01a - Precious
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01a - Precious
KIRCHEN + KINO. DER FILMTIPP 5. Staffel, Oktober 2011 – Mai 2012 PRECIOUS – DAS LEBEN IST KOSTBAR Originaltitel: Regie: Buch: Kamera: Darsteller: Precious: Based on the Novel Push by Sapphire, USA 2009 Lee Daniels Geoffrey Fletcher, nach dem Roman „Push“ von Sapphire Andrew Dunn Gabourey Sidibe (Precious), Mo’Nique (Mary), Paula Patton (Miss Rain), Mariah Carey (Miss Weiss), Sherri Shepherd (Cornrows), Lenny Kravitz (Pfleger John) u.a. Laufzeit: 109 Minuten FSK 12 Kinostart: 25.3.2010 Verleih: Prokino Filmverleih Auszeichnungen: bisher insgesamt 44, darunter: 2 Academy Awards („Oscars“) 2010 (Bestes adaptiertes Drehbuch, Beste Nebendarstellerin Mo’Nique) Special Jury Prize, Sundance Film Festival 2009 People’s Choice Award, Toronto International Film Festival 2009 Auszug aus dem Kinotipp der katholischen Filmkritik (197/März 2010) „Trotz der erdrückenden Drastik meidet der Film alle Klischees, indem er die Protagonistin häufig aus dem Off sprechen lässt und sie auf ihren beschwerlichen Wegen solidarisch mit der Kamera begleitet. Es dauert lange, bis in das abgründige Porträt ein Funken der Hoffnung dringt. Der Anstoß kommt von einer einfühlsamen Lehrerin, der es gelingt, die verschüttete Persönlichkeit der hinter dumpfem Schweigen verbarrikadierten Schülerin zum Vorschein zu bringen. Precious’ Emanzipationsgeschichte, deren literarische Vorlage, der Roman „Push“, von der afroamerikanischen Autorin Sapphire stammt, folgt dabei nicht der Aschenputtel-Story, sondern beruht auf winzigen Schritten, die auf Dauer selbst aus einer Hölle führen können.“1 Inhalt New York, 1987: Claireece Jones, genannt Precious, ist ein sechzehnjähriges afroamerikanisches Mädchen, das mit seiner Mutter in Harlem in einer Mietskaserne wohnt. Sie ist extrem übergewichtig und wird daher von Mitschülern und Gleichaltrigen gehänselt. Ihre Mutter Mary, eine Arbeitslose, die den Tag mit Fernsehen und Nichtstun verbringt, misshandelt sie seelisch und körperlich und zwingt sie, den Haushalt zu führen. Von ihrem Vater wurde sie zweimal sexuell missbraucht. Sie ist zu Beginn des Films zum zweiten Mal von ihm schwanger, ihr erstes Kind, ein mongoloides Mädchen („Mongo“), lebt bei der Großmutter, weil Precious’ Mutter es nicht bei sich in der Wohnung haben will. Ihrem Alltag entflieht Precious nur in Gedanken, in eine Traumwelt, in der sie ein gefeierter Star ist und einen hellhäutigen Freund hat; in einigen ihrer Phantasien ist sogar sie selbst hellhäutig. Als eine Lehrerin ihre zweite Schwangerschaft bemerkt, wird sie der Schule verwiesen; sie soll stattdessen eine Alternativschule („Each One – Teach One“) besuchen. Obwohl ihre Mutter sie bedrängt, die Schule abzubrechen, um möglichst schnell Sozialleistungen zu erhalten, nimmt 1 film-dienst 06/2010, 57. 1 KIRCHEN + KINO. DER FILMTIPP 5. Staffel, Oktober 2011 – Mai 2012 Precious das alternative Lernangebot an. Unter der Anleitung der Lehrerin Blu Rain lernt sie Lesen und Schreiben – beides konnte sie vorher nur ansatzweise. Darüber hinaus findet sie in ihren Mitschülerinnen Freundinnen, die sie sogar im Krankenhaus besuchen, nachdem sie ihr zweites Kind (Abdul) zur Welt gebracht hat. Wieder zu Hause angekommen, kommt es erneut zu einem Gewaltausbruch der Mutter, diesmal jedoch leistet Precious Widerstand. Sie flieht mit ihrem Sohn aus dem Haus, irrt durch die Stadt und bricht schließlich in die Räume der Alternativschule ein. Als sie am nächsten Morgen von Miss Rain gefunden wird, vermittelt diese ihr einen Platz in einer betreuten Wohngruppe. Einige Zeit später wird Precious von ihrer Mutter darüber informiert, dass ihr Vater vor kurzem an Aids gestorben ist. Durch einen HIV-Test erfährt sie, dass auch sie selbst Aids hat, ihr Sohn jedoch bisher davon verschont geblieben ist. Bei einem Treffen mit ihrer Mutter bei einer Sozialarbeiterin kommen die Ursprünge des Missbrauchs und der Gewalt gegenüber Precious ans Licht: Mary erzählt von Precious’ erstem Missbrauch durch Precious’ Vater – Precious war damals ein kleines Kind – und interpretiert es als das Ereignis, durch das sie die Zuneigung ihres Mannes verloren habe. Das Verhalten ihrer Mutter wird dadurch für Precious nicht verzeihbar, aber verstehbar. Precious nimmt ihre beiden Kinder an sich und löst die Verbindung zu ihrer Mutter, in der festen Absicht, weiter zur Schule zu gehen und eines Tages das College zu besuchen. Thematik „Precious“ ist ein Sozialdrama. Der afroamerikanische Hintergrund kann zunächst die Identifikation mit den behandelten Themen verhindern, wenn er so fremd wirkt, dass auch die gezeigten Missstände als solche ganz bestimmter, fremder Milieus wahrgenommen werden. Die im Film dargestellte afroamerikanische Gesellschaft ist voll von Merkmalen, die verschiedene Kritiker dazu gebracht haben, den Film als „Blaxploitation-Kino“ zu bewerten, als eine Darstellung, die betroffen machen soll, zugleich aber wie eine Bestätigung von afroamerikanischen Klischees wirken kann. Dadurch, dass Afroamerikaner in Precious’ Welt aber eben nicht nur pöbeln, stehlen und vergewaltigen, sondern auch als kultivierte Personen in Erscheinung treten, die Klischees gerade völlig hinter sich lassen (Miss Rain, Pfleger John), entzieht der Film von sich aus jeder Rassismus-Kritik die Argumentationsgrundlage.2 Daher liegt es nahe, die im Film geschilderten Probleme als solche zu begreifen, die jede Gesellschaft etwas angehen. Ein zentrales Thema des Films ist das Erwachsenwerden. Es wird nach der Bedeutung der Eltern und der Elternschaft gefragt. Precious’ Erwachsenwerden wird durch mehrere Umstände behindert, an erster Stelle das Versagen ihrer Eltern. Der Vater ist ständig abwesend; in den wenigen Momenten seiner Anwesenheit fügt er ihr Gewalt zu, er zwingt sie zur frühen Mutterschaft. Ihre Mutter ist anwesend, fügt ihr aber ebenfalls Gewalt zu und zwingt sie zur Unselbständigkeit. Precious kann die Mutterrolle für ihr Kind gar nicht übernehmen, weil es nicht bei ihr sein darf; die Großmutter, von der als einziger verwandter Person Hilfe ausgehen könnte, hat Angst vor Precious’ Mutter. Dies alles bewirkt, dass Precious keine Gefühle zeigt und sie anderen, zum Beispiel dem Nachbarmädchen Ruby, auch nicht entgegenbringen kann. Neben dem Versagen der Familienstrukturen ist der Bildungsmangel Precious’ Verhängnis. Als Analphabetin hat sie weder Zukunftsmöglichkeiten noch die Fähigkeit, ihre Gefühle und Ängste anderen mitzuteilen. Als sie von Miss Rain Lesen und Schreiben lernt, erwirbt sie diese Fähigkeit; darüber hinaus diskutiert sie in schriftlicher Form mit Miss Rain darüber, welche Entscheidungen sie für ihre Zukunft treffen soll. Ihre neuen Fähigkeiten helfen ihr auch, nachdem sie von zu Hause geflohen ist: Auf dem U-Bahnsteig sagt sie sich das Alphabet auf. Das Vertrauen, das eigentlich von den Eltern her kommen muss, hat sie in der Sprache gefunden. 2 Einige Kritiker beharren dennoch auf der These, der Film befördere rassistische Klischees, indem sie darauf hinweisen, dass die positiven Figuren des Films (Miss Rain, John, Miss Weiss) relativ hellhäutig sind. Damit ist dann aber die Frage gestellt, wann eine Person überhaupt als schwarz bezeichnet werden kann bzw. was Schwarzsein überhaupt bedeutet. Diese Frage stellt auch der Film, indem Precious die von Mariah Carey gespielte Miss Weiss fragt, „was“ sie überhaupt sei. Carey macht seit Beginn ihrer Karriere von sich aus auf die venezolanisch-afroamerikanische Herkunft ihres Vaters aufmerksam. 2 KIRCHEN + KINO. DER FILMTIPP 5. Staffel, Oktober 2011 – Mai 2012 Indem sie im umfassenden Sinn zu einer Person wird, sich mitteilen kann und mit Menschen zu tun hat, die ihr Vertrauen entgegenbringen und ermöglichen, kann Precious Verantwortung übernehmen. Besonders deutlich wird ihre Veränderung daran, dass sie Ruby jetzt als eine Freundin wahrnimmt. Sie schenkt ihr den Schal, dessen rote Farbe sie durch den Film hindurch begleitet hat. Dies ist der Durchbruch in Precious’ Entwicklung, sich selbst als schön zu empfinden. Ein wichtiges Motiv begegnet am Schluss des Films. Nachdem ihre Mutter der Sozialarbeiterin vom ersten Missbrauch berichtet, stellt Precious fest, sie nun „ganz anders“ zu sehen. Es wird durchsichtig, dass Gewalt kein undurchschaubares Schicksal ist, sondern Kausalitäten folgt. Diese Einsicht bestärkt Precious darin, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Die Musik, die im Film zum Einsatz kommt, unterstreicht die Handlung nicht nur, sondern kommentiert sie auch, vor allem die Songs, durch ihre Texte. Die Songs erinnern an die afroamerikanische Befreiung und markieren dadurch entscheidende Punkte auf Precious’ Weg zu mehr Selbstbewusstsein. Beispiele sind „Did You Ever See A Dream Walking“ von Sunny Gale und “I Can See In Color” von Mary J. Blige. Es besteht eine inhaltliche Verwandtschaft von „Precious“ zu Steven Spielbergs Film „Die Farbe Lila“ (1985) – Miss Rains Mitteilung, dass „die Farbe Lila“ ihre Lieblingsfarbe sei, scheint das humorvoll zu bestätigen. Auch in Spielbergs Film geht es um eine junge Afroamerikanerin, die von ihrem Vater vergewaltigt wird und im Lesen-Lernen ihre Rettung findet, außerdem geht auch hier befreiende Wirkung von einer lesbischen Frau aus. Allerdings gibt es am Ende von Spielbergs Film echte Versöhnung zwischen den Protagonisten und damit auch vollkommene Erlösung. Biblische Bezüge Biblische Motive, die der Geschichte von „Precious“ ähneln, sind wohl am ehesten in den Heilungsgeschichten des neuen Testaments zu finden. Bei der Schilderung der Heilung eines Taubstummen durch Jesus (Mk 7,32-35) wird am Ende über den Geheilten ausgesagt: „… und er redete richtig.“ Die Heilung dieses Menschen schafft die Voraussetzungen für seine Eingliederung in die Gesellschaft – analog zu Precious’ Entwicklung von der Analphabetin zur Person, die durch Lesen und Schreiben zum Kommunizieren findet. Precious’ Weg zur Befreiung gestaltet sich als eine Art Exodus. Sie wird von ihrer Mutter wie eine Sklavin behandelt, kommt dann aber mit Menschen in Berührung, die auf ganz eigene Art befreit erscheinen. Das „Each One – Teach One“-Motiv erinnert insofern an die Zeit der Sklaverei, als der gegenseitige Austausch von Wissen für schwarze Sklaven die einzige Möglichkeit darstellte, mit Bildung in Berührung zu kommen. Auf dem Weg zur Befreiung wird Precious von einer Führungsfigur geleitet: von Miss Rain, die Precious bei ihrem ersten Betreten des Klassenzimmers aus dem Licht entgegenkommt. Anregungen für ein Filmgespräch Dem Film wurde in den USA vorgeworfen, er enthalte viele Stereotypen und könne daher leicht rassistisch wirken. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung? Wie bewerten Sie die Nähe des Films zu unserer heutigen deutschen Gesellschaft? Ist der Film in Ihren Augen realistisch oder übertrieben? Wie teilt Precious im Verlauf des Films ihre Gedanken und Gefühle mit? Was ist der Durchbruch in Precious’ Entwicklung? Welche Figuren spielen bei Precious’ Entwicklung besondere Rollen? Was ist das Besondere an ihrem gesellschaftlichen Status, und was zeichnet diese Figuren aus? An welcher Stelle und in welcher Weise wird Precious zum ersten Mal wie eine Erwachsene behandelt? An welchen Stellen den Films taucht der rote Schal auf, was bedeutet und woran erinnert er? 3 KIRCHEN + KINO. DER FILMTIPP 5. Staffel, Oktober 2011 – Mai 2012 Über den Regisseur: Lee Daniels wurde am 24. Dezember 1959 in Philadelphia, Pennsylvania, geboren. Seine ersten Berührungen mit der Filmindustrie hatte er durch eine Tätigkeit als Manager für Schauspieler. So betreute er u.a. Wes Bentley (Ricky Fitts in „American Beauty“). Nach dem Verkauf seiner Managing-Agentur wurde er Produktionsassistent. Als er im Jahr 2001 mit „Monster’s Ball” seinen ersten Film produzierte, verhalf er damit Halle Berry als erster afroamerikanischer Schauspielerin zu einem Oscar. Daniels selbst ist damit der erste Afro-Amerikaner, der als Alleinproduzent für einen oscarprämierten Film tätig war. Als Regisseur trat er erstmals mit „Shadowboxer“ (2005) in Erscheinung, einem Thriller mit Helen Mirren und Cuba Gooding Junior. „Precious“ ist der zweite Film, bei dem Daniels Regie führte. Daniels teilt sich das Sorgerecht für seine Adoptivkinder Clara und Liam, biologisch gesehen seine Nichte und seinen Neffen, mit dem Casting-Direktor Billy Hopkins, von dem er seit 2009 getrennt lebt. Malte Plath Materialhinweise/Quellen http://www.das-leben-ist-kostbar.de http://www.das-leben-ist-kostbar.de/de/Precious-Unterrichtsmaterialien.pdf http://en.wikipedia.org/wiki/Lee_Daniels http://www.imdb.com/name/nm0200005 http://www.filmzentrale.com/rezis2/precioustg.htm film-dienst 06/2010. 4