22.06.09 ScholzReiner Foerderschulen am Ende

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22.06.09 ScholzReiner Foerderschulen am Ende
NDR Info / Das Forum / 22.06.2009
Sonderschulen vor dem Ende ?
UN-Konvention verlangt Bildungsgerechtigkeit
Ein Forum von Reiner Scholz
O-Ton 1: Evers-Meyer
„Der Artikel 24 der UN-Konvention befasst sich mit der Schulbildung. Und
wenn ich das mal sehr flapsig sage, dann steht in dem Artikel 24 nichts
andres, wenn sie das mal genau lesen, was da gefordert wird, dass unser
deutsches Schulsystem diskriminierend ist.“
Karin Evers-Meyer ist die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Ihre Auftritte
– und das waren viele in den zurückliegenden Monaten – sind Kampfansagen. Im
Gepäck hat die ostfriesische SPD-Politikerin die neue UN-Konvention über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen:
O-Ton 2: Evers-Meyer:
„Wir in Deutschland integrieren nur 16, vielleicht 16 Prozent aller behinderten
Kinder. In vergleichbaren Ländern, in allen Ländern, sind das mindestens 60
bis 80 Prozent, in der Regel 80 Prozent und das ist eine so beschämende
Zahl für ein so reiches und zivilisiertes Land wie wir es sind, dass jedem klar
ist, dass wir da Veränderungsbedarf haben.“
Es geht um die Sonderschulen. Sie werden in Deutschland von 430.000 Schüler
besucht. Das sind etwa 4,5 Prozent der Schülerschaft. Für nahezu jede Behinderung
existiert eine eigene Schulform. Da gibt es, um nur einige zu nennen, die Schulen für
Geistig- und Körperbehinderte, für Blinde und für Sehbehinderte, für Schwerhörige
und Gehörlose, für Verhaltensauffällige – vor allem aber für „Lernbehinderte“. Die
Hälfte aller Sonderschüler – etwa 200.000 - gelten als „lernbehindert“. Dass diese
Gruppe in Deutschland besonders groß ist, ist für Kritiker nicht der einzige, wohl aber
der ausdrucksstärkste Beleg dafür, dass das deutsche Bildungssystem höchst
selektiv ist.
Schulen für Lernbehinderte heißen, zumindest in Norddeutschland: „Förderschulen“.
Im Nordwesten Hamburgs liegt beispielsweise die Förderschule Böttcherkamp. Sie
umfasst die Klassen 1 bis 9 mit 170 Schülern:
O-Ton 3: Lehrerin Böhm
„Wir sind eine Montessori-Klasse. Hier arbeitet jedes Kind an ganz unterschiedlichen
Materialien. Also, Adriana arbeitet mit der plus 20 Aufgabenkartei, schreibt die
Aufgaben ab ins Heft, Angelina macht eine Vorübung zum Schreiben lernen, das
lockert das Handgelenk...
Die Lehrerin hat die Arbeitsaufträge an die Tafel geschrieben. Der Unterricht ist
individualisiert, Marita Böhm und ihre Kollegin wissen, welche speziellen Hilfen jedes
Kind braucht. Im Klassenraum malen, zeichnen, schreiben oder reden gerade acht
Jungen und Mädchen, Förderkinder, die an diese Schule überwiesen wurden,
nachdem sie woanders gescheitert sind:
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O-Ton 4: Schülerin
„Da war ich bei der ersten Klasse. Ich wollte nicht Hausaufgaben machen und
weil ich immer nicht so Gutes gemacht hab’. Aber ich will bei die andere
wieder.“
Die Schülerschaft von Förderschulen ist schnell beschrieben. Der durchschnittliche
deutsche Förderschüler hat ausländische Wurzeln, ist männlich, kommt aus einem
armen Elternhaus, in dem es keine Bücher gibt, dafür überforderte Eltern, soziale
Verwahrlosung, Geschwister in ähnlicher Lebenslage, nicht selten Gewalt. An der
Förderschule Böttcherkamp sind 75 Prozent Migrantenkinder. Heidi Bistritzky, seit
gut zwei Jahren Schulleiterin, kennt deren Probleme gut:
O-Ton 5: Schulleiterin Bistritzky
„Ich glaube, dass viele dieser Familien mit anderen Dingen beschäftigt sind,
als sich um die Bildung ihrer Kinder zu kümmern. Viele sind geflüchtet, haben
richtig traumatisierte Erfahrungen gemacht, in vielen Familien gibt es Gewalt,
Gewaltbereitschaft und Gewalterfahrung, Hunger, Leben auf engstem Raum,
kaum Deutschkenntnisse und das führt einfach dazu, dass sie letzten Endes
zu uns kommen.“
Die äußeren Bedingungen der Schule am Böttcherkamp sind gut. Das Schulklima
wirkt angenehm, die Gebäude sind umgeben von grünen Wiesen, die Klassen sind
freundlich eingerichtet, die Schülerzahl klein. Besonders stolz sind die Lehrer auf ihre
Neunte, die Kompassklasse, in der die Schüler mit diversen Praktika intensiv auf die
betriebliche Welt vorbereitet werden. Ein Schüler:
O-Ton 6: Schüler
„Ich habe schon ein Praktikum als Kfz-Mechaniker absolviert, das hat mir nicht
so gut gefallen. Das habe ich dann auch abgebrochen. Dann hatte ich noch
ein zweites, das hab ich dann auch abgebrochen als Bäcker. Und dann war
ich in Bayern, da hab ich mein drittes absolviert, das hat mir sehr gut gefallen
und jetzt mache ich gerade mein Viertes und das gefällt mir auch sehr gut.“
Die Lehrer in dieser Kompassklasse sind engagiert und geduldig. Immer wieder
sprechen sie ihren Schülern Mut zu – und sich selbst auch. Denn nur etwa zehn
Prozent der Schüler erreichen den Hauptschulabschluss, noch weniger ergattern
eine Lehrstelle. Förderschule – das sei eben doch ein Makel, sagt ein Schülerin:
O-Ton 7: Schülerin
„Die Lehrer sagen, das ist für uns was ganz Gutes. Aber ich mit meinem
Förderschulabschluss: das einzige, was man kriegen kann ist meiner Meinung
nach: Putzfrau und mehr nicht.“
Zu denen, die es schaffen könnten, zählt Jan. Der Neuntklässler hat schon eine
Lehrstelle sicher. Andere in seiner Klasse, die eigentlich 15 Schüler stark ist, hätten
sich aber schon abgeschrieben:
O-Ton 8 Schüler Jan
“In der Klasse sieht es aus, dass wir nicht so viele sind. Immer die Hälfte. Weil
die anderen krank sind oder fehlen oder schwänzen.”
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Die Lehrer versuchen täglich aufs Neue, das Selbstbewusstsein der Schüler zu
stärken. Doch immer dann, wenn sie das Schulgebäude verlassen, wird
Jugendlichen wie Orhan und Valentina das Förderschul-Dilemma wieder bewusst:
O-Ton 10: Schüler Orhan:
„Wenn du dich mit einem Mädchen treffen willst und sie fragt, auf welche
Schule gehst du, dann sagst du: Auf ne Hauptschule – obwohl das nicht so ist.
Weil Förderschule kommt nicht so gut an. Das ist nicht normal, die Leute
machen sich lustig darüber – und die denken, dass es eine Behindertenschule
oder so ist. Wenn die sagen „Förderschule“ – lernt doch nichts und so.“
Bevor ein Kind auf eine Förderschule überwiesen wird, hat es viele Niederlagen
einstecken müssen: Ständig schlechte Zensuren, Hänseleien, Kritik der Lehrer,
Sitzenbleiben und dergleichen mehr. Oft machen die Eltern zusätzlichen Druck. Maja
– auch dieser Name ist geändert – erzählt, wie sie regelmäßig für schlechte Noten
zuhause drangsaliert wird:
O-Ton 11: Schülerin
„Zuhause stresst bei mir mein Vater rum. Er sagt, ich soll üben. Er gibt mir
immer so schwere Aufgaben auf, die ich auch meistens gar nicht kann. Ich
komm damit nicht klar. Und meist weine ich zuhause, weil ich damit nicht klar
komme. Und dann meckert er mich immer noch an. Oh, ich wein auch gleich,
eh,. Ich kann nicht weiter reden, das ist schwer.“
Es sind nur noch wenige Tage, dann ist für Maja die Schule zu Ende. Sie wird, dass
weiß sie schon jetzt, sehr traurig sein. Ihre Klassengemeinschaft hat ihr gefallen. Sie
verlässt die Schule, obwohl sie immer noch nicht richtig rechnen kann. Liegt es an
ihr? Oder am Schulsystem:
O-Ton 12: Schülerin
„Ich mag die Schule. Ich finde die besser als meine anderen Schulen, wo ich
früher war. In der Grundschule wollten die mir Mathe beibringen und so. Und
das haben die nicht geschafft. Und dann haben sie mich immer spielen
geschickt. Und seitdem kann ich immer noch kein Mathe. Und ich bin auch
noch immer unsicher dabei.“
Auf die Förderschüler warten nach dem Schulabschluss die nächsten Sondereinrichtungen, im Normalfall Berufsvorbereitungsklassen, in denen sie wieder mit
denen zusammen sind, die ebenfalls überwiegend aus einem bildungsfernen
Armutsmilieu kommen.
Deutschland war „immer besser im Aussortieren als im Einsortieren“, sagt die
Behindertenbeauftragte Karin Evers-Meyer dazu. Einst führend auf dem Gebiet der
Heilpädagogik – bereits 1778 entstand in Leipzig erstmals eine Gehörlosenschule habe es sein Sonderschulwesen zu einer fragwürdigen Perfektion getrieben. Die
Sonderschulpädagogik hat sich zu einer mächtigen Profession entwickelt, mit vielen
Schulen inklusive gut dotierter Leitungsstellen und teilweise – je nach Behinderung –
teuerster Ausstattung. Sonderschullehrer sind gut ausgebildet und werden gut
bezahlt, vielleicht, so argwöhnen Kritiker, auch als Dank dafür, dass sie dem
allgemeinen Schulwesen die schwierigen Schüler abnehmen. Wie aber steht es mit
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der Effizienz? Zu den wenigen, die sich überhaupt mit dem Thema beschäftigt
haben, gehört der mittlerweile emeritierte Hamburger Erziehungswissenschaftler
Hans Wocken. Er hat Schülerleistungen an den Förderschulen in Hamburg,
Niedersachsen und Brandenburg mit denen in Hauptschulen verglichen:
O-Ton 13: Prof. Wocken
„Bislang gibt es wenige Untersuchungen zur Effizienz der Förderschule, aber
der internationale Forschungsstand wie auch meine eigenen Untersuchungen
bezeugen, dass die Förderschule den Leistungsrückstand zu den
nichtbehinderten Kindern nicht aufholen. Aus dem zweijährigen Rückstand
wird im Laufe der Jahre ein dreijähriger Rückstand und das kann kein Beleg
sein für optimale Förderung.“
Wocken hat auch die Förderschulen untereinander verglichen, Brandenburg etwa,
wo die Schüler im Durchschnitt länger an einer Förderschule verweilen, mit Hamburg
und seinen kürzeren Förderschulzeiten. Sein Fazit lautet: Je länger ein Kind eine
Förderschule besucht, desto mehr bleibt es in seinen Leistungen zurück. Wocken,
um griffige Formel selten verlegen, spricht von den Förderschülern als „dem
Kaffeesatz des Bildungssystems“:
O-Ton 14: Prof. Wocken
„Die Ursache ist relativ einfach deutlich zu machen. Ich bringe es mal auf die
Kurzformel: Das Milieu erzieht. Dass Kinder durch das Milieu des
Elternhauses erzogen werden ist jedermann geläufig. Die sozial
Benachteiligten Kinder bekommen weniger Anregungen, die Kinder von
Studienräten bekommen viele Anregungen. Die Schule ist aber auch ein
Milieu. Und in der Förderschule sind Kinder beieinander, die sich alle auf
einem niedrigen Leistungsniveau befinden und wo der eine Schüler von dem
anderen Schüler wenig lernen kann. Wir nennen das in der wissenschaftlichen
Fachsprache „Reduktive Didaktik“. Es ist alles ein bisschen nach unten
gezogen und in diesem niveaureduzierten, homogenen Anregungsmilieu
können die Schüler nicht weiterkommen.“
Dabei geht - von außen betrachtet - alles streng wissenschaftlich zu. Als
lerngehindert gilt, wer ein schwerwiegendes Schulleistungsversagen aufweist,
zumeist gepaart mit einer Beeinträchtigung der Intelligenz. Dem einzelnen
schwachen Schüler wird nach einem Test nicht nur „Förderbedarf“ attestiert, für ihn
wird sogar ein Förderplan ausgearbeitet. Allerdings sind genaue Abgrenzungen,
etwa zu Sprach- Verhaltens- oder Geistigbehinderten nur schwer zu ziehen. Oft
liegen mehrfache Behinderungen vor, manchmal aber auch nur schwere
psychosoziale Vernachlässigungen. Irmgard Schnell, Sonderschulpädagogin und
Professorin an der Universität Frankfurt bezweifelt, dass man mit den gängigen Tests
überhaupt herausfinden kann, welcher der beste Förder-Ort für den Schüler ist:
O-Ton 15: Prof. Schnell
„Ich war jetzt in einer Schule, da ist ein Kind mit Down-Syndrom, von dem der
Arzt gesagt hat, auf keinen Fall die allgemeine Schule, muss in die Schule für
Geistigbehinderte, der kann nicht kommunizieren. Und nach ‚nem Dreivierteljahr Schule hat der natürlich kommuniziert, war mittenmang im
Geschehen, fing schon an, mit Buchstaben zu arbeiten. Die Prognose war
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völlig falsch. Allein in meinem Berufsleben habe ich genügend Fehlprognosen
erlebt, so dass man das nicht von vornherein sagen kann.“
Auch Befürworter von Sonderschulen räumen ein, dass sich in der Tat die Schüler
nicht gegenseitig stützten. Aber: Sonderschulen seien immerhin ein wichtiger
Schonraum. Auch dieses Argument lässt die Erziehungswissenschaftlerin Schnell
nur mit Einschränkung gelten. Auch an Sonderschulen gebe es
Selektionsinstrumente:
O-Ton 16: Prof. Schnell
„Also es ist nicht so, dass in der Schule für Lernbehinderte ein Kind denken
kann, da wird es mir jetzt gut gehen, da werde ich in meiner Individualität
geachtet, mit meinen Möglichkeiten zu lernen respektiert. Die kriegen genauso
schlechte Zensuren, müssen die Klasse wiederholen, ich halte das für absurd.
/ Und die Schule für Lernbehinderte ist die vorletzte Stufe, auch von der
Schule für Lernbehinderte kann man abgeschult werden in die
Geistigbehindertenschule.“
Erst kürzlich wiederholte Vernor Munoz, Kommissar der UNMenschenrechtskommission, seine schon vor zwei Jahren vorgebrachte Kritik am
deutschen Schulwesen. Es sei hochselektiv, defizitär und mit dem „Menschenrecht
auf Bildung“ nicht vereinbar. Doch verteidigen die meisten deutschen Bundesländer
ihre starken Sonderschulen – bis heute. Am Erfolg könne es kaum liegen, resümiert
Irmtraud Schnell. Der liege nämlich nicht vor. Offenbar gehe es bei der deutschen
Sonderschule, vor allem auch bei den Förderschülern um etwas ganz anderes – das
Aussondern vermeintlich lästiger Schüler:
O-Ton 17: Prof. Schnell
„Im Grunde hat sie die Rolle immer noch, die bis Anfang der neunziger Jahre
in den Schulgesetzen stand, nämlich die allgemeine Schule zu entlasten von
schwierigen Schülern. Das ist angesichts unsrer Geschichte ja schon etwas
fatal. In den 60iger Jahren sagte Bach, das war ein GeistigbehindertenPädagoge in Mainz, je mehr Sonderschulen, desto mehr Gymnasiasten.“
Vor etwa 15 Jahren wurden Eltern in Deutschland aktiv. Sie wehrten sich gegen die
selbstverständliche Aussonderung behinderter Kinder auf spezielle Sonderschulen
egal welcher Art. Es war eine Bewegung überwiegend von deutschen Mittelschichteltern zugunsten ihrer hör- oder seh-, geistig- oder körperbehinderten Kinder. Fast
alle Bundesländer führten damals – mehr oder weniger engagiert – einzelne
integrative Klassen ein. Dort werden behinderte und nichtbehinderte Kinder
gemeinsam beschult, wobei in vielen Unterrichtsstunden zwei Lehrkräfte zur
Verfügung stehen. Diese Klassen erfreuen sich bis heute einer großen Beliebtheit,
auch bei bildungsbewussten Eltern nicht-behinderter Kinder, sagt Camilla
Dawletschin-Linder, die Bundesvorsitzende des Eltern-Vereins „Gemeinsam Lebengemeinsam lernen“:
O-Ton 18: Dawletschin-Linder
„Neulich sagte eine Mutter eines hochbegabten Kindes in einer Veranstaltung,
mein Kind ist in einer Integrationsklasse am besten aufgehoben, da wird
individueller Unterricht gemacht, da wird es am besten gefördert. Ich finde,
dass ist die Art des Unterrichts, die für alle Kinder die besten Chancen bietet,
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das zu lernen, was sie lernen können - nicht nur im sozialen Bereich sondern
auch im kognitiven Bereich.“
Sie selbst hat zwei Söhne, einer davon mit einer geistigen Behinderung. Natürlich
wisse man als Mutter, dass dieses Kind, wenn es mit anderen Kindern zusammen
kommt, auch gehänselt und gemobbt werden könnte. Genauso gut könnte sich aber
jemand finden, der für den behinderten Mitschüler auch Verantwortung übernimmt.
Und überdies gebe es ohnehin keine Alternative:
O-Ton 19: Dawletschin-Linder
„In der Sonderschulen, das wird ja oft gesagt, da haben sie es leichter, da ist
nicht laut und wollen sie ihrem Kind wirklich antun, dass es auf dem Schulhof
auch mal ne Keilerei miterleben muss und so. Ich denke, dass Leben ist
anders. Also wenn ich einem kleinen Kind, dass nicht behindert ist, immer
verwehre, dass es hinfällt, dann wird es nie laufen lernen. Und so ist es mit
unseren behinderten Kinder auch. Wenn wir es immer fernhalten vom wahren
Leben, dann wird es sein ganzes Leben lang in Sondereinrichtungen leben
müssen und vielleicht auch ein unglücklicher Mensch werden, ich weiß es
nicht.“
Kein verantwortlicher deutscher Bildungspolitiker spricht sich öffentlich gegen
Integration aus. Doch was heißt das, wenn man weiß, dass in Deutschland 85
Prozent aller Kinder mit Förderbedarf auf besondere Schule ausgesondert werden.
Die Zahl der Überweisungen insbesondere von lernbehinderten Schülern hat in den
letzten Jahren sogar noch zugenommen. Die Gründe liegen auf der Hand. Nach dem
PISA-Schock erhöhte sich in den Regelschulen der Leistungsdruck durch zentrale
Prüfungen. Zudem wird die Quote von Schulabbrechern immer mehr zu einem
Negativ-Kriterium bei der Schulbeurteilung. Häufig erwarten aufstiegsorientierte
Eltern, dass Störenfriede aus den Regelklassen entfernt werden. Da kann es aus
Sicht der Regelschulen von Vorteil sein, sich rechtzeitig der schwierigen Schüler zu
entledigen, für deren Betreuung ohnehin keine zusätzlichen Ressourcen vorhanden
sind.
1997 urteilte das Bundesverfassungsgericht allerdings, behinderten Kindern müsse
der Besuch einer Regelklasse ermöglicht werden. Das gilt allerdings nur – so lautet
der entscheidende Nachsatz - wenn dem Schulträger damit keine unzumutbaren
Zusatzkosten erwachsen. Und so begründen Kultusministerien ihre Ablehnung
integrativer Beschulung in aller Regel mit den Kosten. Obwohl Bildungsforscher wie
der Berliner Ulf Preuß-Lausitz nicht müde werde, vorzurechnen, dass beispielsweise
in dünnbesiedelten Landstrichen allein die Fahrtkosten für einzelne Sonderschüler
immens sind - Geld, das übrigens in der Regel nicht aus dem Topf der Kultussondern aus dem der Sozialminister stammt.
Mit der neuen UN-Konvention im Rücken schöpfen die Gegner der Aussonderung
wieder neue Hoffnung. Würde sie umgesetzt, hätte das weitreichende Folgen, ist sich
Karin Evers-Meyer, die Behindertenbeauftragte des Bundesregierung, sicher:
O-Ton 20: Evers-Meyer
„Das Fachwort heißt „Inklusion“ und ich fordere ein inklusives Schulsystem für
alle Kinder, weil ich wirklich der festen Auffassung bin, dass ein inklusives
Schulsystem nicht nur für behinderte Kinder das beste Schulsystem ist,
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sondern auch für Nichtbehinderte Kinder. Ich spreche ja in der Regel nur für
behinderte Kinder, aber auch unsere Kinder, die etwas lernschwächer sind,
die hätten auch eine individuelle Förderung nötig und auch unsere
hochbegabten Kinder. Also auf inklusiven Schulen ist für alle Kinder die beste
Beschulung möglich.“
Um die genaue Bedeutung der UN-Konvention kam es in Deutschland zu einer
interessanten Kontroverse. Im englischen Originaltext ist von „inclusion“ also
„Inklusion“, einem gängigen Begriff aus dem Angelsächsischen, die Rede. Die
deutsche Übersetzung spricht aber von „Integration“. Die unterschiedlichen Begriffe
bezeichnen unterschiedliche Sachverhalte. Man kann nur jemanden integrieren, der
bereits außerhalb steht. Inklusion heißt aber, dass von vornherein niemand
ausgeschlossen wird, ist also die weitergehende Formulierung. Mit dem Begriff „Inklusion“, da ist Karin Evers-Meyer sicher, hätte die UN-Konvention den Bundestag
nicht passiert. Dem weniger deutlichen „Integration“ aber konnten alle zustimmen,
obwohl, so Karin-Evers-Meyer, die englische Fassung und damit der Begriff
„Inklusion“ gilt. Was aber die Inklusion anbetrifft, ist Deutschland gewissermaßen ein
Entwicklungsland – wenn auch in Abstufungen:
O-Ton 21: Evers-Meyer
„In der Diskussion habe ich erlebt, dass einige Länder wie Schleswig-Holstein,
die integrieren mittlerweile 45 Prozent aller behinderten Kinder und sagen
ganz selbstbewusst, bis 2018 schaffen wir auch die 80 Prozent. Das ist
Wahnsinn. Niedersachsen ist absolutes Schlusslicht mit vier Prozent,
Nordrhein-Westfalen auch.“
Niedersachsen hält den Negativrekord. Gut 95 Prozent, also fast alle, Schüler mit
Förderbedarf werden dort an eine besondere Schule überwiesen. Corinna Fischer,
stellvertretende Pressesprecherin von Kultusministerin Heister-Neumann, möchte
das so nicht stehen lassen:
O-Ton 22: Pressesprecherin Fischer
„Der Eindruck ist so nicht richtig. Das liegt daran, dass wir in Niedersachsen
versuchen, von Anfang an möglichst viele Kinder, teilweise auch schon vor der
Einschulung so weit zu fördern, dass sie gar nicht erst mit sonderpädagogischem Förderbedarf diagnostiziert werden. Das heißt, wir haben in
der Tat eine sehr niedrige Quote an Kindern, die einen sonderpädagogischen
Förderbedarf haben. Diese Quote liegt nur bei 4,5 Prozent. Das ist der
zweitniedrigste Wert im Bundesvergleich, das liegt daran, dass wir versuchen,
möglichst die Kinder wohnortnah mit einer sonderpädagogischen
Grundversorgung zu versorgen und diese Kinder gar nicht erst einen
sonderpädagogischen Förderbedarf bekommen zu lassen.“
Doch fördert Niedersachsen wirklich besser? Rheinland-Pfalz hat im Verhältnis sogar
weniger Sonderschüler, Hessen, Bayern und Schleswig-Holstein nur unwesentlich
mehr. Es bleibt dabei: ein Bundesland, dass von seinen 40.000 als förderbedürftig
eingestuften Schülern 38.000 in Sondereinrichtungen aussondert, kann sich das
Etikett hoher Integration nicht anhängen. Die niedersächsische Elterninitiative führt
seit langem Klage darüber, dass es häufig nicht gelingt, behinderte Kinder in Integrationsklassen unterzubringen. In anderen Regionen das gleiche Bild: Die meisten
Bundesländer sind gerade noch bereit, Förderkinder in Grundschulen zu akzeptieren.
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Spätestens ab Klasse fünf aber ist Schluss. Die Schulgesetze sind zumeist so
formuliert, dass ein behindertes Kind eine Regelklasse nur dann besuchen darf,
wenn es genau so gut ist wie die anderen auch. Mit dieser Zielvorgabe sind die
meisten Behinderten allerdings von vornherein ausgeschlossen.
Einen anderen Weg geht Schleswig-Holstein. Die Helene-Dieckmann-Schule in KielAltenholz ist eine Förderschule ganz ohne Schüler. Ihre Sonderpädagogen arbeiten
fest an den allgemeinen Schulen der Umgebung. Für Wolfgang Lerch, im sechsten
Jahr Schulleiter, war es immer wichtig, pragmatisch auszuloten, was geht und was
nicht:
O-Ton 23: Schulleiter Lerch
„Nach unserer Erfahrung haben sich alle Schüler in den integrativen
Situationen deutlich besser entwickelt als in getrennten Systemen. Wenn es
im Einzelfall Probleme gibt - im Bereich der sozialen Integration - ist das eine
Aufgabe der beteiligten Lehrkräfte und Schulen daran zu arbeiten. Ein
schönes Beispiel für mich war in diesem Zusammenhang der Besuch in einer
unserer Partnerschulen, dort hatte die Klasse als gemeinsames Plakat für die
Klassentür ein großes Blatt gestaltet mit ganz viel Händeabdrücken und
darüber stand, es ist normal, verschieden zu sein.“
Dabei wird nicht verschwiegen, dass die Schüler unterschiedliche Leistungen
bringen. Allerdings – und das ist entscheidend - ist eine Benotung nicht zwingend
vorgesehen. Kein Kind werde durch die inflationäre Verteilung von Fünfen und
Sechsen beschämt, betont Martina Frey, die stellvertretende Schulleiterin:
O-Ton 24: Lehrerin Frey
„Förderschüler werden ja verbal beurteilt, solange sie diesen
Förderschulstatus haben. Und wir haben ja jetzt die Form an der
Regionalschule beispielsweise, dass wir gemischte Zeugnisse formulieren
dürfen. Also, wenn es eine Hauptschulzensur ist, dann bekommen die Schüler
die auch. Wenn es ne 5 oder 6 ist, dann wird dann verbal beurteilt, das ist
natürlich pädagogisch sehr motivierender, wertvoller.“
In einem Holzpavillon nahe der Altenholzer Hauptschule, einem früheren Jugendzentrum, bereiten sich Haupt- und Sonderschüler gemeinsam auf die
Abschlussprüfung vor.
O-Ton 25: Schülerin
„Ich war ja früher Förderschülerin. Jetzt bin ich Hauptschülerin. Ich hatte keine
Unterstützung, hatte nur Fünfen im Zeugnis und seit ich hier bin, bin ich
besser geworden, seit der achten und neunten. Realschule und danach
vielleicht Abitur, aber erst mal Realschule.“
Die Schüler sitzen an Vierertischen. In Ordnern finden sie die Aufgaben, die sie
bewältigen müssen. Der Lehrer assistiert, doch im Mittelpunkt steht die
Arbeitsanforderung. Wobei man sich selbstverständlich gegenseitig hilft:
O-Ton 26: Schülerin
“Man kann auch von den anderen was lernen. / Wenn sie etwas besser weiß
und ich eben halt nicht, dann frag ich sie , dann weiß ich das halt, dass hilft
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mir sehr, wenn sie hier sitzt. / Wie helfen uns gegenseitig./ Und manchmal
versteht man auch was besser, wenn man sich das gegenseitig erklärt, als
wenn die Lehrer das erklären. Manchmal erklären die Lehrer das kompliziert
und dann fragt man den Nachbarn und dann versteht man das wieder besser.“
Natürlich ist dieses eine besondere Klasse. Aber warum eigentlich? Hier spürt der
Außenstehende, wie die Schule der Zukunft aussehen muss, und zwar für alle
Schüler. Nicht mehr Abgrenzung lautet das Stichwort sondern Zusammenarbeit. Das
gilt auch für die Sonderschulpädagogin und ihre Hauptschulkollegin, die sich als
gleichberechtigt verstehen:
O-Ton 28: Hauptschullehrerin
„Ich denke, wir ergänzen uns ganz gut. Natürlich steht für mich als
Hauptschullehrerin etwas mehr das Leistungsdenken im Vordergrund und für
meine Kollegin das Fördern der Schüler, auch sehr schwacher Schüler. Aber
inzwischen, glaube ich, haben wir beide uns aneinander ausgerichtet und
achten beide sowohl auf die soziale und individuelle Förderung wie auch auf
die Hebung des Wissensstandes der Schüler.“
Noch sind Modelle wie das in Kiel-Altenholz Ausnahmen. Doch dabei wird es nicht
bleiben, ist sich Elternvertreterin Camilla Dawletschin-Linder sicher:
O-Ton 29: Dawletschin-Linder
„Es wird ne Klagewelle geben. Wir werden mal sehen. Es hat ja das letzte
Bundesverfassungsgerichtsurteil vor etwa 13 Jahren gegeben. Es ist damals
negativ ausgegangen. Ich glaube, die Argumente, die damals noch
ausschlaggebend waren, der finanzielle Vorbehalt, die kann man heute nicht
mehr anführen. Das wird interessant zu sehen, wie sich die Gerichte jetzt auf
den Weg machen.
Die Kultusministerkonferenz hat eine Arbeitsgruppe zum Thema „Sonderschulen“
eingerichtet. Die Federführung hat Niedersachsen übernommen. Denkbar ist, dass
die Kultusminister künftig großzügiger auf Klagen von Eltern reagiert. Das würde
aber bedeuten, dass sich vor allem Mittelschichteltern, die ihre Rechte energisch
wahrzunehmen wissen, durchsetzen. Lernbehinderte Kinder aus benachteiligten
Familien würden dann ein weiteres Mal gesondert behandelt. Deshalb plädiert
Professor Hans Wocken für eine Reform, die alle Kinder gleichermaßen erreicht:
O-Ton 30: Prof. Wocken
„Ich preferiere selbst eine zweigeteilte Strategie. Für die Kinder mit
allgemeinen Entwicklungsproblemen im Lernen, in der Sprache, im Verhalten,
meine ich, sind die Erfahrungen so gut und so hinlänglich, dass wir sagen
könnten, für alle diese Kinder soll eine inklusive in der allgemeinen Schule
Pflicht sein. Für die Kinder mit speziellen Behinderungen, also Sehen, Hören,
geistige Entwicklung würde ich gegenwärtig noch das Elternwahlrecht
preferieren, was bedeutet, die Eltern können wählen, ob sie ihr Kind in die
allgemeine Schule geben oder in eine Sonderschule.“
Die Ängste vieler Eltern, in Klassen mit behinderten Kindern würde das Lernniveau
sinken, kann er zerstreuen:
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O-Ton 31: Prof. Wocken
„Das ist eine nachvollziehbare Angst. Das ist empirisch in keiner Weise
belegbar. Auch PISA und ähnliche Studien zeigen, dass heterogene
Schulsysteme nicht dazu führen, dass alles auf einen niedrigen Durchschnitt
heruntergezogen wird.“
Alle Experten sind sich einig: Eine inklusive Schule darf nicht eine Schule sein, in der
alles weiter läuft wie bisher, nur mit ein paar schwierigen Schülern zusätzlich. Das
Geld, was in den teuren Sonderschulen eingespart wird, muss dem allgemeinen
Unterricht zugute kommen. Die Klassen müssen kleiner, der Unterricht
schülerbezogener werden. Es könnte gut sein, dass die UNBehindertenrechtskonvention dem deutschen Schulsystem wichtige Impulse gibt. In
zwei Jahren muss die deutsche Regierung berichten, wieweit Deutschland bei der
Umsetzung der UN-Konvention gekommen ist.
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