Drei Farben«-Trilogie von Krzysztof Kieślowski

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Drei Farben«-Trilogie von Krzysztof Kieślowski
Tobias Wollermann
Zur Musik in der »Drei Farben«-Trilogie von Krzysztof Kieślowski
Beiträge zur Medienästhetik der Musik
Band 2
herausgegeben von
Rolf Großmann und Hartmuth Kinzler
Tobias Wollermann
Zur Musik in der
»Drei Farben«-Trilogie
von Krzysztof Kieślowski
Electronic Publishing Osnabrück
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Wollermann, Tobias:
Zur Musik in der »Drei Farben«-Trilogie von Krzysztof Kieślowski /
Tobias Wollermann. – Osnabrück : epOs Music, 2001
(Beiträge zur Medienästhetik der Musik ; Bd. 2)
ISBN 3-923486-38-3
c 2001 Electronic Publishing Osnabrück
http://www.epos.uni-osnabrueck.de
Rechtsträger: Universität Osnabrück
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
ISBN 3-923486-38-3
Vorwort
»You can describe something which perhaps isn’t there on
the actual screen but which, together with the music, starts
to exist. It’s interesting – drawing out something which
doesn’t exist in the picture alone or in the music alone. Combining the two, a certain meaning, a certain value, something which also determines a certain atmosphere, suddenly
begins to exist.«
Krzysztof Kieślowski
Dieses Zitat verdeutlicht, welche enorme Bedeutung Krzysztof Kieślowski der Musik in seinen Filmen zuordnet. Warum aber gibt es unter den unzähligen Essays,
Rezensionen und Büchern über seine Filme keine einzige Veröffentlichung, die sich
näher mit der Filmmusik auseinandersetzt? Noch weniger zu verstehen ist dies in
Bezug auf den Film Drei Farben: Blau, der die Komposition eines Werkes selbst
zum Inhalt hat. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist, genau diesen Sachverhalt
aufzugreifen. Die Arbeit liefert eine grundlegende Untersuchung der Filmmusik zu
der Drei Farben-Trilogie, Kieślowskis letztem Werk, ohne dabei den filmographischen Kontext aus den Augen zu verlieren. Diese Arbeit ist eine Hausarbeit, die im
Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien an der Universität Osnabrück eingereicht wurde.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei Herrn Prof. Dr. Hans Christian SchmidtBanse, der die Auseinandersetzung mit dieser Thematik anregte und mich in Gespräch, Rat und Kritik bei dieser Arbeit begleitet hat. Des Weiteren gilt mein
Dank Herrn Prof. Dr. Hartmuth Kinzler, der mir mit seinem umfassenden Wissen jederzeit engagiert geholfen hat. Meinen Eltern danke ich, da sie mich mit
viel Interesse für meine Arbeit jederzeit finanziell unterstützt haben. Den Mitarbeitern des Concorde-Filmverleih (München), der Arte-Redaktion des ZDF und
Arte-TV Deutschland sowie Paul Peter Huth von der 3Sat-Redaktion danke ich
für die freundliche Unterstützung bei den Recherchen. Dr. Jessica Merten stand
stets mit wertvollen Ratschlägen und Ideen zur Seite – danke. Für seine ausdauernde und stets freundliche Unterstützung in allen editorischen Fragen möchte ich
Dr. Martin Gieseking danken. Die Publikation dieser Arbeit wäre nicht zustande
gekommen ohne den persönlichen und fachlichen Einsatz von Herrn Prof. Dr. Bernd
Enders und Herrn Prof. Dr. Bernhard Müßgens (Electronic Publishing Osnabrück).
Auch ihnen gilt mein Dank für ihre engagierte Hilfe. Last but not least möchte ich
mich ganz herzlich bei Dorothee Kuhle für ihre Unterstützung in jeder Hinsicht
bedanken. Ihr sei diese Arbeit gewidmet.
Tobias Wollermann
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
v
Einleitung
1
1 Biographie und künstlerischer Werdegang
1.1 Krzysztof Kieślowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Zbigniew Preisner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
3
9
2 Überlegungen zur Analyse von Filmmusik
2.1 Zur Dramaturgie im Film . . . . . . . . . .
2.1.1 Die filmische Dramaturgie . . . . . .
2.1.2 Die Musikdramaturgie im Film . . .
2.1.3 Funktionalität von Filmmusik . . . .
2.2 Zur Filmmusikanalyse . . . . . . . . . . . .
3 Die
3.1
3.2
3.3
3.4
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13
13
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18
22
Trilogie: Entstehung/Einordnung
Die Trilogie im filmographischen Kontext . . . . . . . . .
Zur Idee der Trilogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zur Entstehung der Trilogie . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dramaturgische Gemeinsamkeiten – Synchrone Merkmale
3.4.1 Verbindungen der Trilogie zu früheren Filmen . . .
3.4.2 Verbindungen innerhalb der Trilogie . . . . . . . .
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4 Analyse der Filmmusik in der Trilogie
4.1 Drei Farben: Blau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.1 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.2 Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.3 Zur Musik im Film Drei Farben: Blau . . . . .
4.1.3.1 Beerdigungsthema – Patrice’s Thema
4.1.3.2 Das Beerdigungsthema . . . . . . . .
4.1.3.3 Patrice’s Thema . . . . . . . . . . . .
4.1.3.4 Die Musik des Flötenspielers . . . . .
4.1.3.5 Julie’s Thema . . . . . . . . . . . . .
4.1.3.6 Weitere Musik . . . . . . . . . . . . .
4.1.4 Zusammenfassung: Drei Farben: Blau . . . . .
4.2 Drei Farben: Weiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.1 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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viii
Inhaltsverzeichnis
4.2.2
4.2.3
4.3
Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zur Musik im Film Drei Farben: Weiss . . . . .
4.2.3.1 Melancholische Melodie versus Tango
4.2.3.2 Der Tango . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.3.3 Die melancholische Melodie . . . . . .
4.2.3.4 Karols Kammlied . . . . . . . . . . .
4.2.4 Zusammenfassung: Drei Farben: Weiss . . . . .
Drei Farben: Rot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.1 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.2 Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.3 Zur Musik im Film Drei Farben: Rot . . . . . .
4.3.3.1 Der Bolero . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.3.2 Das »Lied zwischen den Welten« . . .
4.3.4 Zusammenfassung: Drei Farben: Rot . . . . . .
Zusammenfassung
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109
111
115
A Filmographien
117
A.1 Krzysztof Kieślowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
A.2 Zbigniew Preisner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
A.3 Filme über Kieślowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
B Discographie
137
B.1 Zbigniew Preisner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Literaturverzeichnis
138
Einleitung
»Mich persönlich inspiriert ein Drehbuch oder ein Text mehr als
ein fertiger Film. . . In allen Drehbüchern von Krzysztof ist die
Musik in gewisser Weise schon angelegt. Die Drehbücher besitzen
ihre eigene Musik.«
Zbigniew Preisner1
Auf eine solche Aussage eines Filmmusikkomponisten stößt man heutzutage nur
selten: oft führen finanzielle Interessen der Komponisten zu einer raschen Angleichung ihrer Tonsprache an die Erfordernisse einer auf maximale Verwertung ihrer
Produkte orientierten Filmindustrie. Zunehmend verkommt Filmmusik zum blitzeblank polierten tönenden Abziehbild von Vorlagen, die oft selbst schon Kopien
von bereits in den Kinotheken der Stummfilmära ausgelaugten Vorbildern sind.
Mit dieser Arbeit soll die Frage beantwortet werden, wie Preisner die »in den
Drehbüchern bereits angelegte« Musik mit der ihm eigenen Tonsprache zum Klingen bringt, ohne dabei in musikalische Plattitüden zu verfallen. Weiterhin soll überlegt werden, inwiefern sich seine Filmmusik vom Hollywood-üblichen Sound-Design
abhebt und eine eigene klangliche Identität besitzt. Warum haben seine Melodien
den Schein des Bekannten und zeugen gleichzeitig von einem authentischen Stil?
Schließlich wird der Frage nachgegangen, in welchem Zusammenhang die Filmmusik
mit der Dramaturgie der jeweiligen Filme steht, welche verschiedenen Funktionen
sie wahrnimmt und welchen Anteil die Musik an der Wirkung, der Aussage der
Filme hat.
Die Musik Preisners steht in einem engen Bezug zu den Filmen Krzysztof
Kieślowskis. Neben einer langjährigen Zusammenarbeit verband die beiden Künstler auch eine persönliche Freundschaft. Anhand von Kieślowskis Trilogie Drei Farben: Blau, Weiss, Rot soll den oben erwähnten Fragen nachgegangen werden. Da
es sich bei der Trilogie um drei eng miteinander verbundene Filme handelt, ist
weiterhin zu untersuchen, inwiefern die Musik diesem Sachverhalt Rechnung trägt
und Einfluss auf die Gesamtdramaturgie der Trilogie nimmt.
Die Kapitel 1 und 3 bieten insbesondere für die Analyse nötige Hintergrundinformationen, ohne die ein umfassendes Verstehen nicht möglich ist. Die theoretischen Grundlagen der Dramaturgie im Film sowie die verschiedenen Funktionen
von Filmmusik, die im Kapitel 2 kurz umrissen werden, sind für das Verständnis der
Analyse und für die Vorgehensweise wichtig. Den Kern dieser Arbeit, die eigentliche
1
Zbigniew Preisner, zit. nach der Dokumentation Geschichten um Liebe und Tod (Regie: Peter
Paul Huth).
2
Einleitung
Analyse, bildet das Kapitel 4. In diesem Kapitel sollen die theoretischen Grundlagen plastisch mit Inhalt gefüllt werden. Anhand ausgewählter Beispiele werden
die Zusammenhänge von Szenerie und Ton, die verschiedenen Funktionen der Musik etc. dargestellt. Im Anhang finden sich ferner Disco- und Filmographien zu
bzw. über Kieślowski und Preisner. Die in der Analyse verwendeten Notenbeispiele
erheben keinen Anspruch auf kompositorische Authentizität. Da es nicht möglich
war, Notenmaterial zu erhalten, wurden die einzelnen Themen vom Verfasser nach
Gehör transkribiert.
Bei der Literaturrecherche zu dieser Arbeit wurde deutlich, dass es zur Filmmusik Preisners im Allgemeinen und speziell zu der Verwendung seiner Musik in
den Filmen Kieślowskis keine Literatur gibt, die sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt. Lediglich der Filmmusikwissenschaftler Wolfgang Thiel versucht in einem zweiseitigen Artikel eine »Annäherung an Zbigniew Preisners Drei
Farben-Partitur«. In den unzähligen Artikeln und Rezensionen, die sich mit den
Filmen auseinandersetzen, wird die Musik, wenn überhaupt, meist nur nebensächlich erwähnt. Auch Erbsteins Buch »Untersuchungen zur Filmsprache im Werk von
Krzysztof Kieślowski« und Geoff Andrews »The Three Colours Trilogy« gehen nur
sehr oberflächlich auf die Verwendung der Musik in den Filmen ein.
Die vorliegende Arbeit versucht in dem ihr möglichen Rahmen diesem Sachverhalt entgegenzuwirken, indem sie eine grundlegende Untersuchung der Filmmusik
zu der Drei Farben-Trilogie liefert. Gleichzeitig soll der auf der musikalischen Ebene
vielschichtigen und außergewöhnlich engen Zusammenarbeit der beiden Künstler
Rechnung getragen werden.
1 Biographie und künstlerischer
Werdegang
1.1
Krzysztof Kieślowski
Krzysztof Kieślowski, am 27.6.1941 in Warschau geboren, wuchs in eher ärmlichen
Verhältnissen auf. Sein Vater arbeitete als Ingenieur und seine Mutter als Büroangestellte. Gegen Ende des 2. Weltkrieges wurde Kieślowskis Schwester 1944 in
Strzemieszyce geboren. Seinem Vater, der an Tuberkulose erkrankt war, ging es immer schlechter, so dass er viel Zeit in Sanatorien verbringen musste. Da die Familie
aber zusammenbleiben wollte, zog die Mutter mit ihren beiden Kindern immer
in dieselbe Stadt und suchte sich dort Arbeit. Auch Kieślowski und seine Schwester verbrachten einige Zeit in Sanatorien1 , die vom Staat bezahlt wurden, da die
alleinverdienende Mutter nicht das nötige Geld aufbringen konnte, um die Kinder
zu versorgen. Für die Familie war diese Trennung nicht besonders leicht. Bedingt
durch die häufigen Umzüge, musste Kieślowski oftmals die Schule wechseln. »I went
to so many schools that I often get them mixed up, and don’t remember even where I went. I would change schools twice or even three times a year.« (Stok, 1993,
S. 10) Kieślowski war immer ein guter Schüler, der hervorragende Noten erzielte,
ohne sich besonders anzustrengen. Trotzdem brachte ihm die Schule keinen großen
Gewinn. Da die Familie immer in kleineren Dörfern lebte, bot sich auch nicht die
Möglichkeit, weiterführende Schulen zu besuchen. Der Vater schickte ihn schließlich auf eine Berufsschule der Feuerwehr, da Verpflegung und Unterkunft frei waren.
Aber schon nach wenigen Monaten stellte Kieślowski fest, dass er lieber, koste es
was es wolle, studieren wollte.
Schließlich bot sich die Möglichkeit, ein ›College für Theatertechniker‹2 in Warschau zu besuchen, dessen Direktor der Onkel seiner Mutter war. Hier wurde neben
der technischen Ausbildung auch ein Schwerpunkt auf die Vermittlung kultureller
Werte gelegt. So wurden die Schüler von ihren Lehrern angewiesen, ins Theater oder
Kino zu gehen und Bücher zu lesen. Letztere interessierten Kieślowski allerdings
schon von Kindheit an.
»And those books formed us — at least, they did me. They taught me
something, made me sensitive to something. The books I read, particularly
as a child or boy, made me what I am. [. . . ] Of course, the world wich I
1
2
Es handelt sich hierbei um spezielle Sanatorien für Kinder, die in Polen ›Preventoria‹ genannt
werden. »They were for children threatened by TB or who were weak. The whole idea was to
spend time in a good climate and to have healthy food.« (Stok, 1993, S. 13)
Państwowe Liceum Techniki Teatralnej
4
Biographie und künstlerischer Werdegang
inhabited, the world of friends, bicycles, running around,[. . . ], this was the
real world. But equally real to me was the world of books, the world of all
sorts of adventure.«3
An dieser Schule entdeckte Kieślowski seine Liebe zum Theater und beschloss,
Theaterregisseur zu werden. Da man in Polen dazu ein abgeschlossenes Studium
benötigte, bewarb sich Kieślowski daraufhin an der Filmhochschule in Lodz. Zweimal fiel er durch die Aufnahmeprüfung, beim dritten Mal schaffte er es, allerdings
hatte er inzwischen das Interesse, Theater- oder Filmregisseur zu werden, verloren. Da die Aufnahmeprüfungen nur einmal jährlich stattfinden, arbeitete er in der
Zwischenzeit als Garderobier im Kulturamt und als Ankleider bzw. Dekorateur im
Theater. Nebenbei studierte er ohne besonderes Interesse Kunstpädagogik, um der
Einberufung in die Armee zu entgehen, was ihm schließlich auch mit einer vorgetäuschten Schizophrenie, wegen der er für einige Tage in die Psychatrie eingewiesen
wurde, gelang.
An der Filmhochschule in Lodz wurde neben den normalen Unterrichtsfächern
wie z.B. ›Geschichte des Films‹, ›Geschichte der Ästhetik‹ oder ›Photographie‹
besonderer Wert auf das Sehen und Diskutieren von Filmen gelegt. Rückblickend
beurteilt Kieślowski seine Ausbildung folgendermaßen:
»The whole idea is to watch films and to talk about them, nothing else.
You have to watch films, and because you’re watching them and making
them, you’re always talking about them. It doesn’t matter whether you talk
about them during history lectures, or lectures on aesthetics or even if you
talk about them during English classes. It’s all the same. What is important
is that the subject is always present. That you’re always talking about it,
analysing, discussing, comparing.«4
Mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen sollten nun die eigenen Filme gemacht
werden, ein oder zwei pro Jahr. Da die Filme kurz sein mussten, wurden manchmal
auch Kurzgeschichten als Vorlage genommen. Im Allgemeinen schrieb aber jeder
sein eigenes Drehbuch.
An der Filmhochschule gab es keine Zensur durch staatliche Organe, so konnten
die Studenten Filme sehen, die der Öffentlichkeit gar nicht oder erst Jahre später
gezeigt wurden. Kieślowski war besonders beeindruckt von einigen Filmen Ken
Loachs, Orson Welles, Fellinis oder Bergmans.
1968 war ein einschneidendes Jahr für Kieślowski. Polnische Nationalisten und
Antisemiten begannen, jüdische Bürger des Landes zu verweisen. Auch einige Lehrende der Filmschule in Lodz mussten gehen. Von studentischer Seite formierte sich
der Widerstand: »Auch wir in Polen hatten unseren Frühling ’68, unsere Studentenrevolte. Ihr Untergang5 ist die Enttäuschung, die mein Leben am tiefsten geprägt
hat.«6 Gleichzeitig begann der Staat, sich immer mehr in die Angelegenheiten der
Filmhochschule einzumischen und bestimmte Richtungen vorzugeben.7
3
4
5
6
(Stok, 1993, S. 5)
(Stok, 1993, S. 31ff.)
Die Revolte wurde von der Miliz niedergeschlagen. Zur Verstärkung führten Betriebsorganisationen der Partei die Arbeiter auf die Straße, wo sie an der Seite der Miliz die Jugend zur
Vernunft bringen sollten.
Kieślowski, zit. nach (Jenny, 1994a, S. 182)
1.1 Krzysztof Kieślowski
5
Im selben Jahr schrieb Kieślowski seine Diplomarbeit8 über die Dramaturgie
in Dokumentarfilmen bei Professor Jerzy Bossak und 1969 erhielt er für seinen
Abschlussfilm an der Filmhochschule Aus der Stadt Lodz9 den Andrzej-Munk-Preis
für das beste Spielfilmdebüt. Dieser Film war gleichzeitig seine erste Arbeit für
das Staatliche Dokumentarfilmstudio WDF (Wytwornia Filmow Dokumentarlynch)
in Polen. In seinem letzten Jahr an der Filmhochschule heiratete er seine Frau
Marysia, 1974 wurde das einzige Kind, seine Tochter Martha geboren. Nach dem
Abschluss des Studiums bekam Kieślowski sofort eine Assistentenstelle beim WDF.
Allerdings dementiert er selbst, dass er als solcher fungiert hat und betont vielmehr,
dass er immer selbstständig gearbeitet hat:
»Initially I was employed as an assistant at the WDF but I never worked
as one. Never in my life have I been an assistant. I strongly defend myself
against it. They employed me as an assistant because those were the formal
requirements. Then, later, I was employed as a director. I think I was the
first of my generation to be officially employed as a director at the WDF.«10
Eine Ausnahme bilden die Auftraggsproduktionen Zwischen Wroclaw und Zielona
Gora und Die Sicherheits- und Hygienebestimmungen in einer Kupfermine für die
Kupfermine in Lublin. Hier war er gebunden und konnte seine eigenen Interessen
und Ideen weniger durchsetzen. Allerdings hatten diese Produktionen den Vorteil
eines höheren Honorars, denn allgemein verdiente man als freier Filmregisseur in
Polen nur sehr schlecht.11
Berücksichtigt man die Allgegenwart der Politik im polnischen Leben, vor allem
unter dem zu Repressalien neigenden Edward Gierek, ist es nahezu zwangsläufig,
dass sich Kieślowskis Dokumentationen mit Menschen beschäftigen, die für oder
gegen staatliche Institutionen arbeiteten: In Die Fabrik werden abwechselnd Szenen
von Arbeitern im Ursus Traktorenwerk und Szenen von der Betriebsleitung bei
einer Sitzung, auf der die Unfähigkeit, die Produktionsrate zu steigern diskutiert
wird, gezeigt. Nach den Streiks 1970 und dem Sturz Gomulkas drehte Kieślowski
den Film Arbeiter ’71. »It was intended to portrait the workers’ state of mind in
1971.«12 Hospital skizziert die Bewältigung einer vom Staat diktierten 32-StundenSchicht von orthopädischen Chirurgen im Krankenhaus. In den späten 70’ern wurde
Kieślowski als Vizepräsident der ›Polish Film-Makers Association‹ in den Kampf
um mehr künstlerische Freiheit verwickelt.13 Später bestand Kieślowski darauf,
7
8
9
10
11
12
13
Dies geschah auf eine sehr subtile Art und Weise: Die Regierung unterstützte finanziell den
Bereich Experimentalfilm immer mehr, was auf Kosten einiger anderer unbeliebterer Bereiche ging, wie z.B. den des Dokumentarfilms. Auf diese Art und Weise kann man von einer
getarnten Zensur sprechen. Vgl. (Stok, 1993, S. 36ff.)
Ein Ausschnitt der Arbeit wurde in der polnischen Zeitschrift ›Film na swiecie‹ Nr.3–4,
1992, S. 388–389 abgedruckt und von Michel Lisowski in der Zeitschrift ›Positif‹ übersetzt.
Vgl. (Kieślowski, 1995, S. 56–57)
Eine ausführliche Filmographie zu Kieślowski findet sich im Anhang (S. 117)
(Stok, 1993, S. 54)
»Ein anderes Beispiel — der Taxifahrer, der bei der Produktion eines Filmes beschäftigt ist,
verdient viermal mehr Geld als der Regisseur. Die Beispiele könnte man fortführen. Die Arbeit
lohnt sich weiterhin nicht.« Zbigniew Preisner, zit. nach (Wasilewski, 1994, S. 56)
(Stok, 1993, S. 55)
Hierzu berichtete er Danusia Stok: ». . . es stellte sich heraus, dass wir total bedeutungslos
waren.« Vgl. (Stok, 1993, S. 39)
6
Biographie und künstlerischer Werdegang
dass seine Dokumentarfilme keine Untersuchungen von unterdrückenden politischen
Institutionen sein sollten. Vielmehr wollte er aus einem humanistischen Blickwinkel
individuelle Portraits von Menschen drehen.
In der Tat gibt es einiges, was diese Behauptung rechtfertigt. Während Vom
Standpunkt eines Nachtwächters die Darstellung von dessen konservativer Haltung
gegenüber Verbrechen, Bestrafung und Autorität klare soziale, politische und ethische Bedeutung trägt, ist der Film auf der anderen Seite eine überraschend sympathische Charakter-Studie einer eher traurigen und unausgefüllten Person. Ähnlich
verhält es sich mit dem Film Talking heads, in dem 79 Polen gefragt werden, wann
sie geboren wurden, was sie tun und was sie am liebsten mögen. Einerseits bietet
der Film eine Einsicht in die Gesellschaft des zeitgemäßen Polens, andererseits, indem er in schneller linearer Art und Weise von der jüngsten bis zur ältesten Person
verläuft, einen universell zutreffenden Einblick in die emotionalen, physischen und
psychologischen Aspekte des Alterns. Es ist offensichtlich, dass sich Kieślowskis
Interesse an der Politik immer aus seiner Faszination für die Auswirkungen dieser
auf das Individuum herleiten lässt.
1976/77, als sich der Konflikt zwischen Staat und Volk immer mehr zuspitzte, entstand eine neue Bewegung unter den Filmemachern, das ›Kino der moralischen Unruhe‹, in dessen Zentrum Wajda, Zanussi, Piwowarski, Holland und auch
Kieślowski standen. Ziel der Bewegung war es, Missstände in der Gesellschaft aufzuzeigen. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Verfall der moralischen Werte
und der Ethik. »Es wurde aufgezeigt, wie mit der Manipulation der Massen durch
staatliche Ideologie die Moral, die Ethik der Menschen untergraben wurde.«14 Von
einem merkwürdigen Paradox berichtet der Filmkritiker und Drehbuchautor T.
Toeplitz:
»Alle Filme die in den 60’er und 70’er Jahren im Rahmen der ›polnischen
Schule‹ oder des sogenannten ›Kinos der moralischen Unruhe‹ entstanden,
entstanden ja mit staatlichen Mitteln, die von den politischen Organen kontrolliert wurden. Und hier fand die ganze Zeit über ein merkwürdiges Spiel
statt: Heute präsentiert man diese Filme als diejenigen, die das System in
Frage stellten und auch oppositionelle Autoritäten aufbauten – etwa die von
Wajda oder Zanussi. Es stimmt, nur zur gleichen Zeit wurden diese Filme
nicht etwa von einem privaten Produzenten oder irgendwelchen Untergrundkräften finanziert, akzeptiert und realisiert, sondern von dem Staat, gegen
den sie gedreht wurden. Dieses Paradox birgt die ganze Wahrheit über die
polnische Kinematographie jener Zeit; über all das, was damals geschah.
Gewissermaßen pirschten sich beide Seiten aneinander an. Dem Staat war
bewusst, dass er Werke produzierte, die ihm gegenüber kritisch waren. Doch
er sagte: ›Gut, aber nur bis zu einer gewissen Grenze‹, oder ›Das muss irgendwie verpackt werden, das muss irgendwie aus der Sicht der staatlichen
Politik begründet werden.‹ Die Regisseure wiederum wussten: ›Gut, ich will
sie ein bisschen ärgern, aber ich weiß, dass ich das nur bis zu einer gewissen
Grenze tun darf, damit ich das Geld für die Produktion dieses Films bekomme.‹ Eigentlich spielte man die ganze Zeit über solch ein Spiel, bei dem sich
beide Seiten einer gewissen Undeutlichkeit und im Grunde eines gewissen
Einvernehmens bewusst waren.«15
14 (Erbstein, 1997, S. 12)
15 Entnommen aus der Dokumentation Die Macht der Symbole – Polnisches Kino zwischen
Kunst und Politik (Regie: Heike Wilke). Vgl. S. 135
1.1 Krzysztof Kieślowski
7
Kieślowskis Film Der Amateur, der sowohl bei den Kritikern als auch beim Publikum ein großer Erfolg war, ist die Synthese seiner Einstellungen und künstlerischen
Suche in den 70’ern und zugleich einer der signifikantesten Filme des ›Kinos der
moralischen Unruhe‹. Gleichzeitig schlägt Kieślowski mit diesem Film aber auch
eine neue Richtung ein. Im Vordergrund seiner Filme stehen jetzt einzelne Personen, ihre Einstellung zum Leben, ihr Mut, ihre Moral und Verantwortung. Diese
Richtung setzt sich auch in den folgenden Filmen fort.
In Der Zufall - möglicherweise fügt Kieślowski der Erforschung von Personen
und ihrem Handeln noch die Kategorie des Zufalls hinzu. Dreimal erlebt der Protagonist die gleiche Situation, und dreimal entwickelt sich aus dieser Situation ein
anderes Schicksal, zweimal durch Zufall, das dritte Mal wählt er es selbst aus.
Allerdings ist auch diese dritte Variation vom Zufall beeinflusst.
Der Film Ohne Ende wird von Kieślowski noch um eine transzendentale Ebene
erweitert (ein Toter greift in weltliche Ereignisse ein). Dieser Film ist aber nicht
eine Abhandlung übernatürlicher Phänomene, sondern vielmehr die rücksichtslose
Enthüllung der tragischen Periode nach der Erklärung des Kriegsrechtes in Polen16
mit der Feststellung, dass ein privates Leben in Abkopplung von der Gesellschaft
nicht funktionieren kann. Bei der Produktion dieses Films arbeitete Kieślowski zum
ersten Mal mit dem Rechtsanwalt Krzysztof Piesiewicz und mit dem Komponisten
Zbigniew Preisner zusammen. Kieślowski und Piesiewicz lernten sich während des
Kriegszustandes kennen, als Kieślowski einen Film über politische Gerichtsprozesse
drehen wollte. Dieser Film ist aber nie geschnitten und produziert worden, da die
Kamera im Gerichtssaal bewirkte, dass die Richter nur milde Urteile sprachen.17
Zbigniew Preisner berichtet über das erste Zusammentreffen mit Kieślowski:
»Es war 1983 in einem entsetzlichen Restaurant in Warschau. [. . . ] Außer
mir und Krzysztof waren da noch der Tonmann Michał Żarnecki und der
Kameramann Jacek Petrycki. Ich glaube, es war ein Karfreitag. Wir aßen
Sauerkrautsuppe und tranken Wodka. Krzysztof wollte damals gerade Ohne
Ende drehen – seinen ersten Film unter den Bedingungen des Kriegsrechts.
Es war ihm sehr wichtig, dass der Film gut wurde, und er hat fast eine
Stunde ununterbrochen auf mich eingeredet, ich möge doch bitte eine besonders gute Musik dazu schreiben. Ich habe ihm scherzhaft geantwortet:
‚Herr Kieślowski, haben Sie keine Angst, wir haben schon größere Premieren versaut.‘«18
Im 1988/89 entstandenen Fernsehzyklus Dekalog befasst sich Kieślowski noch mehr
mit der »inneren Welt« seiner Protagonisten. Die Idee, die 10 Gebote zu verfilmen,
stammt vom Co-Autor Piesiewicz, der sich, als Laie auf dem Gebiet der Filmproduktion, keine Vorstellung davon machte, wie aufwendig ein solches Projekt ist.
Eigentlich wollten Piesiewicz und Kieślowski nur die Drehbücher schreiben und
sie zehn jungen Nachwuchsregisseuren geben. Da sich Kieślowski aber von diesem
16 In der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 wurde nach länger andauernden Unruhen das
Kriegsrecht verhängt, welches bis zum Ende des nächsten Jahres in Kraft blieb. Dies hatte
auf viele Menschen in Polen, auf ihr Privatleben, ihre Emotionen und Ethik desillusionierende Auswirkungen. ‚Ihr habt Euch für das Leben entschieden, und das ist viel schwerer zu
ertragen‘, sagt Rechtsanwalt Labrador in Kieślowskis Film Ohne Ende zu seinem Mandanten.
17 Vgl. (Stok, 1993, S. 127ff.)
18 Preisner, zit. nach der Dokumentation Geschichten um Liebe und Tod (Regie: Peter Paul
Huth).
8
Biographie und künstlerischer Werdegang
Projekt nicht lösen konnte, führte er bei allen Filmen selber Regie. Im Nachhinein betonte er in Interviews jedoch immer wieder, wieviel Kraft ihn dieses Projekt
gekostet hat.19 In den Filmen sollte anhand von sehr persönlichen, individuellen
Schicksalen gezeigt werden, welche Bedeutung moralische und ethische Werte im
heutigen Polen haben. Kieślowski versucht, die Geheimnisse, die Sehnsüchte der
Menschen auf die Leinwand zu bringen. Die 10 Gebote werden in keinem Film
erwähnt, doch ist anhand der Zahl im Vorspann zu erkennen, welches Gebot gemeint ist. Obwohl jeder Film eigentlich für sich steht, sind sie alle, durch wieder
auftauchende Personen, miteinander verknüpft.20 Von zwei Filmen (Dekalog 5 und
6) wurden Kinofassungen mit den Titeln Ein kurzer Film über das Töten und Ein
kurzer Film über die Liebe produziert, die sowohl vom Publikum als auch von Kritikern in höchstem Maße gelobt wurden. Mit den 10 Filmen des Dekalog gelang
Kieślowski der internationale Durchbruch.
Aufgrund des außerordentlichen Erfolgs bekam Kieślowski das Angebot, von
nun an in Frankreich zu arbeiten. Er nahm sofort an, da es in Polen immer schwieriger wurde, Geld für größere und aufwendigere Produktionen zu bekommen. Dieser
Schritt zog allerdings auch einige Veränderungen mit sich, die Kieślowski wie folgt
beschreibt:
»Als ich nach Frankreich kam, sah ich eine andere Welt, die viel farbiger
war. Vor allem hatten die Menschen dort das Gefühl, dass sie viel mehr
Möglichkeiten haben. Insofern ist das Leben dort von Natur aus farbiger
und bunter. Damit meine ich nicht nur die bunten Reklameschilder. Deshalb
ist diese Farbigkeit in die Filme hineingeraten, die ich dort gemacht habe.
Deshalb hat sich die ganze Ästhetik der Filme wesentlich verändert.«21
Die zwei Leben der Veronika war Kieślowskis erster Film im Ausland. Es geht um
ein junges Mädchen auf der Suche nach der eigenen Identität, die auf geheimnisvolle
Weise durch das Vorhandensein einer Doppelgängerin bestimmt wird. Dazu schreibt
Kieślowski:
»Wissen Sie, ich hatte eigentlich nicht vor, Die zwei Leben der Veronika in
zwei verschiedenen Ästhetiken zu erzählen. Nein, dieser Film ist eigentlich
ästhetisch ganz ähnlich. Der erste Teil, der in Polen spielt, ist von einer
ähnlichen Ästhetik wie der zweite Teil, der in Frankreich spielt. Und doch ist
es kein Zufall, dass die erste Heldin, auch wenn sie ihre Chance wahrnimmt,
sie nicht nutzen kann, weil sie es gesundheitlich nicht schafft und stirbt.
Die zweite Heldin dagegen kann überleben, sie kann etwas aus ihrem Leben
machen.«22
Der Film handelt von Liebe und Tod – aber nicht tragisch (wie üblich), sondern
»optimistisch«, so Kieślowski in einer Podiumsdiskussion nach der deutschen Premiere in Mannheim.23
19 Vgl. Dokumentation Leben ist Zufall (Regie: Helmut Meewes).
20 Vgl. Kapitel 3.1: Die Trilogie im filmographischen Kontext Kieślowskis (S.27). Hier wird noch
näher auf eine, in diesem Punkt schon deutlich zu erkennende Entwicklung seines Schaffens
eingegangen.
21 Kieślowski, zit. nach der Dokumentation Geschichten um Liebe und Tod (Regie: Peter Paul
Huth).
22 Kieślowski, zit. nach der Dokumentation Geschichten um Liebe und Tod (Regie: Peter Paul
Huth).
23 Vgl. Visarius (1991)
1.2 Zbigniew Preisner
9
Dieser Optimismus wird auch in Kieślowskis letztem Werk, der Drei Farben
-Trilogie, fortgeführt. Von seinem Zusammentreffen mit Kieślowski bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises in Paris berichtet der Produzent Martin Karmitz: »Wir sprachen über alles mögliche, außer über Film. Über Moral, und ab
und zu über Gott. Dabei entstand die Idee, das Projekt Drei Farben zusammen zu
machen.«24 Die drei Filme, die trotz vielfacher Auszeichnungen auch auf Kritik25
gestoßen sind, kamen innerhalb von nur neun Monaten heraus: Blau in Venedig,
Weiss in Berlin und Rot in Cannes. Seit 198126 variierte Kieślowski Themen, die
um die Frage nach dem Geheimnis des menschlichen Lebens kreisen: Wie geht man
in einer auf Ordnung und Rationalität hin angelegten Lebensführung mit dem Zufall, dem plötzlichen Einbruch des Unvorhergesehenen um? Ist vollkommene Liebe
überhaupt möglich? Welche Rolle spielt der Tod? In Der Zufall möglicherweise dominiert noch düsterer Fatalismus, jede der drei Lebensentscheidungen endet in der
Ausweglosigkeit. Diese pessimistische Einstellung ersetzte Kieślowski in seinem letzten Film durch das Prinzip Hoffnung. Die einzigen Überlebenden einer Schiffskatastrophe sind die Hauptdarsteller aller drei Filme. »Ein versöhnlicher Schlussakkord
in einem Werk, das nach der Ankündigung des Regisseurs sein letztes sein soll«, bemerkt Peter Hasenberg in (Hasenberg, 1994, S. 5). Obwohl in Zusammenarbeit mit
Piesiewicz und Preisner noch eine weitere Trilogie zu den Themen Himmel, Hölle
und Fegefeuer geplant war,27 zu der Kieślowski das Drehbuch schon geschrieben
hatte, blieb es bei der Ankündigung: »Für mich steht seit langem fest: Ich werde
nie wieder einen Film drehen.«28 Nachdem er sich eine Zeit lang in sein Ferienhaus
an einem See in Masuren zurückgezogen hatte, starb er am 13. März 1996 im Alter
von 54 Jahren in einem Warschauer Krankenhaus an einem Herzinfarkt.
1.2
Zbigniew Preisner
Zbigniew Preisner wurde am 20. Mai 1955 in Bielsko-Biała, Polen geboren. Er
wuchs in bürgerlichen Verhältnissen auf, aber die Möglichkeit einer musikalischen
Bildung schon während der Schulzeit blieb ihm verwehrt.291975 begann er an der
Jagiellonischen Universität in Krakau sein Studium an der Fakultät für Geschichte und Philosophie. Musik interessierte ihn schon während des Studiums, und er
brachte sich musikalische Grundlagen sowie Transkribieren, Arrangieren und Komponieren im Selbststudium bei. An der ›School of Music‹ in Krakau hatte er die
Gelegenheit, seine Kompositionen mit Studenten zu testen. In den Jahren 1978–
24 Karmitz, zit. nach der Dokumentation Geschichten um Liebe und Tod (Regie: Peter Paul
Huth).
25 Vgl. z.B. Andreas Kilb in Kilb (1996) oder Hans Werner Dannowski in (Dannowski, 1996, S.
21).
26 Vgl. Kapitel 3.1
27 Irène Jacob, die mit Kieślowski in Kontakt geblieben war, glaubte, dass er nur beabsichtigte
die Drehbücher zu schreiben und ähnlich, wie beim Dekalog geplant, die Regie an drei junge
Nachwuchsregisseure abgeben würde. Vgl. (Andrew, 1998, S. 86–87)
28 Kieślowski, zit. nach (Jenny, 1994a, S. 182)
29 »Mir konnte es (das sozialistische Polen, Anm. des Verfassers) die Bildung nicht garantieren,
denn dort wo ich wohnte, gab es keine Musikschule, und für ein Internat in einer anderen
Stadt oder für private Stunden hatten meine Eltern nicht die Mittel.« Preisner, zit. nach
(Wasilewski, 1994, S. 55)
10
Biographie und künstlerischer Werdegang
1980 arbeitete er zusammen mit den Clubs ›Nowy Zaczek‹ und ›Rotunda‹. Nachdem er 1978 den Wettbewerb des ›Festivals des studentischen Liedes‹ in Opole,
1979 den Grand Prix eines Festivals in Krakau gewonnen hatte und im Konzert
der Debütanten ›Opole 79‹ den ersten Preis bekommen hatte, begann er seine
Zusammenarbeit mit der bekannten Krakauer Kleinkunstbühne ›Piwnica pod Baranami‹.30 Als Theaterkomponist debütierte er 1978 im Theaterstück ›Którego nie
bylo‹ von Rafal Wojczak, Regie führte W. Jasinski.
Während Preisner 1981 an der Filmmusik zu Antoni Krauzes Film Prognoza
Pogody31 (Wettervorhersage) arbeitete, lernte er Krzysztof Kieślowski kennen, mit
dem er eine enge Arbeitsbeziehung und Freundschaft einging.32 Preisners allumfassende Vorgehens- und Arbeitsweise war ein Punkt, den Kieślowski an ihm sehr
schätzte:
»Preisner is an exceptional composer in that he’s interested in working in
a film right from the beginning and not just seeing the finished version
and then thinking about how to illustrate it with music. That’s the rule,
right? You show the composer your film and than he fills the gaps with
music. But he can have a different approach. He can think about the music
right from the start, about it’s dramatic function, about the way it should
say something that’s not there in the picture. You can describe something
which perhaps isn’t there on the actual screen but which, together with
the music, starts to exist. It’s interesting – drawing out something which
doesn’t exist in the picture alone or in the music alone. Combining the two,
a certain meaning, a certain value, something which also determines a certain
atmosphere, suddenly begins to exist.«33
Obwohl Preisner auch Musik zu schon fertig geschnittenen Filmen komponierte,
beginnt er seine Arbeit fast immer, während das Drehbuch noch geschrieben wird,
und normalerweise ist er auch beim Schneiden des Films und Mixen des Tons
anwesend. Bevor die Dreharbeiten zu Die zwei Leben der Veronika begannen, probte
30 ›Piwnica pod Baranami‹ wird auch oft als Krakauer Kellerkabarett bezeichnet. In verschiedenen Quellen taucht der Name des Kabaretts allerdings unterschiedlich auf, so wird es z.B. in
einer Presseinformation ›Piwni por Baranami‹ genannt und mit ›Keller unter den Widdern‹
übersetzt. Das Kabarett, welches von Piotr Skrzynecki Ende der fünfziger Jahre gegründet
wurde, schafft es immer wieder, erfolgreich den Kampf gegen die polnische Zensur aufzunehmen. Hier arbeiteten auch viele andere polnische Komponisten, die ebenfalls Musik für Filme
geschrieben haben, so wie z.B. Konieczny, Pawluśkiewicz, Zarycki, Radwan oder auch Penderecki.
Preisner äußert sich zu seinem Wirkungsbereich:
»Das Kabarett ›Piwnica pod Baranami‹ ist ein literarisches Kabarett, hier gilt das Prinzip,
daß das Wichtigste der Text ist, also der Inhalt, und die Musik schreibt man zum Text um
ihn zu unterstützen. Übertragen auf den Film oder das Theater ergibt das den Effekt einer
Verbindung zwischen den einzelnen Elementen. Andererseits schwamm das Kellerkabarett
›Piwnica pod Baranami‹ schon immer gegen den Strom, und das sagte mir sehr zu, denn
dadurch kann man anders sein, originell, und man hat die Möglichkeiten, die Quellen zu erforschen oder auch einfach die eigenen Kräfte zu messen.« Preisner, zit. nach (Wasilewski,
1994, S. 54)
31 Nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981 unterlag dieser Film einige Jahre der Zensur.
32 »Schon immer haben mir seine Filme gefallen,. . . Kieślowski behandelt in seinen Filmen Angelegenheiten, die mich berührt haben. Bei der gemeinsamen Arbeit an Bez Końca (Ohne
Ende, Anm. des Verfassers) stellte sich heraus, daß ich mit ihm fantastisch arbeiten konnte
und auch die Freizeit, sofern wir sie hatten, interessant verbracht haben.« Preisner, zit. nach
(Wasilewski, 1994, S. 55)
33 (Stok, 1993, S. 12)
1.2 Zbigniew Preisner
11
er zwei Wochen intensiv mit Irène Jacob und Elżbieta Towarnicka, die das Original
gesungen hat. »I, as well as the audience, should be absolutely convinced that it
was Irène singing in Polish«, sagte er gegenüber Chris Darke in Macnab und Darke
(1996). Ebenso war Juliette Binoche während der Orchesterproben und Aufnahmen
des Konzerts vor den Dreharbeiten dabei, um Kompositions- und Arbeitsmethoden
eines Komponisten und Dirigenten kennenzulernen.
Bevor Preisner mit seiner Musik zu dem Film La double vie de Véronique, die
er zum Teil unter dem Pseudonym Van den Budenmayer34 schrieb und damit für
einige Verwirrung sorgte, der endgültige Durchbruch gelang, waren die Möglichkeiten, als Filmkomponist in Polen Geld zu verdienen, nur sehr schlecht. »Wenn es
nicht manchmal die Angebote der westlichen Filmemacher gäbe, wäre ich nicht in
der Lage meinen Unterhalt zu verdienen.«35
Obwohl Preisners Musik oft eng mit den Filmen Kieślowskis verknüpft wird, hat
er auch für viele andere Regisseure gearbeitet. So unter anderem für Louis Malle
(Verhängnis), Agnieszka Holland (Der geheime Garten und Hitlerjunge Salomon)
und Hector Babenco (A play in the fields of the Lord). Auch die Musik zu manchen
Hollywoodfilmen stammt aus seiner Feder: so z.B. zu Luis Mandokis Film When
a man loves a woman oder zu Charles Sturridges Film Fairytale: A True Story.
Seit seinem ersten Zusammentreffen mit Kieślowski bei der Arbeit zu Krauzes Film
Weather Report hat er bis heute die Musik zu 45 Filmen geschrieben.36 Zu einer weiteren geplanten Zusammenarbeit zwischen Kieślowski und Preisner, einer Trilogie
über Himmel, Hölle und Fegefeuer, kam es, wie bereits erwähnt, nicht mehr. Auch
nicht zu einem geplanten Projekt, dessen Premiere in Athen stattfinden sollte:
»Gestern noch faßten wir den Plan, in einem gemeinsamen Konzert die Geschichte eines Lebens nachzuzeichnen. Die Premiere sollte auf der Akropolis
in Athen gegeben werden. Es sollte ein großes Ereignis werden, eine Kombination von Mysterienspiel und Oper. Krzysztof Kieślowski sollte die Inszenierung übernehmen, Krzysztof Piesiewicz das Libretto, und ich selbst
wollte die Musik komponieren.
Gestern noch dachten wir, daß dieses Konzert das erste in einer Reihe musikalischer Projekte sein würde, die uns in den nächsten Jahren an viele
interessante Orte in der ganzen Welt führen sollten. Doch das Leben sah
einen anderen Gang der Ereignisse vor: Krzysztof Kieślowski starb am 13.
März 1996.«37
Seine tiefe Verbundenheit drückte Preisner in seinem, Kieślowski gewidmeten, Requiem for my friend38 aus: »The first part of Requiem for my friend is meant as a
farewell to Krzysztof Kieślowski. I dedicate this music to him.«39 »I simply want
34 »It started in Dekalog, when Krzysztof had asked for music in the style of a certain classical
composer. I told him that I’d already composed something a bit different for the film, and now
we could give the composer a name! Krzysztof and I were both very fond of the Netherlands,
so Van Den Budenmayer is a Dutch name. His style is close to Neo-Romanticism, with its
mixture of Classical Romanticism and the compositional techniques of contemporary music.«
Preisner, zit. nach (Macnab und Darke, 1996, S. 20)
35 Preisner, zit. nach (Wasilewski, 1994, S. 55)
36 Eine ausführliche Filmo- und Discographie Preisners findet sich im Anhang.
37 Preisner, zit nach dem Booklet zu Requiem for my friend. Weitere Informationen sind auch
im Internet unter www.preisner.com zu finden.
38 In England am 12.10.1998 bei Warner classics/Erato veröffentlicht. Elżbieta Towarnicka (Sopran); Jacek Kaspszyk (Dirigent); Sinfonia Varsovia; Varsov Chamber Choir
39 Preisner, zit. nach dem Booklet zu Requiem for my friend
12
Biographie und künstlerischer Werdegang
to say thanks to him for everything. Krzysztof, for me, is still alive. We were in
close contact for 15 years.«40
Unter den zahlreichen Auszeichnungen, die Preisner bislang erhalten hat, befinden sich u.a. der Silberne Bär der Berliner Filmfestspiele von 1977, zwei Césars
der französischen ›Académie des artes et des techniques du cinéma‹ – einer 1996
für Elisa von Jean Becker, der andere 1995 für Drei Farben: Rot. Ferner wurde er
in den drei aufeinanderfolgenden Jahren 1991, 1992 und 1993 mit dem Preis der
›Los Angeles Critics Association Awards‹ zum besten Filmmusik-Komponisten des
Jahres gewählt. Preisner ist Mitglied der ›Académie des arts et des téchniques du
cinéma‹ und wurde 1992 vom polnischen Außenministerium für seinen Beitrag zur
Verbreitung der polnischen Kultur im Ausland gewürdigt.
40 Preisner, zit. nach (Macnab und Darke, 1996, S. 20)