Drei Farben«-Trilogie von Krzysztof Kieślowski
Transcription
Drei Farben«-Trilogie von Krzysztof Kieślowski
Tobias Wollermann Zur Musik in der »Drei Farben«-Trilogie von Krzysztof Kieślowski Beiträge zur Medienästhetik der Musik Band 2 herausgegeben von Rolf Großmann und Hartmuth Kinzler Tobias Wollermann Zur Musik in der »Drei Farben«-Trilogie von Krzysztof Kieślowski Electronic Publishing Osnabrück Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Wollermann, Tobias: Zur Musik in der »Drei Farben«-Trilogie von Krzysztof Kieślowski / Tobias Wollermann. – Osnabrück : epOs Music, 2001 (Beiträge zur Medienästhetik der Musik ; Bd. 2) ISBN 3-923486-38-3 c 2001 Electronic Publishing Osnabrück http://www.epos.uni-osnabrueck.de Rechtsträger: Universität Osnabrück Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 3-923486-38-3 Vorwort »You can describe something which perhaps isn’t there on the actual screen but which, together with the music, starts to exist. It’s interesting – drawing out something which doesn’t exist in the picture alone or in the music alone. Combining the two, a certain meaning, a certain value, something which also determines a certain atmosphere, suddenly begins to exist.« Krzysztof Kieślowski Dieses Zitat verdeutlicht, welche enorme Bedeutung Krzysztof Kieślowski der Musik in seinen Filmen zuordnet. Warum aber gibt es unter den unzähligen Essays, Rezensionen und Büchern über seine Filme keine einzige Veröffentlichung, die sich näher mit der Filmmusik auseinandersetzt? Noch weniger zu verstehen ist dies in Bezug auf den Film Drei Farben: Blau, der die Komposition eines Werkes selbst zum Inhalt hat. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist, genau diesen Sachverhalt aufzugreifen. Die Arbeit liefert eine grundlegende Untersuchung der Filmmusik zu der Drei Farben-Trilogie, Kieślowskis letztem Werk, ohne dabei den filmographischen Kontext aus den Augen zu verlieren. Diese Arbeit ist eine Hausarbeit, die im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien an der Universität Osnabrück eingereicht wurde. Ich bedanke mich ganz herzlich bei Herrn Prof. Dr. Hans Christian SchmidtBanse, der die Auseinandersetzung mit dieser Thematik anregte und mich in Gespräch, Rat und Kritik bei dieser Arbeit begleitet hat. Des Weiteren gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Hartmuth Kinzler, der mir mit seinem umfassenden Wissen jederzeit engagiert geholfen hat. Meinen Eltern danke ich, da sie mich mit viel Interesse für meine Arbeit jederzeit finanziell unterstützt haben. Den Mitarbeitern des Concorde-Filmverleih (München), der Arte-Redaktion des ZDF und Arte-TV Deutschland sowie Paul Peter Huth von der 3Sat-Redaktion danke ich für die freundliche Unterstützung bei den Recherchen. Dr. Jessica Merten stand stets mit wertvollen Ratschlägen und Ideen zur Seite – danke. Für seine ausdauernde und stets freundliche Unterstützung in allen editorischen Fragen möchte ich Dr. Martin Gieseking danken. Die Publikation dieser Arbeit wäre nicht zustande gekommen ohne den persönlichen und fachlichen Einsatz von Herrn Prof. Dr. Bernd Enders und Herrn Prof. Dr. Bernhard Müßgens (Electronic Publishing Osnabrück). Auch ihnen gilt mein Dank für ihre engagierte Hilfe. Last but not least möchte ich mich ganz herzlich bei Dorothee Kuhle für ihre Unterstützung in jeder Hinsicht bedanken. Ihr sei diese Arbeit gewidmet. Tobias Wollermann Inhaltsverzeichnis Vorwort v Einleitung 1 1 Biographie und künstlerischer Werdegang 1.1 Krzysztof Kieślowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zbigniew Preisner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 9 2 Überlegungen zur Analyse von Filmmusik 2.1 Zur Dramaturgie im Film . . . . . . . . . . 2.1.1 Die filmische Dramaturgie . . . . . . 2.1.2 Die Musikdramaturgie im Film . . . 2.1.3 Funktionalität von Filmmusik . . . . 2.2 Zur Filmmusikanalyse . . . . . . . . . . . . 3 Die 3.1 3.2 3.3 3.4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 13 13 15 18 22 Trilogie: Entstehung/Einordnung Die Trilogie im filmographischen Kontext . . . . . . . . . Zur Idee der Trilogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Entstehung der Trilogie . . . . . . . . . . . . . . . . . Dramaturgische Gemeinsamkeiten – Synchrone Merkmale 3.4.1 Verbindungen der Trilogie zu früheren Filmen . . . 3.4.2 Verbindungen innerhalb der Trilogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 27 32 33 36 36 38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 41 41 42 49 50 52 56 60 62 66 67 70 70 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Analyse der Filmmusik in der Trilogie 4.1 Drei Farben: Blau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Zur Musik im Film Drei Farben: Blau . . . . . 4.1.3.1 Beerdigungsthema – Patrice’s Thema 4.1.3.2 Das Beerdigungsthema . . . . . . . . 4.1.3.3 Patrice’s Thema . . . . . . . . . . . . 4.1.3.4 Die Musik des Flötenspielers . . . . . 4.1.3.5 Julie’s Thema . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.6 Weitere Musik . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Zusammenfassung: Drei Farben: Blau . . . . . 4.2 Drei Farben: Weiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . viii Inhaltsverzeichnis 4.2.2 4.2.3 4.3 Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Musik im Film Drei Farben: Weiss . . . . . 4.2.3.1 Melancholische Melodie versus Tango 4.2.3.2 Der Tango . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.3 Die melancholische Melodie . . . . . . 4.2.3.4 Karols Kammlied . . . . . . . . . . . 4.2.4 Zusammenfassung: Drei Farben: Weiss . . . . . Drei Farben: Rot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Zur Musik im Film Drei Farben: Rot . . . . . . 4.3.3.1 Der Bolero . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.2 Das »Lied zwischen den Welten« . . . 4.3.4 Zusammenfassung: Drei Farben: Rot . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 77 77 82 86 90 92 95 95 96 103 104 109 111 115 A Filmographien 117 A.1 Krzysztof Kieślowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 A.2 Zbigniew Preisner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 A.3 Filme über Kieślowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 B Discographie 137 B.1 Zbigniew Preisner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Literaturverzeichnis 138 Einleitung »Mich persönlich inspiriert ein Drehbuch oder ein Text mehr als ein fertiger Film. . . In allen Drehbüchern von Krzysztof ist die Musik in gewisser Weise schon angelegt. Die Drehbücher besitzen ihre eigene Musik.« Zbigniew Preisner1 Auf eine solche Aussage eines Filmmusikkomponisten stößt man heutzutage nur selten: oft führen finanzielle Interessen der Komponisten zu einer raschen Angleichung ihrer Tonsprache an die Erfordernisse einer auf maximale Verwertung ihrer Produkte orientierten Filmindustrie. Zunehmend verkommt Filmmusik zum blitzeblank polierten tönenden Abziehbild von Vorlagen, die oft selbst schon Kopien von bereits in den Kinotheken der Stummfilmära ausgelaugten Vorbildern sind. Mit dieser Arbeit soll die Frage beantwortet werden, wie Preisner die »in den Drehbüchern bereits angelegte« Musik mit der ihm eigenen Tonsprache zum Klingen bringt, ohne dabei in musikalische Plattitüden zu verfallen. Weiterhin soll überlegt werden, inwiefern sich seine Filmmusik vom Hollywood-üblichen Sound-Design abhebt und eine eigene klangliche Identität besitzt. Warum haben seine Melodien den Schein des Bekannten und zeugen gleichzeitig von einem authentischen Stil? Schließlich wird der Frage nachgegangen, in welchem Zusammenhang die Filmmusik mit der Dramaturgie der jeweiligen Filme steht, welche verschiedenen Funktionen sie wahrnimmt und welchen Anteil die Musik an der Wirkung, der Aussage der Filme hat. Die Musik Preisners steht in einem engen Bezug zu den Filmen Krzysztof Kieślowskis. Neben einer langjährigen Zusammenarbeit verband die beiden Künstler auch eine persönliche Freundschaft. Anhand von Kieślowskis Trilogie Drei Farben: Blau, Weiss, Rot soll den oben erwähnten Fragen nachgegangen werden. Da es sich bei der Trilogie um drei eng miteinander verbundene Filme handelt, ist weiterhin zu untersuchen, inwiefern die Musik diesem Sachverhalt Rechnung trägt und Einfluss auf die Gesamtdramaturgie der Trilogie nimmt. Die Kapitel 1 und 3 bieten insbesondere für die Analyse nötige Hintergrundinformationen, ohne die ein umfassendes Verstehen nicht möglich ist. Die theoretischen Grundlagen der Dramaturgie im Film sowie die verschiedenen Funktionen von Filmmusik, die im Kapitel 2 kurz umrissen werden, sind für das Verständnis der Analyse und für die Vorgehensweise wichtig. Den Kern dieser Arbeit, die eigentliche 1 Zbigniew Preisner, zit. nach der Dokumentation Geschichten um Liebe und Tod (Regie: Peter Paul Huth). 2 Einleitung Analyse, bildet das Kapitel 4. In diesem Kapitel sollen die theoretischen Grundlagen plastisch mit Inhalt gefüllt werden. Anhand ausgewählter Beispiele werden die Zusammenhänge von Szenerie und Ton, die verschiedenen Funktionen der Musik etc. dargestellt. Im Anhang finden sich ferner Disco- und Filmographien zu bzw. über Kieślowski und Preisner. Die in der Analyse verwendeten Notenbeispiele erheben keinen Anspruch auf kompositorische Authentizität. Da es nicht möglich war, Notenmaterial zu erhalten, wurden die einzelnen Themen vom Verfasser nach Gehör transkribiert. Bei der Literaturrecherche zu dieser Arbeit wurde deutlich, dass es zur Filmmusik Preisners im Allgemeinen und speziell zu der Verwendung seiner Musik in den Filmen Kieślowskis keine Literatur gibt, die sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt. Lediglich der Filmmusikwissenschaftler Wolfgang Thiel versucht in einem zweiseitigen Artikel eine »Annäherung an Zbigniew Preisners Drei Farben-Partitur«. In den unzähligen Artikeln und Rezensionen, die sich mit den Filmen auseinandersetzen, wird die Musik, wenn überhaupt, meist nur nebensächlich erwähnt. Auch Erbsteins Buch »Untersuchungen zur Filmsprache im Werk von Krzysztof Kieślowski« und Geoff Andrews »The Three Colours Trilogy« gehen nur sehr oberflächlich auf die Verwendung der Musik in den Filmen ein. Die vorliegende Arbeit versucht in dem ihr möglichen Rahmen diesem Sachverhalt entgegenzuwirken, indem sie eine grundlegende Untersuchung der Filmmusik zu der Drei Farben-Trilogie liefert. Gleichzeitig soll der auf der musikalischen Ebene vielschichtigen und außergewöhnlich engen Zusammenarbeit der beiden Künstler Rechnung getragen werden. 1 Biographie und künstlerischer Werdegang 1.1 Krzysztof Kieślowski Krzysztof Kieślowski, am 27.6.1941 in Warschau geboren, wuchs in eher ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater arbeitete als Ingenieur und seine Mutter als Büroangestellte. Gegen Ende des 2. Weltkrieges wurde Kieślowskis Schwester 1944 in Strzemieszyce geboren. Seinem Vater, der an Tuberkulose erkrankt war, ging es immer schlechter, so dass er viel Zeit in Sanatorien verbringen musste. Da die Familie aber zusammenbleiben wollte, zog die Mutter mit ihren beiden Kindern immer in dieselbe Stadt und suchte sich dort Arbeit. Auch Kieślowski und seine Schwester verbrachten einige Zeit in Sanatorien1 , die vom Staat bezahlt wurden, da die alleinverdienende Mutter nicht das nötige Geld aufbringen konnte, um die Kinder zu versorgen. Für die Familie war diese Trennung nicht besonders leicht. Bedingt durch die häufigen Umzüge, musste Kieślowski oftmals die Schule wechseln. »I went to so many schools that I often get them mixed up, and don’t remember even where I went. I would change schools twice or even three times a year.« (Stok, 1993, S. 10) Kieślowski war immer ein guter Schüler, der hervorragende Noten erzielte, ohne sich besonders anzustrengen. Trotzdem brachte ihm die Schule keinen großen Gewinn. Da die Familie immer in kleineren Dörfern lebte, bot sich auch nicht die Möglichkeit, weiterführende Schulen zu besuchen. Der Vater schickte ihn schließlich auf eine Berufsschule der Feuerwehr, da Verpflegung und Unterkunft frei waren. Aber schon nach wenigen Monaten stellte Kieślowski fest, dass er lieber, koste es was es wolle, studieren wollte. Schließlich bot sich die Möglichkeit, ein ›College für Theatertechniker‹2 in Warschau zu besuchen, dessen Direktor der Onkel seiner Mutter war. Hier wurde neben der technischen Ausbildung auch ein Schwerpunkt auf die Vermittlung kultureller Werte gelegt. So wurden die Schüler von ihren Lehrern angewiesen, ins Theater oder Kino zu gehen und Bücher zu lesen. Letztere interessierten Kieślowski allerdings schon von Kindheit an. »And those books formed us — at least, they did me. They taught me something, made me sensitive to something. The books I read, particularly as a child or boy, made me what I am. [. . . ] Of course, the world wich I 1 2 Es handelt sich hierbei um spezielle Sanatorien für Kinder, die in Polen ›Preventoria‹ genannt werden. »They were for children threatened by TB or who were weak. The whole idea was to spend time in a good climate and to have healthy food.« (Stok, 1993, S. 13) Państwowe Liceum Techniki Teatralnej 4 Biographie und künstlerischer Werdegang inhabited, the world of friends, bicycles, running around,[. . . ], this was the real world. But equally real to me was the world of books, the world of all sorts of adventure.«3 An dieser Schule entdeckte Kieślowski seine Liebe zum Theater und beschloss, Theaterregisseur zu werden. Da man in Polen dazu ein abgeschlossenes Studium benötigte, bewarb sich Kieślowski daraufhin an der Filmhochschule in Lodz. Zweimal fiel er durch die Aufnahmeprüfung, beim dritten Mal schaffte er es, allerdings hatte er inzwischen das Interesse, Theater- oder Filmregisseur zu werden, verloren. Da die Aufnahmeprüfungen nur einmal jährlich stattfinden, arbeitete er in der Zwischenzeit als Garderobier im Kulturamt und als Ankleider bzw. Dekorateur im Theater. Nebenbei studierte er ohne besonderes Interesse Kunstpädagogik, um der Einberufung in die Armee zu entgehen, was ihm schließlich auch mit einer vorgetäuschten Schizophrenie, wegen der er für einige Tage in die Psychatrie eingewiesen wurde, gelang. An der Filmhochschule in Lodz wurde neben den normalen Unterrichtsfächern wie z.B. ›Geschichte des Films‹, ›Geschichte der Ästhetik‹ oder ›Photographie‹ besonderer Wert auf das Sehen und Diskutieren von Filmen gelegt. Rückblickend beurteilt Kieślowski seine Ausbildung folgendermaßen: »The whole idea is to watch films and to talk about them, nothing else. You have to watch films, and because you’re watching them and making them, you’re always talking about them. It doesn’t matter whether you talk about them during history lectures, or lectures on aesthetics or even if you talk about them during English classes. It’s all the same. What is important is that the subject is always present. That you’re always talking about it, analysing, discussing, comparing.«4 Mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen sollten nun die eigenen Filme gemacht werden, ein oder zwei pro Jahr. Da die Filme kurz sein mussten, wurden manchmal auch Kurzgeschichten als Vorlage genommen. Im Allgemeinen schrieb aber jeder sein eigenes Drehbuch. An der Filmhochschule gab es keine Zensur durch staatliche Organe, so konnten die Studenten Filme sehen, die der Öffentlichkeit gar nicht oder erst Jahre später gezeigt wurden. Kieślowski war besonders beeindruckt von einigen Filmen Ken Loachs, Orson Welles, Fellinis oder Bergmans. 1968 war ein einschneidendes Jahr für Kieślowski. Polnische Nationalisten und Antisemiten begannen, jüdische Bürger des Landes zu verweisen. Auch einige Lehrende der Filmschule in Lodz mussten gehen. Von studentischer Seite formierte sich der Widerstand: »Auch wir in Polen hatten unseren Frühling ’68, unsere Studentenrevolte. Ihr Untergang5 ist die Enttäuschung, die mein Leben am tiefsten geprägt hat.«6 Gleichzeitig begann der Staat, sich immer mehr in die Angelegenheiten der Filmhochschule einzumischen und bestimmte Richtungen vorzugeben.7 3 4 5 6 (Stok, 1993, S. 5) (Stok, 1993, S. 31ff.) Die Revolte wurde von der Miliz niedergeschlagen. Zur Verstärkung führten Betriebsorganisationen der Partei die Arbeiter auf die Straße, wo sie an der Seite der Miliz die Jugend zur Vernunft bringen sollten. Kieślowski, zit. nach (Jenny, 1994a, S. 182) 1.1 Krzysztof Kieślowski 5 Im selben Jahr schrieb Kieślowski seine Diplomarbeit8 über die Dramaturgie in Dokumentarfilmen bei Professor Jerzy Bossak und 1969 erhielt er für seinen Abschlussfilm an der Filmhochschule Aus der Stadt Lodz9 den Andrzej-Munk-Preis für das beste Spielfilmdebüt. Dieser Film war gleichzeitig seine erste Arbeit für das Staatliche Dokumentarfilmstudio WDF (Wytwornia Filmow Dokumentarlynch) in Polen. In seinem letzten Jahr an der Filmhochschule heiratete er seine Frau Marysia, 1974 wurde das einzige Kind, seine Tochter Martha geboren. Nach dem Abschluss des Studiums bekam Kieślowski sofort eine Assistentenstelle beim WDF. Allerdings dementiert er selbst, dass er als solcher fungiert hat und betont vielmehr, dass er immer selbstständig gearbeitet hat: »Initially I was employed as an assistant at the WDF but I never worked as one. Never in my life have I been an assistant. I strongly defend myself against it. They employed me as an assistant because those were the formal requirements. Then, later, I was employed as a director. I think I was the first of my generation to be officially employed as a director at the WDF.«10 Eine Ausnahme bilden die Auftraggsproduktionen Zwischen Wroclaw und Zielona Gora und Die Sicherheits- und Hygienebestimmungen in einer Kupfermine für die Kupfermine in Lublin. Hier war er gebunden und konnte seine eigenen Interessen und Ideen weniger durchsetzen. Allerdings hatten diese Produktionen den Vorteil eines höheren Honorars, denn allgemein verdiente man als freier Filmregisseur in Polen nur sehr schlecht.11 Berücksichtigt man die Allgegenwart der Politik im polnischen Leben, vor allem unter dem zu Repressalien neigenden Edward Gierek, ist es nahezu zwangsläufig, dass sich Kieślowskis Dokumentationen mit Menschen beschäftigen, die für oder gegen staatliche Institutionen arbeiteten: In Die Fabrik werden abwechselnd Szenen von Arbeitern im Ursus Traktorenwerk und Szenen von der Betriebsleitung bei einer Sitzung, auf der die Unfähigkeit, die Produktionsrate zu steigern diskutiert wird, gezeigt. Nach den Streiks 1970 und dem Sturz Gomulkas drehte Kieślowski den Film Arbeiter ’71. »It was intended to portrait the workers’ state of mind in 1971.«12 Hospital skizziert die Bewältigung einer vom Staat diktierten 32-StundenSchicht von orthopädischen Chirurgen im Krankenhaus. In den späten 70’ern wurde Kieślowski als Vizepräsident der ›Polish Film-Makers Association‹ in den Kampf um mehr künstlerische Freiheit verwickelt.13 Später bestand Kieślowski darauf, 7 8 9 10 11 12 13 Dies geschah auf eine sehr subtile Art und Weise: Die Regierung unterstützte finanziell den Bereich Experimentalfilm immer mehr, was auf Kosten einiger anderer unbeliebterer Bereiche ging, wie z.B. den des Dokumentarfilms. Auf diese Art und Weise kann man von einer getarnten Zensur sprechen. Vgl. (Stok, 1993, S. 36ff.) Ein Ausschnitt der Arbeit wurde in der polnischen Zeitschrift ›Film na swiecie‹ Nr.3–4, 1992, S. 388–389 abgedruckt und von Michel Lisowski in der Zeitschrift ›Positif‹ übersetzt. Vgl. (Kieślowski, 1995, S. 56–57) Eine ausführliche Filmographie zu Kieślowski findet sich im Anhang (S. 117) (Stok, 1993, S. 54) »Ein anderes Beispiel — der Taxifahrer, der bei der Produktion eines Filmes beschäftigt ist, verdient viermal mehr Geld als der Regisseur. Die Beispiele könnte man fortführen. Die Arbeit lohnt sich weiterhin nicht.« Zbigniew Preisner, zit. nach (Wasilewski, 1994, S. 56) (Stok, 1993, S. 55) Hierzu berichtete er Danusia Stok: ». . . es stellte sich heraus, dass wir total bedeutungslos waren.« Vgl. (Stok, 1993, S. 39) 6 Biographie und künstlerischer Werdegang dass seine Dokumentarfilme keine Untersuchungen von unterdrückenden politischen Institutionen sein sollten. Vielmehr wollte er aus einem humanistischen Blickwinkel individuelle Portraits von Menschen drehen. In der Tat gibt es einiges, was diese Behauptung rechtfertigt. Während Vom Standpunkt eines Nachtwächters die Darstellung von dessen konservativer Haltung gegenüber Verbrechen, Bestrafung und Autorität klare soziale, politische und ethische Bedeutung trägt, ist der Film auf der anderen Seite eine überraschend sympathische Charakter-Studie einer eher traurigen und unausgefüllten Person. Ähnlich verhält es sich mit dem Film Talking heads, in dem 79 Polen gefragt werden, wann sie geboren wurden, was sie tun und was sie am liebsten mögen. Einerseits bietet der Film eine Einsicht in die Gesellschaft des zeitgemäßen Polens, andererseits, indem er in schneller linearer Art und Weise von der jüngsten bis zur ältesten Person verläuft, einen universell zutreffenden Einblick in die emotionalen, physischen und psychologischen Aspekte des Alterns. Es ist offensichtlich, dass sich Kieślowskis Interesse an der Politik immer aus seiner Faszination für die Auswirkungen dieser auf das Individuum herleiten lässt. 1976/77, als sich der Konflikt zwischen Staat und Volk immer mehr zuspitzte, entstand eine neue Bewegung unter den Filmemachern, das ›Kino der moralischen Unruhe‹, in dessen Zentrum Wajda, Zanussi, Piwowarski, Holland und auch Kieślowski standen. Ziel der Bewegung war es, Missstände in der Gesellschaft aufzuzeigen. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Verfall der moralischen Werte und der Ethik. »Es wurde aufgezeigt, wie mit der Manipulation der Massen durch staatliche Ideologie die Moral, die Ethik der Menschen untergraben wurde.«14 Von einem merkwürdigen Paradox berichtet der Filmkritiker und Drehbuchautor T. Toeplitz: »Alle Filme die in den 60’er und 70’er Jahren im Rahmen der ›polnischen Schule‹ oder des sogenannten ›Kinos der moralischen Unruhe‹ entstanden, entstanden ja mit staatlichen Mitteln, die von den politischen Organen kontrolliert wurden. Und hier fand die ganze Zeit über ein merkwürdiges Spiel statt: Heute präsentiert man diese Filme als diejenigen, die das System in Frage stellten und auch oppositionelle Autoritäten aufbauten – etwa die von Wajda oder Zanussi. Es stimmt, nur zur gleichen Zeit wurden diese Filme nicht etwa von einem privaten Produzenten oder irgendwelchen Untergrundkräften finanziert, akzeptiert und realisiert, sondern von dem Staat, gegen den sie gedreht wurden. Dieses Paradox birgt die ganze Wahrheit über die polnische Kinematographie jener Zeit; über all das, was damals geschah. Gewissermaßen pirschten sich beide Seiten aneinander an. Dem Staat war bewusst, dass er Werke produzierte, die ihm gegenüber kritisch waren. Doch er sagte: ›Gut, aber nur bis zu einer gewissen Grenze‹, oder ›Das muss irgendwie verpackt werden, das muss irgendwie aus der Sicht der staatlichen Politik begründet werden.‹ Die Regisseure wiederum wussten: ›Gut, ich will sie ein bisschen ärgern, aber ich weiß, dass ich das nur bis zu einer gewissen Grenze tun darf, damit ich das Geld für die Produktion dieses Films bekomme.‹ Eigentlich spielte man die ganze Zeit über solch ein Spiel, bei dem sich beide Seiten einer gewissen Undeutlichkeit und im Grunde eines gewissen Einvernehmens bewusst waren.«15 14 (Erbstein, 1997, S. 12) 15 Entnommen aus der Dokumentation Die Macht der Symbole – Polnisches Kino zwischen Kunst und Politik (Regie: Heike Wilke). Vgl. S. 135 1.1 Krzysztof Kieślowski 7 Kieślowskis Film Der Amateur, der sowohl bei den Kritikern als auch beim Publikum ein großer Erfolg war, ist die Synthese seiner Einstellungen und künstlerischen Suche in den 70’ern und zugleich einer der signifikantesten Filme des ›Kinos der moralischen Unruhe‹. Gleichzeitig schlägt Kieślowski mit diesem Film aber auch eine neue Richtung ein. Im Vordergrund seiner Filme stehen jetzt einzelne Personen, ihre Einstellung zum Leben, ihr Mut, ihre Moral und Verantwortung. Diese Richtung setzt sich auch in den folgenden Filmen fort. In Der Zufall - möglicherweise fügt Kieślowski der Erforschung von Personen und ihrem Handeln noch die Kategorie des Zufalls hinzu. Dreimal erlebt der Protagonist die gleiche Situation, und dreimal entwickelt sich aus dieser Situation ein anderes Schicksal, zweimal durch Zufall, das dritte Mal wählt er es selbst aus. Allerdings ist auch diese dritte Variation vom Zufall beeinflusst. Der Film Ohne Ende wird von Kieślowski noch um eine transzendentale Ebene erweitert (ein Toter greift in weltliche Ereignisse ein). Dieser Film ist aber nicht eine Abhandlung übernatürlicher Phänomene, sondern vielmehr die rücksichtslose Enthüllung der tragischen Periode nach der Erklärung des Kriegsrechtes in Polen16 mit der Feststellung, dass ein privates Leben in Abkopplung von der Gesellschaft nicht funktionieren kann. Bei der Produktion dieses Films arbeitete Kieślowski zum ersten Mal mit dem Rechtsanwalt Krzysztof Piesiewicz und mit dem Komponisten Zbigniew Preisner zusammen. Kieślowski und Piesiewicz lernten sich während des Kriegszustandes kennen, als Kieślowski einen Film über politische Gerichtsprozesse drehen wollte. Dieser Film ist aber nie geschnitten und produziert worden, da die Kamera im Gerichtssaal bewirkte, dass die Richter nur milde Urteile sprachen.17 Zbigniew Preisner berichtet über das erste Zusammentreffen mit Kieślowski: »Es war 1983 in einem entsetzlichen Restaurant in Warschau. [. . . ] Außer mir und Krzysztof waren da noch der Tonmann Michał Żarnecki und der Kameramann Jacek Petrycki. Ich glaube, es war ein Karfreitag. Wir aßen Sauerkrautsuppe und tranken Wodka. Krzysztof wollte damals gerade Ohne Ende drehen – seinen ersten Film unter den Bedingungen des Kriegsrechts. Es war ihm sehr wichtig, dass der Film gut wurde, und er hat fast eine Stunde ununterbrochen auf mich eingeredet, ich möge doch bitte eine besonders gute Musik dazu schreiben. Ich habe ihm scherzhaft geantwortet: ‚Herr Kieślowski, haben Sie keine Angst, wir haben schon größere Premieren versaut.‘«18 Im 1988/89 entstandenen Fernsehzyklus Dekalog befasst sich Kieślowski noch mehr mit der »inneren Welt« seiner Protagonisten. Die Idee, die 10 Gebote zu verfilmen, stammt vom Co-Autor Piesiewicz, der sich, als Laie auf dem Gebiet der Filmproduktion, keine Vorstellung davon machte, wie aufwendig ein solches Projekt ist. Eigentlich wollten Piesiewicz und Kieślowski nur die Drehbücher schreiben und sie zehn jungen Nachwuchsregisseuren geben. Da sich Kieślowski aber von diesem 16 In der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 wurde nach länger andauernden Unruhen das Kriegsrecht verhängt, welches bis zum Ende des nächsten Jahres in Kraft blieb. Dies hatte auf viele Menschen in Polen, auf ihr Privatleben, ihre Emotionen und Ethik desillusionierende Auswirkungen. ‚Ihr habt Euch für das Leben entschieden, und das ist viel schwerer zu ertragen‘, sagt Rechtsanwalt Labrador in Kieślowskis Film Ohne Ende zu seinem Mandanten. 17 Vgl. (Stok, 1993, S. 127ff.) 18 Preisner, zit. nach der Dokumentation Geschichten um Liebe und Tod (Regie: Peter Paul Huth). 8 Biographie und künstlerischer Werdegang Projekt nicht lösen konnte, führte er bei allen Filmen selber Regie. Im Nachhinein betonte er in Interviews jedoch immer wieder, wieviel Kraft ihn dieses Projekt gekostet hat.19 In den Filmen sollte anhand von sehr persönlichen, individuellen Schicksalen gezeigt werden, welche Bedeutung moralische und ethische Werte im heutigen Polen haben. Kieślowski versucht, die Geheimnisse, die Sehnsüchte der Menschen auf die Leinwand zu bringen. Die 10 Gebote werden in keinem Film erwähnt, doch ist anhand der Zahl im Vorspann zu erkennen, welches Gebot gemeint ist. Obwohl jeder Film eigentlich für sich steht, sind sie alle, durch wieder auftauchende Personen, miteinander verknüpft.20 Von zwei Filmen (Dekalog 5 und 6) wurden Kinofassungen mit den Titeln Ein kurzer Film über das Töten und Ein kurzer Film über die Liebe produziert, die sowohl vom Publikum als auch von Kritikern in höchstem Maße gelobt wurden. Mit den 10 Filmen des Dekalog gelang Kieślowski der internationale Durchbruch. Aufgrund des außerordentlichen Erfolgs bekam Kieślowski das Angebot, von nun an in Frankreich zu arbeiten. Er nahm sofort an, da es in Polen immer schwieriger wurde, Geld für größere und aufwendigere Produktionen zu bekommen. Dieser Schritt zog allerdings auch einige Veränderungen mit sich, die Kieślowski wie folgt beschreibt: »Als ich nach Frankreich kam, sah ich eine andere Welt, die viel farbiger war. Vor allem hatten die Menschen dort das Gefühl, dass sie viel mehr Möglichkeiten haben. Insofern ist das Leben dort von Natur aus farbiger und bunter. Damit meine ich nicht nur die bunten Reklameschilder. Deshalb ist diese Farbigkeit in die Filme hineingeraten, die ich dort gemacht habe. Deshalb hat sich die ganze Ästhetik der Filme wesentlich verändert.«21 Die zwei Leben der Veronika war Kieślowskis erster Film im Ausland. Es geht um ein junges Mädchen auf der Suche nach der eigenen Identität, die auf geheimnisvolle Weise durch das Vorhandensein einer Doppelgängerin bestimmt wird. Dazu schreibt Kieślowski: »Wissen Sie, ich hatte eigentlich nicht vor, Die zwei Leben der Veronika in zwei verschiedenen Ästhetiken zu erzählen. Nein, dieser Film ist eigentlich ästhetisch ganz ähnlich. Der erste Teil, der in Polen spielt, ist von einer ähnlichen Ästhetik wie der zweite Teil, der in Frankreich spielt. Und doch ist es kein Zufall, dass die erste Heldin, auch wenn sie ihre Chance wahrnimmt, sie nicht nutzen kann, weil sie es gesundheitlich nicht schafft und stirbt. Die zweite Heldin dagegen kann überleben, sie kann etwas aus ihrem Leben machen.«22 Der Film handelt von Liebe und Tod – aber nicht tragisch (wie üblich), sondern »optimistisch«, so Kieślowski in einer Podiumsdiskussion nach der deutschen Premiere in Mannheim.23 19 Vgl. Dokumentation Leben ist Zufall (Regie: Helmut Meewes). 20 Vgl. Kapitel 3.1: Die Trilogie im filmographischen Kontext Kieślowskis (S.27). Hier wird noch näher auf eine, in diesem Punkt schon deutlich zu erkennende Entwicklung seines Schaffens eingegangen. 21 Kieślowski, zit. nach der Dokumentation Geschichten um Liebe und Tod (Regie: Peter Paul Huth). 22 Kieślowski, zit. nach der Dokumentation Geschichten um Liebe und Tod (Regie: Peter Paul Huth). 23 Vgl. Visarius (1991) 1.2 Zbigniew Preisner 9 Dieser Optimismus wird auch in Kieślowskis letztem Werk, der Drei Farben -Trilogie, fortgeführt. Von seinem Zusammentreffen mit Kieślowski bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises in Paris berichtet der Produzent Martin Karmitz: »Wir sprachen über alles mögliche, außer über Film. Über Moral, und ab und zu über Gott. Dabei entstand die Idee, das Projekt Drei Farben zusammen zu machen.«24 Die drei Filme, die trotz vielfacher Auszeichnungen auch auf Kritik25 gestoßen sind, kamen innerhalb von nur neun Monaten heraus: Blau in Venedig, Weiss in Berlin und Rot in Cannes. Seit 198126 variierte Kieślowski Themen, die um die Frage nach dem Geheimnis des menschlichen Lebens kreisen: Wie geht man in einer auf Ordnung und Rationalität hin angelegten Lebensführung mit dem Zufall, dem plötzlichen Einbruch des Unvorhergesehenen um? Ist vollkommene Liebe überhaupt möglich? Welche Rolle spielt der Tod? In Der Zufall möglicherweise dominiert noch düsterer Fatalismus, jede der drei Lebensentscheidungen endet in der Ausweglosigkeit. Diese pessimistische Einstellung ersetzte Kieślowski in seinem letzten Film durch das Prinzip Hoffnung. Die einzigen Überlebenden einer Schiffskatastrophe sind die Hauptdarsteller aller drei Filme. »Ein versöhnlicher Schlussakkord in einem Werk, das nach der Ankündigung des Regisseurs sein letztes sein soll«, bemerkt Peter Hasenberg in (Hasenberg, 1994, S. 5). Obwohl in Zusammenarbeit mit Piesiewicz und Preisner noch eine weitere Trilogie zu den Themen Himmel, Hölle und Fegefeuer geplant war,27 zu der Kieślowski das Drehbuch schon geschrieben hatte, blieb es bei der Ankündigung: »Für mich steht seit langem fest: Ich werde nie wieder einen Film drehen.«28 Nachdem er sich eine Zeit lang in sein Ferienhaus an einem See in Masuren zurückgezogen hatte, starb er am 13. März 1996 im Alter von 54 Jahren in einem Warschauer Krankenhaus an einem Herzinfarkt. 1.2 Zbigniew Preisner Zbigniew Preisner wurde am 20. Mai 1955 in Bielsko-Biała, Polen geboren. Er wuchs in bürgerlichen Verhältnissen auf, aber die Möglichkeit einer musikalischen Bildung schon während der Schulzeit blieb ihm verwehrt.291975 begann er an der Jagiellonischen Universität in Krakau sein Studium an der Fakultät für Geschichte und Philosophie. Musik interessierte ihn schon während des Studiums, und er brachte sich musikalische Grundlagen sowie Transkribieren, Arrangieren und Komponieren im Selbststudium bei. An der ›School of Music‹ in Krakau hatte er die Gelegenheit, seine Kompositionen mit Studenten zu testen. In den Jahren 1978– 24 Karmitz, zit. nach der Dokumentation Geschichten um Liebe und Tod (Regie: Peter Paul Huth). 25 Vgl. z.B. Andreas Kilb in Kilb (1996) oder Hans Werner Dannowski in (Dannowski, 1996, S. 21). 26 Vgl. Kapitel 3.1 27 Irène Jacob, die mit Kieślowski in Kontakt geblieben war, glaubte, dass er nur beabsichtigte die Drehbücher zu schreiben und ähnlich, wie beim Dekalog geplant, die Regie an drei junge Nachwuchsregisseure abgeben würde. Vgl. (Andrew, 1998, S. 86–87) 28 Kieślowski, zit. nach (Jenny, 1994a, S. 182) 29 »Mir konnte es (das sozialistische Polen, Anm. des Verfassers) die Bildung nicht garantieren, denn dort wo ich wohnte, gab es keine Musikschule, und für ein Internat in einer anderen Stadt oder für private Stunden hatten meine Eltern nicht die Mittel.« Preisner, zit. nach (Wasilewski, 1994, S. 55) 10 Biographie und künstlerischer Werdegang 1980 arbeitete er zusammen mit den Clubs ›Nowy Zaczek‹ und ›Rotunda‹. Nachdem er 1978 den Wettbewerb des ›Festivals des studentischen Liedes‹ in Opole, 1979 den Grand Prix eines Festivals in Krakau gewonnen hatte und im Konzert der Debütanten ›Opole 79‹ den ersten Preis bekommen hatte, begann er seine Zusammenarbeit mit der bekannten Krakauer Kleinkunstbühne ›Piwnica pod Baranami‹.30 Als Theaterkomponist debütierte er 1978 im Theaterstück ›Którego nie bylo‹ von Rafal Wojczak, Regie führte W. Jasinski. Während Preisner 1981 an der Filmmusik zu Antoni Krauzes Film Prognoza Pogody31 (Wettervorhersage) arbeitete, lernte er Krzysztof Kieślowski kennen, mit dem er eine enge Arbeitsbeziehung und Freundschaft einging.32 Preisners allumfassende Vorgehens- und Arbeitsweise war ein Punkt, den Kieślowski an ihm sehr schätzte: »Preisner is an exceptional composer in that he’s interested in working in a film right from the beginning and not just seeing the finished version and then thinking about how to illustrate it with music. That’s the rule, right? You show the composer your film and than he fills the gaps with music. But he can have a different approach. He can think about the music right from the start, about it’s dramatic function, about the way it should say something that’s not there in the picture. You can describe something which perhaps isn’t there on the actual screen but which, together with the music, starts to exist. It’s interesting – drawing out something which doesn’t exist in the picture alone or in the music alone. Combining the two, a certain meaning, a certain value, something which also determines a certain atmosphere, suddenly begins to exist.«33 Obwohl Preisner auch Musik zu schon fertig geschnittenen Filmen komponierte, beginnt er seine Arbeit fast immer, während das Drehbuch noch geschrieben wird, und normalerweise ist er auch beim Schneiden des Films und Mixen des Tons anwesend. Bevor die Dreharbeiten zu Die zwei Leben der Veronika begannen, probte 30 ›Piwnica pod Baranami‹ wird auch oft als Krakauer Kellerkabarett bezeichnet. In verschiedenen Quellen taucht der Name des Kabaretts allerdings unterschiedlich auf, so wird es z.B. in einer Presseinformation ›Piwni por Baranami‹ genannt und mit ›Keller unter den Widdern‹ übersetzt. Das Kabarett, welches von Piotr Skrzynecki Ende der fünfziger Jahre gegründet wurde, schafft es immer wieder, erfolgreich den Kampf gegen die polnische Zensur aufzunehmen. Hier arbeiteten auch viele andere polnische Komponisten, die ebenfalls Musik für Filme geschrieben haben, so wie z.B. Konieczny, Pawluśkiewicz, Zarycki, Radwan oder auch Penderecki. Preisner äußert sich zu seinem Wirkungsbereich: »Das Kabarett ›Piwnica pod Baranami‹ ist ein literarisches Kabarett, hier gilt das Prinzip, daß das Wichtigste der Text ist, also der Inhalt, und die Musik schreibt man zum Text um ihn zu unterstützen. Übertragen auf den Film oder das Theater ergibt das den Effekt einer Verbindung zwischen den einzelnen Elementen. Andererseits schwamm das Kellerkabarett ›Piwnica pod Baranami‹ schon immer gegen den Strom, und das sagte mir sehr zu, denn dadurch kann man anders sein, originell, und man hat die Möglichkeiten, die Quellen zu erforschen oder auch einfach die eigenen Kräfte zu messen.« Preisner, zit. nach (Wasilewski, 1994, S. 54) 31 Nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981 unterlag dieser Film einige Jahre der Zensur. 32 »Schon immer haben mir seine Filme gefallen,. . . Kieślowski behandelt in seinen Filmen Angelegenheiten, die mich berührt haben. Bei der gemeinsamen Arbeit an Bez Końca (Ohne Ende, Anm. des Verfassers) stellte sich heraus, daß ich mit ihm fantastisch arbeiten konnte und auch die Freizeit, sofern wir sie hatten, interessant verbracht haben.« Preisner, zit. nach (Wasilewski, 1994, S. 55) 33 (Stok, 1993, S. 12) 1.2 Zbigniew Preisner 11 er zwei Wochen intensiv mit Irène Jacob und Elżbieta Towarnicka, die das Original gesungen hat. »I, as well as the audience, should be absolutely convinced that it was Irène singing in Polish«, sagte er gegenüber Chris Darke in Macnab und Darke (1996). Ebenso war Juliette Binoche während der Orchesterproben und Aufnahmen des Konzerts vor den Dreharbeiten dabei, um Kompositions- und Arbeitsmethoden eines Komponisten und Dirigenten kennenzulernen. Bevor Preisner mit seiner Musik zu dem Film La double vie de Véronique, die er zum Teil unter dem Pseudonym Van den Budenmayer34 schrieb und damit für einige Verwirrung sorgte, der endgültige Durchbruch gelang, waren die Möglichkeiten, als Filmkomponist in Polen Geld zu verdienen, nur sehr schlecht. »Wenn es nicht manchmal die Angebote der westlichen Filmemacher gäbe, wäre ich nicht in der Lage meinen Unterhalt zu verdienen.«35 Obwohl Preisners Musik oft eng mit den Filmen Kieślowskis verknüpft wird, hat er auch für viele andere Regisseure gearbeitet. So unter anderem für Louis Malle (Verhängnis), Agnieszka Holland (Der geheime Garten und Hitlerjunge Salomon) und Hector Babenco (A play in the fields of the Lord). Auch die Musik zu manchen Hollywoodfilmen stammt aus seiner Feder: so z.B. zu Luis Mandokis Film When a man loves a woman oder zu Charles Sturridges Film Fairytale: A True Story. Seit seinem ersten Zusammentreffen mit Kieślowski bei der Arbeit zu Krauzes Film Weather Report hat er bis heute die Musik zu 45 Filmen geschrieben.36 Zu einer weiteren geplanten Zusammenarbeit zwischen Kieślowski und Preisner, einer Trilogie über Himmel, Hölle und Fegefeuer, kam es, wie bereits erwähnt, nicht mehr. Auch nicht zu einem geplanten Projekt, dessen Premiere in Athen stattfinden sollte: »Gestern noch faßten wir den Plan, in einem gemeinsamen Konzert die Geschichte eines Lebens nachzuzeichnen. Die Premiere sollte auf der Akropolis in Athen gegeben werden. Es sollte ein großes Ereignis werden, eine Kombination von Mysterienspiel und Oper. Krzysztof Kieślowski sollte die Inszenierung übernehmen, Krzysztof Piesiewicz das Libretto, und ich selbst wollte die Musik komponieren. Gestern noch dachten wir, daß dieses Konzert das erste in einer Reihe musikalischer Projekte sein würde, die uns in den nächsten Jahren an viele interessante Orte in der ganzen Welt führen sollten. Doch das Leben sah einen anderen Gang der Ereignisse vor: Krzysztof Kieślowski starb am 13. März 1996.«37 Seine tiefe Verbundenheit drückte Preisner in seinem, Kieślowski gewidmeten, Requiem for my friend38 aus: »The first part of Requiem for my friend is meant as a farewell to Krzysztof Kieślowski. I dedicate this music to him.«39 »I simply want 34 »It started in Dekalog, when Krzysztof had asked for music in the style of a certain classical composer. I told him that I’d already composed something a bit different for the film, and now we could give the composer a name! Krzysztof and I were both very fond of the Netherlands, so Van Den Budenmayer is a Dutch name. His style is close to Neo-Romanticism, with its mixture of Classical Romanticism and the compositional techniques of contemporary music.« Preisner, zit. nach (Macnab und Darke, 1996, S. 20) 35 Preisner, zit. nach (Wasilewski, 1994, S. 55) 36 Eine ausführliche Filmo- und Discographie Preisners findet sich im Anhang. 37 Preisner, zit nach dem Booklet zu Requiem for my friend. Weitere Informationen sind auch im Internet unter www.preisner.com zu finden. 38 In England am 12.10.1998 bei Warner classics/Erato veröffentlicht. Elżbieta Towarnicka (Sopran); Jacek Kaspszyk (Dirigent); Sinfonia Varsovia; Varsov Chamber Choir 39 Preisner, zit. nach dem Booklet zu Requiem for my friend 12 Biographie und künstlerischer Werdegang to say thanks to him for everything. Krzysztof, for me, is still alive. We were in close contact for 15 years.«40 Unter den zahlreichen Auszeichnungen, die Preisner bislang erhalten hat, befinden sich u.a. der Silberne Bär der Berliner Filmfestspiele von 1977, zwei Césars der französischen ›Académie des artes et des techniques du cinéma‹ – einer 1996 für Elisa von Jean Becker, der andere 1995 für Drei Farben: Rot. Ferner wurde er in den drei aufeinanderfolgenden Jahren 1991, 1992 und 1993 mit dem Preis der ›Los Angeles Critics Association Awards‹ zum besten Filmmusik-Komponisten des Jahres gewählt. Preisner ist Mitglied der ›Académie des arts et des téchniques du cinéma‹ und wurde 1992 vom polnischen Außenministerium für seinen Beitrag zur Verbreitung der polnischen Kultur im Ausland gewürdigt. 40 Preisner, zit. nach (Macnab und Darke, 1996, S. 20)