vor ganz neue Herausforderungen: Der Umzug in ein Pflegeheim ist besonders für Menschen zwischen
30 und 60 Jahren eine große Belastung. Für diese Gruppe spielt häufig die psychosoziale Betreuung eine große Rolle.
Stefan Richter ist großer Musik-Fan. In seinem Zimmer wir den 49-jährigen Single-Motorradfahrer mit Eltern, die
stapeln sich cds von Bruce Springsteen bis Bob Dylan. selbst im pflegebedürftigen Alter sind. Wenn der einen
Wie das typische Zimmer eines Pflegeheimes sieht es Unfall hat, kommt er in ein normales Alten-Pflegeheim.
nicht aus. Aber es ist auch kein typisches Pflegeheim. Der Vielleicht ist er durch den Unfall nur körperlich eingeim April 2010 eröffnete Bereich »Young Care« des Hauses schränkt, bekommt sonst aber noch alles mit und lebt
Florali im niedersächsischen Bad Nenndorf richtet sich dann mit teilweise Achtzig- bis Neunzigjährigen demen­
an Pflegebedürftige im Alter von vierzig bis sechzig Jah- tiell Erkrankten zusammen.«
ren. Er ist von dem Rest der Einrichtung getrennt, so dass
die Bewohner mittleren Alters unter sich sein können.
Viele gängige Aufgaben der Altenpflege entfallen
Die Idee dazu kam Heimleiterin Angela Linder, als eine »Young Care« bietet zehn vollstationäre Plätze. Sieben Miterst 39-jährige Bewohnerin in das Pflegeheim aufgenom- arbeiter kümmern sich dort um die bisher acht Bewohner.
men wurde. Die Frau litt an der Erbkrankheit Huntington, Fünf von ihnen haben Huntington, zwei multiple Sklerobei der die Betroffenen ab einer bestimmten Phase ihren se (ms). Im Gegensatz zu »normalen« Altenpflegeheimen
Körper nicht mehr richtig kon­ steht hier nicht die Pflege, sondern eher die psycho­
­ lteren soziale Betreuung im Vordergrund. Die gängigen AufgaJüngere und ältere Menschen trollieren können. »Die ä
Bewohner haben ganz skep- ben in der Altenpflege, wie die Kontrolle der Hautfalten
verarbeiten Pflege­
bedürftigkeit unterschiedlich tisch reagiert. Wenn beim Es- oder die Positionsveränderung, fallen hier meist weg, weil
sen etwas danebengegangen ist, die Bewohner noch junge Haut haben bzw. sich selbst bekamen Sprüche wie ›Iss doch vernünftig‹«, berichtet Lin- wegen können. »Im ›Young Care‹-Bereich ist es wichtiger,
der. »Sie konnten nicht verstehen, dass eine so junge Frau dass die Bewohner feste Ansprechpartner haben, die sich
so krank sein kann. Das kennen sie nur von Menschen in um sie kümmern. Das ist für die Mitarbeiter eine ganz an­ihrem Alter.« Angela Linder und ihre Kollegen beschlos- dere Herausforderung«, berichtet Pflegerin Uta Behrenssen daraufhin, sich dieser Gruppe anzunehmen. »Nehmen Henning. »Wir haben zum Beispiel einen Bewohner, der
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gesundheit und pflege
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früher als Jurist gearbeitet hat und seinen Job wegen der
Krankheit aufgeben musste. Das hat er bis heute noch
nicht verkraftet und lässt uns das jeden Tag spüren.«
»Irgendwann möchte ich in meine Wohnung zurück«
Auch Heike Grunwald hat ihre Krankheit noch nicht akzeptiert. Die frühere Speditions-Angestellte leidet seit
Jahren unter ms und musste ihre Wohnung verlassen,
weil sie allein nicht mehr zurechtgekommen ist. Den
­Aufenthalt im Heim betrachtet sie jedoch als eine Übergangslösung. »Bisher habe ich mich damit noch nicht
­abgefunden, irgendwann möchte ich wieder in meine
Wohnung zurück«, sagt Heike Grunwald entschlossen.
Das Konzept von »Young Care« gefällt der 54-Jährigen gut
– mit älteren Bewohnern zusammenzuleben, könne sie
sich nicht vorstellen. »Ich komme mit älteren Menschen
gut klar, manchmal sogar besser als mit Jüngeren. Aber
auf die Dauer wäre das keine gute Lösung.«
Oberstes Ziel: die Alltagsrealität abbilden
Die Diplom-Pflegewirtin und Autorin Margarete Stöcker
hat sich sowohl in ihrem Studium als auch in einer eige-
nen Einrichtung mit dem Thema »junge Pflegebedürftige« beschäftigt. Sie betont die Wichtigkeit einer psychosozialen Betreuung: »Der Ältere ›altert‹ in seine Pflegebedürftigkeit. Der Jüngere wird mitten aus dem Leben gerissen und muss sich erst einmal mit der Frage auseinandersetzen: ›Wie gehe ich mit dieser Situation um, die ich mir
eigentlich für einen späteren Zeitpunkt gedacht habe?‹«
Eine strikte Trennung zwischen Alt und Jung hält Stöcker nicht in jedem Fall für sinnvoll. »Wir haben ja heute
sowohl den Achtzigjährigen, der tagtäglich im Internet
unterwegs ist, genauso wie den Zwanzigjährigen, der sich
gar nicht dafür interessiert«, sagt die Heilpraktikerin
für Psychotherapie. »Das oberste
Ziel der Pflegeeinrichtung sollte
Bei jüngeren Pflegebedürf­
es sein, die ›Normalität des All- tigen sollte der Schwerpunkt
tags‹ abzubilden, so dass man
auf Rehabilitation liegen
sein Leben – mit den neuen Einschränkungen – weiterleben kann.« Besonders bei jün­
geren Pflegebedürftigen sollte der Schwerpunkt auf die
Rehabilitation gelegt werden, so dass sie die Möglichkeit
haben, ihre verlorenen Fähigkeiten – zumindest teilweise
– wiederzuerlangen. »Hier stellt sich die Frage: ›Wie kann
gesundheit und pflege
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ich den Pflegebedürftigen darin stabilisieren, mit den
ihm gebliebenen oder wiedererlangten Fähigkeiten umgehen zu können?‹«
Flachbildfernseher und Spaghetti Bolognese
Im Haus Florali versuchen die Mitarbeiter sowohl in der
Einrichtung als auch in der Betreuung auf die Interessen
der »jüngeren Generation« einzugehen. So sind die Zimmer und der Aufenthaltsraum mit Flachbild-Fernsehern
ausgestattet, und auch die Möblierung und Dekoration
der Räume ist sehr modern gehalten. »Der Unterschied
zwischen Jung und Alt beginnt ja schon beim Essen. Sehr
beliebt ist in dem neuen Bereich Spaghetti Bolognese.
­Damit kann eine achtzigjährige Bewohnerin nicht viel
­anfangen. Sie bevorzugt Kartoffeln«, sagt Heimleiterin
Angela Linder.
Auch die Aktivitäten werden an die Vorlieben der Jüngeren angepasst. So helfen die Betreuer den Bewohnern
beim Schminken und gehen mit ihnen zu Rockkonzerten.
»Man muss sich einfach immer fragen: Was würde ich
wollen, wenn ich auf einmal pflegebedürftig wäre?«, sagt
Uta Behrens-Henning. »Natürlich sind sie nicht mehr
komplett selbstständig, aber sie erhalten bei uns eine
neue Selbstständigkeit. Wenn sie
noch laufen können, läuft man
»Was würde ich selbst
mit ihnen, wenn sie noch sprewollen, wenn ich pflege­
chen können, spricht man.«
bedürftig wäre?«
Wer im mittleren Alter pflegebedürftig wird, hat mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen wie z. B. ein Siebzigjähriger. Dieser hat vielleicht noch
einen Partner oder Kinder, die sich um ihn kümmern
können. Jüngere dagegen haben womöglich selbst Kinder,
um die sie sich kümmern müssen, und der Partner ist voll
berufstätig. »Bei einer fortgeschrittenen Pflegebedürftigkeit bleibt dann oft keine andere Möglichkeit«, sagt Linder.
Weg von der klassischen Altenpflege
Auch im Altenheim St. Josefshaus im westfälischen Rheine gibt es seit dem Frühjahr 2009 eine Abteilung speziell
für Jüngere. 16 Pflegebedürftige im Alter von 27 bis 55 Jahren wohnen dort mittlerweile. Auch sie leiden vorwiegend
unter Huntington oder multipler Sklerose. Der Start des
Wohnbereichs »Junge Pflege« in Rheine war etwas holprig.
»Der Bedarf war da, das haben wir in unserem Haus schon
vorher gemerkt«, berichtet die Einrichtungsleiterin Jutta
Herking. »Wir mussten uns auf diese neue Zielgruppe
­jedoch komplett neu einstellen. Das hat mit der klassischen Altenpflege überhaupt nichts zu tun.«
Einmal im Monat nehmen die Mitarbeiter an einer Supervision durch eine externe Fachkraft teil. Im Gegensatz
zur klassischen Altenpflege, die stark mit körperlicher
Anstrengung verbunden ist, stellt die Arbeit in der Jungen
Pflege vor allem eine psychische Belastung dar. »Allein die
Tatsache, dass die Bewohner häufig so alt sind wie die
Pflegekräfte selber, ist schon eine Herausforderung. Hinzu kommt, dass jüngere Bewohner sich oft noch überhaupt nicht abgefunden haben mit der Tatsache, dass sie
Hilfe brauchen. Das macht die Pflege nicht unbedingt
einfacher«, so Jutta Herking. Die »Junge Pflege« Rheine
hält für ihre Bewohner ein breites Angebot an altersgemäßen Aktivitäten bereit wie Grillabende, Kinobesuche oder
Kochgruppen. »Auch die Familien der Bewohner engagieren sich sehr stark in der Gestaltung der Aktivitäten.«
Trotz Startschwierigkeiten bereut Jutta Herking die
Einrichtung des Wohnbereichs speziell für jüngere Pflegebedürftige nicht. So berichtet sie von einem Bewohner,
der unter Huntington leidet und zuvor in der Altenpflege
mit achtzig- oder neunzigjährigen Bewohnern zusammen­
lebte. »Zuletzt hatte er kaum mehr ein Wort gesprochen
und sich sehr zurückgezogen. In der ›Jungen Pflege‹ blühte
er komplett auf und freut sich, mit Gleichaltrigen reden
zu können.«
Friederike Geisler
Jüngere Pflegebedürftige
Als »jünger« werden Pflegebedürftige üblicherweise
­bezeichnet, wenn sie zwischen 30 und 60 Jahre alt sind. Das
betrifft in Deutschland 0,5% dieser Altersgruppe, also
rund 115 000 Frauen und 130 000 Männer. In stationären
Pflegeeinrichtungen werden ca. 30 000 Frauen und 40 000
Männer versorgt. Pflegebedürftig werden Menschen dieser Altersgruppen häufig aufgrund von Unfällen, neuro­­­
logischen oder onkologischen Erkrankungen. Damit
­unterscheidet sich nicht nur ihr somatischer Pflegebedarf
grundlegend von dem betagter und hochbetagter Menschen, sondern sie haben auch andere Erwartungen an
die Lebens- und Pflegesituation: Sie wünschen sich einen
stärker indi­vidualisierten Tagesablauf; Themen wie Liebe und
Sexualität nehmen einen höheren Stellenwert ein.
l l i t e rat ur t i p p Margarete Stöcker:
Spezialisierung stationärer Pflegeeinrichtungen – Konzept­
entwicklung im Rahmen von E F Q M zur Versorgung von jüngeren
pflegebedürftigen Menschen. Diplomarbeit 2006
www.junge-pflege-rheine.de
www.florali-zu-bad-nenndorf.de
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die politische kolumne
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Prämie durch die Hintertür
N a c h d e r S o mm e r p a u s e g e h t K a n z l e r i n A n g e l a M e r k e l in die Offensive: Schluss mit Zwietracht und
­Kakofonie in der schwarz-gelben Koalition. Konkrete Entscheidungen sollen jetzt endlich auf den Tisch. Doch bei
der Gesundheit könnte es trotz offizieller Einigung noch ein holpriger Weg werden. Zu viele Fragen sind noch offen.
Nein, wie ein Verlierer wollte Gesundheitsminister
Philipp Rösler auf keinen Fall aussehen. Selbstbewusst
trat der fdp-Politiker Anfang Juli vor die Kameras in
Berlin. In der Aktentasche sein vierseitiges EckpunktePapier. Überschrift: Für ein gerechtes, soziales, stabiles,
wettbewerbliches und transparentes Gesundheitssystem.
So sperrig wie der Titel fielen auch seine Ausführungen
aus. Vielleicht war es Strategie, um davon abzulenken,
dass es sich bei dem Gesundheits-Kompromiss bei
weitem nicht um die versprochene Jahrhundert-Reform
handelt.
Was hatten fdp und csu um die Gesundheitsreform
gestritten! Mal beschimpfte man sich als »Gurkentruppe«
oder bescheinigte dem Gegner das Auftreten einer Wildsau. Doch wer hat letztendlich gewonnen – csu-Chef
Horst Seehofer oder fdp-Hoffnungsträger Rösler? Na­
türlich sehen sich beide als Sieger. Seehofer beteuert unentwegt, dass nur durch sein beherztes Eingreifen die
Kopfpauschale in letzter Sekunde
Der Gesundheitskompromiss: verhindert wurde. Und Rösler?
von einer Jahrhundert­r eform Der 37-Jährige blieb bei der Pressekonferenz in Berlin ganz kühl
weit entfernt
und zitierte zum Schluss sogar
Altkanzler Helmut Kohl (cdu): »Entscheidend ist letztendlich, was hinten rauskommt.«
Beitragserhöhung soll Milliarden-Lücke im
Gesundheitsfonds schließen
Was aber ist das Ergebnis der Reform? Zunächst besteht
das Paket aus drei Teilen: Beitragserhöhung, Zusatzbeiträge und Sparmaßnahmen. Für die Anhebung des bundesweit einheitlichen Beitragssatzes von 14,9 auf 15,5%
hätte sich die Koalition nicht fast ein Jahr streiten müssen. Ein bisschen an der Beitragsschraube drehen – das
ist nicht besonders einfallsreich. Schwarz-Gelb blieb
­jedoch keine andere Wahl. Angesichts der drohenden ElfMilliarden-Lücke im Gesundheitsfonds im nächsten Jahr
musste die Regierung rasch handeln. Ansonsten hätten
spätestens 2011 reihenweise Krankenkassen Insolvenz
angemeldet. Um die Katastrophe abzuwenden, war die
Koalition sogar bereit, ihren eigenen Koalitionsvertrag zu
brechen. So steigt entgegen der Abmachung der Arbeit­
geberbeitrag.
Versicherte sollen medizinischen Fortschritt und
demografischen Wandel künftig allein bezahlen
künftig allein bezahlen. Stichwort Zusatzbeiträge: Die
bisher gültige Obergrenze von 1% des Brutto-Verdienstes
fällt. »Die Kassen können künftig den Zusatzbeitrag völlig
frei wählen«, erklärte Rösler. Damit erhielten die Versicherungen die Finanzautonomie zurück. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit – denn der bundesweit einheitliche Beitragssatz bleibt bestehen.
50 € Zusatzbeitrag in 2015?
Die neuen Zusatzbeiträge sind das innovativste und zugleich umstrittenste Element der Reform. Ihre wahre Wirkung wird Röslers Mini-Prämie erst in ein paar Jahren entfalten, wenn die Zusatzbeiträge bei 30, 40 oder sogar 50 €
im Monat liegen. Wann diese Werte erreicht werden – darüber streiten Experten. Günter Neubauer, Direktor des
Instituts für Gesundheitsökonomik in München, rechnet
bereits 2015 mit einer Extra-Gebühr von 50 € im Monat.
»Wenn die Kosten im Gesundheitswesen weiter so anwachsen wie bisher, dann müsste der Zusatzbeitrag im
Schnitt jedes Jahr um 10 € steigen«, sagte Neubauer. Bei
einem geringen Verdienst könnte der Zusatzbeitrag also
schon bald den regulären Kassenbeitrag übersteigen.
Röslers belächelte Mini-Prämie hätte sich dann als Kopfpauschale entpuppt.
Um Rentner und Geringverdiener nicht übermäßig zu
belasten, ist ein komplizierter Sozialausgleich geplant.
Dazu berechnet das Bundesversicherungsamt (bva) jedes
Jahr einen durchschnittlichen Zusatzbeitrag, der zur Finanzierung der wachsenden Ausgaben nötig ist. Die sogenannte Überforderungsklausel greift, wenn der vom bva
errechnete Zusatzbeitrag 2% des beitragspflichtigen Einkommens überschreitet. Ein Beispiel: Das bva kommt
auf einen durchschnittlichen Zusatzbeitrag von 16 € im
Monat. Wer weniger als 800 € brutto im Monat verdient,
erhält also staatliche Hilfe.
So weit die Theorie – in der Praxis gibt es allerdings
noch viele offene Fragen: Wer wickelt den Sozialausgleich
ab? Arbeitgeber oder Krankenkassen? Muss ein Antrag
auf Sozialausgleich gestellt werden oder wird ein automatisiertes Verfahren eingeführt? Wer kontrolliert, dass es
keinen Missbrauch gibt? Hinter vorgehaltener Hand räumen Gesundheitsexperten der Koalition ein, dass es bei
der Ausgestaltung des Sozialausgleichs noch gewaltige
Schwierigkeiten gibt. Mancher geht sogar davon aus, dass
der Sozialausgleich nicht pünktlich zum 1. Januar 2011
starten kann.
Die Unternehmen haben dennoch keinen Grund zu klagen. Nach Röslers Willen ist es die letzte BeitragsanheSchäuble und Rentner sind Verlierer
bung. Die Kosten für den medizinischen Fortschritt und Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer der Reform? Zu
den demografischen Wandel müssen die Versicherten den Leidtragenden gehören vor allem Rentner. Während
die politische kolumne
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Arbeitnehmer höhere Kassenbeiträge und Zusatzbeiträge
von der Steuer absetzen können, nützt dies den Ruheständlern wenig: Sie zahlen meist keine Steuern. Berechnungen des Bundes der Steuerzahler zeigen, dass manch
Gutverdiener deutlich weniger belastet wird als auf den
ersten Blick erwartet. »Wer als Single 3750 € brutto im
­Monat verdient, zahlt künftig pro Jahr 135 € mehr Kassenbeitrag«, erklärte Olaf Schulemann vom Bund der Steuerzahler. Durch den positiven Steuereffekt reduziere sich
die Mehrbelastung auf etwa 80 €, so Schulemann. Verlierer der Reform ist also auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (cdu).
Massiver Ärger droht Schwarz-Gelb beim dritten Teil
der Reform – den geplanten Einsparungen. Allein 2011
sind Einschnitte von rund 3,5 Milliarden Euro vorgesehen.
Den größten Anteil soll die Pharmaindustrie leisten. Aber
auch Krankenkassen, Kliniken
Hausärzte auf Krawall
und Ärzte müssen kräftig sparen.
Nicht alle werden die Kürzungen
gebürstet
widerstandslos schlucken. Einen
kleinen Vorgeschmack auf das, was auf die Koalition zukommen könnte, lieferte der zweitägige Streik der bayerischen Hausärzte Ende August. Bereits zuvor hatte der
Deutsche Hausärzteverband mit Horrorszenarien bundes­
weit für Aufsehen gesorgt. Wenn die Vergütung bei den
Hausarztverträgen mit den Kassen eingeschränkt werde,
würde »ein Landkreis nach dem anderen zusammenbrechen«, weil keine jungen Ärzte mehr nachkämen, sagte
der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hausärzteverbandes, Eberhard Mehl. »Und diese Entscheidung wird
viele Menschenleben kosten.«
Reform auf wackeligen Beinen
Massive Proteste der Lobbyisten, offene Detailfragen und
Rangeleien mit dem Koalitionspartner – keine Gesundheitsreform der letzten Jahre ging geräuschlos über die
Bühne. Und doch ist diesmal einiges anders: Kein Regierungsbündnis galt bereits ein Jahr nach der Wahl als so
zerstritten wie diese schwarz-gelbe Koalition. Was heißt
das für die Reform? Als Schwarz-Rot im Streit zwischen
Bürgerversicherung und Kopfpauschale Mitte 2006 den
Gesundheitsfonds ersann, waren weder Krankenkassen
noch Experten begeistert. Doch allen war rasch klar: Widerstand ist zwecklos, die neue zentrale Geldsammelstelle
kommt. Dafür standen zwei mächtige Frauen: Kanzlerin
Angela Merkel und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt
(spd). Heute will keiner eine Prognose wagen, ob die Regierung die geplante Reform mit kräftig steigenden Zusatzbeiträgen wirklich konsequent umsetzt. Was passiert,
wenn erstmals bei Rentnern der Gerichtsvollzieher vor
der Tür steht, um den ausstehenden Zusatzbeitrag einzutreiben – und die Boulevardmedien groß darüber berichten? Gut möglich, dass das letzte Wort bei dieser Reform
noch nicht gesprochen ist.
Steffen Habit
ist Wirtschaftsredakteur beim Münchner Merkur.
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