Pädagogische Handlungsansätze

Transcription

Pädagogische Handlungsansätze
Cornelius Bortmann
Pädagogische
Handlungsmöglichkeiten
in der Arbeit mit
Korsakowkranken
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung..........................................................................................5
1.1 Das Krankheitsbild: Wernicke-Korsakow-Syndrom .................6
1.1.1 Verbreitung des WKS..........................................................7
1.1.2 Ursachen für die Entstehung des WKS...............................7
1.1.3 Symptome der Augen beim WKS.......................................8
1.1.4 Amnesie als Symptom des WKS........................................9
1.1.5 Konfabulation als Symptom des WKS..............................10
1.1.6 Implizites und explizites Gedächtnis.................................12
1.1.7 Bewusstseinsveränderung als Symptom des WKS..........13
1.1.8 Medizinische Behandlung des WKS.................................13
1.1.9 Typischer Verlauf des WKS während und nach dem
Klinkaufenthalt............................................................................14
1.2 Begleitende Erkrankungen.......................................................15
1.2.1 Alkohol Polyneuropathie....................................................15
1.2.2 Leberschäden (Alkoholhepatitis/Fettleber / Leberzirrose) 17
1.2.3 Ösophagusvarizen ...........................................................18
1.3 Welche Auswirkung hat die Erkrankung auf das Leben?........18
1.4 Einordnung des WKS nach dem ICF.......................................21
1.4.1 Aufzählung der nach der ICF codierten Bereichen in denen
Probleme aufgrund vom WKS und Polyneuropathien auftreten
können........................................................................................24
2 Pädagogische Handlungsansätze..................................................30
2.1 Gesetzliche Zielsetzung / Leistungsübernahme......................30
2.2 Grundsätzliche pädagogische Theorien..................................31
2.2.1 Ansatz der Subjektorientierung.........................................31
2.2.1.1 Subjektwerdung und Subjektbildung.......................32
2.2.1.2 Selbstbewusstsein...................................................33
2.2.1.3 Selbstachtung..........................................................33
2.2.1.4 Selbstbestimmung...................................................34
2.2.2 Der systemische Ansatz....................................................35
2.2.3 Klientenzentrierte Gesprächsführung................................37
2.2.4 Abstinenz beim WKS.........................................................38
3 Praktische pädagogische Handlungsmöglichkeiten.......................40
3.1 Realitätsorientierungstraining..................................................41
3.1.1 Der strukturierte Alltag.......................................................44
3.1.1.1 Aufstehen / Nachtruhe.............................................45
3.1.1.2 Hygienetraining........................................................46
3.1.1.3 Essenszeiten...........................................................47
3.1.1.4 Aufgaben..................................................................48
3.1.1.5 Einkäufe & Termine.................................................48
3.1.1.6 Diabetes...................................................................49
3.1.2 Selbständigkeit..................................................................50
3.1.2.1 Schrittweise Verselbständigung..............................50
3.1.2.2 Problematiken während des Prozesses der
Selbständigkeitsentwicklung.................................................54
3.2 Soziales Training......................................................................56
3.2.1 Gruppengespräche............................................................57
3.2.2 Gespräche in kleinen Gruppen.........................................58
3.2.3 Einzelgespräche................................................................59
3.2.4 Gruppen Spaziergänge.....................................................60
3.2.5 Gruppentagesreisen..........................................................60
3.2.6 Gruppenurlaub..................................................................61
3.3 Auseinandersetzung mit der Suchterkrankung........................61
3.3.1 Biografiearbeit...................................................................62
3.3.2 Selbsthilfegruppen.............................................................63
3.4 Gedächtnistraining...................................................................64
3.4.1 Selbständige Gedächtnisaufgaben...................................65
3.4.2 Gruppengedächtnistraining...............................................66
3.4.3 Gedächtnistraining mit Einzelbetreuung...........................67
3.4.4 Gedächtnisstrategien........................................................67
3.4.4.1 Internale Strategien.................................................68
3.4.4.2 Errorless Learning ..................................................68
3.4.4.3 Spaced Retrival.......................................................70
3.4.4.4 Backward Changing.................................................71
3.4.4.5 Vanishing cues........................................................71
3.4.5 Kompensationsstrategien..................................................72
3.4.5.1 Modifikation der Lebenswelt....................................73
3.4.5.2 Hilfsmittel ................................................................74
3.5 Beschäftigung/Arbeit ...............................................................76
3.5.1 Ergotherapie......................................................................78
3.5.2 Vermittlung in eine Beschäftigung.....................................79
3.6 Mobilität....................................................................................80
3.6.1 Mobilität und Gedächtnis...................................................80
3.6.2 Mobilität und Polyneuropathien.........................................81
3.6.2.1 Mobilitätstraining......................................................81
3.6.2.2 Mobilitätshilfsmittel...................................................82
3.7 Tests.........................................................................................83
3.7.1 Intelligenztests ..................................................................83
3.7.1.1 Wechsler-Intelligenztests (Beispiel HamburgerWechsler Intelligenztest für Erwachsene / HAWIE-R)..........84
3.7.1.2 Mehrfach-Wortschatz-Test (MWT)..........................85
3.7.1.3 Zahlenverbindungstest (ZVT)..................................85
3.7.2 Demenz & Amnesietests...................................................86
3.7.2.1 Syndrom-Kurztest (SKT)..........................................87
3.7.2.2 Berliner Amnesietest (BAT).....................................88
3.7.2.3 Demenz-Test (DT)...................................................88
3.7.3 Weitere Tests....................................................................88
3.7.4 Fazit zu den Tests.............................................................90
4 Prävention.......................................................................................91
4.1 Risikominderung .....................................................................91
4.1.1 Alkoholpolitische Maßnahmen zur Risikominderung........91
4.1.2 Essensausgaben...............................................................92
4.1.3 Nachgehende Sozialarbeit................................................92
4.1.4 Thiaminzugabe zu Nahrungsmitteln .................................93
4.2 Individuelle Maßnahmen zur Risikominderung........................95
4.2.1 Aufklärung von Alkoholikern und Ärzten...........................95
4.2.2 Kontrolliertes Trinken .......................................................96
5 Fazit................................................................................................98
6 Verwendete Literatur....................................................................100
6.1 Internetquelle:........................................................................105
6.2 Film:........................................................................................105
6.3 Weiterführende Literatur:.......................................................105
Bemerkung zur Schreibweise:
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in der Regel die männliche
Schreibweise verwendet. Damit sind jedoch immer auch die weiblichen
Personen mit einbezogen.
1 Einleitung
Alkohol ist in Deutschland ein Genussmittel, ein großer Wirtschaftsbereich
und ein Kulturgut. Alkohol ist allerdings auch das in Deutschland am
weitesten verbreitete Rauschmittel. Alkoholische Getränke sind fest in
unserer Kultur eingebettet. Sie sind Bestandteil gesellschaftlicher und
sozialer Riten, wie das Anstoßen unter Freunden oder der Sektempfang zu
Feierlichkeiten. Auch in der Religion spielen sie eine Rolle, beispielsweise
beim Abendmahl in Gottesdiensten. Vielen Menschen dient Alkohol auch in
seiner die Psyche beeinflussenden Funktion zum „Auflockern“ oder als
Selbstmedikation bei Ängsten, Schmerzen oder Depressionen.
In einer seiner Arbeiten zum kontrollierten Alkoholkonsum betont Körkel,
dass Alkohol ein Stoffwechselgift ist. Deswegen ist jeder Konsum mit einem
Risiko verbunden. Einen risikolosen Alkoholkonsum gibt es nicht (Körkel
2005 S.168). Das Risiko beim Konsum von kleineren Mengen Alkohol ist
allerdings überschaubar. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlug
für einen risikoarmen Konsum die maximale Obergrenze von 20g
Reinalkohol für Frauen und 30g Reinalkohol für Männer pro Tag vor. In der
folgenden Abbildung sind Standarteinheiten von Getränken abgebildet die
jeweils 20g Reinalkohol entsprechen.
Abbildung 1: Standarteinheiten Alkohol in alkoholischen Getränken die
jeweils 20 Gramm Reinalkohol entsprechen.
Viele Autoren gehen von einer geringeren Menge als Grenze für
risikoarmen Alkoholkonsum aus. Als Höchstmenge gibt beispielsweise
Singer 10g Reinalkohol für Frauen und 20g Reinalkohol für Männer pro Tag
an (Singer 2002).
Im Gegensatz zum risikoarmen Alkoholkonsum kann bereits der einmalige
übermäßigen Konsum von Alkohol zu Problemen führen. Die häufigsten
Probleme
bei
einmaligem
übermäßigem
Alkoholkonsum
sind
Alkoholvergiftungen, Unfälle, soziale Probleme wie Partnerschaftskonflikte
und erhöhte Gewaltbereitschaft. Wenn der Alkoholkonsum dauerhaft in
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übermäßigen Mengen erfolgt, können zu diesen Problemen noch verstärkte
soziale
Probleme
und
somatische
Folgeerscheinungen
für
den
Konsumenten hinzukommen. Somatische Folgeerscheinungen sind Leberund andere Organerkrankungen. Folgeerkrankungen von dauerhaftem und
übermäßigem Alkoholkonsum sind vielfältig und häufig auch vom
Konsummuster abhängig. Verstärkte soziale Probleme aufgrund von
dauerhaft übermäßigem Alkoholkonsum können beispielsweise in der
Familie oder auf dem Arbeitsplatz auftreten. Ein solcher Alkoholkonsum
kann als Folge auch Alkoholabhängigkeit mit psychischer und physischer
Abhängigkeit bewirken. Eine der schwerwiegenden Folgeerkrankungen von
starker Alkoholabhängigkeit ist das Wernicke-Korsakow-Syndrom (WKS).
Diese
Diplomarbeit
beschäftigt
sich
mit
den
pädagogischen
Handlungsmöglichkeiten nach einer Erkrankung um Betroffene zu begleiten
und auf ein Leben mit der irreparablen Erkrankung in größtmöglicher
Selbständigkeit vorzubereiten. Das Kapitel Prävention behandelt auch die
Frage nach möglichen Präventionsmaßnahmen, um eine Erkrankung im
Vorfeld zu verhindern oder in ihrer Schwere abzumildern.
1.1 Das Krankheitsbild:
Syndrom
Wernicke-Korsakow-
Benannt wurde das Wernicke-Korsakow-Syndrom nach C.Wernicke (1881)
und
S.S.
Korsakow
(1887).
C.
Wernicke
beschrieb
eine
akute
Enzephalophatie, während S.S. Korsakow von einem amnestischen
Syndrom berichtete. Heute geht man davon aus, dass beide Ärzte
unterschiedliche Stadien derselben Krankheit beschrieben (Masuhr 2005
S.259). Eine Enzephalopathie ist eine krankhafte Veränderung des
Gehirns. Es sind nachweisbar bräunliche Verfärbungen des Gewebes und
Gewebeschrumpfungen der betroffenen Gehirnregionen (Pfeiffer 1989).
Die Wernicke-Enzephalophatie tritt akut oder subakut ein, d.h. die
typischen Symptome entwickeln sich sofort oder innerhalb weniger Tage.
Typische Symptome in diesem Stadium des Krankheitsverlaufs sind
Augenmuskellähmungen,
Gangstörungen,
Merkfähigkeitsstörungen,
Antriebsminderung
Desorientierung.
Die
Aufmerksamkeits-
und
(Schläfrigkeit)
und
geht
der
Wernicke-Enzephalopathie
bei 84%
Betroffenen in eine Korsakowpsychose über (Masuhr 2005 S.259). Das
amnestische Syndrom, welches von Korsakow beschrieben wurde, hat als
typische Symptome Gedächtnisstörungen, Konfabulation und zeitliche
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Desorientierung (Bergmann 2005 S.1244). Die akute Phase des WKS wird
zumeist Wernicke Encepalopahtie genannt, während der chronische
Verlauf mit Korsakowsyndrom und Korsakowpsychose bezeichnet wird.
Aber auch die Bezeichnung Wernicke-Korsakow-Syndrom ist geläufig.
Begleitet wird das WKS häufig von Polyneuropahtien, die in einem
folgenden Abschnitt näher beschrieben werden. Das WKS wird in der
Klassifizierung der WHO im ICD 10 als „F10.6 amnestisches Syndrom“
benannt (WHO ICD10).
1.1.1 Verbreitung des WKS
Eine genaue Verbreitungsrate des WKS ist schwer zu ermitteln. Die Zahlen
zur Verbreitung sind
in der
Literatur
unterschiedlich.
Bei 1,76%
unausgelesener, phatologischer Stichproben wurde von Pfeiffer das WKS
festgestellt (Pfeiffer 1985). Dieser Prozentsatz stellt keinen repräsentativen
Querschnitt der deutschen Bevölkerung dar, ist aber trotzdem ein Hinweis
auf die Verbreitung des WKS. Bei gleicher Verfahrensweise stellte Harper
in Australien mit 1,7% bis 2,8% positiver WKS Befunde ähnliche Werte fest
(Harper 1983). Harper bemerkte außerdem, dass nur 20% dieser WKSFälle zur Lebenszeit diagnostiziert wurden. Es herrscht Übereinstimmung in
der Annahme, dass besonders häufig die chronische Verlaufsform der
Korsakowpsychose übersehen und nicht diagnostiziert wird (Bergmann
2005 S.1243, Feuerlein 1989 S.129). Zu der Verbreitung des WKS unter
chronischen Alkoholikern berichtet Torvik, dass 12,5% von ihnen vom WKS
betroffen sind (Torvik 1982). Feuerlein gibt die Verbreitung des WKS unter
Alkoholikern mit 3-5% an (Feuerlein 1989 S.129). Er gibt aber zu
bedenken, dass man bei ca. 22% der Autopsien von Alkoholikern das WKS
feststellen
konnte,
während
nur
bei
14%
dieser
Fälle
klinische
Manifestationen festgestellt wurden. Hingsammer untersuchte das MännerFrauen-Verhältnis für das WKS im ZKH Bremen-Ost und gibt es mit 5:2 an
(Hingsammer 2002).
1.1.2 Ursachen für die Entstehung des WKS
Das WKS entwickelt sich aus einem Vitaminmangel (Hypovitaminose) des
Vitamin B Komplexes. Ausschlaggebend ist der Mangel von Vitamin B1
(Thiamin) (Masuhr 2005 S.258). Neben Thiamin können aber auch Vitamin
B12
und B6 das WKS und auch häufige Begleiterkrankungen, wie die
Polyneuropahtie, begünstigen. Der Thiaminmangel entwickelt sich zumeist
Seite 7
aus
mehreren
vernachlässigte
Gründen.
Der
schwerwiegendste
Nahrungsaufnahme
bei
starken
Grund
ist
die
Alkoholikern.
Die
Vernachlässigung der Nahrungsaufnahme hat unterschiedliche Gründe.
Chronische
Alkoholiker
lebenspraktische
leben
Handlungen,
oft
wie
verwahrlost
und vernachlässigen
beispielsweise
die
Einnahme
regelmäßiger Mahlzeiten. Viele starke Alkoholiker leben in Armut und
müssen den größten Teil ihres Geldes für ihre Sucht aufbringen. Somit fehlt
das Geld für qualitativ hochwertiges Essen. Ebenso fehlt vielen
obdachlosen Alkoholikern der Ort, an dem sie eine solche Mahlzeit
zubereiten könnten. Die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme wird auch
dadurch nicht wahrgenommen, weil der tägliche Energiebedarf des Körpers
bereits durch den getrunkenen Alkohol abgedeckt wird. Gleichzeitig
müssen starke Alkoholiker die eingenommene Nahrung oft erbrechen und
können so die benötigten Vitamine nicht aufnehmen. Das häufige
Erbrechen führt zu einer noch geringeren Bereitschaft regelmäßig Nahrung
zu sich zu nehmen. Neben der verminderten Nahrungsaufnahme erhöht
Alkohol über Stoffwechselprozesse den Thiaminbedarf im Körper. Alkohol
vermindert die Aufnahme von Vitamin B1 im Dünndarm und stört auch die
Aktivierung des Vitamins B1 zur weiteren Nutzung im Stoffwechsel. Das
durch vernachlässigte Nahrungsaufnahme mangelhaft vorhandene Thiamin
wird durch die Aufnahme von Alkohol somit weiter reduziert. Von einigen
Medizinern wird vermutet, dass bei manchen Personen erschwerend eine
genetische Disposition für eine gehemmte Thiaminaufnahme verantwortlich
sein könnte. Der wissenschaftliche Beweis dieser Theorie steht allerdings
noch aus (Kuhn 2004 S.799). Der Körper benötigt Thiamin für die
Nervenbahnen im gesamten Körper. Zusätzlich zum fehlenden Aufbaustoff
Thiamin greift der Alkohol in seiner Form als Stoffwechselgift die Nerven
an. Der Thiaminmangel und die Schädigung durch den Alkohol können ein
irreparables Absterben der Nervenbahnen verursachen (Bergmann 2005
S.1243). Dies geschieht zuerst in den am weitesten entfernten Extremitäten
und im Gehirn. Es betrifft damit die Orte des Körpers, die aufgrund ihrer
Lage als letztes mit Nährstoffen versorgt werden.
1.1.3 Symptome der Augen beim WKS
Markantes und subjektiv auffälligstes Symptom der akuten WernickeEncephalopathie
sind
Augenmuskellähmungen,
Blicklähmungen
und
Seite 8
Pupillenstörungen (Bergmann 2005 S.1244). Dies äußert sich für den
Betroffenen im Doppelsehen, im verschwommenem Sehen und im
unkontrolliertem Augenzittern. Offensichtlich leiden die Sehnerven unter
dem Thiaminmangel. Es ist auch zu beobachten, dass sich bei
Thiamingabe die Augensymptome sich als erstes verbessern und meist
vollständig zurückbilden (Bergmann 2005 S.1244). Restsymptome sind
allerdings möglich.
1.1.4 Amnesie als Symptom des WKS
Der Thiaminmangel im Gehirn trifft vor allem die Mammilarkörper
(Bergmann 2005 S.1243). Mammilarkörper sind Teil des Papezkreises im
Limbischen System. Dem Papezkreis wird eine wichtige Funktion bei der
Übertragung von Erinnerungen aus dem Kurzzeitgedächtnis in das
Langzeitgedächtnis des Großhirns zugeschrieben. Der Kreislauf des
Papezkreises ist somit an einer Stelle unterbrochen und überträgt
Erinnerungen an das Langzeitgedächtnis nur noch teilweise oder gar nicht
mehr. Dies führt zu dem Symptom der anterograden Amnesie.
Abbildung 2: Papezkreislauf im Limbischen System. Der blaue Kreislauf
symbolisiert den Papezkreislauf mit seinen unterschiedlichen Stationen. Die
abgehenden Pfeile zeigen die Übertragung in das Großhirn und damit in das
Langzeitgedächtnis an. Die beschädigten Mammilarkörper sind Teil des
Papezkreislaufs und in der Zeichnung grün makiert.
Bei
einer
anterograden
Amnesie
ist
die
Merkfähigkeit
für
neue
Bewusstseinsinhalte je nach Schädigungsgrad reduziert. So bleiben neue
Informationen nur noch für ein bis zwei Minuten im Gedächtnis erhalten,
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ehe sie wieder vergessen werden. Das bedeutet für die Betroffenen je nach
Schweregrad der Erkrankung, dass aktuelle Ereignisse nicht lange erinnert
werden können (Deutschle 1998 S.93). Häufige Begleiterscheinung ist eine
retrograde Amnesie, das Vergessen ganzer Lebensjahre, vorwiegend die
Zeit, in der getrunken wurde. Für die betroffene Person ist dies nicht
erklärbar und so knüpft sie häufig an der letzten greifbaren Erinnerung an
und bewegt sich somit in ihrem Zeitgefühl in der Vergangenheit.
Konfrontationen mit der aktuellen Jahreszahl können dann für Verwirrung
sorgen.
Entstandene
Erinnerungslücken
werden
häufig
durch
Konfabulationen gefüllt.
Abbildung 3:Zeitstrahl für Amnesie ausgehend vom Zeitpunkt der akuten
Wernicke-Encephalopatie (Grafikkonzept von Deutschle 1998 S.93)
1.1.5 Konfabulation als Symptom des WKS
Aufgrund der retrograden und anterograden Amnesie sind für das WKS
Konfabulationen typisch. Konfabulationen sind fiktive Erinnerungen. Man
unterscheidet zwischen spontanen und provozierten Konfabulationen
(Kopelmann 2009).
Spontane Konfabulationen beruhen auf der Unfähigkeit fragmentarische
Erinnerungen und gedankliche Assoziationen auseinander zu halten
(Schnider 2006). Sie werden besonders bei Personen mit einer Schädigung
im Limbischen System, wie dem WKS, beobachtet. Es ist das Versagen
eines vorbewussten Filters, der einen aufkommenden Gedanken je nach
seinem Bezug zur aktuellen Gegenwart anpasst. Ein Versagen dieses
Mechanismus führt dazu, dass ein aufkommender Gedanke nicht auf seine
Richtigkeit überprüft wird, sondern ohne Prüfung als wahr angenommen
wird. Dies führt zu einer spontanen Konfabulation und Desorientiertheit mit
dem Verkennen der aktuellen Gegenwart. So erfundene Erinnerungen
können
für
Außenstehende
stimmig,
teilweise
aber
auch
absurd
erscheinen.
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Provozierte Konfabulationen sind dagegen der Versuch des Gehirns
ungenaue Erinnerungen zu präzisieren. Sie schaffen eine Brücke für die
Lücken im Kurz- und Langzeitgedächtnis. Provoziert werden diese
Konfabulationen
deshalb
genannt,
weil
versucht
wird
eine
nicht
gespeicherte Erinnerung abzurufen und für diese Lücke im Gedächtnis vom
Gehirn ein möglicher Ersatz geschaffen wird. Beide Formen der
Konfabulation sind fiktive Erinnerungen, die nicht oder nur zufällig mit der
passierten
Realität
übereinstimmen.
Sie
sind
nicht
bewusst
vom
Vortragenden erfunden, sondern stellen für ihn zur Zeit der Erzählung eine
tatsächliche Erinnerung dar. Man kann davon ausgehen, dass auch
gesunde
Menschen
Erinnerungen
provoziert
konfabulieren.
Konfabulationen gesunder Menschen fallen allerdings erheblich geringer
aus als Konfabulationen, die durch eine erworbene Hirnschädigung
hervorgerufen werden. Diese Konfabulationen helfen den Betroffenen den
Alltag emotional zu bewältigen, weil sie sich so nicht ständig mit der
Tatsache auseinandersetzten müssen, stetig zu vergessen. Typisch für
Korsakowkranke sind deshalb Konfabulationen zu Situationen, die gerade
aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis übergehen
müssten. Kopelman verglich in einer Studie die Konfabulationen von
Alzheimerpatienten,
Korsakowpatienten
und
gesunden
Personen
(Kopelman 1987). Die Probanden mussten einen Zeitungsartikel lesen und
sollten seinen Inhalt sofort, nach 45 Minuten und nach einer Woche
wiedergeben. Dabei stellte Kopelman fest, dass die ausgeprägtesten
Konfabulationen bei Korsakowpatienten nach 45 Minuten vorgetragen
wurden. Korsakowpatienten konfabulierten allerdings auch nach dem
direkten Lesen der Zeitungsmeldung. Alzheimerpatienten neigten dagegen
stärker zur sofortigen Konfabulationen, wohingegen gesunde Menschen
nach einer Woche am stärksten konfabulierten. Dies zeigte unter anderem,
dass Korsakowkranke zu einer Mischung aus spontanen und provozierten
Konfabulationen neigten. Die Alzheimerpatienten konfabulierten spontan,
während gesunde Menschen nur zu provozierten Konfabulationen neigten.
Für
Korsakowkranke
können
Konfabulationen
hinderlich
in
der
Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit und der Realität sein. Der
Verlust des Kurzzeitgedächtnisses wird von den Betroffenen oft nicht ohne
äußere Reflektion realisiert, da sie selber durch die Konfabulationen
Erinnerungen haben. Durch eine vergessene Trinkvergangenheit kann die
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Überzeugung wachsen, im Leben
keine Probleme mit dem eigenen
Alkoholkonsum gehabt zu haben (Hingsammer 2002).
1.1.6 Implizites und explizites Gedächtnis
Das Gedächtnis beziehungsweise unser Wissen kann in zwei Bereiche
unterteilt werden, das implizite und das explizite Gedächtnis (Hackl 2004
S.63,
Romero
2002
S.247).
Das
implizite
Gedächtnis
ist
das
Handlungsgedächtnis. Informationen werden in Form von Bewegungen und
Handlungen gespeichert. Es sind Handlungen über die ein Mensch nicht
nachdenken muss. Nach dem Erlernen gelingen sie, ohne dass man sich
darauf konzentriert, wie beispielsweise das Gehen. Implizit gespeicherte
Informationen sind sehr speziell und lassen sich nur schwer oder gar nicht
von
einer
Aufgabenstellung
in
eine
andere
übertragen.
Diese
Handlungsfunktionen werden auch prozedurale Gedächtnisfunktionen
genannt.
Das explizite Gedächtnis speichert Informationen, die codiert wurden.
Zumeist wird Information durch Sprache codiert, sie kann aber auch durch
Bilder verschlüsselt abgespeichert werden. Durch die Abstraktion der
Codierung einer Information in Sprache ist das Wissen daraus aus einem
Zusammenhang in einen anderen übertragbar.
Beispiel: Unterschied von impliziter und expliziter Information
Das Spielen einer Gitarre kann aufgeteilt werden in implizites und explizites
Wissen. Schlagen und Halten der Saiten ist implizites Wissen. Notenlehre
ist explizites Wissen. Das explizite Wissen der Notenlehre lässt sich auch
auf Instrumente anderer Instrumentengattungen übertragen. Das implizite
Wissen des Haltens und Schlagens der Saiten ist spezielles Wissen,
welches im besten Fall Vorteile beim Erlernen anderer Saiteninstrumenten
bietet, aber nicht auf Tasteninstrumente übertragbar ist.
Die Schädigung im Limbischen System beim WKS ist fast ausschließlich
eine Schädigung des expliziten Gedächtnisses (Hingsammer 2002). Das
bedeutet, dass neue Handlungsabläufe abgespeichert werden können, das
Speichern von sprachlich codierter Information allerdings problematisch ist.
Das Wissen über diese Unterscheidung lässt sich nutzten, um die
Schwäche in der Merkfähigkeit teilweise zu kompensieren und neue
Formen des Lernens zu entwickeln. Diese Unterscheidung ist auch wichtig,
Seite 12
weil für Betroffene das kognitive Lernen erschwert oder unmöglich ist. Im
Gegensatz dazu ist das Lernen auf der Ebene der Handlungsebene aber
nicht betroffen. Dies gilt auch für das räumliche Gedächtnis. WSK
Patienten
können
örtliche
Zusammenhänge
zwar
in
ihrem
Handlungsgedächtnis speichern, haben aber Schwierigkeiten, Orte oder
Wege sprachlich zu beschreiben, bzw. können sich keine sprachlich
codierten Informationen zu Orten merken. Ausführlicher wird dieses Thema
im Kapitel Gedächtnistraining und im Kapitel Mobilität und Gedächtnis
behandelt.
1.1.7 Bewusstseinsveränderung als Symptom des
WKS
Das
im
Gehirn
betroffene
Limbische
System,
in
dem
sich
der
Papezkreislauf und damit auch die besonders betroffenen Mammilarkörper
befinden, wird neben den erwähnten Gedächtnisleistungen auch als
Zentrum des Bewusstseins gesehen. Neben psychischen Erkrankungen,
die Folge oder Grund der Alkoholsucht gewesen sein können, wird häufig
eine heitere Gemütshaltung (Euphorie) bei gleichzeitiger Antriebs- und
Teilnahmslosigkeit (Apathie) bei Korsakowkranken beobachtet. Poeck
schreibt auch fehlende Krankheitseinsicht und Konfabulationen der
Schädigung im Limbischen System zu (Poeck 2001 S.176). Zu beachten
ist, dass trotz der Einschränkung der Merkfähigkeit, die intellektuellen
Fähigkeiten der betroffenen Personen kaum eingeschränkt sind oder
vollständig erhalten bleiben (Hingsammer 2002). Kognitive Fähigkeiten, die
vor dem WKS erlernt wurden, bleiben in den meisten Fällen erhalten. Nur
das Erlernen von neuen kognitiven Fähigkeiten fällt den Betroffenen
schwer, bzw. ist ihnen unmöglich (Poeck 2001 S.176).
1.1.8 Medizinische Behandlung des WKS
Die Phasen der akuten Wernicke-Encephalopathie und der Übergang in
das chronische Korsakowsyndrom werden während eines stationären
Klinikaufenthaltes behandelt. Die Behandlung findet häufig gleichzeitig mit
einem Alkoholentzug statt. Behandelnde Ärzte sind dazu angehalten, bei
einer
akuten
Wernicke-Enzephalophatie
sofort
eine
Therapie
mit
hochdosiertem Thiamin zu beginnen. Die Behandlung der akuten Wernicke
Enzephalophatie mit Thiamin ist allgemein anerkannt und alternativlos
(Bergmann 2005 S.1244). Zu Anfang wird es intravenös verabreicht, da die
Seite 13
Tablettenform Glucose enthält, welches den Thiaminbedraf erhöht und den
Mangel an Thiamin kurzfristig steigern kann. Später kann die Therapie mit
dem
Vitamin-B-Komplex
auch
in
Tablettenform
fortgeführt
werden
(Bergmann 2005 S.1244). Da sich das Wernicke-Korsakow-Syndrom
gelegentlich aus einem Delir entwickelt, empfiehlt Hingsammer Patienten
mit schweren Alkoholentzügen und Deliren prophylaktisch Thiamin zu
geben (Hingsammer 2002). Medikamente, Methoden und die Verlaufsform
der
akuten
Wernicke-Encephalopathie
sind
durch
eine
Fülle
von
Publikationen und Studien recht genau erforscht. Detailfragen werden zwar
weiter erforscht und diskutiert, sie werden aber aller Wahrscheinlichkeit
nach keine größeren Veränderungen in der medizinischen Therapie
bewirken. Nach dem Übergang der Wernicke-Encepahlopathie in die
chronische
Form
des
Korsakowsnydroms,
bestehen
derzeit
keine
wirksamen medikamentösen Behandlungen mehr.
1.1.9 Typischer Verlauf des WKS während und nach
dem Klinkaufenthalt
An WKS erkrankte Personen kommen häufig aufgrund des akuten
Auftretens der bereits beschriebenen Symptome in ein Krankenhaus. Die
Symptome, wie Schläfrigkeit und die Störung der Konzentration, legen sich
bei Thiamingabe schnell nach 2-24 Stunden (Thier 2007 S.798, Bergmann
2005 S.1244). Auch die Augenstörungen bilden sich meist schnell und
vollständig
zurück.
Restsymptome
können
laut
Masuhr
Bewegungsstörungen (Ataxie) und rhythmische Bewegungen (Nystagmus)
der Augen sein (Masuhr 2005 S.262).
Die Gedächtnisstörungen
verbessern sich nach der akuten Phase der Wernicke-Encephalopathie bei
ca. je einem Viertel der Betroffenen nicht, ein wenig, deutlich oder
vollständig
(Hingsammer
2002).
Die
verbleibenden
Gedächtnisleistungsdefizite stellen den Übergang zum Korsakow-Syndrom
dar.
Die danach noch bestehenden Schädigungen im Gehirn und auch im
peripheren Nervensystem galten bis vor wenigen Jahren als vollkommen
irreversibel. Aufgrund dieser verbreiteten Annahme wurden betroffene
Personen im Anschluss häufig in Pflegeheimen oder Gerontopsychiatrien
untergebracht und nicht weiter individuell und gezielt gefördert (McIntosh
2004). Erst in den letzten 15 Jahren wuchs die Überzeugung, dass durch
individuelle
und
angepasste
Förderung
auch
nach
dem
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Krankenhausaufenthalt noch Fortschritte in allen Bereichen erzielt werden
können (Hingsammer 2002) Diese Fortschritte finden zwar erheblich
langsamer statt, stellen aber doch häufig endgültige ärztliche Diagnosen in
Frage
und
erweitern
Möglichkeiten
eines
selbstbestimmten
und
unabhängigen Lebens.
Trotz Therapie liegt die Sterblichkeit der Erkrankten während der akuten
Wernicke-Enzephalophatie in den ersten drei Wochen bei 15% (Masuhr
2005 S.259, Thier 2007 S.798). Hingsammer spricht von einer Sterblichkeit
von 17% der behandelten Betroffenen
und von 23% Sterblichkeit für das
akute unbehandelte WKS (Hingsammer 2002).
1.2 Begleitende Erkrankungen
1.2.1 Alkohol Polyneuropathie
Alkohol Polyneuropathien werden von der WHO im ICD 10 als G62.1
klassifiziert (WHO ICD10). 20-40% aller Alkoholiker leiden nach Feuerlein
unter Polyneuropathien (Feuerlein 1989, S.131). Nach Bergmann sind das
15-40% aller Alkoholiker (Bergmann 2005 S.1244). Poeck und Hacke
ordnen die Polyneuropathie dem WKS als Symptom zu. Bei der AlkoholPolyneuropathie werden die peripheren Nerven geschädigt. Dies geschieht
einerseits durch fehlendes Thiamin, welches von den Nerven im Gehirn wie
auch im peripheren Nervensystem benötigt wird (Poeck 2001 S.589),
andererseits wirkt der Alkohol selbst als Nervengift und greift die
Nervenbahnen an (Bergmann 2005 S.1246). Erste Symptome sind
Taubheit, Kribbeln und Schmerzen in den Füßen, Beinen und/oder
Händen. Die Alkohol-Polyneuropathie tritt überwiegend distal auf, d.h. in
den unteren Extremitäten (Thier 2007 S.803) und ist überwiegend
symmetrisch angeordnet. In Abbildung 4 sind verschiedene Formen der
Polyneuropathie aufgeführt. Die Alkohol-Polyneuropathie fällt in den
meisten Fällen wie der distal symmetrische Typ aus (Bergmann 2005
S.1247). Hände und Beine müssen nicht immer gleichzeitig betroffen sein.
Nach Poeck können Alkohol-Polyneuropathien auch asymmetrisch (In der
Abbildung 4: A multiplex-Typ) auftreten (Poeck 2001 S.641).
Seite 15
Abbildung 4: Typen der Polyneuropathie. Schädigungen des peripheren
Nervensystems sind rot markiert (Grafikkonzept aus
Das häufigste Symptom der Alkohol-Polyneuropathie ist die Störung der
Tiefensensibilität (Mumenthaler 2002 S. 557). Das bedeutet für den
Betroffenen, dass er nicht spüren kann, wann er seinen Fuß auf den Boden
setzt. Da die Polyneuropathie sehr unterschiedlich auftritt, sind auch die
Einschränkungen, die sie mit sich bringt, unterschiedlich. Betroffene
Personen, die ihre Tiefensensibilität in der Fußsohle verloren haben,
zeigen häufig ein verändertes Gangbild und setzen den Fuß sehr abrupt
ab. Schmerzen in den Beinen können durch exponierte Nerven
hervorgerufen werden und werden laut Bergmann auch „burning Feet“
genannt (Bergmann 2005 S.1247). Bei Schmerzen unter den Füßen
verlagern einige Betroffene ihr Gewicht auf die Fußseiten. Daraus resultiert
ein ohbeiniges Gehen. Eine Alkohol-Polyneuropathie kann sich auch durch
Schmerzen und Schwäche in der Beinmuskulatur, insbesondere in den
Waden zeigen (Mumenthaler 2002 S.557). In jedem Fall schränkt eine
Polyneuropathie in den Füssen und Beinen die Mobilität stark ein.
Fußwege dauern erheblich länger, teilweise werden Hilfsmittel wie
Rollatoren oder Gehilfen benötigt, um das Gleichgewicht zu halten und die
Beine zu entlasten. Weitere mögliche Symptome sind Störungen der Lage-,
Oberflächen-
und
Temperaturempfindung
(Feuerlein
1989
S.131).
Störungen der Lageempfindung sind dabei am häufigsten zu beobachten
und schränken das Gehen stark ein. Betroffene benötigen immer
Seite 16
Gegenstände und Hilfsmittel wie Handläufe in ihrer direkten Umgebung, an
denen sie sich festhalten können, um ihr Gleichgewicht zu bewahren. Aber
auch ein gestörtes Temperaturempfinden kann im Alltag gefährlich für die
Gesundheit werden, da eine betroffene Person nicht einschätzen kann, ob
Badewasser zu heiß zum Baden ist, oder die Außentemperatur zu niedrig
für einen Spaziergang in leichter Bekleidung. Die Prognose für eine
Alkohol-Polyneuropathie wird grundsätzlich positiv bewertet. Feuerlein als
auch Poeck schätzten die möglichen Entwicklungen über mehrere Monate
bei einer behandelten Polyneuropathie eher günstig ein (Feuerlein 1989
S.132). Die Behandlung einer Polyneuropathie besteht aus ausgewogener
Ernährung,
zusätzlicher
Vitamin-B-Komplexgabe
und
Physikalischer
Behandlung. Poeck weist allerdings darauf hin, dass die sehr individuelle
Erscheinungsform
der
Polyneuropathie
und
damit
die
individuelle
Regeneration sich schlecht definieren lassen (Poeck 2001 S.589). Zu
erwähnen bleibt, dass eine Polyneuropathie einen chronischen Verlaufe
nehmen kann und dies insbesondere dann, wenn die Polyneuropathie nicht
rechtzeitig, abstinent und über Monate dauerhaft und konsequent
behandelt wird. Aufgrund von versäumter Therapie sind chronisch
verlaufende Polyneuropathien häufige Begleiterscheinungen des WKS.
Wenn im weiteren Verlauf dieser Arbeit von Polyneuropathien gesprochen
wird, sind damit eben diese chronischen Verlaufsformen gemeint, die zum
Großteil schon länger bestehen und irreversibel sind.
1.2.2 Leberschäden (Alkoholhepatitis/Fettleber /
Leberzirrose)
Die häufigsten Begleiterscheinungen des WKS und Folgeschäden
chronischen
Alkoholismus
sind
Leberschäden.
Dabei
ist
die
Alkoholfettleber die häufigste Lebererkrankung bei Alkoholikern. 47,7%
aller männlichen und 27,4% der weiblichen Alkoholiker/innen haben eine
Fettleber (Feuerlein 1989 S.107). Betroffene haben subjektiv geringe
Beschwerden, obwohl die Leber teilweise erheblich vergrößert ist. Die
Prognose bei einer Alkoholfettleber ist bei Abstinenz günstig. Es kann aber
auch ein Übergang zur Leberhepatitis stattfinden. Bei der Leberhepatitis
unterscheidet
man
zwischen
zwei
Verlaufsformen.
Der
chronisch-
persistierenden Hepatitis und einer chronisch-aggressiven Hepatitis. Die
Prognose ist bei der chronisch-persistierenden Hepatitis gut, bei der
chronisch-aggressiven Hepatitis laut Feuerlein zweifelhaft (Feuerlein 1989
Seite 17
S.112). Es ist ein Übergang zur Leberzirrhose möglich. 30 – 50% aller
Leberzirrhosen
sind
auf
Alkoholmissbrauch
zurückzuführen.
Eine
Leberzirrhose ist das Endstadium einer chronischen Lebererkrankung. Sie
kann eine Reihe von weiteren Folgeerkrankungen, wie Ösophagusvarizen,
bewirken. Der Verlauf kann je nach Schweregrad günstig bis tödlich sein.
Eine Lebertransplantation ist bei schlechtem Verlauf der Erkrankung
möglich, eine Alkoholabstinenz ist dafür Vorraussetzung (Arnold 2002).
1.2.3 Ösophagusvarizen
Ösophagusvarizen sind Krampfadern der Speiseröhre. Sie sind häufige
Folgen einer Leberzirrhose. Ösophagusvarizen entstehen, wenn sich durch
eine Leberzirrhose der Blutfluss durch die Leber aufgestaut hat und
dadurch der Blutdruck in den Venen erhöht wird. Ösophagusvarizen
können zu schwerwiegenden Komplikationen führen. Die dünne Haut der
Varizen kann reißen und Blut kann auf diesem Weg in die Speiseröhre und
daraufhin in den Magen gelangen. Der Magen füllt sich so mit Blut. Das
Blut verfärbt sich dunkel und wird meist nachdem sich der Magen gefüllt
hat erbrochen. Der Betroffene kann ohnmächtig werden und auch verbluten
(Caselitz 1998). Auftretende Blutungen können nur von einem Notarzt bzw.
auf der Intensivstation behandelt werden. Bei Bewusstlosigkeit der
betroffenen Person ist die stabile Seitenlage wichtig. Ein schnell
abgesetzter Notruf ist die einzig wirksame Maßnahme in einem Notfall.
Deshalb ist es für Betreuer wichtig zu wissen, welche betreuten Personen
von Ösophagusvarizen betroffen sind, um in einem Notfall schnell
reagieren zu können.
1.3 Welche Auswirkung hat die Erkrankung auf
das Leben?
Das
Wernicke-Korsakow-Syndrom
wird
auch
als
ein
Symptom-
sammelbecken für Folgeerkrankungen des chronischen Alkoholismus
bezeichnet. Die tatsächliche Zusammensetzung der Symptome ist immer
sehr individuell, genauso wie die einzelnen Symptome unterschiedlich stark
ausgeprägt sind. Die stärksten Einschränkungen für das alltägliche Leben
sind die Gedächtnisschwäche und die Mobilitätseinschränkung durch
Polyneuropathien. Zu der Bedeutung von Amnesie für das eigene Leben
schreibt Luis Bunuel in seinem Buch „Mein letzter Seufzer „:
Seite 18
Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei´s nur
stückweise, um sich darüber klar zu werden, dass das Gedächtnis unser
ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben . . . Unser
Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser
Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts . . . (Ich kann nur auf die
retrograde Amnesie warten, die ein ganzes Leben auslöschen kann, wie
bei meiner Mutter...) – Luis BUNUEL – Mein letzter Seufzer
Oliver Sacks stellt dieses Zitat von Luis Bunuel an den Anfang seines
bekannten Berichtes „Der verlorene Seemann“ (Sacks 1987). Er beschreibt
in
diesem
Bericht
den
Fall
eines
Korsakowpatienten
in
einer
Pflegeeinrichtung für alte Menschen. Er stellt im Zusammenhang mit dieser
Textpassage die Frage, wie viel unserer Identität in unserem Gedächtnis
liegt.
Erfahrungen prägen uns und formen unseren Charakter. Wir greifen immer
wieder auf unsere Erfahrungen zurück. Aufgrund unserer Erfahrungen
begründen wir unser Handeln. All unser Wissen speichern wir in unserem
Gedächtnis. Was würde es für uns bedeuten, wenn wir keine neuen
Erfahrungen abspeichern können oder, wenn wir uns an Teile unseres
eigenen Lebens nicht mehr erinnern könnten? Bunuel drückt seine
persönliche Ansicht sehr drastisch aus: „Ohne Gedächtnis sind wir nichts“.
Ein Leben ohne Gedächtnis ist natürlich noch immer ein Leben. Aber es
fehlt ein großer Teil von dem, was uns ausmacht.
Auch in der Informatik hat man in diesem Zusammenhang bei der
Entwicklung von künstlicher Intelligenz wichtige Erfahrungen gesammelt. In
den Anfängen der Forschung zu künstlicher Intelligenz in den 50er Jahren
ging man davon aus, dass Intelligenz nur durch Funktionen und nicht durch
Wissen gestaltet werden kann. Nachdem man mit diesen Ansatz scheiterte,
ist man in der Erforschung der künstlichen Intelligenz dazu übergegangen,
künstliche Intelligenz dadurch zu generieren, dass man auf bereits
bestehende Informationen in Datenbanken zurückgreift und von Funktionen
verarbeiten lässt. In der Informatik wird Bewusstsein also nicht mehr nur in
Form von Denkvorgängen verstanden, sondern man muss immer auf
bereits generiertes Wissen zurückgreifen (Karagiannis 2001 S.28). In
diesem Zusammenhang kann auch die Frage gestellt werden, ob die
Seite 19
Einschränkung
des Gedächtnisses auch eine
Einschränkung
oder
Behinderung des Bewussteins bedeutet.
Bei Korsakowkranken fehlt je nach Schweregrad der Schädigung ein Teil
ihrer Erinnerung. Ebenso können sie kaum neue Erfahrungen abspeichern,
auf die sie dann wieder zugreifen könnten. Sich nicht erinnern zu können,
hinterlässt eine Verunsicherung, die bei Korsakowkranken allgegenwärtig
ist. Für manche Betroffene mit starken Schädigungen bedeutet dies, täglich
in einem fremden Zimmer aufzuwachen und auf einem Zettel nachlesen zu
müssen, wo sie sich befinden (Fallbeispiel Sacks 1987). Es bedeutet von
Menschen mit einem funktionierenden Gedächtnis abhängig zu sein und
auf deren Aufrichtigkeit vertrauen zu müssen. Konfabulationen helfen den
Betroffenen sich nicht ständig mit dem Vergessen auseinander setzen zu
müssen. Andererseits schaffen sie in Situationen, in denen sie mit der
Realität konfrontiert wird, aber auch immer wieder unangenehme und
peinliche Momente. Für einen Betroffenen kann dieser Zustand bedeuten,
dass er sich selber nicht mehr trauen kann. Manchmal kann er sich nicht
erinnern, manchmal stimmen seine Erinnerungen einfach nicht. Für
manche Betroffene führt dies dazu, dass sie sich selber als unfähig
degradieren
oder
beständig
den
Schein
einer
gesunden
Person
aufrechterhalten müssen. Zu erkennen, wie stark das eigene Gedächtnis
geschädigt wurde und die Konsequenzen und Einschränkungen für das
eigene Leben zu entdecken, kann sehr schmerzlich und irritierend sein,
denn
intellektuell
sind
Korsakowpatienten
gar
nicht
oder
kaum
beeinträchtigt (Hingsammer 2002).
Das alltägliche Leben kann durch die Erkrankung nicht mehr selbständig
bewältigt werden. Dies ist vielen Korsakowpatienten, insbesondere zu
Anfang der Erkrankung, selbst noch nicht bewusst. Die Orientierung ist
eingeschränkt, neue Wege und Orte werden nur langsam erschlossen und
müssen zusammen mit anderen Personen erlernt werden. Veränderungen
in der Umgebung können zu Verwirrung und Stress führen (Fallbeispiele:
Sacks 1987, Deutschle 1998 S.99). Einkäufe in Geschäften oder auch
werden zur Herausforderung, da auch hier das eigene Geld, die benötigten
Waren und auch das Wechselgeld bedacht und erinnert werden müssen.
Haushaltstätigkeiten
bergen
Gefahren
vergessene Herdplatten, Bügeleisen,
durch
eingeschaltete
und
laufende Wasserhähne oder
brennende Zigaretten.
Seite 20
Aber auch der wiederkehrende Tagesablauf kann Schwierigkeiten bereiten.
Krankheitsbedingt fehlt Betroffenen häufig die nötige Motivation, um am
Morgen aufzustehen. Die Gewohnheit eines geregelten Tagesablaufs ist in
der Zeit des intensiven Trinkens verloren gegangen. Termine und
Tagespläne müssen erinnert werden. Dies gelingt selbst mit einem
Kalender häufig nur schwer oder muss erlernt werden, denn nach dem
Eintragen der Termine muss im Kalender auch regelmäßig nach Terminen
geschaut werden.
Die Antriebslosigkeit gepaart mit der Schwierigkeit sich neue Namen zu
merken, kann auch leicht zum Rückzug in den eigenen Wohnbereich und
damit schnell zur Vereinsamung führen.
Eine Diabetes ist in Verbindung mit dem Korsakowsyndrom gefährlich, weil
das regelmäßig Essen und den Blutzucker bestimmen, insbesondere beim
Typ II der Diabetes, überlebenswichtig sein kann. Gleiches gilt für die
Einnahme
von
anderen
wichtigen
oder
sogar
lebensnotwendigen
Medikamenten. Korsakowkranke verlieren häufig den Überblick über ihre
Medikationen, vergessen das regelmäßige Einnehmen oder auch, wofür sie
ein bestimmtes Präparat eigentlich nehmen müssen.
Die häufige Begleiterkrankung Polyneuropathie kann die Mobilität
des
Betroffenen erheblich einschränken und aufgrund der verminderten
Temperatur- und Schmerzempfindlichkeit Probleme im Alltag bereiten. Zum
Teil sind für Betroffene Hilfsmittel wie Rollatoren, Gehhilfen oder Rollstühle
unerlässlich. Die Nutzung dieser Hilfsmittel stellt aber gleichzeitig eine
emotionale Belastung dar, weil sie für viele Personen gleichbedeutend mit
einer Behinderung sind und dies so für die Außenwelt sichtbar gemacht
wird. Die Einschränkungen und Behinderungen durch das WKS und seine
Begleiterkrankungen sind vielschichtig und dem Betroffenen nicht immer
bewusst. Die Behinderungen, die bewusst sind, können eine Belastung für
das Selbstwertgefühl sein.
1.4 Einordnung des WKS nach dem ICF
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Gesundheit (ICF) ist eine Klassifikation in der systematisch der funktionale
Gesundheitszustandes, die Behinderung, die soziale Beeinträchtigung und
die relevanten Umweltfaktoren eines Menschen beschrieben werden. Die
ICF bietet einen Katalog zur einheitlichen Einordnung von Problemen die
Seite 21
aufgrund von Erkrankungen entstehen können. Außerdem beschränkt sich
die ICF nicht
wie die
ICD 10 auf eine
Erkrankung
bzw. ein
Gesundheitsproblem sondern bezieht in die Bewertung die bereits
genannten
Bereiche
ein,
um
ein
ganzheitliches
Bild
der
Gesundheitsprobleme und ihrer Bedeutung für das Leben zu liefern. In der
folgenden
Abbildung
werden
die
verschiedenen
Bereiche
der
Funktionsfähigkeit und Behinderung auch in Wechselwirkungen zueinander
dargestellt. So ergibt sich ein Bild in dem sich die komplexen Beziehungen
zwischen
Gesundheitsproblemen
und
Kontextfaktoren
vereinfacht
darstellen lassen.
Abbildung 5: Darstellung der Wechselwirkungen nach dem ICF (Grafik aus
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Gesundheit, 2005)
Seite 22
Die ICF benutzt ein System aus Buchstaben und Ziffern um einzelne
Definitionen der Körperfunktion, Körperstruktur, Aktivität, Teilhabe und
Umweltfaktoren zu codieren. Der immer am Anfang stehende Buchstabe
beschreibt eine der Grundkomponenten in die die ICF unterteilt ist (b =
Körperfunktionen, d= Teilhabe, s= Körperstrukturen usw.). Die darauf
folgende Ziffer bezieht sich auf das Kapitel innerhalb der Komponente. Die
nächste Ziffer unterteilt das Kapitel in eine zweite Gliederungsebene. Die
letzten beiden Ziffern vor dem trennenden Punkt beschreiben die dritte
Gliederungsebene. Nach dieser Einordnung kann jedes Problem, getrennt
durch einen Punkt von der vorherigen Codierung, in seinem Ausmaß
beschrieben werden. Die Ausprägung des Problems wird nach der
folgenden Tabelle beschrieben:
xxx.0 Problem nicht vorhanden
(ohne, kein, unerheblich ...) 0-4%
xxx.1 Problem leicht ausgeprägt
(schwach, gering ...)
5-24%
xxx.2 Problem mäßig ausgeprägt
(mittel, ziemlich ...)
25-49%
xxx.3 Problem erheblich ausgeprägt (hoch, äußerst ...)
50-95%
xxx.4 Problem voll ausgeprägt
96-100%
(komplett, total ...)
xxx.8 nicht spezifiziert
xxx.9 nicht anwendbar
Die Codierung der ICF soll hier anhand eines Beispiels erklärt werden:
Abbildung 6: ICF Codierung
Das b ordnet dieses Beispiel der Komponente „Körperfunktionen“ zu. Die
erste Ziffer ordnet es innerhalb der Komponente „Körperfunktionen“ dem
Kapitel „mentalen Funktionen“ zu. Die nächste Ziffer zeigt die zweite
Gliederungsebene „Funktionen der Orientierung“. Die folgenden beiden
Ziffern unterteilen diese Ebene noch weiter in die „Orientierung zur Zeit“.
Danach wird die Codierung durch einen Punkt unterbrochen. Nach diesem
Punkt wird die Ausprägung des Problems mit 2 beschrieben. Das Bedeutet
die Orientierung zur Zeit dieser Person ist „mäßig ausgeprägt“.
Seite 23
Der ICF dient vornehmlich dazu die Funktionsfähigkeit und Behinderung
von Individuen darzustellen. Im Gegensatz dazu ist die Einschätzung eines
Krankheitsbildes durch die ICF nur bedingt möglich da sich beispielsweise
der Bereich Umweltfaktoren vollständig auf die Lebenssituationen eines
Individuums bezieht. Auch die Ausprägung der Funktionsfähigkeit und
Behinderung beziehen sich immer auf die Situation eines Menschen.
Trotzdem soll an dieser Stelle versuchen werden die auf Individuen
ausgerichtete Klassifikation auf das Krankheitsbild WKS und die AlkoholPolyneuropathie
anzuwenden.
Dazu
werden
die
Komponenten
Körperfunktionen, Körperstrukturen und der Aktivitäten und Partizipation
genutzt um aufzuzeigen in welchen Bereichen die Funktionsfähigkeit des
Betroffenen eingeschränkt sein kann und Behinderungen auftreten können.
Ausgelassen
werden
die
Umweltfaktoren,
die
personenbezogenen
Faktoren sowie die Bewertung der Schwere des Problems, da diese
Bereiche die Lebenssituation eines Betroffenen darstellen und somit nicht
auf ein Krankheitsbild anwendbar sind. Diese Einschätzung beschränkt
sich auf die Auswirkung und Symptome des chronischen Verlaufs des WKS
und vernachlässigt die nur temporär auftretenden Symptome in der akuten
Entzündungsphase der Wernicke-Encephalopathie.
1.4.1 Aufzählung der nach der ICF codierten
Bereichen in denen Probleme aufgrund vom
WKS und Polyneuropathien auftreten können
b Klassifikation der Körperfunktionen
b114 Funktionen der Orientierung
b1140 Orientierung zur Zeit
b1141 Orientierung zum Ort
b1142 Orientierung zur Person
b11420 Orientierung zum eigenen Selbst
b11421 Orientierung zu anderen Personen
b126 Funktionen von Temperament und Persönlichkeit
b1264 Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen
b1265 Optimismus
b130 Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs
b1301 Motivation
b1303 Drang nach Suchtmitteln
b144 Funktionen des Gedächtnisses
b1440 Kurzzeitgedächtnis
Seite 24
b1441 Langzeitgedächtnis
b1442 Abrufen von Gedächtnisinhalten
b152 Emotionale Funktionen
b1520 (Situations)Angemessenheit der Emotion
b156 Funktionen der Wahrnehmung
b1564 Taktile Wahrnehmung
b160 Funktionen des Denkens
b1602 Inhalt des Denkens
b1603 Kontrolle des Denkens
b164 Höhere kognitive Funktionen
b1641 Das Organisieren und Planen betreffende Funktionen
b1642 Das Zeitmanagement betreffende Funktionen
b1643 Kognitive Flexibilität
b1644 Das Einsichtsvermögen betreffende Funktionen
b1645 Das Urteilsvermögen betreffende Funktionen
b180 Die Selbstwahrnehmung und die Zeitwahrnehmung betreffende
Funktionen
b1802 Zeitwahrnehmung
b265 Funktionen des Tastens (Tastsinn)
b270 Sinnesfunktionen bezüglich Temperatur und anderer Reize
b2700 Temperaturempfinden
b2702 Druck- und Berührungsempfinden
b730 Funktionen der Muskelkraft
b7300 Kraft isolierter Muskeln oder von Muskelgruppen
b740 Funktionen der Muskelausdauer
b7401 Ausdauer von Muskelgruppen
b770 Funktionen der Bewegungsmuster beim Gehen
s Klassifikation der Körperstrukturen
s11008 Struktur des Großhirns, anders bezeichnet
s75012 Muskeln des Unterschenkels
s7508 Struktur der unteren Extremitäten, anders bezeichnet
d Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe]
Elementares Lernen
d135 Üben
d155 Sich Fertigkeiten aneignen
d1550 Sich elementare Fertigkeiten aneignen
d1551 Sich komplexe Fertigkeiten aneignen
d175 Probleme lösen
d1750 Einfache Probleme lösen
d1751 Komplexe Probleme lösen
Seite 25
d210 Eine Einzelaufgabe übernehmen
d2100 Eine einfache Aufgabe übernehmen
d2101 Eine komplexe Aufgabe übernehmen
d2102 Eine Einzelaufgabe unabhängig übernehmen
d2103 Eine Einzelaufgabe in einer Gruppe bewältigen
d220 Mehrfachaufgaben übernehmen
d2200 Mehrfachaufgaben bearbeiten
d2201 Mehrfachaufgaben abschließen
d2202 Mehrfachaufgaben unabhängig übernehmen
d2203 Mehrfachaufgaben in einer Gruppe übernehmen
d230 Die tägliche Routine durchführen
d2301 Die tägliche Routine planen Einfache und komplexe, koordinierte
Handlungen auszuführen, um die Anforderungen der alltäglichen
Prozeduren oder Pflichten zu planen und zu handhaben
d2302 Die tägliche Routine abschließen
d2303 Das eigene Aktivitätsniveau handhaben
d410 Eine elementare Körperposition wechseln
d4104 Stehen
d4105 Sich beugen
d4106 Seinen Körperschwerpunkt verlagern
d415 In einer Körperposition verbleiben
d4154 In stehender Position verbleiben
d430 Gegenstände anheben und tragen
d4300 Anheben
d4301 Mit den Händen tragen
d4302 Mit den Armen tragen
d4303 Auf den Schultern, der Hüfte oder dem Rücken tragen
d4304 Auf dem Kopf tragen
d4305 Gegenstände absetzen
d450 Gehen
d4500 Kurze Entfernungen gehen
d4501 Lange Entfernungen gehen
d4502 Auf unterschiedlichen Oberflächen gehen
d455 Sich auf andere Weise fortbewegen
d4551 Klettern/steigen
d4552 Rennen
d4553 Springen
d510 Sich waschen
d5101 Den ganzen Körper waschen
d520 Seine Körperteile pflegen
d5200 Die Haut pflegen
d5201 Die Zähne pflegen
d5202 Das Haar pflegen
d5203 Die Fingernägel pflegen
Seite 26
d5204 Die Fußnägel pflegen
Seite 27
d570 Auf seine Gesundheit achten
d5700 Für seinen physischen Komfort sorgen
d5701 Ernährung und Fitness handhaben
d5702 Seine Gesundheit erhalten
d610 Wohnraum beschaffen
d6100 Wohnraum kaufen
d6101 Wohnraum mieten
d6102 Wohnraum möblieren
d620 Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs beschaffen
d6200 Einkaufen
d6201 Die täglichen Notwendigkeiten unentgeltlich besorgen
d630 Mahlzeiten vorbereiten
d6300 Einfache Mahlzeiten vorbereiten
d6301 Komplexe Mahlzeiten vorbereiten
d640 Hausarbeiten erledigen
d6401 Küchenbereich und –utensilien reinigen
d6402 Den Wohnbereich reinigen
d6405 Müll entsorgen
d650 Haushaltsgegenstände pflegen
d6500 Kleidung herstellen und reparieren
d6501 Wohnung und Möbel instand halten
d6502 Häusliche Geräte instand halten
d6503 Fahrzeuge instand halten
d6504 Hilfsmittel instand halten
d6505 Innen- und Außenpflanzen pflegen
d6506 Sich um Tiere kümmern
d660 Anderen helfen
d6600 Anderen bei der Selbstversorgung helfen
d6601 Anderen bei der (Fort)Bewegung helfen
d6603 Anderen bei interpersonellen Beziehungen helfen
d6604 Anderen bei der Ernährung helfen
d6605 Anderen bei der Erhaltung ihrer Gesundheit helfen
d820 Schulbildung
d825 Theoretische Berufsausbildung
d830 Höhere Bildung und Ausbildung
d840 Vorbereitung auf Erwerbstätigkeit
d845 Eine Arbeit erhalten, behalten und beenden
d8450 Arbeit suchen
d8451 Ein Arbeitsverhältnis behalten
d850 Bezahlte Tätigkeit
d8500 Selbständige Tätigkeit
d8501 Teilzeitbeschäftigung
d8502 Vollzeitbeschäftigung
Seite 28
d855 Unbezahlte Tätigkeit
d860 Elementare wirtschaftliche Transaktionen
d865 Komplexe wirtschaftliche Transaktionen
d870 Wirtschaftliche Eigenständigkeit
d8700 Persönliche wirtschaftliche Ressourcen
d8701 Öffentliche wirtschaftliche Ansprüche
d920 Erholung und Freizeit
d9200 Spiel
d9201 Sport
Die vielen und vielschichtigen Bereiche in denen Probleme aufgrund des
WKS und Polyneuropathien auftreten können, machen deutlich wie
einschneidend und behindernd eine Erkrankung an einem oder beiden
Krankheitsbildern sein kann. Die ausgewählten Bereiche können bei der
Anwendung auf einen konkreten Fall helfen die individuelle Bedeutung der
Erkrankung für das Leben einzuschätzen. Sie bieten auch die Möglichkeit
die Schwere der Erkrankung und die notwendige Hilfe anhand eines
international anerkannten Standards zu bewerten und nachvollziehbar
aufzuschlüsseln.
Seite 29
2 Pädagogische Handlungsansätze
2.1 Gesetzliche Zielsetzung /
Leistungsübernahme
In Deutschland wird die Förderarbeit für Korsakowkranke durch das
SGB 12 als Eingliederungshilfe für behinderte Menschen geregelt. Die
Erkrankung am WKS wird als Behinderung angesehen, da die betroffene
Person nach § 2 Abs. 1 Satz 1 des SGB 9 „ihre körperliche Funktion,
geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand
abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist“. In diesem Fall sind diese Personen berechtigt, die
Förderung in einer Einrichtung auf Grundlage der „Eingliederungshilfe für
behinderte Menschen“ (§ 53 SGB 12) in Anspruch zu nehmen. Auf diese
Förderung haben sie ein Recht, solange sie diese Behinderung haben oder
„von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind“ (§ 53 Abs. 1
Satz 1 SGB 12) oder solange Aussicht besteht, dass die Aufgabe der
Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Diese Aufgabe besteht darin, „eine
drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren
Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die
Gesellschaft
einzugliedern“
(§ 53
Abs. 3
Satz 1
SGB 12).
Die
zu
beseitigenden Behinderungen bzw. die Kompensation ihrer Folgen sind
beim WKS insbesondere die beeinträchtigte Gedächtnisleistung und die
Einschränkungen der Mobilität. Eine beim WKS besonders zutreffende
Aufgabe ist es, betroffene Personen „so weit wie möglich unabhängig von
Pflege zu machen“ (§ 53 Abs. 3 Satz 2 SGB 12). Diese Aufgabe ist
besonders unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung wichtig, da
Personen
mit
dem
WKS
noch
vor
wenigen
Jahren
nur
in
Pflegeeinrichtungen „verwahrt“ und nicht individuell gefördert wurden
(McIntosh
2004).
Um
frühzeitige
Unterbringung
in
einer
reinen
Pflegeeinrichtung vorzubeugen, ist es nach § 55 Satz 1 SGB 12 möglich, in
einer vollstationären Einrichtung auch Pflegeleistungen zu erbringen, bis
der Grad der Pflege die Möglichkeit der Einrichtung übersteigt. Zur
Eingliederung in den Arbeitsmarkt oder zur Aufnahme einer angemessenen
Tätigkeit sieht § 55 des SGB 12 die Hilfe zur Ausbildung für angemessene
Tätigkeit
oder
die
Hilfe
durch
eine,
dem
zweiten
Arbeitsmarkt
Seite 30
entsprechende, Beschäftigungsstätte vor. Gesetzliche Aufgaben durch die
Eingliederungshilfe sind also zusammenfassend:
•
Eingliederung in die Gesellschaft
•
Eingliederung in den Arbeitsmarkt oder Aufnahme eine angemessenen Tätigkeit
•
Behinderung und ihre Folgen mildern oder beseitigen
•
Pflegeaufgaben, soweit machbar, wahrnehmen und dadurch
•
die Unabhängigkeit von Pflege wahren oder soweit möglich herstellen
2.2 Grundsätzliche pädagogische Theorien
Als Grundlage für das pädagogische Handeln mit Korsakowkranken habe
ich für diese Arbeit drei bekannte Ansätze aus der Pädagogik ausgewählt.
Ich habe mich für den subjektorientierte Ansatz entschieden, um das
Spannungsfeld
zwischen
Bevormundung
und
Unabhängigkeit
von
Betreuern und Betreuten zu thematisieren. Der subjektorientierte Ansatz
kann als ein Gegenstück zum Realitätsorientierungstraining gesehen
werden,
welches
im
Kapitel
der
praktischen
pädagogischen
Handlungsmöglichkeiten genauer beschrieben wird.
Weiterer beschreibe ich den systemischen Ansatz als eine Möglichkeit der
pädagogischen Handlung, der Alkoholabhängigkeit nicht nur als ein
persönliches Problem sieht, sondern als ein Problem des gesamten
sozialen Umfelds.
Als
dritte
grundlegende
pädagogische
Theorie
habe
ich
die
klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers gewählt. Sie ist laut
Feuerlein die häufigste Form der Psychotherapie in Therapieeinrichtungen
für Alkoholkranke (Feuerlein 1989 S.189).
Am Ende dieses Kapitels gehe ich auf die Grundsatzfrage ein, ob in der
pädagogischen Arbeit mit Korsakowkranken, Abstinenz eins der Ziele sein
sollte. Im Kapitel 2.3 gehe ich darauf ein, wie die pädagogische Arbeit
praktisch aussehen kann.
2.2.1 Ansatz der Subjektorientierung
Ziel der pädagogischen Handlungen und Interventionen, im Sinne des
emanzipatorischen Gedankens, ist die schrittweise Überwindung von
Abhängigkeiten und die schrittweise Erweiterung eigenverantwortlicher
Handlungsfähigkeit.
Da
das
Korsakowsyndrom
eine
chronische
Seite 31
Schädigung
des Gehirns ist, sind Heilungsmöglichkeiten
und
die
pädagogischen Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Trotzdem ist davon
auszugehen, dass Fortschritte erzielt werden können und so die
Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der Betroffenen erweitert werden
kann. Nicht die Utopie der vollständigen Autonomie ist Ziel der
pädagogischen Handlung, sondern die Erweiterung selbstbewussten und
selbstbestimmten Handelns in sozialen Beziehungen. Der Ansatz der
Subjektorientierung stellt das Subjekt in den Mittelpunkt. „Subjektorientiert“
heißt, dass im Mittelpunkt der Pädagogik das Individuum und die Entfaltung
seiner
individuellen
und
einzigartigen
Persönlichkeit
stehen.
Die
subjektorientierte Pädagogik orientiert sich nicht an den gesellschaftlich
und
politisch
zugewiesenen
Entwicklungserwartungen,
sondern
will
individuelle Entwicklungen und Entfaltungsräume ermöglichen.
Sie ist nach Scherr (Scherr 1997 S.) insbesondere geprägt durch fünf
Merkmale in der Entwicklung des Individuums: die Subjektwerdung, das
Selbstbewusstsein, die Selbstachtung, die Selbstbestimmung und die
Subjektbildung.
2.2.1.1
Subjektwerdung und Subjektbildung
Jeder Mensch beginnt sein Leben in totaler Abhängigkeit von anderen
Menschen. Diese Abhängigkeiten bestehen sowohl materiell (Wohnort,
Nahrung etc.) als auch geistig (Kultur, Wissen etc.) und emotional
(Aufmerksamkeit, Liebe etc.). Im Prozess der Sozialisation lernt der
Mensch schrittweise aus dieser totalen Abhängigkeit in allen Bereichen
unabhängiger zu werden, wenngleich er niemals vollständig unabhängig
wird. Dieser Prozess kann auch Subjektwerdung genannt werden und er ist
nicht nur auf die Zeit der Kindheit und Jugend beschränkt. Das Ziel bei der
Subjektwerdung ist die schrittweise Überwindung von Abhängigkeiten und
die schrittweise Erweiterung eigenverantwortlicher Handlungsfähigkeit.
Soziale Abhängigkeiten von Alkoholikern können vielfältig sein und sich
über die Familie, das soziale Umfeld und den Arbeitsplatz erstrecken, aber
auch zuständige Behörden und Hilfseinrichtungen einbeziehen. Neben den
sozialen
Abhängigkeiten
bestehen
Alkohol-
und
andere
stoffliche
Abhängigkeiten, welche entscheidend die eigene Freiheit einschränken
können.
Die
Korsakowerkrankung
kommt
hierbei
mit
ihren
einschränkenden Symptomen erschwerend hinzu. Subjektwerdung kann
Seite 32
bei Korsakowkranken also bedeuten, in den Gebieten der sozialen,
stofflichen und der neuen Abhängigkeit aufgrund der Krankheitssymptome,
die eigenverantwortliche Handlungsfähigkeit zu erweitern. Durch die
Subjektbildung sollen verinnerlichte Zwänge zurückgedrängt werden, um
sich selber bewusste Freiräume zum selbstbestimmten Leben zu schaffen.
Man geht davon aus, dass Zwänge, die als Zwänge bewusst werden, ihren
unhinterfragbaren Charakter der Selbstverständlichkeit verlieren und so
leichter
zu
ändern
sind.
verinnerlichten Zwänge,
Speziell
für
Alkoholiker
können
solche
beispielsweise aus Trinkgewohnheiten, bei
Problem- oder Stresssituationen bestehen. Die Bewusstwerdung dieser
Zwänge kann dabei helfen, diese Situationen anders zu gestalten.
2.2.1.2
bewusstsein
Selbst-
Das Wort Selbstbewusstsein steht in diesem Zusammenhang nicht für
Selbstachtung, sondern für das Wissen über sich selbst. Selbstbewusstsein
ist die Fähigkeit des Menschen sich selbst distanziert zu betrachten. Es
geht darum, der eigenen Person bewusst zu werden und dieses
Bewusstsein in ein sprachlich fassbares Wissen zu überführen. Indem wir
über uns selbst nachdenken, werden eigene Bedürfnisse, Motive, Gründe,
Absichten und Interessen zum Gegenstand der Reflexion. Für Alkoholiker
kann dies im besonderen Maße die Beschäftigung mit der Abhängigkeit
bedeuten. In diesem Zusammenhang können beispielsweise unbefriedigte
Bedürfnisse erkannt oder auch die eigenen Motive für das Trinken entdeckt
werden. Auf diese Weise kann unbewusstes Handeln bewusst gemacht
und verändert werden. Selbstbewusstsein bedeutet allerdings auch, die
eigene
Suchterkrankung
zu
erkennen
und
anzunehmen.
Für
Korsakowkranke hat das Wissen über sich selbst eine weitere wichtige
Komponente. Sie müssen sich mit ihrer Gedächtnisschwäche und den
Konfabulationen auseinandersetzen. Die Krankheitseinsicht fällt vielen
Betroffenen in den Bereichen Sucht- und Korsakowerkrankung schwer.
2.2.1.3
achtung
Selbst-
Fehlende Selbstachtung wird häufig als Begründung für Suchtkrankheiten
genannt. Fehlende Selbstachtung kann viele Gründe haben. Bei der
Entwicklung von Selbstwert kann man allerdings davon ausgehen, dass er
Seite 33
niemals autonom entwickelt wird, sondern durch Wertschätzung von
„außen“ an eine Person herangetragen wird und sich durch die
Erfahrungen, die ein Mensch macht, entwickelt. Eine Person, die anerkannt
und respektiert wird, kann sich auch selber anerkennen und respektieren.
Dabei ist es offensichtlich wichtig, welcher Wert der aussagenden Person
zugemessen wird. Korsakowkranke kommen aus einer langjährigen
Alkoholabhängigkeit, in der sie oft nur als Süchtige wahrgenommen
werden. Für viele wird dies die einzige Identifikation und sozialer
Bezugspunkt zu anderen Menschen, die ebenfalls süchtig sind. Für die
pädagogische Arbeit mit Korsakowkranken kann dies den Spagat zwischen
der
notwendigen
Thematisierung
der
Suchterkrankung
und
der
Wertschätzung der Person, ohne den Bezug zum Alkohol, bedeuten.
Außerdem stellt es den Pädagogen vor die Aufgabe, für den Betreuten
relevant zu sein, um mit der vermittelten Wertschätzung auch ernst
genommen zu werden.
2.2.1.4
bestimmung
Selbst-
Selbstbestimmung ist die Fähigkeit und das Recht, das eigene Leben
bewusst zu gestalten. Sie setzt Selbstachtung, Selbstbewusstsein, aber
auch Ressourcen im materiellen Bereich voraus. Die Selbstbestimmung
des eigenen Lebens wird begünstigt oder behindert von Gesetzten,
gesellschaftlichen Normen und Erwartungen oder dem direkten sozialen
Umfeld. Sie wird aber auch bestimmt von der Einstellung zu sich selbst und
der Fähigkeit zu wissen was man selber eigentlich will. Bei der Förderung
von Selbstbestimmung müssen sich Pädagogen mit der Lebenswirklichkeit
der Korsakowkranken und den Möglichkeiten und Beschränkungen der
Selbstbestimmung
auseinandersetzten
und
entdecken,
welchen
pädagogischen Beitrag sie zur Erweiterung der Selbstbestimmung
beitragen können. Hierbei bewegen sich Pädagogen in den festen Regeln
der gerichtlich festgelegten Betreuung, als auch in den Regeln der
zuständigen Einrichtungen, sowie in den eigenen Ermessensspielräumen
der
pädagogischen
Arbeit.
Innerhalb
dieser
Grenzen
gilt
es
Selbstbestimmung zu trainieren, zu fördern, zu fordern und entsprechende
Handlungsräume zu gestalten.
Seite 34
2.2.2 Der systemische Ansatz
Systemische Beratung/Therapie ist kein einheitliches therapeutisches
Modell, sondern eher eine Sammlung unterschiedlicher Modelle, die
teilweise sehr verschieden aussehen, aber gemeinsame Wurzeln in der
Systemischen
Theorie
und
im
Systemischen
Denken
haben.
Systematische Beratung hat wesentlich dazu beigetragen, dass Störungen
und
Konflikte
in
der
Beratung
nicht
einfach
individualisiert
und
pathologisiert, sondern mit dem sozialen Umfeld vernetzt werden (Radice
von Wogau 2004 S.45). Das bedeutet, dass Störungen, Krankheiten oder
Probleme in der Systemischen Beratung nicht als Ding gesehen werden,
sondern
als
Prozesse
sozialer
Beziehungen
in
Handlungen
und
Kommunikation (von Schlippe 1996 S.102). Systemische Beratung fragt
nach dem sozialen Umfeld, in dem eine Person lebt. Klassisches Beispiel
eines solchen Systems ist die Familie. Jedes Familienmitglied hat eine
Beziehung
zu
den
anderen
Familienmitgliedern.
Spannungen
und
Probleme in der Familie können sich in den Problemen einzelner
Familienmitglieder niederschlagen oder auch weitergegeben werden.
Soziale Systeme befinden sich natürlich auch in anderen Bereichen, wie
beispielsweise
dem
beruflichen
Umfeld,
Klassenverbänden,
Freundeskreisen, Glaubensgemeinschaften etc.. Die Systemische Theorie
vermutet, dass der Grund für Probleme in gestörten Beziehungen und
Kommunikationsformen liegt. Dafür wird das System untersucht und die
Beziehungen offen gelegt. Man geht davon aus, dass ein System
Störungen beinhaltet, wenn es nicht im Gleichgewicht ist. Gleichzeitig hat
jedes System selbstheilende Kräfte, um sich selber wieder in ein
Gleichgewicht zu bringen. Sinn der Systemischen Beratung ist es, einen
Anstoß zu geben, um aus einem gestörten System wieder auszubrechen
und die selbstheilenden Kräfte des Systems zu aktivieren. Wie der Anstoß
aussieht, der die Selbstheilung des Systems aktiviert, ist von Modell zu
Modell in der Systemischen Beratung unterschiedlich. Der Systemische
Ansatz sieht die Ursache von Problemen nicht nur bei dem Betroffenen,
sondern in dessen sozialen System. Ursache eines Problems kann ein
Systemfehler sein, der sich negativ auf das ganze System auswirkt. Der
Systemische Gedanke sieht in einem problematischen Verhalten nicht nur
das Problem und Fehlverhalten eines Individuums, sondern das Problem
einer Gruppe von Individuen die sich in einem sozialen System bewegen
Seite 35
und sich gegenseitig beeinflussen. Auch Alkoholismus kann seinen
Ursprung in einem sozialen System haben. Feuerlein gibt beispielsweise
den Prozentsatz der Alkoholiker, deren Eltern bereits Alkoholiker waren, mit
31% an (Feuerlein 1989, S.47). Aus systemischer Sicht kann der
Alkoholismus der Elterngeneration die Störung eines familiären Systems
sein. Aus dieser Störung des Systems können sich weitere Probleme
ergeben, bzw. die Systemstörung kann von der Elterngeneration in die
Kindergeneration weitergegeben werden. Ein explizit zu nennendes
Phänomen in der Systemischen Betrachtung von Alkoholikern ist die CoAbhängigkeit. Co-Abhängige sind Personen, die in einer familiären oder
partnerschaftlichen Beziehung zu einem Alkoholabhängigen leben und
somit von der Sucht ebenfalls betroffenen sind. Ihre Reaktion auf die
Abhängigkeit kann unterschiedlich sein, wird aber von der Sucht
beeinflusst. Co-Abhängigkeit beschreibt eine Rolle in einem System. Die
Systemische Theorie sucht in Systemen nach Rollen und versucht zu
klären, wie deren Einfluss auf das System und auf den Rollenträger selbst
ist. In der Arbeit mit Korsakowkranken ist das Bewusstwerden der eigenen
Rolle in den unterschiedlichen Systemen wichtig. Dazu kommt auch die
Frage, ob die Rollen den Alkoholismus gefördert haben, die eigene Rolle
durch die Korsakowerkrankung in Frage gestellt oder sogar zerstört wurde
und welche Rolle ein Betroffener übernehmen wird, wenn er in ein altes
soziales System zurückkehrt. Der Systemische Gedanke ist für die Arbeit
mit Korsakowkranken auch wichtig, weil bei der Rückkehr eines Erkrankten
in die Familie oder Partnerschaft, die Auswirkungen des Erkrankten auf das
soziale System und umgekehrt beachtet werden müssen. Ein soziales
System muss insbesondere die körperlichen Defizite, als auch die
Gedächtnisdefizite
aushalten
und
kompensieren
können
und
aufgeschlossen für die Abstinenz sein. Gedächtnisdefizite können sich
besonders belastend auf Partnerschaften auswirken und werden oft
unterschätzt. Der gesunde Partner muss sich dann
für zwei Personen
erinnern und kann auf Dauer mit der Situation überfordert sein. Für einen
Betroffenen kann die Rückkehr in ein soziales System bedrohlich sein, in
dem nicht alle Alkoholiker abstinent leben. Die Wahrscheinlichkeit eines
Rückfalls ist hierbei erhöht. Nicht alle Grundsätze und Annahmen der
Systematischen Beratung sind für die Arbeit mit Korsakowkranken
anwendbar. Allerdings hilft das Denken in Systemen den Pädagogen, die
Seite 36
Probleme neu zu durchdenken und weitere Lösungsansätze zu finden.
Eine zentrale Forderung der Systemischen Theorie kann sehr passend in
die Arbeit mit Korsakowkranken integriert werden: Handle stets so, dass du
die Anzahl der Entwicklungsmöglichkeiten vergrößerst (Von Foerster 1993
S.233).
2.2.3 Klientenzentrierte Gesprächsführung
Die
Klientenzentrierte
Gesprächsführung
wird
auch
Gesprächspsychotherapie oder non-direktive Psychotherapie genannt. Sie
ist eng verknüpft mit ihrem Erfinder Carl Rogers. Die Klientenzentrierte
Gesprächsführung bemüht sich um die Selbstexploration des Betreuten
und versucht ihn, mit der Darstellung von bedingungsloser positiver
Wertschätzung, Empathie und Kongruenz darin zu unterstützen (Rogers
1942 S.38ff). Roger nennt die grundlegende Hypothese: „Wirksame
Beratung besteht aus einer
eindeutig
strukturierten, gewährenden
Beziehung, die es dem Klienten ermöglicht, zu einem Verständnis seiner
selbst in einem Ausmaß zu gelangen, das ihn befähigt, aufgrund dieser
neuen Orientierung positive Schritte zu unternehmen“ (Rogers 1942 S.28).
In Einzel- oder Gruppengesprächen versucht der Gesprächsführer durch
Spiegeln die geäußerten Emotionen in anderen Worten wiederzugeben und
so das Gespräch immer wieder auf die emotionale Ebene zu führen. Teil
der Klientenzentrierten Gesprächsführung ist auch der Verzicht auf
analysiertes
Deuten
der
Aussagen
des
Gesprächspartners
und
insbesondere Verzicht auf direkte Ratschläge und Handlungsanweisungen
(Rogers 1942 S.108). In der pädagogischen Arbeit mit Alkoholkranken und
auch in der Arbeit mit Korsakowkranken wird das Ziel der Selbstexploration
ebenfalls verfolgt und auch die Grundeinstellung des Betreuers sollte den
vier
Grundprinzipien
der Gesprächsführung entsprechen. Allerdings
empfiehlt Feuerlein (Feuerlein S. 1989 S.189), mit Bezug auf andere
Autoren wie Zimberg (Zimberg 1982), ein direktiveres Vorgehen mit
Unterstützung der Abwehrmechanismen des Betreuten. Eine weitere
Einschränkung ist die Reflexionsfähigkeit und Selbstexplorationsfähigkeit
einer Person. Gentlin, ein Schüler Rogers, schränkt den Nutzen der
Klientenzentrierten Gesprächsführung für Personen, die noch keinen
ausreichenden Bezug zu ihren eigenen Gefühlen gefunden haben, ein. In
der klassischen Klientenzentrierten Gesprächsführung hat sich deshalb das
Seite 37
Focusing als eine Vorstufe der eigentlichen Sitzungen etabliert. Focusing
soll als Vorarbeit dem Klienten, wie Roger seinen Gesprächspartner nennt,
helfen, einen Bezug zu seinen eigenen Gefühlen herzustellen, Gefühle
wahrzunehmen und zu erkennen, was
er eigentlich fühlt. Der Betreute
muss lernen, die eigenen inneren Vorgänge und Gefühle benennen zu
können und einen Bezug zu seiner eigenen Gefühlswelt herzustellen. Die
Fähigkeit eigene Gefühle bewusst wahrzunehmen und beschreiben zu
können, gibt die Grundlage, die eigenen Gefühle wiederzugeben und diese
differenzierter und auch distanzierter zu besprechen und zu bedenken.
2.2.4 Abstinenz beim WKS
Als eine Grundlage in der Arbeit mit Korsakowkranken ist die Frage zu
beantworten, ob grundsätzlich abstinent orientiert gearbeitet werden muss
oder, ob es auch Alternativen zur Abstinenz gibt. Das Modell der Abstinenz
ist in der Drogenberatung nicht mehr das einzig denkbare Modell. Für
Personen
die
durch
Alkoholkonsum
am
WKS
und
anderen
Alkoholfolgeerkrankungen wie Leberzirrhosen, Varizen oder Diabets
Mellitus erkrankt sind, stellt sich allerdings erneut die Frage, ob Abstinenz
in dieser Situation vielleicht doch die einzig sinnvolle Möglichkeit ist. Körkel
ist
der
Meinung,
dass
Vorschädigungen
des
Körpers
relative
Kontraindikationen für kontrolliertes Trinken seien (Körkel 2005 S.184).
Absolute Kontraindikationen sind für ihn eine bereits erreichte Abstinenz
oder der feste Entschluss zur Abstinenz. Der Frage, ob eine am WKS
erkrankte Person durch kontrolliertes Trinken und bei ausreichender
Thiaminaufnahme ihre Hirnschädigung weiter verschlimmern kann, ist in
der Literatur niemand nachgegangen. Die Erkrankung am WKS setzt in der
Regel einen exzessiven Alkoholkonsum über einen längeren Zeitraum
voraus. Es ist fraglich ob Personen, deren Alkoholkonsum so stark außer
Kontrolle
geraten
eingeschränktem
ist,
wieder
Trinken
dauerhaft
finden
zu
können.
einem
regelmäßigen
Zusätzlich
ist
das
selbstkontrollierte Trinken, wie es Körkel beschreibt, ein aufwendiges
Programm, welches Disziplin, Entschlossenheit und auch ein gewisses
Maß an Merkfähigkeit für das Trinktagebuch erfordert (Körkel 2005 S.164).
Als
Alternative
zum
selbstkontrollierten
Trinken
besteht
noch
die
Möglichkeit des fremdkontrollierten Trinkens, welches aber die Aufgabe
eines Teils der Unabhängigkeit bzw. Selbständigkeit erfordert.
Seite 38
Vor diesen Zusammenhängen und der ungeklärten Frage, ob sich das
WKS allein durch regelmäßigen aber kontrollierten Alkoholkonsum
verschlimmert, scheint mir für Personen, die an dem WKS erkrankt sind,
eine abstinentes Leben alternativlos. Sollte sich trotzdem eine betroffene
Person bewusst für ein Leben mit Alkohol entscheiden, sollte dies zur
weiteren Risikominderung fremdkontrolliert geführt werden.
Seite 39
3 Praktische pädagogische
Handlungsmöglichkeiten
Oliver Sacks schreibt in seinem bereits erwähnten Bericht über den
verlorenen Seemann Jimmy G. einen Brief an den russischen Neurologen
Lurjia und bekommt folgende Antwort:
Was konnten wir tun? Was sollten wir tun? Für einen Fall wie
diesen gibt es kein Rezept, schrieb Lurija. Lassen Sie sich von
Ihrem Verstand und von Ihrem Herzen leiten. Es gibt keine, oder
nur
wenig
Hoffnung
auf
eine
Wiederherstellung
seines
Gedächtnisses. Aber ein Mensch besteht nicht nur aus dem
Gedächtnis. Er verfügt auch über Gefühle und Empfindungen, über
einen Willen, über moralische Grundsätze - Dinge, über die die
Neuropsychologie kein Urteil fällen kann. Und in diesem Bereich,
jenseits der unpersönlichen Psychologie, finden Sie vielleicht eine
Möglichkeit, ihn zu erreichen und eine Veränderung herbeizuführen.
In Ihrem Fall lassen die äußeren Umstände dies ja zu, denn Sie
sind in einem Heim tätig, das wie eine kleine Welt aufgebaut ist und
sich sehr von den Kliniken und Anstalten, in denen ich arbeite,
unterscheidet. In neuropsychologischer Hinsicht können Sie wenig
oder nichts tun, aber in der Sphäre des Individuellen können Sie viel
erreichen.
Am 6.September 2008 wird Dr. Armand Hingsammer im Weser Kurier
anlässlich der Jubiläumsfeier einer Einrichtung für „chronische Alkoholiker
mit
Hirnorganischem
Abbau“
zitiert
(Weber
2008):
„Die
gestörte
Merkfähigkeit [von Korsakowkranken] lässt sich nicht durch sprachliche
Einwirkung und Förderung mildern, sondern durch alltagspraktische
Handlungen und Übungen wie Bettenmachen und Körperpflege.“
Deutsche schreibt: “Zum therapeutischen Vorgehen findet sich in der
Literatur kein allgemein akzeptiertes therapeutisches Rahmenkonzept. […]
Wir haben unser Programm immer wieder modifiziert und dabei versucht,
die Alltagsrelevanz nicht aus den Augen zu verlieren. „ (Deutschle 1998
S.94).
Seite 40
Diesen drei Zitaten lassen sich drei Punkte entnehmen. Erstens sind die
Hilfskonzepte
und
damit
auch
die
Erfahrung
im
Umgang
mit
Korsakowkranken noch sehr gering. Zweitens muss ein Hilfskonzept immer
individuell auf die Person angepasst werden. Drittens sollte das
Wiedererlernen des alltäglichen Lebens eine zentrale Rolle in den heutigen
Hilfskonzepten einnehmen.
Die Hilfe, die Betroffene im Fall eines WKS bekommen können, lässt sich
ähnlich
einteilen
wie
die
Krankheit
selber.
Die
akute
Wernicke-
Encephalopahtie wird, wie bereits geschildert, in einer Klinik behandelt. Die
benötigte Hilfe ist in Form von Thiamingaben und gesundem Essen ist
eindeutig und allgemein anerkannt. Nach dem Übergang in die chronische
Verlaufsform, dem Korsakowsyndrom, stehen die bereits beschriebenen
Ursachen für das Korsakowsyndrom zwar fest, aber hier endet der Weg der
detailliert dokumentierten Hilfskonzepte. Da das Korsakow-Syndrom
chronisch und die Schädigung im Gehirn pathologisch irreversibel ist, war
noch bis vor einem Jahrzehnt die Annahme weit verbreitet, dass der
allgemeine Zustand betroffener Personen nicht mehr weiter zu verbessern
wäre. Als Folge wurden die meisten Betroffenen in Pflegeheimen und
Gerontopsychiatrien untergebracht, wenn es nicht möglich war, sie wieder
in die eigene Familie zu integrieren. Für Personen, die nur leicht vom
Korsakow-Syndrom betroffen waren, bestand noch die Möglichkeit einer
normalen Alkoholtherapie.
In den letzten Jahren änderten sich die Ansichten und Möglichkeiten in
diesem Bereich teils drastisch. Es entstanden vielerorts speziell auf
Personen mit dem Korsakow-Syndrom zugeschnittene Fördereinrichtungen
oder Abteilungen von Pflegeheimen. Auch die Erwartungen an die
persönliche Entwicklung der Betroffenen hat sich verändert (Hingsammer
2002). Der Umstand, dass diese Form der Fördereinrichtungen noch relativ
jung ist und die Erkenntnisse über die möglichen Entwicklungen noch
wenig dokumentiert sind, ist es wohl zuzuschreiben, dass es bisher nur
wenig Literatur zu diesem Thema gibt.
3.1 Realitätsorientierungstraining
Das Realitätsorientierungstraining (ROT) ist ein Programm, das in den 60er
Jahren von Lucille R. Taulbee und James C. Folsom entwickelt und
beschrieben
wurde,
um
dementiell
erkrankte
Menschen
nicht
Seite 41
medikamentös zu behandeln (Taulbee 1966). Es ist ein sehr weit
verbreitetes
Training,
welches
in
vielen
unterschiedlichen
Formen
angewandt wird. Ziel des ROT ist es, das Erinnerungsvermögen zu
erhalten, die Kommunikation zwischen Betreutem und Betreuer zu
verbessern, die Ressourcen des Betreuten zu erhalten und zu fördern und
ihm die Orientierung und den Bezug zur Realität zu jedem Zeitpunkt zu
ermöglichen. Das ROT arbeitet dabei mit Umweltmodifikationen wie
Hinweisschildern, Tagesablaufstrukturierung und Orientierungspunkten.
Die gesamte Einrichtung wird auf die zeitliche und örtliche Orientierung der
Korsakowkranken
abgestimmt.
Besonders
bekannt
sind
dabei
die
„Realitäts-Orientierungs-Tafeln“ (Englisch: RO Boards). Diese Tafel können
Informationen
wie
Datum,
Jahreszeit,
Wetter,
Mahlzeiten,
den
Aufenthaltsort etc. enthalten und sollen den Betreuten Orientierungspunkte
und Informationen bieten. Neben der örtlichen Anpassung an die
Betroffenen soll auch die Kommunikation angepasst werden. Die Betreuer
sollen einfache und verständliche Unterstützung und Informationen nutzen.
Die Betreuer verzichten auf Ironie und Zweideutigkeiten, suchen dafür den
Blickkontakt, sprechen die Personen mit ihrem Namen an und tragen
selber Namensschilder. Diese Form des Realitätsorientierungstrainings
wird auch „24 Stunden ROT“ oder „Informelles ROT“ genannt, da es
dauerhaft und 24 Stunden am Tag eingesetzt wird (Spector 2000, Taulbee
1966).
Eine andere Form des Realitätsorientierungstrainings ist das „Formale
ROT“ oder auch „Klassenraum ROT“ (Englisch: Classroom RO). Diese
Form des ROT kann als ambulante Betreuung von Betroffenen oder auch
als Zusatz zum informellen ROT in einer stationären Einrichtung angeboten
werden (Spector 2000). Das formale ROT findet in betreuten Gruppen statt,
die sich regelmäßig treffen und durch verschiedene Aktivitäten die Orientierung und den Realitätsbezug trainieren. Darin können beispielsweise Gedächtnisübungen, Orientierungsveranstaltungen zur Jahreszeit oder Aufgaben zum Erhalt der kognitiven Fähigkeiten enthalten sein.
Einzelne Bestandteile des ROT sind in der Behandlung von dementiell erkrankten Personen weit verbreitet, allerdings wird von Folsom beklagt, dass
häufig nur einzelne, markante Aspekte des ROT, wie die Tafel, verwandt
werden und nicht die Theorie in ihrer ganzen Breite angewendet wird (Folsom 1985). Auch die Effektivität des ROT wird allgemein kontrovers disku-
Seite 42
tiert und mit unterschiedlichsten Ergebnissen seit 1966 immer wieder neu
erforscht (Spector 2000). Kritisiert wird insbesondere der Umstand, dass
das ROT teilweise mechanisch und unsensitiv von Betreuern angewandt
wird und durch die vorgegebene Tagesstruktur die individuelle Betreuung
eingeschränkt und der Betreute dadurch entmündigt wird (Powell-Proctor &
Miller, 1982). Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass das ROT durch seinen Realitätsbezug den an Amnesie leidenden Menschen regelmäßig damit konfrontiert, dass seine subjektive Realität nur Fiktion ist (Woods 2002). Deshalb
hat sich in der Demenzforschung und Pflege seit den 90er Jahren der Personenzentrierte Ansatz etabliert, welcher die subjektive Realität der dementen Person anerkennt und nicht negiert (Kitwood 1997). Seit dem Millennium erleben die Forschung und das Interesse um das ROT allerdings eine
neue Blütezeit (Zanetti 2002), die eine leidenschaftliche Diskussion um Moral und Respekt gegenüber den erkrankten Personen ausgelöst hat
(Woods 2002). Dabei gehen die Autoren fast ausschließlich auf die Alzheimer-Demenz als häufigste Amnesieform ein. Eine Erforschung der Wirkung
des ROT auf Personen, die am WKS erkrankt sind, gibt es bisher nicht.
Dennoch lassen die Schilderungen von Deutschle und Hingsammer darauf
schließen, dass in der Praxis große Teile des ROT mit Erfolg in der Förderung von Korsakowkranken angewendet werden (Deutschle 1998 S.98,
Hingsammer 2002). Die grundsätzliche Frage nach der Wahl der Therapieform bei Demenzkranken lässt sich auch bei der Betreuung von Korsakowkranken stellen:„Rechtfertigen die erzielten Erfolge durch die Realitätsorientierung die teilweise schmerzhafte Konfrontation und Herausforderung
durch Korrektur und ständiger Neuorientierung?“ Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu beachten, dass derselben Diskussion, im Fall von Alzheimer und anderen Demenzerkrankungen, ein anderes Krankheitsbild zugrunde liegt als beim WKS. Die meisten Demenzerkrankungen sind fortschreitende Erkrankungen, die beim jetzigen Stand der Forschung unheilbar sind und deren Fortschritt nur verlangsamt werden kann. Zwar ist auch
das WKS nach dem heutigen Stand der Wissenschaft unheilbar, es ist aber
nach der akuten Phase der Wernicke-Enzephalopathie nicht mehr fortschreitend. Eine Verbesserung in der Orientierung und Selbständigkeit ist
damit nicht zeitlich begrenzt, bis der Abbau weiter fortschreitet, sondern
eine dauerhafte Errungenschaft. Die kritisierte feste Tagesstruktur kann dabei bei Korsakowkranken als Vorteil gesehen werden. Das nächste Kapitel
Seite 43
setzt sich genauer mit der Adaption und praktischen Umsetzung des Realitätsorientierungstrainings bei Korsakowkranken auseinander.
3.1.1 Der strukturierte Alltag
Wie es schon im Zitat von Dr. Armand Hingsammer aus dem Weser Kurier
angeklungen, ist das Erlernen des Alltags ein zentraler Punkt und wichtige
Ansatzmöglichkeit in der Arbeit mit Korsakowkranken. Dabei ist zu
beachten,
dass
der
Ausgangspunkt
bei
jeder
Person
individuell
unterschiedlich ist. Für einige Personen ist ein strukturierter Alltag mit dem
Eintreten des Korsakow-Syndroms nicht mehr möglich gewesen. Für
andere gab es diesen Alltag seit dem Beginn der Alkoholsucht nicht mehr
und für etliche fehlte dieser Alltag schon vom Elternhaus aus. An das ROT
angelehnt, sollte also eine Tagesstruktur entwickelt werden, an der sich der
Betreute orientieren kann. Auf diese Weise kann ein regelmäßiger
Tagesablauf eingeübt werden, bei dem immer weniger Betreuung notwenig
ist, je mehr die Betroffenen ihren Rhythmus gefunden haben. Bei der
Betreuung
ist
wichtig,
dem
Betroffenen
nach
Möglichkeit
keine
Entscheidungen abzunehmen, sondern sie bei der Entscheidungsfindung
zu unterstützen. Da das Ziel die Förderung der Selbständigkeit ist, befindet
sich die Förderung immer im Rückzug und fordert die Betroffenen zur
eigenen Entscheidung, Handlung und Selbständigkeit auf. Betreuer sollten
zur Selbständigkeit auffordern und greifen nur bei Überforderung ein.
Ebenso
gestaltet
sich
das
Erlernen
der
Alltagsfähigkeiten
bei
Korsakowkranken. Es wird angeleitet und angelernt. Das Gelernte wird
daraufhin von der betroffenen Person gefordert. Gleichzeitig wird
unterstützt und kontrolliert. Die Unterstützung und auch Kontrolle wird
immer weiter zurückgezogen. Nur bei Überforderung oder beim Erlernen
neuer Fähigkeiten greift der Betreuer ein. Dabei ist zu beachten, dass sich
die Lernprozesse selbst für einfache Alltagsfähigkeiten über Jahre
hinziehen können und sich sehr individuell gestalten. Die Tagesstruktur
sollte nach dem Vorbild des ROT in den Wohnräumen des Betreuten und
gegebenenfalls in Gemeinschafträumen ausgehängt sein, um jederzeit die
Orientierung innerhalb dieser Struktur zu ermöglichen. Eine gut sichtbare
Uhr
und
ein
Kalender
in
unmittelbarer
Nähe
zur
ausgehängten
Tagesstruktur ermöglicht gleichzeitig die Orientierung an der Realität der
Zeit.
Seite 44
Eine Tagesstruktur bzw. Wochenstruktur kann beispielsweise folgende
Punkte beinhalten:
•
Aufstehen
•
Essenszeiten
•
Hygienetraining
•
Therapiezeiten
•
Aufgaben im Wohnbereich oder Termine außerhalb
•
Pausen
•
Arbeitszeiten
•
Nachtruhe
Neben dem Erwähnten sind natürliche alle anderen alltäglichen Tätigkeiten
wie Wäsche waschen, bügeln, zusammenlegen, putzen etc., zu üben und
bieten Möglichkeiten, die eigene Selbständigkeit auszuweiten. Dabei
sollten die Aufgabenfelder schrittweise ausgeweitet werden, um nicht zu
überfordern.
3.1.1.1
Aufstehen /
Nachtr
uhe
Die erste Herausforderung des Tages besteht darin, das Bett zu verlassen.
Aufgrund der bereits beschriebenen Apathie fehlt häufig die Motivation, zu
einer bestimmten Uhrzeit oder auch überhaupt
aufzustehen. Diese
Antriebslosigkeit kann in selteneren Fällen dazu führen, dass selbst
Harndrang keine ausreichende Motivation bietet, um das Bett zu verlassen.
Für die Betreuenden bietet es sich an, eine feste Zeit für das Aufstehen mit
der betroffenen Person auszumachen oder auch vorzugeben. Betreuende
können bei besonders starken Fällen von Korsakow eine örtliche
Orientierung geben oder an Termine des Vormittags erinnern. Ansonsten
können Betreuer beim Aufstehen und eventuell beim Einkleiden helfen.
Zusätzlich können Personen mit Betreuern gemeinsam besprechen,
welche Form der Bekleidung für die Termine des bevorstehenden Tages
angebracht sind. Hierbei kann auch der Aspekt der Temperatur
berücksichtigt
werden,
da
durch
eine
Polyneuropahtie
das
Temperaturempfinden gestört sein kann. Der Betreute muss in dem Fall
Seite 45
lernen, das Wetter und die Temperatur durch Wetterberichte oder die
eigene Beobachtung wahrzunehmen und sich entsprechend zu kleiden,
ohne sich von der wahrgenommenen Temperatur leiten zu lassen. Dabei
kann auch die Orientierung an der Kleidung anderer Personen helfen. Die
beschriebene Betreuung beim Aufstehen und Ankleiden stellt eine sehr
intensive Betreuung dar, wie sie vielleicht zu Beginn der Betreuung oder
bei starkem Korsakow nötig sein kann. Auch feste Nachtruhezeiten können
helfen, den Tag zu strukturieren und helfen einen übermäßigen
Medienkonsum entgegenzuwirken.
3.1.1.2
netraining
Hygie-
Grund für eine vernachlässigte Hygiene kann Verwahrlosung in der aktiven
Trinkerzeit sein, der verminderte Antrieb durch das Korsakow-Syndrom
oder auch die Gewohnheit aus einem von Obdachlosigkeit geprägten
Leben. Betreuer sollten vorsichtig an das Thema der persönlichen Hygiene
herangehen, da es ein mit Scham besetztes Thema für viele Mensche
darstellt. Zwischen Betreuer und Betreutem können beispielsweise
Vereinbarungen getroffen werden, welche Formen der Hygienepflege wann
durchgeführt werden sollen. Der Betreuer kann hier bei der persönlichen
Pflege behilflich sein, beraten, als Kontrolle für den Betreuten dienen oder
Erinnerungshilfen anbieten. Hilfe, bzw. Anleitung beim Duschen und Baden
ist, besonders bei einer Temperaturunempfindlichkeit aufgrund einer
Polyneuropathie wichtig, um Verbrennungen oder Kreislaufproblemen
vorzubeugen.
Um
den
Betreuten
hier
mehr
Eigenständigkeit
zu
ermöglichen, eignen sich für Duschen Mischbatterien mit einstellbarer
Wassertemperatur und fest installierte Thermometer in Badewannen. Ein
gemeinsam vereinbarter Waschtag kann den Betreuten helfen, sich an
einem Tag in der Woche besonders um seine Hygiene zu kümmern und an
diesem Tag ein Bad zu nehmen oder sich die Nägel zu schneiden. Auch in
der Hygiene ist es wichtig, eine Regelmäßigkeit zu entwickeln, die dem
betroffenen Korsakowkranken hilft, sie in sein Leben zu integrieren (Thöne
2002 S. 299). Zusätzlich müssen natürlich Termine mit Friseuren etc.
gemacht werden. Da das Korsakow-Syndrom in der Regel bei älteren
Menschen vorkommt, sind häufig weitergehende Körperpflege, wie
intensive Fußpflege, notwendig. Zur täglichen Hygiene gehört auch das
regelmäßige Wechseln der Wäsche, insbesondere der Unterwäsche.
Seite 46
Gemeinsam kann ein System entwickelt und eingeübt werden, wie bereits
getragene Wäsche am Vortag abgelegt wird, damit am nächsten Tag
erkenntlich ist, dass diese bereits getragen wurde. Das Waschen der
Wäsche ist, wie das Zubereiten des Essens, eine Aufgabe, die zu Anfang
von den Betreuern organisiert wird und nur punktuell an die Betreuten
weitergegeben werden sollte. In der weiteren persönlichen Entwicklung
kann auch eigenverantwortlich Wäsche gewaschen werden.
3.1.1.3
senszeiten
Es-
Feste Essenzeiten und andere feste Tagespunkte bieten Betroffenen
Sicherheit für den Tag. Regelmäßiges Essen und eine gesunde Nahrung
helfen einer möglichen Suchtverlagerung entgegenzuwirken. Zu den
regelmäßigen Essenzeiten kann auch eingeübt werden, selbständig Essen
zuzubereiten.
In
einer
stationären
Unterbringung
oder
einer
therapeutischen Gemeinschaft kann dies die Vorbereitung des Essens für
eine Abteilung oder die gesamte Bewohnerschaft sein. Dabei sollte man
mit einfachen Aufgaben wie dem Eindecken oder Abwaschen beginnen
und die Aufgaben dann je nach Entwicklung ausweiten. In initiierte
Kochgruppen
können
Korsakowkranke
den
gesamten
Ablauf
der
Essenzubereitung gemeinsam lernen und anwenden. Dabei sollten auch
die Planung und der Einkauf der Lebensmittel in den Prozess eingebunden
werden und von den Korsakowkranken ausgeführt werden. Insbesondere
muss der Umgang mit Geräten, die aufgrund der Vergesslichkeit ein
höheres Gefahrenpotential bergen, geübt werden. Eine entsprechende
Beschilderung, die auf das Ausschalten von Geräten hinweist, kann
hilfreich sein. Ebenso kann der Fokus auf der Planung und Zubereitung von
gesunden Mahlzeiten liegen. Die Kenntnis über Vitamine und andere
Bestandteile von Lebensmitteln kann über das Thema Korsakow und den
verursachenden Vitaminmangel auch zu einer Auseinandersetzung mit der
eigenen Erkrankung und den Folgen der Suchterkrankung führen. Das
Arbeiten in der Gruppe übt das Gruppenverhalten, soziales Miteinander
und Umgangsformen.
Personen, die bereits selbständiger sind, können sich stufenweise selbst
versorgen. Der gesamte Ablauf von der Planung, über den Einkauf, die
Zubereitung als auch der Abwasch sollte von dieser
Person erledigt
werden. Um einen Selbstversorger nicht zu überfordern, kann diese
Seite 47
Selbstversorgung auch gut mit einer Mahlzeit wie dem Abendbrot
begonnen und dann Schritt für Schritt auf den gesamten Tag ausgeweitet
werden.
3.1.1.4
ben
Aufga-
Vor dem Schritt des Selbstversorgens ist es notwendig, einzelne Bereiche
wie das Einkaufen oder Erledigen von kleinen Aufgaben zu trainieren.
Dabei bietet es sich in einer stationären Einrichtung an, erfahrene
Personen Aufgaben gemeinsam mit noch unerfahrenen erledigen zu
lassen, um das Lernen voneinander zu ermöglichen. Einzelne Aufgaben
der Haushaltsführung können erlernt und bei erfolgreicher Ausführung
erweitert werden. Diese Aufgaben sind wichtig, um Schritt für Schritt jeden
Bereich einer Haushaltsführung zu erlernen und in den individuellen
Tagesablauf einzubinden. In einer therapeutischen Gemeinschaft oder
einer vollstationären Einrichtung sind solche Aufgaben auch ein Weg in
Gemeinschaft und das Training von Verlässlichkeit in einem sozialen
Umfeld.
3.1.1.5
käufe & Termine
Ein-
Einkäufe und andere Termine außerhalb des Wohnraums können
besondere Herausforderungen für Korsakowkranke sein, da sie nicht in
ihrer gewohnten Umgebung und der gewohnten Struktur liegen. Sie können
dabei helfen, die Umgebung kennen zu lernen, insbesondere wenn die
Einrichtung in einem anderen Ort oder Ortsteil liegt. Einkäufe stellen eine
zusätzliche
Herausforderung
dar,
weil
sie
immer
auch
spontane
Lösungsansätze vom Einkäufer verlangen. Unser gesellschaftlicher Alltag
erwartet spontane Problemlösungen, denen sich Korsakowkranke in einem
selbständigen Leben nicht entziehen können. Einkäufe sind eine einfache
Möglichkeit, diese spontanen Problemlösungen zu üben. Aufgaben beim
Einkaufen, die für einen Korsakowkranken problematisch sein könnten,
sind die Erstellung eines aussagekräftigen Einkaufzettels, das Berechnen
des nötigten Geldes, die Überprüfung des Wechselgeldes oder das
Entscheiden für alternative Einkäufe, wenn das gewünschte Produkt nicht
verfügbar ist. Die pädagogische Hilfe kann hier in der Begleitung der
einzelnen Arbeitsschritte für einen Einkauf bestehen. Je nach Schweregrad
Seite 48
kann der Betreuer die ersten Einkäufe gemeinsam mit dem Betreuten
machen oder eine geeignete Begleitung auswählen. Die Wahl des
Einkaufortes und der Verkehrmittel können gemeinsam getroffen werden.
Der Einkauf kann mit der oder den Personen im Nachhinein besprochen
werden. Ebenfalls kann gemeinsam nach dem Einkauf der Einkaufsbetrag
vom zur Verfügung stehenden Haushaltsgeld abgezogen werden. Auf das
Führen eines Haushaltsbuches wird in einem späteren Kapitel noch
eingegangen.
3.1.1.6
tes
Diabe-
Diabetes ist keine direkte Folge des Alkoholmissbrauches. Allerdings tritt
Diabetes bei 10% der Bevölkerung in Deutschland auf (Gesundheitsbericht
DDU 2008). Mit der Diagnose können Menschen heute dank der
medizinischen Entwicklung ein relativ normales Leben führen. Wichtig ist
jedoch, den eigenen Blutzuckerwert regelmäßig zu messen, auf eine
entsprechende Nahrungsaufnahme zu achten und die körperlichen
Anzeichen für eine drohende Unterzuckerung wahrnehmen und deuten zu
können. Diabetes stellt im Fall des Korsakow-Syndroms eine besondere
Herausforderung
für
Korsakowkranken
Nahrungsaufnahme,
den
mit
Betroffenen
dar.
Schwierigkeiten
Diabetes
die
auch
regelmäßige
als
die
regelmäßig
kann
einzuhaltende
Überprüfung
ihres
Blutzuckerspiegels machen. Aber auch die Wahrnehmung der körperlichen
Anzeichen einer drohenden Unterzuckerung müssen wahr und ernst
genommen werden. Gefährlich ist eine Unterzuckerung, welche ohne
sofortige Gegenmaßnahme zu einem lebensgefährlichem Diabeteskoma
führen kann. Die Reaktion auf Unterzuckerungsanzeichen könnten unter
Umständen aufgrund der Antriebsminderung, die ein Symptom des
Korsakow-Syndroms ist, unterdrückt werden. Trainiert werden sollte die
eigene
Körperwahrnehmung
Unterzuckerungsanzeichen.
In
und
die
sofortige
den
Tagesplan
des
Reaktion
ROT
auf
können
Blutzuckerspiegelmessungen und Mahlzeiten, sowie Zwischenmahlzeiten
eingeplant
werden
und
bis
zu einem
entsprechenden
Grad
der
Selbständigkeit von den Betreuern kontrolliert und dokumentiert werden.
Als Hilfsmittel ist das Führen eines Diabetesheftes empfehlenswert, in dem
der regelmäßig gemessene Blutzuckerspiegel
und die gespritzten
Insulineinheiten von den Betreuten selbständig eingetragen werden.
Seite 49
Notwendiges Wissen über die Interpretation von Blutzuckerwerten, schnell
und langsam wirkendes Insulin, den Zuckergehalt von Nahrungsmitteln und
die Geschwindigkeit der Zuckeraufnahme sollten gemeinsam gelernt
werden. Das Wissen über den Umgang mit Diabete ist täglich notwendig
und im Notfall kann es lebensrettend sein. Der aufwendigere Lernprozess
mit Korsakowkranken ist deshalb trotz erhörtem Aufwand, in Kauf zu
nehmen. Diabetes, insbesondere der Typ II, ist eine besondere
Herausforderung für Betreuer und Betreute. Eine gute Vorbereitung für ein
Leben in größerer Selbständigkeit ist, trotz langen Aufenthalten in den
entsprechenden Fördereinrichtungen, von Anfang an anzustreben.
3.1.2 Selbständigkeit
Erklärtes Ziel der Förderung von Korsakowkranker ist aufgrund von §53
Abs. 3 des SGB 12 „eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine
Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern […] sie
soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.“ Selbständigkeit
und Unabhängigkeit scheinen für viele Korsakowkranke das genaue
Gegenteil dessen zu sein, was sie in Fördereinrichtungen vorfinden. Die
Tage bestehen aus einer festen Tagesstruktur, Haushaltsarbeiten,
Therapiezeiten und vielem mehr. Zusätzlich kommt für viele noch ein
gesetzlicher Betreuer hinzu, der für Bereiche wie Gesundheit, Finanzen
oder Unterkunft zuständig ist und dem sich einige ausgeliefert fühlen.
Vielen Korsakowkranken ist auch nicht bewusst, wie unselbständig sie
durch ihre Korsakowerkrankung geworden sind. Das Prinzip, dass für eine
gewisse Zeit die empfundene Selbständigkeit abgegeben wird, um diese
dann schrittweise neu wiederzuerlangen, ist für manchen herausfordernd
und nicht immer verständlich. Viele Lebensbereiche werden von Betreuern
der Fördereinrichtung festgelegt und verwaltet. Um dem zitierten §53 des
SGB 12 gerecht zu werden, ist es die Aufgabe der Fördereinrichtung, die
Unabhängigkeit der Betroffenen soweit wie möglich wiederherzustellen.
3.1.2.1
weise Verselbständigung
Schritt
Sinnvoll scheint eine schrittweise Rückgabe und Wiederherstellung der
Selbständigkeit, um den Betreuten nicht zu überfordern. Unabhängigkeit
bedeutet aber auch, alleine das eigene alltägliche Leben gestalten zu
können und die dafür notwendige Alltagsarbeit unabhängig erledigen zu
Seite 50
können. Die Reihenfolge in der Eigenverantwortung und Unabhängigkeit
zurückgegeben werden, ist individuell anzupassen. Mögliche Bereiche sind:
Rückgabe der Verantwortung für den eigenen Wohnraum
Dies kann schrittweise die Gestaltung, Reinigung und Instandhaltung des
eigenen Wohnraumes und des eigenen Mobiliars beinhalten. Die
individuelle Gestaltung des Wohnraumes ist auch ein Recht von
Bewohnern stationärer Einrichtungen. Trotzdem kann es notwendig sein,
die Eigenverantwortung der Gestaltung dem Betreuten bewusst zu
übertragen und dies als Ziel zu formulieren. Die Instandhaltung des
eigenen Wohnraum und des Mobiliars ist abhängig von den Fähigkeiten
der Betreuten und kann beispielsweise bei dem Wechsel defekter
Glühbirnen beginnen.
Rückgabe der Verantwortung für die eigenen Finanzen / das eigene
Taschengeld
Schrittweise können die Planungen der Einkäufe, das Verfügen über einen
wöchentlichen Betrag, einen monatlichen Betrag und das Vermögen an
den Betreuten abgegeben werden. Gemeinsam sollte die Führung eines
Haushaltsbuches trainiert werden, welches im Fall von vergessenen
Ausgaben, dem Betreuten Aufschluss über sein ausgegebenes Geld gibt
und helfen kann, das zur Verfügung stehende Geld sinnvoll einzuteilen. Bei
einer stationären Einrichtung ist der Übergang von der Vollverpflegung
durch den Träger zu einer eigenverantwortlichen Verpflegung eine wichtige
Phase in der Entwicklung. Die Übung selbständig und unabhängig
einzukaufen und das Geld so einzusetzen, dass es für einen bestimmten
Zeitraum reicht, ist ein großer Schritt zu eigener Unabhängigkeit.
Grundsätzlich müssen Betreuer bei der Überlassung von Geld die mögliche
Rückfallgefährdung berücksichtigen.
Rückgabe der Verantwortung für die eigene Bekleidung
Dies beinhaltet die eigenverantwortliche Beschaffung, Wäsche und Pflege
der eigenen Bekleidung. Ein guter Einstieg ist der eigene Einkauf der
Bekleidung. Mit den Betreuern können Waschtage vereinbart werden, um
die Tätigkeit des Waschens in den Wochenrhythmus zu integrieren.
Rückgabe der Verantwortung für die eigene Verpflegung
Da die Mangelernährung als Folge von intensivem Alkoholismus Grund für
das Korsakow-Syndrom ist, ist das Erlernen einer gesunden Ernährung
Seite 51
wichtig.
Helfen
können
dabei
in
erster
Linie
Kochgruppen
und
Arbeitsdienste, die sich mit der Zubereitung von Speisen beschäftigen.
Später können einzelne Mahlzeiten wie Frühstück, Abendessen oder Mittag
nacheinander in die eigene Verantwortung des Betreuten übergeben
werden.
Rückgabe der Verantwortung für den eigenen Arbeitsplatz
Berufstätigkeit ist ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens
und beeinflusst das Selbstbewusstsein stark. Die Verantwortung für die
Suche oder die Pflege eines Arbeitsplatzes im ersten oder zweiten
Arbeitsmarkt kann dem Betreuten übertragen werden. Auf dem Weg zur
vollen Eigenverantwortung sind Teilschritte wie die Suche nach einem
gewünschten Betätigungsfeld, die Kommunikation mit dem Arbeitgeber
oder das Schreiben von Bewerbungen empfehlenswert.
Rückgabe
der
Verantwortung
für
die
eigene
gesellschaftliche
Integration
§53 Abs. 3 des SGB 12 besagt auch, dass es eine besondere Aufgabe der
Eingliederungshilfe
ist,
behinderte
Menschen
in
die
Gesellschaft
einzugliedern und ihnen die Teilnahme an der Gemeinschaft zu
ermöglichen. Diese Teilnahme schließt neben dem beruflichen Teilbereich
auch das kulturelle und politische Leben ein. Die Rückgabe der
Verantwortung in diesen Bereich kann sehr unterschiedlich aussehen.
Beispielsweise kann dies die eigene Auswahl einer Selbsthilfegruppe, die
Entwicklung und Ausübung eigener Freizeitinteressen, Engagement in
einem Verein, einer Partei, einer Kirche oder einer anderen religiösen
Organisation
bedeuten.
Auch
der
Aufbau
und
die
Pflege
eines
Freundeskreises, die Gestaltung der eigenen Freizeit und die Entdeckung
von kostengünstigen Kultur- oder Musikveranstaltungen fördern die
Integration. Es ist sinnvoll, dass ein Betreuter, vor Beendigung einer
stationären
oder
ambulanten
Behandlung,
nicht
mehr
von
den
Freizeitangeboten dieser Einrichtung abhängig ist, sondern sich außerhalb
der Einrichtung in gesellschaftliche Kreise integriert hat. Die häufig
anzutreffende Tendenz, sich von der behandelnden Einrichtung zu
distanzieren, kann in diesem Fall eine vorteilhafte Motivation sein, um neue
Kontakte außerhalb der Einrichtung zu knüpfen.
Rückgabe der Verantwortung für den eigenen Wohnort
Seite 52
Die Rückgabe der Verantwortung für den eigenen Wohnort kann bedeuten,
dass der Betreute sich nach dem Aufenthalt in einer Fördereinrichtung
eigenständig um eine neue Wohnform bemüht.
Da das Korsakow-Syndrom, die Begleiterkrankungen, die Verwahrlosung
und die verbliebene Eigenständigkeit bei jeder Person variiert, sind die
Ausgangspositionen natürlich extrem unterschiedlich und auch der
erreichbare Grad der Selbständigkeit unterscheidet sich von Person zu
Person. Die zuvor benannten Punkte ergeben natürlich keine vollständige
Liste, sondern sollen einen Eindruck geben, welche Entwicklungen möglich
sind. Eigenverantwortung kann auch überfordern. Für einzelne Betroffene
können bereits einfachste Tätigkeiten, wie die tägliche Zahnhygiene, eine
Überforderung sein. Andere Betroffene beginnen ihre Zeit in der Förderung
auf einem ganz anderen Niveau der Selbständigkeit. Fallbeispiele aus der
Praxis (Deutschle 1998 S.99) zeigen, dass selbst Korsakowkranke mit
großer
Unselbständigkeit
Lebensabschnitt,
bedeutend
teilweise
höheren
nach
ohne
individuellen
einem
längeren
besondere
Grad
an
Förderung,
abstinenten
zu
Selbständigkeit
einem
und
Unabhängigkeit zurückfinden können.
Seite 53
Vorbereitung für die Zeit nach der Betreuung
Fördereinrichtungen
bereiten
den
Übergang
in
die
vollständige
Selbständigkeit oder den Übergang in eine andere Betreuungsform für
gewöhnlich
früh
vor.
Die
Namen
für
diese
Vorbereitung
sind
unterschiedlich: Auszugsprogramm, Umzugsphase etc.. Betreute üben in
dieser Phase ihrer Betreuung die notwendigen Fertigkeiten, die individuell
notwendig sind, um sich in der neuen Lebensphase zurechtzufinden. Eine
Ausnahme können dabei die Umzüge in eine Pflegeeinrichtung sein, weil
zu hohe Pflegeanteilen in der Betreuung notwendig sind. Diese
Beendigung
der
Förderung
kann
aufgrund
eines
verschlechterten
Gesundheitszustandes auch relativ plötzlich und unvorbereitet passieren.
3.1.2.2
Problematiken während des Prozesses
der Selbständigkeitsentwicklung
Die Situation, dass der Betreute sich versorgt und umsorgt fühlt und der
Betreuer dafür als Helfender ein positives Gefühl des Gebrauchtwerdens
zurückbekommt, kann zu einem Teufelkreis werden, der professionell
durchbrochen werden muss. Die Rückgabe der Verantwortung und
Selbständigkeit wäre dieser notwendige professionelle Durchbruch. Beide
Seiten können ein Interesse daran haben, die bestehende Situation
aufrechtzuerhalten. Zusätzlich spielen auch wirtschaftliche Aspekte der
Fördereinrichtung in der Entwicklung der Selbständigkeit eine Rolle.
Betreute
Die Sicherheit der umgebenden Einrichtung und das positive Gefühl
umsorgt zu werden, kann Betreute dazu veranlassen, die eigene
Entwicklung zu mehr Unabhängigkeit und Selbständigkeit nicht weiter oder
nur eingeschränkt zu verfolgen. Mehr Selbständigkeit könnte weitere
Eigenverantwortung mit sich bringen, die von den Betreuern gefordert wird.
Dies bringt Veränderungen mit sich, die für Korsakowkranke schwerer zu
bewältigen sind als für andere Menschen. Um diese Veränderung zu
vermeiden,
kann
der
Betreute
Fortschritte
in
der
Selbständigkeit
verweigern.
Träger
Die wirtschaftliche Komponente der Betreuerseite übernimmt in der Regel
der Träger der Fördereinrichtung. Für den ist ausschlaggebend ob die
Seite 54
Einrichtung ausgelastet ist, eine Warteliste führt oder dringend freie Plätze
besetzen muss. Bei geringer Auslastung wird der Träger dazu tendieren,
Betreute länger in Betreuung zu halten und die Kostenübernahme für die
Betreuten regelmäßig neu zu beantragen. In diesem Fall könnte es sein,
dass die Vorbereitungsphase für die Entlassung oder den Auszug aus der
Betreuung hinausgezögert wird. Die Folge wäre eine nicht optimale
Förderung des Betreuten durch eine Verzögerung seiner Entwicklung der
eigenen Selbständigkeit.
Im Falle einer voll ausgelasteten Einrichtung mit eventueller Warteliste
könnte der Druck, neue Personen aufzunehmen, die Behandlungsdauer
der Betreuten senken. Die Folge wäre verfrühte Entlassung in eine andere
Betreuungsform. Wahrscheinlich ist, dass in einem solchen Fall Betreute
früher in eine Pflegeeinrichtung abgegeben werden als dies nötig wäre.
Aus der Verkürzung resultiert, dass die Betreuten nicht die ihnen
zustehende Förderung bekommen.
Betreuer
Im Gegensatz zum Träger der Fördereinrichtung ist der Betreuer
tendenziell mehr gefährdet, dem positiven Gefühl der Machtposition und
des Gebrauchtwerdens nachzugeben. Wenn für Betreuer das positive
Gefühl des Helfens die ausschlaggebende Motivation der eigenen Arbeit
ist, dann kann dies dazu führen, dass die Selbständigkeit und insbesondere
die aufkeimende Unabhängigkeit der Betreuten, bewusst oder auch
unbewusst als Verminderung der eigenen positiven Empfindungen
wahrgenommen
Empfindungen
wird.
wäre,
Eine
die
unprofessionelle
Behinderung
der
Reaktion
Entwicklung
auf
diese
zu
mehr
Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Hierbei kann auch der Zwang zu
helfen, auch bekannt als Helfersyndrom, dazu führen, dass Tätigkeiten und
Aufgaben, die den Betreuten positiv herausfordern würden, grundsätzlich
als Überforderung vom Betreuer angesehen und verhindert werden
(Schmidtbauer 1992).
Auch sind einfache Aufgaben des Alltags für Betreuer häufig aufwendiger
in der Betreuung, als wenn sie vom Betreuer selbst ausgeführt würden.
Zeitmangel, Stress oder Ungeduld können Betreuer dazu bringen,
Tätigkeiten für den Betreuten auszuführen, die auch vom Betreuten selber
hätten ausgeführt werden können. Das Wissen über diese möglichen
Seite 55
Behinderungen in der Entwicklung hilft Betreuern bereits Tendenzen in
ihrer eigenen Arbeitsweise zu erkennen und diese zu vermeiden.
3.2 Soziales Training
Neben dem Training des Alltags, ist auch das Training sozialer
Umgangsformen
ein
wichtiger
Bestandteil
in
der
Betreuung
von
Korsakowkranken. Da die Förderung von Korsakowkranken häufig in
stationären Einrichtungen stattfindet, befinden sie sich in einer Wohnform,
die der therapeutischen Gemeinschaft ähnlich ist (Yablonsky 1990 S.43).
Im
Gegensatz
zum
klassischen
Ansatz
der
„Therapeutischen
Gemeinschaft“, in der es keine Unterteilung zwischen Betreuenden und
Betreuten geben soll (Yablonsky 1990 S.47), sind Betreuer im Falle des
Krankheitsbildes Korsakow notwendig. Das Leben in der Gemeinschaft ist
trotzdem eine Form des sozialen Trainings. Das soziale Training hat zum
Ziel, dass Personen den positiven und selbstbewussten Umgang mit
anderen Menschen lernen. Es soll ihnen ermöglichen Zugang zu anderen
Menschen zu bekommen, um Vereinsamung zu vermeiden und für die
Zukunft
in
einem
eigenständigeren
Leben
vorbereitet
zu
sein.
Therapeutische Gemeinschaften wirken sich prägend auf Personen aus.
Sie stellen ein eigenes soziales System dar, in dem jedes Mitglied einen
eigenen Status entwickelt und in dem unter Umständen auch Hierarchien
entstehen. Es entwickelt sich eine soziale Struktur innerhalb der
Bewohnerschaft. Mobilität innerhalb dieser sozialen Struktur ist, wenn auch
nicht völlig frei, möglich. Dies bedeutet für die Bewohner, dass sie durch
ihre Beteiligung an den täglichen Aufgaben und ihrer Interaktion in der
Gemeinschaft, ihren eigenen Status innerhalb der Gemeinschaft finden und
verändern können. Beispielhaft für relevante Handlungen, die den eigenen
Status positiv verändern, sind die Dauer der Abstinenz, die gewissenhafte
Erledingung der eigenen Aufgaben, ein unterstützendes Verhalten in der
Gemeinschaft oder die regelmäßige Arbeitsaufnahme außerhalb der
Einrichtung. Eine solche soziale Mobilität wird von Lewis Yablonsky
(Yablonsky 1990, S.48) eine Ermutigung zur Suche nach dem eigenen
Status genannt. Diese soziale Mobilität belohnt positive Entwicklungen
eines Individuums durch soziale Anerkennung und Integration in die
Gemeinschaft. Diese Belohnung ist in einer kleinen Gemeinschaft
grundsätzlich stärker und auch schneller bemerkbar als in der Gesellschaft
Seite 56
und kann deshalb dabei helfen, das Selbstbewusstsein aufzubauen, indem
Personen „ihren“ Platz im sozialen System finden ohne in der Masse
unterzugehen. Das Modell der therapeutischen Gemeinschaft wird von
Feuerlein als eine sich immer mehr durchsetzende Methode in stationären
Behandlungseinrichtungen
für
alkoholkranke
Menschen
bezeichnet
(Feuerlein 1989 S.84).
Die Integration in das gesellschaftliche Leben ist für viele Betreute ein
wichtiger Punkt auf dem Weg zu einem selbständigen Leben. Dies kann
bedeuten,
ein
eigenes
Hobby
zu
entwickeln
oder
ein
altes
wiederzuentdecken, Vorlieben für Musik auszuleben, selber zu musizieren
oder
Konzerte
zu
gesellschaftliches
besuchen.
Leben
Es
bedeutet
herauszufinden,
stattfindet,
Angebote
zu
entdecken
wo
und
wahrzunehmen. Einen eigenen Bekanntenkreis aufzubauen, Menschen
kennen zu lernen, Kontakte zu pflegen, ein Mitglied von Vereinen,
Selbsthilfegruppen oder anderen Gruppierungen zu werden. Um diese oder
ähnliche Integrationsschritte wahrzunehmen, brauchen Korsakowkranke
Hilfe und Anleitung. Betreuer sind in diesem Fall das Trittbrett, um Kontakt
nach „außen“ zu bekommen. Es ist eine wichtige Vorsorge, um nicht nach
einer gelungenen Förderung und Entwicklung in ein einsames und tristes
Leben zu wechseln.
Probleme in der Kommunikation, wie beispielsweise ein sehr rauer
Umgangston,
einzugehen,
fehlende
geringe
Motivation
Übung
in
um
der
auf
den
Gesprächspartner
Gesprächsführung,
fehlendes
Selbstvertrauen, ein kleiner Wortschatz oder das bei Korsakowkranken
häufig vorkommende Wiederholen von einfachen Sätzen und Inhalten,
schränken die Kommunikation ein. Kommunikation muss daher geübt
werden. Geübt wird Kommunikation bereits in einer intuitiven Form im
normalen
Alltag
in
Gemeinschaftswohnformen.
Trotzdem
sollten
Kommunikationsübungen auch von den Betreuern angeleitet und geplant
werden. Beispielhaft werden an dieser Stelle Formen von pädagogischen
Handlungsmöglichkeiten gezeigt, die zur Übung von Kommunikation und
sozialem Leben genutzt werden können.
3.2.1 Gruppengespräche
In
einem
Setting,
das
dem
„Klassenraum
ROT“
ähnelt,
können
Gruppengespräche abgehalten werden. In Gemeinschaftswohnformen sind
Seite 57
regelmäßige Treffen aller Bewohner üblich, in denen über die Soziale
Gruppe, besondere Veranstaltungen und Ereignisse gesprochen wird.
Betreuer können das Gespräch gestalten, Teilnehmer in Gespräche
einbinden, nach Meinungen fragen oder auch Konflikte innerhalb der
Bewohnerschaft diskutieren. Diese Gruppengespräche bieten eine gute
Möglichkeit, um demokratische Strukturen in der Gemeinschaft zu
entwickeln und zu fördern. Das Heimgesetz (§10 Heimg) schreibt für Heime
einen Heimbeirat vor, der von der Bewohnerschaft gewählt werden muss
und die Bewohner gegenüber dem Träger vertritt. Denkbar sind auch
Vertrauenspersonen, die als Ansprechpartner und Vermittler für Bewohner
dienen.
Es
können
auch
basisdemokratische
Elemente
wie
die
gemeinsame Diskussion und Entscheidungsfindung geübt und umgesetzt
werden.
Grundsätzlich sollten Gesprächsrunden offen gestaltet werden, so dass
Teilnehmer eigene Gedanken und Themen einbringen können. Außerdem
fordert eine Gesprächsgruppe innerhalb einer Gemeinschaft besondere
Moderation. Dies nicht nur, um die grundlegenden Werte einer Diskussion,
wie das Ausreden lassen oder Toleranz sicherzustellen, sondern auch um
Teilnehmer mit geringerem Selbstbewusstsein oder der Tendenz zum
Schweigen, durch Fragen und Aufmerksamkeit in das Gespräch aktiv mit
einzubeziehen.
3.2.2 Gespräche in kleinen Gruppen
Neben den Gruppengesprächen in einer Gemeinschaftswohnform können
auch Gruppengespräche in kleineren Gruppen (bis 8 Personen) abgehalten
werden. Nach Feuerlein sind Gruppengespräche Bestandteil fast jeder
Alkoholtherapie (Feuerlein 2005 S.97). Diese Gruppengespräche können
zum Thema Sucht gestaltet werden oder auch die Möglichkeit geben, über
die eigene Situation und Befindlichkeit mit anderen in einer moderierten
Runde zu sprechen. Es können aber auch wechselnde Themen von
Betreuern vorbereitet werden. Wechselnde Themen haben den Vorteil,
Gespräche abwechslungsreich zu gestalten, auf individuelle Interessen
einzugehen und mit aktuellen Themen aus Politik und Gesellschaft, auch
die gesellschaftliche Integration der Gesprächsteilnehmer zu unterstützen.
Gesprächsthemen sollten so offen sein, dass jeder etwas zur Diskussion
beitragen kann. Um eine Diskussion lebendig und nicht oberflächlich zu
Seite 58
halten, empfiehlt es sich, auch emotional besetzte Themen auszuwählen.
Solche
Themen
könnten
beispielsweise
Vertrauen,
Kindheit,
Gruppenverhalten, Toleranz, Angst und Verlust sein. Die Themen sollten
von den Gesprächsleitern anmoderiert und vorgestellt werden. Im weiteren
Verlauf steht allerdings die Diskussion unter den Gruppenteilnehmern im
Vordergrund. Der Gesprächsleiter sollte im optimalen Fall nicht weiter
beteiligt sein oder nur moderierend eingreifen und Fragen stellen. Eine sich
für diese Diskussionsart anbietende Technik ist die bereits beschriebene
Klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers (Rogers 1951). Da
die Sucht und der Alkohol im Leben aller Teilnehmer eine große Rolle
spielt, ist es wahrscheinlich, dass tiefgründigere Themen häufig auch mit
der
Alkoholsucht
in
Verbindung
gebracht
werden.
Eine
solche
Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und eine entsprechende
Entwicklung des Gesprächsverlaufs sind zu begrüßen und zu fördern.
Insgesamt sollen solche Gesprächsgruppen die Fähigkeit üben, sich
auszudrücken und bei der Reflexion des eigenen Lebens zu helfen.
Ebenso kann sie helfen, die eigene Meinung zu formulieren und in eine
Diskussion einzubringen. Kontroverse Themen können dabei helfen, eine
eigene Streitkultur zu entwickeln und zu üben, mit unterschiedlichen
Meinungen tolerant umzugehen.
3.2.3 Einzelgespräche
Einzelgespräche zwischen einem Betreuer und dem Betreuten können
unterschiedliche Gründe haben. Sie können unabhängig vom Thema eine
Übung für intensive und konzentrierte Gespräche sein. Insbesondere
können in solchen Einzelgesprächen die persönliche Befindlichkeit und
Entwicklung des Betreuten besprochen werden. Einzelgespräche bieten
aber
auch
Zeit,
um
Biografiearbeit
zu
betreiben
und
auf
die
Lebensgeschichte des Betreuten zurückzublicken. Diese Gespräche
können auch helfen, die Gründe für die eigene Alkoholabhängigkeit in der
Biografie zu finden. Es können auch Pläne für die Zukunft entworfen und
die nächsten Schritte in der eigenen Entwicklung mit dem Betreuer
besprochen und festgelegt
werden.
In akuten Krisen bietet
das
Einzelgespräch die Möglichkeit für den Betreuten, sich zu entlasten und
Krisen durch das Gespräch zu verarbeiten. Auch diese Situation bietet für
den
Betreuer
die
Möglichkeit
mit
Gesprächstechniken
wie
der
Seite 59
Klientenzentrierten Gesprächsführung, Hilfe bei der Ausformulierung der
eigene Gefühle und Empfindungen zu bieten. Einzelgespräche und
Gruppengespräche stellen in fast allen Alkoholikertherapien ein wichtiges
Therapiewerkzeug dar (Feuerlein 2005 S.97).
3.2.4 Gruppen Spaziergänge
Spaziergänge in Gruppen bieten den Teilnehmern die Möglichkeit einer
lockeren Form der Kommunikation. Gleichzeitig helfen Spaziergänge bei
der örtlichen Orientierung in der näheren Umgebung und bieten die
Möglichkeit, sich zu bewegen. Regelmäßige Bewegung ist gerade für
Personen mit Polyneuropathien für den Muskelaufbau und -erhalt wichtig.
Durch das regelmäßige Gehen kann außerdem das Gangbild verbessert
werden. Spaziergänge bieten auch die Möglichkeit, sich bewusst mit der
Natur auseinanderzusetzen und beispielsweise den Rhythmus der
Jahreszeiten wahrzunehmen. Diese einfache Art der Beschäftigung ist
auch eine Form der Integration in die Gesellschaft bzw. den Ort/Stadtteil,
wenn ein Spaziergang nicht gerade auf dem Gelände der Einrichtung
stattfindet. Der Betreuer kann zu Beginn mit den Teilnehmern die Route
des Spaziergangs, je nach Mobilität, festlegen und bei Schwierigkeiten in
der Wahl der Bekleidung behilflich sein. Der Spaziergang bietet
Möglichkeiten für lockere Gespräche zwischen den Teilnehmern und dem
Betreuer.
3.2.5 Gruppentagesreisen
Gruppentagesreisen können als besonderes Ereignis angeboten werden.
Tagesreisen können in Museen, Konzerte, auf Volksfeste oder zu
sonstigen Ausflugszielen führen. Sie stellen eine besondere Form des
sozialen Trainings dar, weil sie für viele Betreute eine besondere Belastung
sind. Diese Belastung ergibt sich aus dem Umgebungswechsel, vermehrter
Bewegung, neuen Eindrücken und eventuell dadurch entstehenden Stress.
Gleichzeitig bietet sie aber auch die Möglichkeit der Integration in die
Gesellschaft
und
der
Teilhabe
am
kulturellen
Leben.
Durch
Gruppentagesreisen kann das Verhalten in größeren Menschenmengen
und auch die Nutzung von Nahverkehrsmitteln geübt werden. Sie fordern
Betreute in ihrer Beweglichkeit heraus und müssen, aufgrund von
eingeschränkter Mobilität, besonders geplant werden. Für Personen mit
Seite 60
Polyneuropathien können sie ein Übungsort für den Umgang mit
Hilfsmitteln wie Rollatoren oder Rollstühlen in der Öffentlichkeit sein.
3.2.6 Gruppenurlaub
Der Gruppenurlaub ist eine mehrtägige Reise. Auch diese Art der
Gruppenbeschäftigung ist eine besondere Belastung für die Betreuten.
Ähnlich wie bei Tagesreisen, nur ausgedehnt auf mehrere Tage, besteht
die Herausforderung hier in der Auseinandersetzung mit ungewohnten
Situationen, unbekannten Orten und vermehrter Bewegung. Auch die
Gruppenreise ist eine Form der Integration in die Gesellschaft und eine
Teilhabe am kulturellen Leben. Sie ist herausfordernd und die Betreuer
müssen, wie bei der Tagesreise, genau planen, für welche Betreuten die
Anforderungen zu hoch sind und für wen sie einen Anreiz bieten, sich
weiterzuentwickeln. Eine solche Reise ist für viele der erste Urlaub seit
Jahren oder überhaupt in ihrem Leben und stellt deshalb ein besonderes
Ereignis da.
3.3 Auseinandersetzung mit der
Suchterkrankung
Die Arbeit an der eigenen Sucht beginnt bei vielen Korsakowkranken mit
der Krankheitseinsicht. Dabei spielt die Amnesie eine große Rolle, da sie
vielen Korsakowkranken die Erinnerung an ihre intensive Trinkzeit nimmt
und so die Überzeugung bleibt: „So viel habe ich doch gar nicht getrunken“
(Hingsammer 2002). Die Einsicht suchtkrank zu sein, ist für viele
Korsakowkranke der erste Schritt in der Auseinandersetzung mit ihrer
Suchterkrankung. Diese Einsicht ist eng verknüpft mit einer Biografiearbeit,
in der alle Lebensabschnitte, auch die des Trinkens, verarbeitet werden
können. Erleichternd wirkt das gemeinsame Besprechen und Verstehen
von Betroffenen in einer Gruppe. Insbesondere Selbsthilfegruppen wie die
Anonymen Alkoholiker helfen, die eigene Suchterkrankung anzunehmen
und zu lernen, mit dieser Krankheit zu leben. Da in den vorigen Kapiteln
bereits über die Klientenzentrierte Gesprächsführung geschrieben wurde,
geht dieses Kapitel nicht weiter auf diese Psychotherapie in Einzel- und
Gruppengesprächen ein.
Seite 61
3.3.1 Biografiearbeit
Biografiearbeit bedeutet für den Betreuten, den eigenen Lebensweg zu
rekonstruieren.
Dies
beinhaltet
den
gesamten
Lebensweg,
Lebensbedingungen, zwischenmenschliche Beziehungen, Kontakte, den
beruflichen Werdegang, Schicksalsschläge, Ehen oder partnerschaftliche
Beziehungen, die Krankheitsgeschichte, bereits erfolgte medizinische
Behandlungen und insbesondere die Entwicklung der Suchtkrankheit. In
der
Biografiearbeit
können
Gründe
oder
Begünstigungen
der
Suchterkrankung entdeckt und besprochen werden. Biografiearbeit hilft
dem Betreuer, die Lebensgeschichte und auch die Lebensumstände des
Betreuten zu verstehen. Erkenntnisse aus dieser Arbeit können in den
weiteren therapeutischen Arbeiten hilfreich sein und bieten auch wichtige
Informationen für das systemische Denken. Bei einer retrograden Amnesie
bietet die Biografiearbeit dem Betreuten und dem Betreuer zusätzlich die
Möglichkeit, die vergessenen Jahre oder Monate wieder aufzuarbeiten und
Erinnerungslücken, mithilfe von Nachforschungen, zu schließen. Für diese
Arbeitet bietet sich in den ersten Schritten das gemeinsame Rekonstruieren
der Biografie in Einzelgesprächen an.
Informationen sammeln
Weitere Informationen können von gesetzlichen Betreuern, dem Personal
der Entzugsklinik oder der zuvor behandelnden Einrichtung eingeholt
werden. Ein weiterer Schritt kann das Gespräch mit Verwandten oder
nahen Bekannten sein. Diese Gespräche sollten teilweise gemeinsam mit
den Betreuten durchgeführt werden. Es sollte allerdings auch die
Möglichkeit genutzt werden, ein Gespräch nur zwischen Verwandten und
den Betreuern durchzuführen, da in diesen Gesprächen teilweise auch
Details der Biografie oder auch der zwischenmenschlichen Beziehungen
benannt werden, welche aus Scharm oder Respekt nicht offen im Beisein
des Betreuten genannt werden.
Kollektive Erinnerungen
Durch die Bezugnahme auf besondere geschichtliche Zeitpunkte, die von
vielen Menschen wahrgenommen werden, können Erinnerungen über die
Lebensumstände und Lebenssituationen lebendig werden. Helfen können
dabei Zeitdokumente wie Zeitungsartikeln oder alten Fernsehsendungen
(Ruhe 2007 S.28).
Seite 62
Fotografien
Fotografien können durch die visuelle Kraft der Erinnerungen besonders
emotional wirken und Anknüpfpunkte für Erinnerungen bieten. Fotografien
können im Prozess der Biografiearbeit in Bilderbüchern festgehalten und
nach Themen oder chronologisch geordnet werden (Ruhe 2007 S.52)
Dokumentationsorientiertes Arbeiten
Es bietet sich an, die aufgedeckte Biografie schriftlich festzuhalten. Dies
erweist sich auch als dauerhafte Hilfe, da Biografiearbeit häufig über einen
längeren Zeitraum betrieben wird und neue Informationen entsprechend
eingeordnet werden können. Als Methoden können dafür beispielsweise
Zeitstrahlen genutzt werden, auf denen die einzelnen Stationen des Lebens
eingezeichnet werden (Ruhe 2007 S.26).
Biografiearbeit zeigt auch die persönlichen und sozialen Ressourcen des
Betreuten auf, die nicht offenkundig ersichtlich oder dem Betreuten nicht
präsent sind. Durch die Biografiearbeit werden häufig die existierenden
Familienverhältnisse
Kontaktaufnahme
geklärt
innerhalb
und
sie
gibt
einer
Familie
den
Anstoß
nachdem,
zu
aufgrund
einer
der
Alkoholabhängigkeit, längere Zeit kein Kontakt bestand. Biografiearbeit
bietet auch die nötige Grundlage für den Betreuer, um informiert mit
Konfabulationen
umgehen
zu
können,
Realität
von
Fiktion
zu
unterscheiden und dies gegebenenfalls mit dem Betreuten zu besprechen.
3.3.2 Selbsthilfegruppen
Selbsthilfegruppen sind insbesondere für stationäre Einrichtungen die
Möglichkeit, den Betreuten zusätzlich in Gesprächskreise außerhalb der
Einrichtung zu vermitteln. Sie bieten den Betreuten so die Chance, auch
Menschen außerhalb der therapeutischen Gemeinschaft kennen zu lernen.
Damit sind sie ein Bestandteil der Integration in die Gesellschaft. Viele
Selbsthilfegruppen bieten neben der regelmäßigen Gesprächsrunde auch
gemeinsame Freizeitaktivitäten wie Sport oder Ausflüge an. Dadurch, dass
Selbsthilfegruppen sich zumeist als lebensbegleitend verstehen und die
Teilnahme nicht nach einer Behandlungszeit beendet wird, sind sie eine
Übung und Vorbereitung für ein selbständigeres Leben. Selbständigkeit
bedeutet in diesem Fall, eigenständig Hilfsangebote nachzufragen und zu
nutzen. Selbsthilfegruppen sind zumeist autonom organisiert und wirken
Seite 63
auf viele Teilnehmer authentischer als professionelle Hilfsangebote, da alle
teilnehmenden
Erfahrungen
mit
Sucht
gemacht
haben.
Zusätzlich
verbinden viele Teilnehmer mit ihnen die Möglichkeit, Menschen zu treffen,
die es „geschafft“ haben, längere Zeit ein Leben ohne Alkohol zu gestalten.
Sie finden auf diese Weise positive Vorbilder. Betreuer können dem
Betreuten helfen, sich einen Überblick über das Selbsthilfeangebot zu
verschaffen und bei der Auswahl einer geeigneten Gruppe helfen. Die
einzelnen Selbsthilfegruppen haben unterschiedliche Konzepte und ihnen
liegen unterschiedliche Weltanschauungen zugrunde. Deshalb ist das
Auswählen einer zum Betreuten passenden Gruppe wichtig (Feuerlein
2005 S.101). Die Konzepte der einzelnen Selbsthilfegruppen unterscheiden
sich im Aufbau der Gruppentreffen, der Moderation der Gespräche und der
Zielsetzung.
3.4 Gedächtnistraining
Neben
der
Alkoholerkrankung
ist
die
Gedächtnisschwäche
das
überwiegende Problem Korsakowkranker. Die Heilungsmöglichkeiten sind
aufgrund des irreparablen organischen Schadens an den Mammilarkörpern
im Limbischen System begrenzt. Begrenzte Heilungsmöglichkeit der
Gedächtnisleistung bedeutet in diesem Fall, dass es für jeden Betroffenen
eine endliche Entwicklungsmöglichkeit gibt. Nach einem individuellen
Fortschritt erschöpft sich die positive Entwicklung und der Fortschritt erfolgt
nur
noch
minimal
und
kaum
messbar.
Die
Entwicklung
der
Gedächtnisleistung stagniert dann oder kann sich auch negativ entwickeln.
Die
negative
Gedächtnisentwicklung
kann
aufgrund
von
geringer
Förderung, von Demenz oder als normale Alterserscheinung eintreten.
Wie bereits erwähnt wurde, betrifft diese Merkfähigkeitsstörung meist
ausschließlich
sprachlich
Handlungsgedächtnis
für
codierte
unbewusste
Informationen.
Alltagshandlungen,
Das
die
nicht
sprachlich codiert gespeichert werden, ist weiter lernfähig. Es umfasst alle
routinemäßigen motorischen Fertigkeiten wie beispielsweise Gehen,
Fahren und Musikinstrumente spielen. Diese Fertigkeiten gelingen uns
überwiegend unbewusst, ohne dass wir darüber nachdenken.
Der Unterschied zwischen diesen Gedächtnisleistungen erklärt auch die
Erfolge einer Betreuung, die Wert auf alltägliche Handlungen legt. Die
Erfahrungen der Praxis, wie sie von Deutschle geschildert werden
Seite 64
(Deutschle 1998 S.94), dass alltagsbezogenes Training mehr Lernerfolge
und gewonnene Selbständigkeit bringt als sprachlich basierte Gedächtnisund Gesprächstherapien können mit der Unterscheidung zwischen den
beiden Gedächtnistypen erklärt werden. Trotzdem sollte die Förderung und
Entwicklung der sprachlich codierten Merkfähigkeit nicht vernachlässigt
werden, wenn sie auch nicht so große Erfolge verspricht wie die Förderung
der prozeduralen Gedächtnisfunktionen. Schließlich ist die hochgradige
sprachliche
Merkfähigkeitsstörung die
eigentliche
Behinderung.
Der
Versuch die angestrebte Selbständigkeit im Alltag überwiegend über die
prozeduralen Gedächtnisfunktionen herzustellen, ist nur als Ersatz für die
unwiederbringlich verloren gegangene Merkfähigkeit zu sehen. Erfolge im
Bereich der sprachlich codierten Merkfähigkeit sind für das Individuum
wertvoller, da sie durch ihre Übertragbarkeit in andere Lebensbereiche
einen Fortschritt in der gesamten Entwicklung darstellen. Prozedurale
Merkfähigkeit hingegen ist nicht übertragbar und damit speziell an einen
Lebensbereich oder eine Situation gebundenes Wissen (Romero 2002
S.251). Dies unterstreicht noch einmal die notwendige Individualisierung
der Betreuung Korsakowkranker je nach Entwicklungsmöglichkeiten und
Schweregrad der Schädigung. Ein auf den Betreuten angepasstes
Gedächtnistraining beider Gedächtnisformen ist anzustreben. Das Training
der
sprachlich
codierten
Merkfähigkeit
bedeutet,
die
Merkfähigkeit
betroffener Personen zu erhöhen. Für manche Personen ist es aber auch
ein Training, um die bereits vorhandene Merkfähigkeit zu erhalten und
Rückschritte zu vermeiden. Dies bedeutet auch, dass Personen für den
Zeitraum ihrer Förderung in einer Fördereinrichtung nicht nach einer
längeren Stagnation ihrer Gedächtnisleistung das Training abbrechen. Das
Training kann mit selbständigen Gedächtnisaufgaben, in der Gruppe oder
im Einzeltraining mit einem Betreuer stattfinden.
3.4.1 Selbständige Gedächtnisaufgaben
Selbständige
Gedächtnisaufgaben
finden
zumeist
mit
geringem
Betreuungsaufwand statt. Sie können auf dem Papier oder am Computer
erledigt werden und sollten selbsterklärend sein. Komplexe Regeln können
das gesamte Training gefährden, da sie auch vergessen werden und die
Motivation mindern können. Die Aufgaben können auf Texten, Zahlen oder
Bildern basieren. So können unterschiedliche Arten der Wahrnehmung
Seite 65
angesprochen werden. Der Vorteil der selbständigen Gedächtnisaufgaben
mit dem Computer oder mit Stift und Papier besteht in der einfachen und
objektiven Auswertung. Während der Aufgaben gibt es weniger Ablenkung
durch Interaktion als in einer Gruppe oder auch im Einzeltraining. Die
erreichten Werte sind vergleichbar und erleichtern die objektive Evaluation
der Entwicklung. Einige Computerprogramme haben eigene und detaillierte
Evaluationsfunktionen, die selbst die Reaktionszeiten auswerten. So stellen
die
selbständigen
Gedächtnisaufgaben
die
reproduzierbarsten
und
überprüfbarsten Übungen dar. Ihr Nachteil besteht allerdings darin, dass
sie alltagsunrelevante Situationen darstellen (Thöne 2002 S. 296).
Entsprechend reizarme Situationen ohne Zeitdruck und Interaktionszwang
sind im normalen Leben eher selten. Zusätzlich müssen viele Betreute den
Umgang mit dem Computer und den Eingabegeräten erst erlernen. Auch
im
Umgang
mit
Papier
und
Stift
sind
die
Ausgangssituationen
unterschiedlich. Lese- und Schreibgeschwindigkeit sowie Textverständnis
beeinflussen auch die Ergebnisse, wenn man davon ausgeht, dass das
Kurzzeitgedächtnis die aufgenommene Information nur für sehr kurze Zeit
speichern kann. Alle diese Umstände beeinflussen natürlich die Ergebnisse
und bewirken, dass die Ergebnisse nur bedingt zwischen den einzelnen
Betreuten verglichen werden können. Trotzdem gibt es standardisierte
Tests,
um
die
Leistungsfähigkeit
und
vor
allem
auch
die
Leistungssteigerung im Bereich des Gedächtnistrainings zu messen.
3.4.2 Gruppengedächtnistraining
In
der
Gruppe
haben
Gedächtnistrainings
mehr
Ähnlichkeit
zu
Alltagssituationen als in selbständigen Gedächtnisübungen. Aufgrund von
mehr Umwelteinflüssen und Reizen ist mehr Konzentration gefordert, um
Informationen abzuspeichern. Möglich sind in der Gruppe gemeinsame
Merkspiele.
Seite 66
Beispiel „Ich packe meinen Koffer…“:
Bei diesem Merkspiel muss jeder Teilnehmer einen Gegenstand nennen,
den er in einen Koffer packen würde, um ihn mit in den Urlaub zu nehmen.
Zusätzlich zu seinem eigenen Gegenstand muss der Teilnehmer noch die
eingepackten Gegenstände der anderen Teilnehmer nennen. Dieses
Merkspiel fordert eigene Kreativität und Konzentration. Durch häufige
Wiederholungen ist es den Teilnehmern möglich, sich eine Reihe von
Gegenständen zu merken.
Ein Gruppengedächtnistraining lässt sich auch in Verbindung mit
Bewegungen durchführen. In unserem Beispiel könnte sich jeder
Teilnehmer eine Gymnastikbewegung ausdenken und muss zusätzlich zu
seiner eigenen Bewegung auch die Gymnastikbewegung der anderen
Teilnehmer erinnern und wiederholen.
3.4.3 Gedächtnistraining mit Einzelbetreuung
Gedächtnistrainings mit Einzelbetreuung bieten die Möglichkeit, intensive
Gedächtnisübungen
durchzuführen,
die
im
Anschluss
gemeinsam
ausgewertet werden können. Bei diesen Einzeltrainings kann individueller
auf Schwächen und Ressourcen des Betreuten eingegangen werden und
sie bieten die Möglichkeit, die Merkfähigkeit in Interaktionssituationen zu
trainieren. Auf diese Weise ist ein detailliertes Feedback durch den
Betreuer möglich. Neue Gedächtnisstrategien und Hilfsmittel können
ausprobiert, angewendet und erlernt werden.
3.4.4 Gedächtnisstrategien
Gedächtnisstrategien sind Wege über die versucht wird, Informationen
merkfähiger zu machen. Sie basieren auf unterschiedlichen Annahmen
über die Funktion des Speicherns im Langzeitgedächtnis und versuchen
diesen Prozess zu optimieren und zu unterstützen. Gedächtnisstrategien
können von Betreuten angewendet werden, um neue Informationen besser
zu behalten. Es gibt aber auch Gedächtnisstrategien, die von Betreuern
angewendet werden können, um es den Betreuten zu erleichtern,
Informationen abzuspeichern.
Seite 67
3.4.4.1
nale Strategien
Inter-
So genannte internale Strategien versuchen eine größere Merkfähigkeit für
Informationen herzustellen, indem die Informationen visuell oder verbal
verknüpft werden. Visuell kann eine Information mit einer bestimmen
Vorstellung oder einem Gegenstand verknüpft werden. Eine verbale
Strategie ist die laute Wiederholung einer Information oder auch der
Versuch, Informationen zu rhythmisieren.
Beispiele:
Visuelle Verknüpfung
Die Verknüpfung des Stadtnamens Köln mit dem Bild eines Doms.
Verbale Verknüpfung
Die mehrfache Wiederholung eines Namens
Klaus - Klaus – Klaus
Das Sprechen einer Vokabel in Silben
Con-cen-tra-tion
Die bekannteste internale Strategie ist, das intensive und systematische
Beschäftigen mit einer Information wie einem Text und wird häufig
pauschal als „Lernen“ bezeichnet. Internale Strategien versuchen eine
Information
durch
eine
Verknüpfung,
umgangssprachlich
auch
„Eselsbrücke“ genannt, nachdrücklicher abzuspeichern. Verbessert wird die
Merkfähigkeit
dadurch,
dass
eine
Information
mehrfach
codiert
abgespeichert wird. Das bedeutet, dass die Information unter mehreren
Schlüsselwörtern oder Bildern abgespeichert wird. Die Wirksamkeit solcher
Strategien
ist
wissenschaftlich
für
Menschen
mit
und
ohne
Gehirnschädigung bewiesen (Thöne 2002 S.296). Eine Untersuchung
speziell mit Korsakowkranken existiert jedoch nicht. Außerdem steht auch
bei internalen Strategien die Praktikabilität für den Alltag in Frage. Internale
Strategien erfordern zusätzliche kognitive Ressourcen und verlangen mehr
Aufwand und Zeit, die in Alltagssituationen häufig nicht vorhanden ist.
3.4.4.2
less Learning
Error-
Das Errorless Learning ist eine Gedächtnisstrategie, die von Betreuern
angewandt wird, um das Abspeichern von falschen Informationen zu
Seite 68
umgehen. Errorless Learning geht davon aus, dass Personen mit
Gedächtnisschwäche auch falsche Informationen als richtig abspeichern,
weil sie die richtige Information vergessen haben. Je mehr falsche
Informationen im Verhältnis zu richtigen Informationen zur Verfügung
stehen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine falsche
Information, anstelle der richtigen Information, abgespeichert wird.
Außerdem wird vermutet, dass an Amnesie leidende Personen Probleme
haben, falsche Informationen im Gedächtnis als „falsch“ abzuspeichern
(Thöne 2002 S.297). Die praktische Bedeutung ergibt sich aus einem
Beispiel.
Beispiel ohne Errorless Learning:
Der Betreuer will von dem Betreuten wissen, ob er sich seit dem letzten
Kontakt seinen Namen (des Betreuers) merken konnte. Er fragt ihn: „Wie
heiße ich?“ Der Betreute nennt drei Namen, von denen keiner richtig ist.
Der Betreuer nennt daraufhin seinen Namen. Im Raum stehen nun vier
Namen, von denen nur einer richtig ist. Der Betreute kann sich aufgrund
seiner Gedächtnisschwäche nach 10 Minuten nur noch in Fragmenten an
das Gespräch erinnern. Auf Nachfrage fallen ihm zu der vergangenen
Situation noch zwei der genannten Namen ein. Der richtige Name des
Betreuers ist nicht dabei.
Errorless Learning ist eine Strategie zur Vermeidung von falschen
Antworten, um dem Speichern von falschen Informationen vorzubeugen.
Insbesondere
Korsakowkranke,
die
konfabulieren,
können
Erinnerungsfragmente in falsche Zusammenhänge setzen. Auch für
Betreute
mit
Wahnvorstellungen
können
falsch
abgespeicherte
Informationen Grundlage für neue Wahnvorstellungen geben. Falsch
abgespeicherte
Informationen
können
Grund
für
innere
und
zwischenmenschliche Konflikte sein. Angewendet wird dieses Wissen im
alltäglichen Umgang mit relevanter oder wichtiger Information. Betreuer
können, zur Vermeidung von falschen Antworten, beispielsweise fragen, ob
der Betreute sicher die richtige Antwort auf seine Fragen kennt, um ihn vom
Raten abzuhalten. Die zuvor geschilderte Situation könnte dann wie folgt,
gestaltet werden.
Seite 69
Beispiel mit Errorless Learning:
Der Betreuer will von dem Betreuten wissen, ob er sich seit dem letzten
Kontakt seinen Namen (des Betreuers) merken konnte. Er fragt ihn:
„Kennen sie meinen Namen?“ Der Betreute verneint dies. Daraufhin nennt
der Betreuer seinen Namen. Auf diese Weise werden weitere falsche
Informationen umgangen.
Im Gedächtnistraining sollte das Errorless Leraning nur dann angewandt
bzw. vermittelt werden, wenn anzunehmen ist, dass der Betreute die
Theorie verstehen und für sich nutzen kann. Umsetzen könnte der
Anwender die Theorie dadurch, dass er größere Aufmerksamkeit auf
richtige Informationen lenkt. Errorless Learning ist eine Vorraussetzung für
die drei folgenden Gedächtnisstrategien.
3.4.4.3
d Retrival
Space
Die Gedächtnisstrategie Spaced Retrival ist abgeleitet von der internalen
Strategie des Wiederholens. Bei dieser Methode soll die zu lernende
Information (z.B. ein Name) in immer größer werdenden Abständen
wiederholt werden. Die Zeitabstände werden von einem äußeren Reiz,
beispielsweise
einer
blinkenden
Lampe,
angezeigt.
Die
äußere
Aufforderung zur Wiederholung der Information entlastet den Betreuten.
Die größer werdenden Wiederholungsintervalle führen zu einer besseren
Merkfähigkeit der Information als gleich- bleibende Wiederholungsintervalle
(Fridriksson 2005). Alltagsfähig ist diese Gedächtnisstrategie, aufgrund
ihres Aufwands, nur sehr eingeschränkt. Allerdings ist es möglich, einzelne
wichtige
Handlungen,
wie
beispielsweise
die
Nutzung
eines
Anrufbeantworters, durch Spaced Retrival zu erlernen (Thivierge 2008).
Einschränkend ist, dass bereits die Änderung in der Menüführung bei
einem Anrufbeantworter die erlernten Fähigkeiten unbrauchbar macht.
Deshalb gilt auch hier, dass die gelernten Informationen, wie bei den
folgenden beiden Gedächtnisstrategien, unflexibel und nicht in andere
Situationen übertragbar sind (Bishara & Jacoby 2008).
Seite 70
3.4.4.4
ward Changing
Back-
Backward Changing ist eine von Betreuern anzuwendende Strategie für
Lernprozesse des impliziten Gedächtnisses (Thöne 2002 S. 295). Dabei
wird eine zu erlernende Aufgabe in kleine Teilschritte unterteilt. Bei der
ersten Ausführung werden alle Teilschritte bis auf den letzten vom Betreuer
übernommen. Der letzte Teilschritt muss vom Betreuten ausgeführt
werden. Bei der nächsten Durchführung muss der Betreute die letzten
beiden Teilschritte durchführen. Bei jeder weiteren Durchführung wird ein
weiterer Teilschritt hinzugefügt.
Backward Changing Beispiel: Decken des Frühstückstisches
Im ersten Durchgang werden alle notwendigen Teile zum Decken des
Tisches vom Betreuer auf den Tisch gestellt. Der Betreute muss diese nun
lediglich auf dem Tisch verteilen. Beim zweiten Durchgang werden die
notwendigen Teile vom Betreuer nur noch auf den Schrank gestellt. Der
Betreute muss sie selber zum Tisch tragen und verteilen. Im nächsten
Durchgang öffnet der Betreuer nur noch die richtigen Schranktüren. Diese
Kette wird fortgesetzt bis der Betreute den Frühstückstisch ohne weitere
Hilfe decken kann.
Backward Changing ist eine nützliche Methode, um Haushaltsabläufe zu
erlernen. Erlernte Abläufe sind allerdings nicht als Fähigkeiten anzusehen,
sondern als das Beherrschen eines Arbeitsablaufes. Im Bezug auf das
Beispiel „Decken des Frühstückstisches“ bedeutet dies, dass der Betreute
exakt diesen Frühstückstisch decken kann. In einer anderen Küche mit
anderem Geschirr und anderen Lebensmitteln könnte der Betreute
überfordert sein und müsste den Ablauf neu erlernen. Eventuell wird das
neue Erlernen schneller und einfacher sein. Unter Umständen bedeutet es
aber auch, dass der gesamte Prozess erneut erlernt werden muss.
3.4.4.5
hing cues
Vanis-
Vanishing cues ist eine Lernstrategie, die vom Backward Changing
abgeleitet ist. Sie stellt den Versuch dar, explizites Wissen, welches
normalerweise sprachlich codiert abgespeichert wird, im impliziten
Gedächtnis,
also
dem
Handlungsgedächtnis,
abzuspeichern.
Durch
Seite 71
Vanishing cues vermitteltes Wissen ist hochgradig speziell und lässt sich
nicht in andere Lebensbereiche transferieren. Es ist damit nicht
alltagstauglich und wenn überhaupt, dann nur für sehr spezielle Aufgaben,
meist im EDV-Bereich geeignet. Gelernt wird eine bestimmte Abfolge von
Handlungen, die in Teilschritten durch Anweisungen begleitet wird. Jeder
Schritt hat seine eigene Arbeitsanweisung. Diese Anweisungen werden
Schritt für Schritt entfernt, bis die Abfolge der Handlungen ohne
Anweisungen durchgeführt werden kann. Jede Änderung im Ablauf würde
den gesamten Handlungsablauf stören. Viele Seniorencomputerkurse
werden
nach
diesem
Prinzip
durchgeführt.
Nach
einem
solchen
Computerkurs brauchen Senioren zur Reproduktion ihres Wissens am
Computer
im
eigenen
Haushalt
häufig
eine
exakte
Kopie
der
Softwareumgebung der Bildungseinrichtung. Eine Änderung in der
Menüführung oder eine andere Version des Betriebssystems können dazu
führen, dass der Computer nicht mehr bedient werden kann.
Vanishing cues ist nur für sich exakt wiederholende Handlungsabläufe
geeignet wie sie teilweise in der EDV bei Dateneingaben oder auf
Formularen vorkommen (Jerome 2007, Hunkin & Parkin 1995). Eine
Abwandlung der dieser Methode kann von Betreuern zum Erlernen von
Wegen angewendet werden. Weiter ausgeführt wird dies im Kapitel
Mobilität.
3.4.5 Kompensationsstrategien
Die Einsatzmöglichkeiten und auch die Ergebnisse der genannten
Gedächtnisstrategien sind begrenzt. Merkfähigkeitsverbesserungen durch
angewendete Strategien sind auch schwer überprüfbar. Auch die
Alltagsfähigkeit
ist
bei
vielen
Gedächtnisstrategien
sehr
begrenzt.
Gedächtnisstrategien für Betreute stellen zumeist erhöhte kognitive
Anforderungen an den Nutzer. Die Einsatzmöglichkeiten beschränken sich
deshalb oft auf Gedächtnistrainingseinheiten und werden im Alltag eher
ungern genutzt (Thöne 2002 S.297). Neben den Gedächtnisstrategien, die
die Merkfähigkeit trainieren und verbessern sollen, gibt es auch noch die
Möglichkeit der Kompensationsstrategien. Kompensationsstrategien haben
nicht als Ziel die Merkfähigkeit zu verbessern, sondern die fehlende
Gedächtnisleistung zu kompensieren.
Seite 72
3.4.5.1
kation der Lebenswelt
Modifi-
Um die Gedächtnisschwäche zu kompensieren, sollte die Lebenswelt der
Betroffenen angepasst werden. Die Lebenswelt sollte so gestaltet werden,
dass weniger Gedächtnisleistung erforderlich ist. Die Notwendigkeit fester
Tages- und Wochenstrukturen wurde bereits ausführlich dargelegt.
Eingeübte Strukturen ersetzen die mentale Aufgabenliste, die gesunde
Menschen nebenher in ihrem Gedächtnis führen und die sie nach und nach
abarbeiten. Die Frage danach, ob man heute schon geduscht hat, erledigt
sich dadurch, dass das Duschen fest in den Tagesrhythmus eingearbeitet
wurde.
Durch
feste
Wochenpläne
entfällt
die
notwendige
Gedächtnisleistung für seltenere Arbeiten. Ein Wochenplan kann einen Tag
zum Baden reservieren. Die feste Einhaltung eines Wochenplans erspart
den Betroffenen die Frage, ob sie diese Woche bereits gebadet haben.
Ebenso können Mahlzeit und Medikamenteneinnahme verbunden werden.
Geöffnete oder verglaste Türen in Fluren und Treppenhäusern helfen bei
der Orientierung, ebenso wie gut sichtbare Stockwerkbeschriftungen oder
die Beschriftung der eigenen Wohnungstür mit dem Namen und eventuell
den Namen der Mitbewohner. Plätze an der Eingangstür für Schlüssel,
Jacke, Brillen, Portemonnaie und Ähnlichem können für mehr Sicherheit
beim Eintritt in die nicht so überschaubare Außenwelt sorgen. In der
Wohnung eines Betreuten helfen Beschriftungen an Schränken und
Regalen, die Ordnung zu behalten. Hinweisschilder an Türen oder im
Spiegel können weitere Hilfen für wiederkehrende Aufgaben und Abläufe
sein. Bei schweren Fällen von Korsakow oder in der Eingewöhnungsphase
in eine Einrichtung kann es helfen, Hinweise über den Aufenthaltsort, die
Adresse und den Grund des Aufenthalts nahe am Bett anzubringen. In
Doppelapartments oder Wohngemeinschaften können sich Bewohner
gegenseitig
unterstützen
und
gegebenenfalls
Fragen
stellen.
Die
Modifikationen der Lebenswelt müssen individuell eingerichtet werden. Es
empfiehlt sich, die Übernahme der bestehenden Lebensweltmodifikationen
bei einem Umzug. Sollte ein Korsakowkranker zurück in sein soziales
Umfeld ziehen, so sollten die Angehörigen mit den bereits eingeführten
Lebensweltmodifikationen vertraut gemacht werden.
Seite 73
3.4.5.2
mittel
Hilfs-
Externe Hilfsmittel können, richtig eingesetzt, helfen die verlorene
Merkfähigkeit zu ersetzen. In dem populären Film „Memento“ wird versucht,
dem
Zuschauer
nahe
zu
bringen,
wie
sich
ein
Leben
ohne
Kurzzeitgedächtnis anfühlen könnte (Der Film „Memento“ von Christopher
Nolan basiert auf der Kurzgeschichte „Memento mori“ von Jonathan Nolan
aus dem Jahr 2000). Der Protagonist verlor durch eine erworbene
Hirnschädigung die Fähigkeit, den Inhalt seines Kurzzeitgedächtnisses in
das Langzeitgedächtnis zu übertragen. Um mit seiner Gedächtnisschwäche
zu leben, hat der Protagonist ein System entwickelt, um Informationen nach
Relevanz geordnet zu speichern. Die wichtigsten Informationen über seine
Person und seine Vorhaben lässt er sich, teilweise spiegelverkehrt, auf
seinen Körper tätowieren. Weniger wichtige Informationen schreibt er sich
auf Merkzettel. Namen, Einschätzungen und Anmerkungen zu Personen
oder wichtigen Gegenständen notiert er sich auf der Rückseite von
Polaroidfotos. Die Szenen des Filmes werden in retrograder Reihenfolge
gezeigt, so dass der Film an seinem Ende beginnt und der Zuschauer
genauso wenig wie der Protagonist weiß, welche Vorgeschichte eine
Szene hat. Der Zuschauer ist, wie der Protagonist, auf die vorhandenen
Notizen angewiesen, um die Situation zu deuten. Der Film zeigt, wenn
auch aus dramaturgischen Gründen überzogen, eine Person, die sich in
allen ihren Entscheidungen und Handlungen auf externe Gedächtnishilfen
stützen muss. Dabei wird auch angedeutet, dass diese externen Hilfsmittel
zwar hilfreich sind, aber auch Nachteile besitzen. Sie sind manipulierbar,
ungenau, können unrelevante oder zu viele Informationen transportieren
und helfen nicht, wenn man sie vergessen hat. Nutzer von externen
Hilfsmitteln müssen den Nutzen dieser Hilfsmittel erkennen und ihnen
Vertrauen entgegen bringen.
Tagesplan, Wochenplan und Hinweisschilder
Bereits erwähnt wurden die Tages- und Wochenpläne, die dem Leben
einen Rhythmus geben sollen. Sie sollten im Alltag offen sichtbar in der
eigenen Wohnung und in der Fördereinrichtung aushängen. Genauso
verhält es sich mit Hinweisschildern.
Merkheft
Seite 74
Menschen mit einem gesunden Gedächtnis schreiben sich häufig
Informationen auf. Papier ist ein idealer Informationsträger. Problematisch
werden Merkzettel allerdings, wenn man viele von ihnen schreibt und
verwalten muss. Dabei können Informationen untergehen. Abhilfe kann da
ein Merkheft schaffen. Der erfolgreiche Einsatz eines Merkheftes hängt von
mehreren Faktoren ab.
Die Informationen in einem Merkheft sollten sortiert werden. Rubriken in
einem Merkheft könnten sein: Tagesplan, Terminkalender, Absprachen,
Notizen und Kontakte. Merkhefte mit Kalendern können ähnlich einem
Tagebuch geführt werden, um nicht nur die zukünftigen Aktivitäten zu
planen, sondern um auch die Aktivitäten der Vergangenheit überblicken zu
können. Bei reger Nutzung des Merkheftes sollte darauf geachtet werden,
dass das Heft nicht zu viele veraltete Informationen enthält. Zu viele
Informationen verlangsamen die Suche nach relevanter Information und
verwirren den Nutzer. Abhilfe könnte ein Organizer schaffen, dem Blätter
entnommen und hinzugefügt werden können. Das würde auch das Problem
der aufwendigen Übertragung von Informationen in ein neues Heft lösen.
Merkhefte haben eine hohe Akzeptanz, weil sie leicht zu benutzen sind und
kein
technisches
Wissen
benötigen.
Außerdem
sind
Merkhefte
vertrauenswürdig, weil sie durch die eigene Handschrift eine Manipulation
sehr schwer machen. Der Nachteil von Merkheften ist, dass sie oft in der
Wohnung gelagert und nicht mitgenommen werden. Ein fester Platz an der
Kleidung des Nutzers hilft dabei, das Heft wieder zu finden. Ein weiteres
Problem ist, dass Nutzer vergessen, regelmäßig in das Merkheft
hineinzuschauen und so ihre Notizen nicht wahrnehmen. In der Praxis
wurden in diesen Fällen Armbanduhren getestet, die regelmäßig (z.B.
stündlich) zur Erinnerung einen Piepston ausgeben und so an das Merkheft
erinnern (Thöne 2002 S. 300).
Neuropager / Smartphones / SMS
Die neuere technische Entwicklung bietet unterschiedliche Möglichkeiten,
Personen mit Gedächtnisschwächen zu unterstützen. Als nützlich erweisen
sich
diese
Hilfsmittel
Gedächtnisschwächen
insbesondere
bei
ihren
dann,
wenn
Angehörigen
Personen
wohnen.
mit
Häufige
Erinnerungen und Zusammenstöße aufgrund von Erinnerungslücken
können das Miteinander nachhaltig belasten. Diese Gefahr wird von vielen
Angehörigen oft unterschätzt. In diesem Zusammenhang wurden bereits so
Seite 75
genannte „Neuropager“ entwickelt (Thöne 2002 S. 301). Angehörige
können über einen Computer Nachrichten an den Neuropager schicken,
der immer getragen werden sollte. Über einen Signalton wird der Träger
über eine neue Nachricht benachrichtigt, die dann auf einem Display
angezeigt wird.
Gedächtnisforscher setzen Hoffnung in die Entwicklung von elektronischen
Hilfsmitteln für Menschen mit Gedächtnisschwächen. Das häufigste
Problem liegt allerdings in der Akzeptanz und der Bedienung der Geräte.
Technische Hilfsmittel werden eher von jungen Menschen genutzt. Da das
Korsakowsyndrom fast ausschließlich über 50-jährige Personen betrifft, ist
die Akzeptanz zurzeit eher gering. Für viele Personen wäre die
selbständige Nutzung eines kleinen Computers oder eines Smartphones im
Alltag eine Überforderung. Dies könnte sich allerdings im nächsten
Jahrzehnt ändern, da die Verbreitung und der Umgang mit Mobiltelefonen
in der Gesellschaft stark zunimmt und bereits 86% der Haushalte in
Deutschland über ein oder mehrere Mobiltelefone verfügen (Destatis 2009).
Das SMS-Protokoll (Short Message Service) ist mit seinen 160 Zeichen ein
passendes Protokoll für kurze Erinnerungen und Benachrichtigungen, die
auch über den Computer versendet werden können. Einen Interessanten
Entwicklungsspielraum versprechen Smartphones (wie das iPhone von
Apple oder Smartphones mit dem Android Betriebssystem von Google), die
Programmierschnittstellen bieten, über die ein erweiterter Funktionsumfang
zum bestehenden Betriebssystem des Mobiltelefons hinzugefügt werden
kann. Auf diese Weise könnte der Alltagsgegenstand Mobiltelefon zu einem
Gedächtnishilfsmittel werden.
3.5 Beschäftigung/Arbeit
Neben der Angst vor einem Rückfall, ist für alkoholkranke Personen in
einer Rehabilitationsklinik die drohende Arbeitslosigkeit der größte
Angstfaktor, noch vor der Angst, einen nahen Angehörigen zu verlieren
(Tielking 1999 S.71). Für alkoholkranke Personen mit dem KorsakowSyndrom ist die Ausgangsposition in der Fördereinrichtung eine etwas
andere, da viele Korsakowkranken aufgrund ihres Alters oder ihrer
Erkrankung bereits verrentet oder frühverrentet sind. Trotzdem oder gerade
deswegen ist die Frage nach einer Beschäftigung im weiteren Leben sehr
wichtig. Die Rente kann nicht nur als Zielgerade für das berufliche Leben,
Seite 76
sondern auch als eine verordnete und allgemeine Arbeitslosigkeit mit der
Bedeutung keine Beschäftigung zu haben verstanden werden. Zwar wird
der Status „Rentner“ gesellschaftlich höher bewertet als der Status
„arbeitslos“,
dem
Bedürfnis
einer
erfüllenden
und/oder
relevanten
Beschäftigung nachzugehen, wird dieser Statuswechsel allerdings nicht
gerecht. Arbeit, Beschäftigung, Fähigkeiten und Kompetenzen bestimmen
in einem hohen Grad das Selbstwertgefühl des Menschen. Vergangene
Arbeitsverhältnisse, die eigene Berufsgruppe, Fähigkeiten und auch
Beziehungen
zu
ehemaligen
Arbeitskollegen,
die
als
besonders
kameradschaftlich empfunden wurden, sind häufige Gesprächsthemen und
zeichnen sich durch eine hohe Identifikation aus. Die Ermöglichung einer
angemessenen Beschäftigung ist auch Bestandteil der Eingliederungshilfe
nach dem §54 Abs. 1 Punkt 3 & 4 des SGB 12. Darin heißt es, dass die
Eingliederungshilfe
angemessene
eine
Hilfe
zur
Tätigkeit
oder
Hilfe
Ausbildung
in
für
eine
vergleichbaren
sonstige
sonstigen
Beschäftigungsstätten ermöglicht. Die Form und die Leistungen der
sonstigen Beschäftigungsstätten werden im §41 des SGB 9 geregelt. Dort
heißt es in Absatz 2: Die Leistungen sind gerichtet auf
1. Aufnahme, Ausübung und Sicherung einer der Eignung und Neigung
des behinderten Menschen entsprechenden Beschäftigung,
2. Teilnahme an arbeitsbegleitenden Maßnahmen zur Erhaltung und
Verbesserung der im Berufsbildungsbereich erworbenen Leistungsfähigkeit
und zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit sowie
3. Förderung des Übergangs geeigneter behinderter Menschen auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt durch geeignete Maßnahmen.
Dies
bedeutet,
dass
zur
Eingliederung
eine
Tätigkeit
in
einer
Behindertenwerkstatt, genauso wie eine Tätigkeit auf dem ersten
Arbeitsmarkt, angestrebt und aufgenommen werden kann. Sollte es
möglich sein, ist das Ziel der Übergang in den ersten Arbeitsmarkt. Für den
Übergang aus einer intensiven Betreuung, wie einer vollstationären
Einrichtung, in eine Wohnform mit geringerer Betreuung und größerer
Selbständigkeit,
ist
Beschäftigung
oder
Alkoholabhängige
die
mit
geglückte
einen
einem
Vermittlung
Arbeitsplatz
in
eine
wichtig.
Beschäftigungsverhältnis
passende
Abstinente
setzten
sich
gedanklich mehr mit ihrer Gesundheit auseinander als arbeitslose
Alkoholiker. Arbeitslose Suchtkranke setzten sich gedanklich vorrangig mit
Seite 77
ihrer Arbeitslosigkeit auseinander (Ziegler 1999 S.19). Bereits die Hoffnung
auf eine Arbeitsstelle wirkt sich bei Alkoholikern abstinenzfördernd aus.
Eine
regelmäßige
Beschäftigung
schafft,
wie
die
Tages-
und
Wochenstruktur, einen Rhythmus im Leben. Sie kann das Gefühl
vermitteln, gebraucht zu werden, etwas zu leisten und ermöglicht es, die
Freizeit als Erholung von der Arbeit wahrzunehmen und nicht nur als die
Zeit, die sinnvoll gefüllt werden muss. Arbeitslosigkeit hingegen weist nach
Ziegler eine ähnliche Dynamik auf wie Alkoholismus: „Sie bedeutet den
Verlust der Handlungskontrolle und damit auch der Selbständigkeit. Sie
führt zu sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung. Sie verfestigt negative
Gefühle wie Nutzlosigkeit, Depression, Angst und Wertlosigkeit und sie
fördert
gesundheitsriskantes
Verhalten
in
Konsum-
und
Schlafgewohnheiten“ (Ziegler 1999 S.21). Deshalb ist die Frage nach
Beschäftigung und Arbeit ein wichtiger Teil in der Förderarbeit mit
Korsakowkranken.
Ziegler rät dazu, Resignation bei arbeitslosen Alkoholabhängigen zu
überwinden, indem der Weg zu einer Beschäftigung in einfache Teilschritte
unterteilt wird, die für den Betroffenen überschaubar sind. Diese Teilschritte
sollten sich nach jedem Schritt auswerten lassen können, um den Weg zu
einer Beschäftigung zu beschreiben und positive Entwicklungen zu
erkennen. Als Vorbereitung muss ein Arbeitsverhalten aufgebaut werden,
dass dem der angestrebten Beschäftigungsstelle entspricht. Die folgenden
beiden Kapitel zeigen Möglichkeiten der Entdeckung und Wahrnehmung
einer Tätigkeit auf.
3.5.1 Ergotherapie
Ergotherapie bezeichnet Beschäftigungs- und Arbeitstherapie. Sie findet
Anwendung
in der
Behandlung
von Störungen
der Motorik, der
Sinnesorgane und der geistigen und psychischen Fähigkeiten. In der
Ergotherapie wird Arbeit selbst als ein therapeutisches Verfahren
angesehen
und
es
werden
Einzelleistungen
trainiert,
die
zur
Arbeitsfähigkeit führen können. Dabei sollen soweit wie möglich die
geistigen, psychischen und körperlichen Fähigkeiten wiederhergestellt,
erhalten oder kompensiert werden, um auf ein selbständiges Leben und
Arbeiten vorzubereiten. Dabei wird ein Schwerpunkt auf die Verbesserung
bzw. Wiedergewinnung gestörter oder verloren gegangener Fähigkeiten,
Seite 78
wie
Ausdauer,
Selbsteinschätzung,
(Pschyrembel
Konzentration,
Zeiteinteilung,
258.Auflage
Ergotherapie,
neben
S.457).
den
Kommunikation,
GrobFür
und
Kooperation,
Feinmotorik
Korsakowkranke
genannten
gelegt
bietet
Trainingsfeldern,
die
ein
Hirnleistungstraining, mit welchem die Konzentration und auch die
Gedächtnisfunktion trainiert werden können. Die Ergotherapie wird von
Ergotherapeuten angeleitet und ist als ein medizinisches Heilmittel
anerkannt. Sie kann damit von Ärzten verschrieben werden. Ergotherapie
kann beim Wiedereinstieg in ein geregeltes Arbeitsleben helfen. Sie kann
aber
auch
zur
dauerhaften
Beschäftigung
in
einem
geschützten
Arbeitsbereich (Behindertenwerkstätten) genutzt werden.
3.5.2 Vermittlung in eine Beschäftigung
Neben dem Erlangen persönlicher Fähigkeiten zur Aufnahme einer
Beschäftigung, ist die Vermittlung in eine passende Beschäftigung eine
zentrale Aufgabe durch den Betreuer. Sie fordert von den Betreuern einen
hohen Grad an Kreativität, um individuelle Lösungen mit den Betreuten zu
finden. Neben der Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt oder der
Möglichkeit einen geschützten und subventionierten Arbeitsplatz in einer
Fördereinrichtung des zweiten Arbeitsmarktes zu bekommen, können auch
ehrenamtliche Tätigkeiten oder ein intensives Hobby Möglichkeiten für eine
erfüllende Beschäftigung geben. Insbesondere für Rentner können
ehrenamtliche Tätigkeiten eine gute Alternative sein. Hilfreich für eine
passende Vermittlung kann ein aufgebautes Netzwerk sein, durch welches
die
verschiedene
Einrichtungen,
Beratungsstellen
und
Betriebe
zusammenarbeiten können. Teile eines solchen Netzwerks könnten
beispielsweise sein:
1.Arbeitsmarkt
• Arbeitsagenturen
•
2. Arbeitsmarkt
• Werkstatt
Ehrenamt/Hobby
für • Ehrenamts-
Arbeits-
behinderte Menschen
vermittlungen
(WfbM)
•
Bagis
•
ehemalige
•
vermittlungen
•
Vereine
Wiedereingliederungs- •
Kirchen
projekte
Soziale Träger
•
Arbeitgeber
•
Berufsberatung
Seite 79
Durch eine schrittweise und andauernde Förderung über einen längeren
Zeitraum haben manche Betroffenen die Möglichkeit, einen Wiedereinstieg
in den ersten Arbeitsmarkt zu finden (siehe Fallbeispiel Deutschle 1998
S.99).
Der
Übergang
Beschäftigungsverhältnissen
aus
im
den
zweiten
subventionierten
Arbeitsmarkt
in
den
subventionsfreien ersten Arbeitsmarkt ist allerdings nicht immer möglich.
3.6 Mobilität
Die Mobilität von Korsakowkranken wird durch zwei Beeinträchtigungen
beeinflusst.
Die
verminderte
Gedächtnisleistung
und
die
daraus
resultierenden Orientierungsschwierigkeiten wurden bereits besprochen.
Erwähnt wurde ebenfalls die Beeinträchtigung durch Polyneuropathien.
3.6.1 Mobilität und Gedächtnis
Die Beeinträchtigung im expliziten Gedächtnis schränkt die Mobilität
dadurch ein, dass Betroffene Orientierungsschwierigkeiten bekommen
können. Aber auch in diesem Bereich kann zwischen impliziten und
expliziten
Gedächtnis
Orientierungshilfen,
unterschieden
wie
werden.
Wegbeschreibungen
Sprachlich
oder
codierte
Angaben
zur
Standortbestimmung, können vergessen werden. Dies kann besonders
dann zu Schwierigkeiten führen, wenn eine betroffene Person die
Orientierung verloren hat und nicht anhand der Erinnerung den Rückweg
rekonstruieren kann. Ebenso ist es den Betroffenen häufig nicht möglich,
einen bereits gegangenen Weg zu beschreiben. Trotzdem können im
impliziten Gedächtnis Wege abgespeichert und auch abgerufen werden,
wenn diese bereits begangen wurden. Diese Wege können aber nicht
sprachlich ausgedrückt werden und die Erinnerung an den Weg kommt
während des Gehens. Für Betreuer kann der Umstand, dass Wege und
Orte nicht sprachlich wiedergegeben werden können, zu der Annahme
führen, dass der Betreute sich Wege nicht merken kann und unorientiert ist.
Dies ist aufgrund der Speicherung im impliziten Gedächtnis nicht zwingend
der Fall. Es bietet sich an, wichtige Wege mehrmals mit dem Betreuten
gemeinsam
zu
gehen
und
dabei
ähnlich
wie
bei
der
Gedächtnisstrategiemethode „Vanishing cues“, immer weniger Vorgaben
zum Weg zu geben, bis der Betreute den Weg eigenständig gehen kann.
Seite 80
Möglich ist auch, erfahrener Korsakowkranke mit Wegkenntnis als Anleiter
für unerfahrene Korsakowkranke solange mitgehen zu lassen, bis sich der
Weg
eingeprägt
hat.
Die
im
impiziten
Gedächtnis
gespeicherten
Informationen sind unfexibel und können nicht oder nur schwer abstrahiert
werden. Für Verwirrung kann eine Umleitung aufgrund einer Baustelle, der
fehlende Orientierungspunkt durch den Abriss eines Hauses oder die
Veränderung der Umgebung durch den Jahreszeitenwechsel sorgen.
3.6.2 Mobilität und Polyneuropathien
Grund
für
Polyneuropathien
sind
abgestorbene
oder
beschädigte
Nervenenden. In Bezug zur Mobilitätseinschränkung sind dies die
Nervenenden in Füßen und Beinen. Daraus resultieren häufig ein
verändertes Gangbild und die Schwierigkeit, das Gleichgewicht zu halten.
Polyneuropathien können sich allerdings auch durch Muskelschwäche in
den Beinen äußern. Besonders häufig treten diese Muskelschwächen in
den Waden auf. Dies hat die verminderte Dauer- und Gesamtbelastbarkeit
der
Beine
zur
Folge.
Das
veränderte
Gangbild,
wie
auch
die
Muskelschwäche, führen zu einer Einschränkung in der Mobilität. Ein hoher
Schweregrad der Schädigung macht die Fortbewegung grundsätzlich nur
mit Hilfsmitteln möglich. Für manche Betroffene ist die Bewegung im
Freien, ohne die ständige Möglichkeit sich an etwas festzuhalten, nicht
ohne Hilfsmittel zu bewältigen. Wieder andere benötigen nur auf längeren
Strecken Hilfsmittel oder längere Pausen. Jede Einschränkung der Mobilität
stellt auch eine Einschränkung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit
dar. Diese Einschränkung lässt sich durch Training und Hilfsmittel
kompensieren oder vermindern.
3.6.2.1
tätstraining
Im
Training
für
mehr
Mobilität
wird
Mobiliinsbesondere
an
Gangbild,
Muskelaufbau und Gleichgewicht gearbeitet. Das Gangbild wird mit
bewusstem Gehen verbessert. Dabei achtet der Betreute genau auf seinen
Gang und kann diesen selber beurteilen und Feedback vom Betreuer
bekommen. Bei Gleichgewichtsschwierigkeiten sollte diese Übung an
Handläufen durchgeführt werden. Zum Muskelaufbau bietet sich, neben
dem normalen Laufen und Gymnastik, auch ein Fahrradtrainer an. Ein
Seite 81
Fahrradtrainer kann intensives Training der unteren Muskulatur bei
schwereren Gleichgewichtsproblemen ermöglichen.
Experimentell wurden auch Gehtrainings auf einem AirTram durchgeführt.
Ein AirTram ist ein großes Luftkissen, ähnlich einer Hüpfburg, auf welchem
Gehübungen gemacht werden können. Das AirTram hat insbesondere den
Effekt, dass durch das Luftkissen die Angst vor einem Sturz stark
gemindert wird. Dadurch werden die Betreuten mutiger, auch ohne
Hilfsmittel Gehversuche zu unternehmen. Diese Form des Gehtrainings
bietet sich als spielerischer Einstieg insbesondere bei ängstlicheren
Personen an (Reymann 2000).
Weitere experimentelle Erfahrungen wurden mit der Spielekonsole WiiNintendo gemacht. Als Eingabegerät dient ein Controller, (Joystick) der
über Bewegungssensoren die Bewegung der Hand bzw. des Armes
wahrnimmt und in ein Spiel integriert. Zusätzlich kann an die Spielekonsole
ein Trittbrett angeschlossen werden, welches einem Skateboard ähnelt und
die Bewegungen der Füße bzw. der Beine an die Spielekonsole weitergibt.
Diese Art der Steuerung von Spielen fordert in besonderer Weise die
Koordination zwischen Körper und der Wahrnehmung durch die Augen
heraus. In den Vereinigten Staaten wird diese Form des Bewegungs- und
Koordinationstrainings
teilweise
in
Rehabilitationseinrichtungen
für
Personen mit erworbenen Hirnschädigungen eingesetzt (Deutsch 2008). In
Deutschland wurde der Einsatz dieser Technik im Rahmen einer größeren
Projektarbeit in Senioreneinrichtungen getestet (www.wii-senioren.de) und
für die Rehabilitation in einem häuslichen Umfeld erforscht (John 2009).
3.6.2.2
tätshilfsmittel
Mobili-
Hilfsmittel dienen zur Kompensation der Mobilitätseinschränkung durch
Polyneuropathien.
Einschränkungen
Sie
können
unabhängig
helfen
und
trotz
der
selbständig
zu
erworbenen
leben.
Das
Kompensationsmittel im häuslichen Bereich sind barrierefreie Wohnräume.
Ausgestattet werden sollten Wohnräume oder Fördereinrichtungen, je nach
individueller
Beeinträchtigung,
mit
Haltepunkten
im
Badezimmer,
Handläufen in Flurbereichen und an anderen kritischen Stellen. Im Innenund
Außenbereich
sind
die
geläufigsten
Hilfsmittel
Gehilfen,
Unterarmstützen, Rollatoren und Rollstühle. Bei der Wahl eines Hilfsmittels
ist nach Möglichkeit die Festlegung auf eine bestimmte Form zu vermeiden.
Seite 82
Hilfsmittel, die die Unabhängigkeit in der Mobilität erweitern sollen, können
bei Polyneuropathien häufig nach Situation und Bedürfnis ausgewählt
werden.
Für
längere
Wege
und
Ausflüge
oder
bei
schwierigen
Wettergegebenheiten können Rollstühle und Rollatoren nützlich sein. Bei
guten Wetterbedingungen oder Aktivitäten im Haus kann eventuell auf
Hilfsmittel verzichtet werden oder Unterarmstützen sind ausreichend.
Insbesondere mit Blick auf eine mögliche Entwicklung sollte die zu frühe
Festlegung auf ein Hilfsmittel vermieden werden. Gerade zu Beginn sind
Betroffene häufig auf Hilfsmittel angewiesen, können aber bei einer
günstigen Entwicklung später auf das Hilfsmittel verzichten. Eine zu starke
Festlegung auf ein Hilfsmittel könnte der Entwicklung im Wege stehen.
3.7 Tests
Zur Evaluation von Fortschritten, in der Zeit der Förderung im Bereich der
Gedächtnisleistung, lassen sich neben der persönlichen Beobachtung auch
empirisch auswertbare Test durchführen. Diese Tests können Betreuern zu
Beginn einer Förderung Aufschluss darüber geben wie schwer die
Schädigung des Gedächtnisses ist und auf welchem Intelligenzniveau
Fortschritte erreicht werden können. Außerdem können standardisierte
Tests
Leistungsveränderungen
bei
Gedächtnisleistungen
aufzeigen.
Allerdings machen diese Tests keine Aussage darüber wie gut sich eine
betroffene Person in ihrem Alltag eingerichtet hat und wie weit sie in den
Bestrebungen nach Selbständigkeit fortgeschritten ist.
3.7.1 Intelligenztests
Intelligenztests versuchen das Intelligenzniveau von Menschen zu messen
und empirisch verwertbare Aussagen darüber zu machen. Es gibt sie in
verschiedenen Ausführungen, die sich in der Definition von Intelligenz und
auch in ihrer Form voneinander unterscheiden. Zu den Bekanntesten
gehören die Gruppe der Wechsler-Intelligenztests, die Gruppe der
Mehrfach-Wortschatz-Tests (MWT) und der Zahlenverbindungstest (ZVT).
Bei der Auswahl eines Intelligenztests ist zu beachten, dass die Ergebnisse
nicht oder nur unerheblich durch die Erkrankungen der Testperson
beeinflusst werden. Bei Korsakowkranken betrifft dies insbesondere die
Beeinflussung
durch
psychische
Erkrankungen
und
die
Gedächtnisschwäche. Praktisch bedeutet dies, die gestellten Aufgaben
dürfen nicht zu lang und die Fragen nicht ineinander verschachtelt sein. Die
Seite 83
drei hier vorgestellten Intelligenztests haben jeweils bestimmte Merkmale,
die sie für unterschiedliche Personengruppen geeignet machen.
3.7.1.1
Wechs
ler-Intelligenztests (Beispiel Hamburger-Wechsler Intelligenztest für
Erwachsene / HAWIE-R)
Die Wechsler-Intelligenztests sind sehr weit verbreitete und traditionsreiche
Formen der Intelligenztests in Deutschland. Die Wechsler-Intelligenztests
gehen von der Definition aus: „Intelligenz ist die allgemeine Fähigkeit des
Individuums, die Welt, in der es lebt, zu verstehen und sich in ihr
zurechtzufinden“. In der Gruppe der Wechsler-Intelligenztests befinden sich
unterschiedliche
Testformen
für
unterschiedliche
Personengruppen.
Beispielhaft ist der für Korsakowkranke in Frage kommende HamburgerWechsler-Intelligenztest für Erwachsene (HAWIE-R). Alle Wechsler-Tests
bestehen aus Untertests in den Kategorien Handlungs- und Verbalteil. Der
HAWIE-R besteht aus insgesamt 11 Untertests.
Verbalteil
Allgemeines Wissen
Handlungsteil
Wortschatztest
Bilderergänzung
Zahlennachsprechen
Bilderordnen
Allgemeines Verständnis
Mosaik-Test
Rechnerisches Denken
Figurenlegen
Gemeinsamkeiten finden
Zahlen-Symbol-Test
Aufgrund der vielen unterschiedlichen Untertests deckt der HAWIE-R ein
breites Spektrum an Wissensgebieten ab. Die Durchführung ist aufgrund
des Umfangs und des Verbalteils aufwendig. Der Test beansprucht
zwischen 60 bis 90 Minuten. Es sind nur Einzeltests möglich. Es existiert
allerdings auch eine Kurzform des Wechsler-Tests, der ReduzierteWechsler-Intelligenztest (WIP). Dieser WIP verzichtet auf einen Großteil
der Untertests und ist in einer kürzeren Zeitspanne durchzuführen.
Aufgrund
von
Copyright-Streitigkeiten
mit
dem
amerikanischen
Rechteinhaber kann der WIP allerdings nicht weiter vertrieben werden. Der
HAWIE-R hat eine sehr eingegrenzte Zielgruppe und kommt nur für
Seite 84
Menschen
aus
dem
deutschen
Kulturkreis
und
für
deutsche
Muttersprachler in Frage. An Korsakowkranke könnte der Verbalteil unter
Umständen zu hohe Gedächtnisanforderungen stellen (Steingass 2004).
3.7.1.2
Mehrfach-Wortschatz-Test (MWT)
Der Mehrfach-Wortschatz-Test ist ein sehr kurzer Test, der in Einzel- und in
Gruppentests durchgeführt werden kann. Er dauert ca. 5 Minuten und misst
insbesondere die kristallisierte Intelligenz einer Person. Die kristallisierte
Intelligenz ist die Intelligenz, die explizit wie auch implizit im Laufe des
Lebens erlernt wird. Sie steht damit im Gegensatz zur so genannten fluiden
Intelligenz, die als angeborene Intelligenz angesehen wird. Der MWT ist in
unterschiedlichen Versionen entwickelt worden. Die Formen MWT-A und
MWT-B werden beide in der Auswertungsnorm IQ (Intelligenz-Quotient)
ausgewertet. Der Test für das prämorbide Leistungsniveau (TPL) ist ein
Test, der das geistige Leistungsniveau vor Eintritt der Krankheit
rekonstruiert, er gibt die Kapazität des Arbeitsspeichers in der Maßeinheit
Bit wieder.
Der Aufbau der verschiedenen Unterformen des MW-Tests ist ähnlich.
Nach dem Mehrfachwahlsystem stehen pro Zeile fünf verschiedene Wörter
zur Auswahl, von denen ein Wort real existent ist. Die anderen vier Wörter
sind fiktiv und können dem realen Wort ähneln. Der Proband muss nun in
jeder Zeile das reale Wort erkennen und einkreisen. Der MWT hat eine
geringe Anforderung an die Merkfähigkeit des Probenden und kann sich
deswegen für den Einsatz mit Korsakowkranken besser eignen als der
HAWIE-R (Steingass 2004).
Beispiele:
Oher – Ohr – Ehr – Ereh - Hor
Sukiff - Fasek – Siuke - Fiskus - Fuske
Nadir – Ridan – Nailer – Radin – Nidar
3.7.1.3
lenverbindungstest (ZVT)
Zah-
Ein weiterer Intelligenztest ist der Zahlenverbindungstest (ZVT). Im Gegensatz zu den MVT und WIP Intelligenztests ist der ZVT ein vollständig auf
Seite 85
Zahlen basierender Intelligenztest. Der Vorteil eines zahlenbasierten Tests
ist eine stärkere Kulturunabhängigkeit und kann bei milieubedingten
sprachlichen Minderleistungen ein differenzierteres Ergebnis liefern, als auf
Sprache basierende Tests. Für Korsakowkranke kann der ZVT deshalb
vorteilhafter sein, weil weniger Sprache erinnert werden muss. Außerdem
wäre eine milieubedingte sprachliche Minderleistung unter Alkoholikern
nicht ungewöhnlich. Der ZVT besteht aus einem Testbogen als Übungsmatrix und vier Testmatrizen. Die vier Zahlen-Matrizen beinhalten je 90 unterschiedlich angeordnete Ziffern, die durch Striche der Reihenfolge nach zu
verbinden sind. Die Zahlen sind immer benachbart, aber in unterschiedlichen Richtungen angeordnet. Die benötigte Zeit für die vier Testmatritzen
wird gemessen und fließt mit in die Auswertung ein. Gemessen wird vor allem die Verarbeitungsgeschwindigkeit. Über Normtabellen können die gewonnenen Werte mit IQ-Werten anderer Tests verglichen werden. Die
Testdurchführung beansprucht zwischen 5 und 10 Minuten. Der Test ist als
Einzel- oder Gruppentest durchführbar. In Gruppentests werden die Resultate anschließend miteinander verglichen und bewertet. Für Einzeltests
existieren Normtabellen, mit denen die ermittelten Werte dann wie in Gruppentests verglichen werden können.
Abbildung 7: Verkürztes Beispiel eines Zahlenverbindungstests
3.7.2 Demenz & Amnesietests
Demenz- und Amnesietests werden eingesetzt, um hirnorganischen Abbau,
Demenz und amnesische Syndrome festzustellen und den Verlauf
entsprechender Erkrankungen zu dokumentieren. Für die Arbeit mit
Korsakowkranken können sie den Betreuern empirische Informationen über
Seite 86
die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses und der kognitiven Funktionen
liefern und dabei helfen, Fortschritte, Rückschritte oder Stagnation bei
Gedächtnistrainings festzustellen.
3.7.2.1
drom-Kurztest (SKT)
Syn-
Der Syndrom-Kurztest (SKT) ist ein Test zum Demenz-Screening, der auch
für die Arbeit mit Korsakowkranken genutzt werden kann. Der SKT arbeitet
mit Spielsteinen und bunten Bildern und wird wegen der spielerischen Art
gut angenommen. Für den Test werden ca. 15 Minuten benötigt, in denen
die Probanden einzeln betreut werden müssen. Die einzelnen Bereiche, in
die der SKT unterteilt ist, haben jeweils eine Zeitbegrenzung. In diesen
Bereichen müssen unter anderem Gegenstände benannt und wieder
erkannt
oder
Zahlen
gelesen
und
sortiert
werden.
Um
bei
Verlaufskontrollen Lerneffekte auszuschließen, gibt es den SKT in neun
verschiedenen Parallelformen. Bei der Auswertung werden Alter und
Intelligenzniveau (vorheriger Intelligenztest notwendig) berücksichtigt.
Seite 87
Die Ergebniskategorien sind:
•
Keine kognitive Störung
•
Leichte kognitive Störung
•
Leichtes dementielles Syndrom
•
Mittleres dementielles Syndrom
•
Schweres dementielles Syndrom
•
Sehr schweres dementielles Syndrom
3.7.2.2
ner Amnesietest (BAT)
Berli-
Der Berliner Amnesietest (BAT) dient der Erfassung von anterograder
Amnesie. Er ist ein Leistungstest zur quantitativen Erfassung von leichten
bis schweren amnesischen Defiziten. Der Test besteht aus acht Untertests,
welche verbale und figural-räumliche Gedächtnisstörungen erfassen
können. Eine Kurzform des BAT ermöglicht, ein amnesisches Syndrom
festzustellen. Mit dem gesamten BAT können auch die amnesischen
Syndrome, wie auch das WKS, unterschieden und in ihrer Schwere erfasst
werden. Ein besonderer Vorteil des BAT ist die Verfügbarkeit in Türkisch,
Polnisch und Russisch.
3.7.2.3
menz-Test (DT)
De-
Der Demenztest (DT) ist ein Demenzscreening, bestehend aus 5
Untertests. Zu diesen Untertests gehören der Mini-Mental-Status-Test, der
Gedächtnistest mit freiem Abruf und Wieder erkennen, der Test zur
flüssigen
verbalen
Wiedergabe,
der
Apraxietest
und
Fragen
zur
Orientierung. Der DT macht es möglich, das Korsakowsyndrom von
anderen Demenzerkrankungen zu differenzieren. Außerdem eignet sich der
DT
als
Verlaufskontrolle
bei
dem
Verdacht,
dass
neben
dem
Korsakowsyndrom eine weitere dementielle Erkrankung eingesetzt hat.
3.7.3 Weitere Tests
Neben den Intelligenz- und den Amnesietests können zur weiteren
Informationsgewinnung auch Persönlichkeitstests durchgeführt werden.
Beispielhaft können hier genannt werden:
Beurteilungsbogen für geriatrische Patienten (BGP)
Seite 88
Der BGP ist ein Test zur Beurteilung von psychoorganischen Syndromen,
körperbezogener Pflegebedürftigkeit, Mangel an sozialer Kompetenz,
Aggressivität und Depressivität.
Seite 89
Mini-Mental-Status-Test (MMSE, auch Folstein-Test genannt)
Der
MMSE
ist
ein
eigenständiger
Test
zur
Erstbeurteilung
von
Demenzerkrankungen. Er wird auch als Teil des DT eingesetzt.
Clinical Assessment Geriatric Scale (SCAG)
Die
SCAG
ist
ein
Test
Rückbildungssymptomen
bei
zur
Beurteilung
älteren
von
Menschen.
Er
psychischen
untersucht
Verhaltensaspekte, wie beispielsweise Verwirrtheit, Orientierungsstörungen
und Gleichgültigkeit.
Neuropsychological Assessment Battery (NAB)
Die NAB ist eine Sammlung von Tests für neuropsychologische
Funktionen, um kognitive Funktionen bei Personen mit Schädigungen im
zentralen Nervensystem zu testen.
3.7.4 Fazit zu den Tests
Tests zum Einschätzen des Intelligenzniveaus, zur Stärke und Art von
Gedächtnisdefiziten können nützliche Informationen zur Beurteilung eines
Betreuten bieten und bei der Planung von pädagogischen Maßnahmen
helfen. Als Verlaufskontrolle bieten sie die Möglichkeit, empirisch
„objektive“ Daten zu den subjektiven Beobachtungen der Betreuer
hinzuzufügen. Durch bekannte Normwerte lassen sich Gedächtnisdefizite
besser mit nicht beeinträchtigten Gedächtnisleistungen vergleichen. Dies
kann besonders dann ein Vorteil sein, wenn durch selektive Wahrnehmung
der Betreuer die Gedächtnisdefizite stärker wahrgenommen werden und
eine unrealistisch hohe Norm als Grundlage der Bewertung herangezogen
wird. Deutschle gibt als Erfahrungswerte aus ihrer Tätigkeit den WIP, den
SKT, den ZVT, den BAT und Persönlichkeitstests als nützlich an
(Deutschle 1998 S.96). Testresultate sollten aber nicht als Diagnose oder
eine Art Festlegung verstanden werden, sondern nur als zusätzliche
Information und als weitere Betrachtungsweise. Tests sind nützlich für
einen weiteren und objektiv vergleichbaren Blickwinkel, in Hinblick auf die
Krankheit und die Rehabilitationsentwicklung. Sie dürfen aber nicht als
einzige Bewertung von Fähigkeiten und Fortschritten gesehen werden.
Insbesondere über die Fähigkeiten, die im alltäglichen Leben gebraucht
werden, können diese Tests geringe Aussagen machen.
Seite 90
4 Prävention
Die Diagnose WKS ist für alle betroffenen Personen, wie auch deren
Angehörige
und
Bekannte,
eine
schwere
Belastung.
Präventionsmaßnahmen könnten die Schwere einer Erkrankung mildern
oder auch gänzlich verhindern. Neben dem persönlichen Aspekt sind, wie
bei allen Krankheiten, auch die volkswirtschaftlichen Bedeutungen zu
beachten. Der Tagessatz für eine vollstationäre Unterbringung wird
beispielsweise in Bremen mit ca. 95 Euro vergütet (Stand 2010). Eine
Unterbringung pro Jahr kostet also ca. 34 675 Euro, zuzüglich weiterer
Kosten wie Taschengeld und Urlaubsfahrten. Zusätzlich werden die
meisten
Personen
mit
einem
Korsakowsyndrom
für
den
ersten
Arbeitsmarkt als erwerbsunfähig eingestuft. Die persönlichen und die
volkswirtschaftlichen Aspekte machen deutlich, dass eine grundsätzliche
Präventionsarbeit zum Thema Sucht und Alkoholismus, ebenso wie eine
spezielle Prävention zum WKS und ähnlichen Folgeerkrankungen,
notwendig ist. Primäre Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung von
Suchtkrankheit, insbesondere Prävention von Alkoholabhängigkeit, sind
natürlich
immer
auch
Präventionsmaßnahmen
für
das
WKS.
Präventionsmaßnahmen, die speziell für das Korsakowsyndrom angesetzt
werden, können deshalb bei den Personen ansetzen, die bereits eine
Alkoholabhängigkeit entwickelt haben. Prävention kann deshalb im Bezug
auf
das
Korsakowsyndrom
als
Risikominderung
bei
bereits
alkoholabhängigen Personen angesehen werden. Risikominderung bei
Alkoholabhängigkeit
wird
notwendig,
wenn
Personen
trotz
ihrer
Alkoholabhängigkeit nicht auf den Genuss oder die Rauschwirkung von
Alkohol in ihrem Leben verzichten möchten oder können.
4.1 Risikominderung
4.1.1 Alkoholpolitische Maßnahmen zur
Risikominderung
Neben individuellen gibt es auch alkoholpolitische Maßnahmen zur
Förderung eines risikoarmen Alkoholkonsums. Die folgenden Maßnahmen
gelten als nachweislich wirksam, um negative Auswirkungen des
Alkoholkonsums vom Einzelnen, als auch von der Gesellschaft gering zu
halten (Bühringer 1996, Edwards 1997, Körkel 2005).
Seite 91
•
Höhere Besteuerung auf alkoholische Getränke, zusätzliche Besteuerung auf besonders gefährdenden Getränken (Beispiel: Alkopops)
•
Zugangsbeschränkung zu Alkohol durch das Jugendschutzgesetz
und dessen strikte Einhaltung, sowie das Anbringen von Warnhinweise an Getränken und Verkaufsstellen.
•
Senkung der Promillegrenze im Straßenverkehr und deren Überwachung durch Verkehrskontrollen.
•
Ausbau der Primärprävention in Bildungseinrichtungen, in Freizeitbereichen, in Familien und am Arbeitsplatz.
•
Etablierung der Punktnüchternheit: Orte und Zeiten schaffen, an denen gesellschaftlich anerkannt kein Alkohol konsumiert wird. Beispiel: Straßenverkehr, Arbeitsplatz, Schule, Schwangerschaft und
Leistungssport.
4.1.2 Essensausgaben
Zur
Versorgung
von
sozial
schlecht
gestellten
und
insbesondere
obdachlosen Menschen, die nur schwer die Möglichkeit haben, sich warme
Mahlzeiten zuzubereiten, gibt es in den meisten Städten in Deutschland
Essensausgaben, die kostenloses oder kostengünstiges Essen anbieten.
Diese
Angebote
bieten
vielen
Alkoholikern
die
Möglichkeit,
fertig
zubereitetes Essen zu bekommen, bei dem in den meisten Fällen auch
darauf geachtet wird, dass es gesundes und ausgeglichenes Essen ist.
Kostenloses und gesundes Essen ist eine wichtige Präventionsmaßnahme
gegen Mangelernährung und damit auch gegen das WKS. Wichtig ist in
diesem Zusammenhang nicht nur, dass Menschen, die sich keine
Mahlzeiten leisten können, Essen bekommen können, sondern auch, dass
für Personen die Schwierigkeiten damit haben sich selber Essen
zuzubereiten oder über wenig Wissen in Bezug auf gesunde Ernährung
verfügen, Möglichkeiten bestehen solches zu bekommen.
4.1.3 Nachgehende Sozialarbeit
Nach Wienberg (Wienberg 2001) werden in Deutschland nur 5% aller
Alkoholabhängigen durch die gegenwärtige Suchthilfe erreicht. Viele
beratende soziale Einrichtungen arbeiten nur mit Menschen, die selber die
Einrichtung aufsuchen oder auf anderem Wege nach Hilfe verlangen.
Häufig steht hinter dieser Annahme, dass ein Betroffener selber den
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Entschluss fassen muss, sich helfen zu lassen, bevor Hilfe effektiv
eingesetzt werden kann. Der Leidensdruck muss in diesen Fällen so hoch
sein, damit sie Hilfe suchen oder überhaupt annehmen. Allerdings
verhalten sich Menschen unter steigendem Leidensdruck nicht gleich und
nicht jeder Mensch empfindet den Leidensdruck auch gleichzeitig als
Aufforderung, sich Hilfe zu suchen. Für viele Menschen, insbesondere aus
Kulturen, in denen Scharm und Schuld anders verstanden wird als in den
westlichen
Kulturen,
Alkoholabhängigkeit,
die
bewirken
in
großen
wachsende
Teilen
der
Probleme
wie
Gesellschaft
als
selbstverschuldet empfunden werden, eher einen Rückzug aus dem
öffentlichen Leben als ein Zuwenden zu Hilfseinrichtungen. Erschwerend
kommt für manche Personen mit Migrationshintergrund ein großes
Misstrauen
gegenüber
öffentlichen
Einrichtungen
hinzu,
da
ihre
Erfahrungen mit öffentlichen Einrichtungen im Herkunftsland von Kontrolle
und Restriktion geprägt sein können oder sie nicht zwischen helfenden
Einrichtungen und als strafend empfundenen Einrichtungen, wie den
Gerichten, der Polizei, den Ausländerbehörden oder der Arbeitsagentur,
differenzieren
können.
Offensichtlich
hat
der
Leidensdruck
bei
Korsakowkranken nicht rechtzeitig dazu geführt, sich effektiv helfen zu
lassen, bevor die irreversiblen Schädigungen aufgetreten sind. Eine
Antwort auf diese Rückzugstendenzen kann die aufsuchende Sozialarbeit
sein, die ohne Anfrage Hilfe und Beratung im Lebensumfeld von
abhängigen Menschen anbietet. Häufig praktiziert wird diese aufsuchende
Sozialarbeit durch Hilfsangebote für die offene Alkoholikerszene an
bekannten Treffpunkten. Schwieriger und auch seltener ist die Arbeit mit
Einzelpersonen oder kleinen Gruppen von Alkoholikern, die in den eigenen
Haushalten konsumieren.
4.1.4 Thiaminzugabe zu Nahrungsmitteln
In Australien tritt aus bisher ungeklärten Gründen eine hohe Anzahl von
WKS-Fällen auf. Unter diesen Fällen sind häufiger stark ausgeprägte
Korsakowfälle zu verzeichnen. Als Reaktion auf diese hohen Fallzahlen
wurde das Problem des WKS seit den 70er Jahren in den australischen
Gesundheitsbehörden diskutiert. Daraus resultierte 1987 die Empfehlung
des National Health and Medical Research Council (NHMRC) Bier und
Wein zusätzlich Thiamin zuzusetzen. Dieser Vorstoß stieß seitens der
Seite 93
Alkoholindustrie und der Antialkoholgruppen auf Widerstand. Nach weiterer
Diskussion wurde die Empfehlung des NHMRC in die Empfehlung
umgewandelt, Brot mit Thiamin anzureichern. Am 1.Januar 1991 trat dann
ein Gesetz in Kraft, welches die Anreicherung von Thiamin in Brot auf 6.4
mg pro kg festlegte, die allerdings nicht überwacht wird (Drew 1998). In den
beiden folgenden Jahren 1992 und 1993 wurde von Truswel (Truswel
1998) ein Rückgang der WKS-Fälle festgestellt. Ab 1994 wurde kein
weiterer fortschreitender Rückgang festgestellt. Die Sterblichkeit aufgrund
einer akuten Wernicke-Enzephalopathie oder aufgrund von Thiaminmangel
ging in den Vergleichszeiträumen von 1984-1989 und 1993-1996 von 329
auf 255 zurück. Gleichzeitig stieg die Todesrate aufgrund von anderen
alkoholischen
Demenzen,
Alkoholabhängigkeitssyndromen
und
Alkoholgebrauch ohne Abhängigkeit von 452 auf 493 (Drew 1998). Der
Vergleich zeigt, dass, obwohl es einen Anstieg der alkoholbedingten
Todesfälle gab, die Sterblichkeit aufgrund vom WKS deutlich sank. Harper,
Truswel und Drew kommen in ihren Einschätzungen überein, dass eine
höhere Effektivität der Thiaminzugabe möglich ist, wenn sie anstelle von
Brot in Bier gegeben wird (Truswel 1998, Harper 1998, Drew 1998). Man
vermutet auch Kostenersparnisse, da Thiamin in Brot durch die Hitze des
Backens teilweise zerstört wird und deshalb größere Mengen zugesetzt
werden müssen (Maleki 1966). Die Zugabe von Thiamin wird aufgrund von
Geschmacksveränderungen
des
Bieres
bei
hohen
Thiaminzugaben
kontrovers diskutiert, obwohl dies nur für sehr empfindsame Biertrinker
wahrnehmbar ist (Drew 1998). Insgesamt wird aber davon ausgegangen,
dass
Thiamin
und
zusammenpassen.
Bier,
im
Gegensatz
zu Wein,
Da das zugeführte Thiamin
geschmacklich
nach der
Gärung
dazugegeben wird, würde es das eigentliche, natürlich vorhandene Thiamin
der Bierhefe ersetzen, welches durch den Gärungsprozess zerstört wurde.
Ironischerweise ist Bierhefe eines der Nahrungsmittel mit dem höchsten
Vitamin-B1 Gehalt. Da die Thiaminzerstörung durch die Gärung nicht so
bekannt ist, wird Bier manchmal fälschlicherweise als Vitamin-B1 Lieferant
empfohlen.
Da die Anreicherung von Thiamin in Lebensmitteln in Australien
nachweislich Erfolge erzielt hat und die Ausweitung auf Bier nach der
einheitlichen Meinung der untersuchenden australischen Wissenschaftler
wünschenswert wäre, könnte auch in Deutschland über eine Anreicherung
Seite 94
von Thiamin in Lebensmitteln nachgedacht werden. Dabei sollten nicht nur
die Möglichkeiten von landesweiten Verordnungen und Gesetzen für Bier,
Brot oder andere Lebensmittel berücksichtigt werden, sondern auch die
Zugabe von Thiamin bei öffentlichen Essensausgaben, in der Verpflegung
von Krankenhäusern oder anderen Einrichtungen, die häufig Kontakt mit
Risikopersonen haben.
4.2 Individuelle Maßnahmen zur
Risikominderung
4.2.1 Aufklärung von Alkoholikern und Ärzten
Die Verhinderung eines WKS trotz starker Alkoholabhängigkeit ist
theoretisch sehr einfach und kostengünstig. Entsprechend gefährdete
Personen müssten lediglich dafür Sorge tragen, ihre Thiaminaufnahme
nicht zu vernachlässigen. Thiamin ist in Tabletten mit dem Vitamin BKomplex oder in Multivitamin-Brausetabletten enthalten. MultivitaminBrausetabletten, die pro Tablette 1-2mg Vitamin B1 enthalten, sind in den
meisten Supermärkten kostengünstig (<1EUR) erhältlich. Sie decken
zwischen 70% und 140% des empfohlenen Tagesbedarfs ab. Selbst wenn
feste Nahrung vom Körper nicht mehr aufgenommen oder bei sich behalten
werden kann, sind in Wasser gelöste Brausetabletten eine Möglichkeit, den
Vitaminmangel etwas einzuschränken.
Das Wissen um diese Präventionsform ist nicht weit verbreitet und auch die
Umsetzung ist für starke Alkoholiker aufgrund ihrer Lebensführung
schwierig. Trotzdem versetzt das Wissen um diese Form der Prävention
Menschen in die Lage, selber etwas zur Vermeidung des WKS zu tun.
Ärzte, die starke Alkoholiker betreuen, können Thiaminpräparate als
Prävention
empfehlen,
wenn
sie
Mangelernährung
versuchen,
den
Betroffenen
die
Gefahr
von
feststellen
und
Vitaminmangel
und
Fehlernährung nahe zu bringen (Kopelmann 2009). Die Einnahme von
Vitaminpräparaten darf allerdings nicht als Lösung oder Ersatz für
ausgewogene Mahlzeiten dargestellt werden. Dies würde eventuell zu der
Überzeugung führen, dass eine ausgeglichene Ernährung, durch künstliche
Produkte
zu
ersetzen
wäre,
was
natürlich
nicht
der
Fall
ist.
Vitaminpräparate sind also nur eine Maßnahme zur Risikominderung und
schließen keine Erkrankung aus. Kontrovers wird auch noch immer die
Aufnahmefähigkeit von oral eingenommenen Thiamin bei Alkoholikern
Seite 95
diskutiert. McIntosh empfiehlt als sicherere Alternative die intravenöse
Verabreichung (McIntosh 2004).
4.2.2 Kontrolliertes Trinken
Bei bereits eingetretenen Alkoholproblemen und dem Ausschluss einer
abstinenten Lebensführung kann das Risiko von Folgeerkrankungen und
Schädigungen durch kontrolliertes Trinken reduziert werden. Kontrolliertes
Trinken
bedeutet
eine
überwachte
Konsumbegrenzung
für
den
Konsumenten. Die Überwachung der konsumierten Alkoholmengen kann
selbständig oder durch eine äußere Kontrollinstanz durchgeführt werden.
Sollte ein selbstkontrolliertes Trinken nicht mehr möglich sein, empfiehlt
sich eine äußere Kontrollinstanz, die die festgelegte Alkoholmenge ausgibt.
Erfahrungen mit dem fremdkontrollierten Trinken wurden besonders in
Altenheimen und Hospizen gesammelt (Krökel 2005 S.167).
Von selbstkontrolliertem Trinken spricht man, wenn eine Person ihren
Alkoholkonsum an einem Trinkplan oder an Trinkregeln ausrichtet. Dabei
sollen neben der Kontrolle auch die eigenen Konsummuster entdeckt
werden, d.h. wo, mit wem, wie viel und zu welcher Tageszeit wird
getrunken. Ein Trinkplan kann eine tägliche Menge Alkohol festlegen, die
nicht überschritten werden sollte. Er kann eine Uhrzeit festlegen, ab der
getrunken werden darf oder Orte an denen das Trinken erlaubt ist oder
vermieden werden sollte. Empfehlenswert ist hierbei das Führen eines
Trinktagebuches, in dem die einzelnen Getränke und Situationen des
Trinkens vermerkt werden. Dieses Trinktagebuch hilft dabei, getroffene
Zielfestlegungen zu überprüfen und Erfolge oder Misserfolge festzustellen.
Erfolge sollten durch Selbstbelohnung honoriert werden. Misserfolge sollten
analysiert und akzeptiert werden. Erkenntnisse bieten die Möglichkeit,
Probleme und Risiken zu erkennen und zu definieren. Als Reaktion auf
gemachte Ergebnisse können Zielfestlegungen Woche für Woche neu
gefasst und so Fortschritte erzielt werden. Wenn möglich, kann zu Beginn
der Selbstkontrolle eine Abstinenzphase von mehreren Tagen oder
Wochen eingelegt werden, um die Toleranz gegenüber Alkohol abzubauen
und das Verlangen nach Alkohol intensiv zu empfinden und Trinkmuster
erkennen zu können. Für viele Alkoholiker sind solche Abstinenzphasen
allerdings schwierig und könnten die Absicht, kontrolliert zu trinken,
blockieren. Eine Abstinenzphase ist deshalb keine zu erzwingende
Seite 96
Vorleistung,
um
das
kontrollierte
Trinken
zu
beginnen.
Weitere
Vorraussetzungen für das kontrollierte Trinken ist, die Kenntnis über
Alkoholmengen in Getränken und deren Bedeutung für den eigenen
Körper. Informationen und Anleitung zum kontrollierten Trinken sind, über
Informationsbroschüren und -bücher (Körkel 2005) oder auch in einzelnen
therapeutischen Beratungen oder Gruppenprogrammen zu erhalten. Diese
sind teilweise von Betriebskrankenkassen als Präventionsmaßnahmen
anerkannt und werden bezuschusst. Die Ergebnisse des kontrollierten
Trinkens sind vergleichbar mit denen der Abstinenzprogramme. Ca. 65%
der Teilnehmer kontrollieren ihren Konsum nach einem Jahr noch immer.
50% haben ihren Konsum weiter reduziert oder sind abstinent geworden.
Allerdings
sinkt
die
Erfolgsquote
in
schweren
Fällen
von
Alkoholabhängigkeit. Zur Vermeidung vom WKS ist das selbstkontrollierte
Trinken in einem frühen Stadium der Alkoholabhängigkeit sinnvoll. Das
fremdkontrollierte Trinken in Pflegeeinrichtungen kann als Risikominderung
in Fällen mit bereits aufgetretenem WKS angesehen werden, welche eine
Alkoholabstinenz dauerhaft ablehnen.
Seite 97
5 Fazit
Ziel der pädagogischen Arbeit mit Personen, die am WKS erkrankt sind, ist
ein selbstbestimmtes Leben mit größtmöglicher Unabhängigkeit und
Selbständigkeit. Der Weg zu diesem Ziel ist individuell, da auch die
Personen Individuen sind und die Schädigungen durch das WKS sich von
Person zu Person unterscheiden. Die praktische Erfahrung zeigt, dass die
verlorene Merkfähigkeit und die dadurch entstandene Unsicherheit im
Alltag durch wiederkehrende und alltagspraktische Abläufe teilweise
kompensiert werden kann. In dieser Routine ist das Leben wieder besser
und mit weniger Hilfe möglich. Obwohl ein routiniertes Leben mit
wiederkehrendem Alltag langweilig und eintönig erscheinen kann, bietet es
den Betroffenen die Sicherheit und die Rückgewinnung der Kontrolle und
damit
auch
der
Selbstbestimmung
und
Selbstachtung.
Bei
der
Konzentration auf den Alltag und dem Training wiederkehrender Aufgaben,
kann den pädagogischen Betreuern allerdings der Blick für die individuellen
Maßnahmen verloren gehen. Außerdem sollte nicht aus den Augen
verloren werden, dass die Form des impliziten Lernens nur eine Umgehung
der geschädigten Funktionen ist. Explizites Lernen sollte trotz der geringen
zu erwartenden Erfolge trainiert werden. Das Training des expliziten
Lernens ist Ressourcenerhalt und Erweiterung der eigentlichen Fähigkeiten
und damit wertvoller für den betroffenen Menschen, da es übertragbar und
damit mehrfach verwendbar ist. Implizites Wissen kann durch seine sehr
spezielle Form nur als Ersatz für nicht erlernbare explizite Fähigkeiten
gesehen
werden.
In
diesem
Zusammenhang
sind
insbesondere
Gedächtnistrainings zu sehen. Betreuer müssen immer zwischen den
Möglichkeiten abwägen, durch Strukturierung und Kompensation, das
Leben
zu
erleichtern
oder
durch
Förderung,
Umstellung
und
Herausforderungen, Fähigkeiten zu entwickeln oder zu reaktivieren. Für
beide Formen des Lernens gibt es eine Vielzahl von Methoden, die je nach
Person mehr oder weniger hilfreich sein können. Überwiegend sind es
Methoden, die für andere Krankheitsbilder entwickelt wurden, aber bei dem
WKS genauso oder abgewandelt verwendet werden können. Insbesondere
das Realitätsorientierungstraining (ROT) kann hier als eine Sammlung von
Methoden genannt werden, die sich besonders für die Arbeit mit WKSErkrankten eignen können. Für einen erfolgreichen Übergang von einer
Seite 98
intensiven Betreuung in eine selbständigere Form des Lebens, sind die
Fähigkeit den Alltag bewältigen zu können und eine angemessene
Beschäftigung von großer Bedeutung. Aber auch die Möglichkeit sich frei
bewegen zu können und Zugang zum öffentlichen Leben zu haben ist eine
wichtige Grundlage für eine gelungene Bewältigung der Krankheitsfolgen.
Zur Prävention des WKS sind verschiedene risikomindernde Maßnahmen
bekannt. Hierzu zählen unter anderem alkoholpolitische Maßnahmen und
die nachgehende Sozialarbeit. In einigen Ländern wird bereits die
Thiaminzugabe zu Nahrungsmitteln angewendet. Der umsetzbarste und
realistischste Ansatz ist aber, Ärzte und Alkoholiker auf die Gefahren des
WKS hinzuweisen und Vorbeugemöglichkeiten, wie die rechtzeitige Gabe
von Thiamin, aufzuzeigen.
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>>> Über den Autor
Cornelius Bortmann studierte
Pädagogik an der Carl von Ossietzky
Universität in Oldenburg und arbeitet
seit 2007 in einer vollstationären
Einrichtung für chronische Alkoholiker
mit hirnorganischem Abbau. In diesem
Zusammenhang stehen auch seine
Schwerpunktthemen Sucht,
Neuropädagogik & Sonderpädagogik.
Daneben beschäftigt er sich mit den
Möglichkeit von Elearning, Blended
Learning und dem Internet als
Lernmedium in der
Erwachsenenbildung.
>>> Unterstützung
Dieses Ebook und die
Veröffentlichungsplattform
www.korsakow-syndrom.de wurden mit
freundliche Unterstützung des Kaleo
Instituts erstellt.
www.kaleo-institut.de
>>> Copyright
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Unported Lizenz.
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