22.06.09 ScholzReiner Foerderschulen am Ende
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22.06.09 ScholzReiner Foerderschulen am Ende
NDR Info / Das Forum / 22.06.2009 Sonderschulen vor dem Ende ? UN-Konvention verlangt Bildungsgerechtigkeit Ein Forum von Reiner Scholz O-Ton 1: Evers-Meyer „Der Artikel 24 der UN-Konvention befasst sich mit der Schulbildung. Und wenn ich das mal sehr flapsig sage, dann steht in dem Artikel 24 nichts andres, wenn sie das mal genau lesen, was da gefordert wird, dass unser deutsches Schulsystem diskriminierend ist.“ Karin Evers-Meyer ist die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Ihre Auftritte – und das waren viele in den zurückliegenden Monaten – sind Kampfansagen. Im Gepäck hat die ostfriesische SPD-Politikerin die neue UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen: O-Ton 2: Evers-Meyer: „Wir in Deutschland integrieren nur 16, vielleicht 16 Prozent aller behinderten Kinder. In vergleichbaren Ländern, in allen Ländern, sind das mindestens 60 bis 80 Prozent, in der Regel 80 Prozent und das ist eine so beschämende Zahl für ein so reiches und zivilisiertes Land wie wir es sind, dass jedem klar ist, dass wir da Veränderungsbedarf haben.“ Es geht um die Sonderschulen. Sie werden in Deutschland von 430.000 Schüler besucht. Das sind etwa 4,5 Prozent der Schülerschaft. Für nahezu jede Behinderung existiert eine eigene Schulform. Da gibt es, um nur einige zu nennen, die Schulen für Geistig- und Körperbehinderte, für Blinde und für Sehbehinderte, für Schwerhörige und Gehörlose, für Verhaltensauffällige – vor allem aber für „Lernbehinderte“. Die Hälfte aller Sonderschüler – etwa 200.000 - gelten als „lernbehindert“. Dass diese Gruppe in Deutschland besonders groß ist, ist für Kritiker nicht der einzige, wohl aber der ausdrucksstärkste Beleg dafür, dass das deutsche Bildungssystem höchst selektiv ist. Schulen für Lernbehinderte heißen, zumindest in Norddeutschland: „Förderschulen“. Im Nordwesten Hamburgs liegt beispielsweise die Förderschule Böttcherkamp. Sie umfasst die Klassen 1 bis 9 mit 170 Schülern: O-Ton 3: Lehrerin Böhm „Wir sind eine Montessori-Klasse. Hier arbeitet jedes Kind an ganz unterschiedlichen Materialien. Also, Adriana arbeitet mit der plus 20 Aufgabenkartei, schreibt die Aufgaben ab ins Heft, Angelina macht eine Vorübung zum Schreiben lernen, das lockert das Handgelenk... Die Lehrerin hat die Arbeitsaufträge an die Tafel geschrieben. Der Unterricht ist individualisiert, Marita Böhm und ihre Kollegin wissen, welche speziellen Hilfen jedes Kind braucht. Im Klassenraum malen, zeichnen, schreiben oder reden gerade acht Jungen und Mädchen, Förderkinder, die an diese Schule überwiesen wurden, nachdem sie woanders gescheitert sind: 1 O-Ton 4: Schülerin „Da war ich bei der ersten Klasse. Ich wollte nicht Hausaufgaben machen und weil ich immer nicht so Gutes gemacht hab’. Aber ich will bei die andere wieder.“ Die Schülerschaft von Förderschulen ist schnell beschrieben. Der durchschnittliche deutsche Förderschüler hat ausländische Wurzeln, ist männlich, kommt aus einem armen Elternhaus, in dem es keine Bücher gibt, dafür überforderte Eltern, soziale Verwahrlosung, Geschwister in ähnlicher Lebenslage, nicht selten Gewalt. An der Förderschule Böttcherkamp sind 75 Prozent Migrantenkinder. Heidi Bistritzky, seit gut zwei Jahren Schulleiterin, kennt deren Probleme gut: O-Ton 5: Schulleiterin Bistritzky „Ich glaube, dass viele dieser Familien mit anderen Dingen beschäftigt sind, als sich um die Bildung ihrer Kinder zu kümmern. Viele sind geflüchtet, haben richtig traumatisierte Erfahrungen gemacht, in vielen Familien gibt es Gewalt, Gewaltbereitschaft und Gewalterfahrung, Hunger, Leben auf engstem Raum, kaum Deutschkenntnisse und das führt einfach dazu, dass sie letzten Endes zu uns kommen.“ Die äußeren Bedingungen der Schule am Böttcherkamp sind gut. Das Schulklima wirkt angenehm, die Gebäude sind umgeben von grünen Wiesen, die Klassen sind freundlich eingerichtet, die Schülerzahl klein. Besonders stolz sind die Lehrer auf ihre Neunte, die Kompassklasse, in der die Schüler mit diversen Praktika intensiv auf die betriebliche Welt vorbereitet werden. Ein Schüler: O-Ton 6: Schüler „Ich habe schon ein Praktikum als Kfz-Mechaniker absolviert, das hat mir nicht so gut gefallen. Das habe ich dann auch abgebrochen. Dann hatte ich noch ein zweites, das hab ich dann auch abgebrochen als Bäcker. Und dann war ich in Bayern, da hab ich mein drittes absolviert, das hat mir sehr gut gefallen und jetzt mache ich gerade mein Viertes und das gefällt mir auch sehr gut.“ Die Lehrer in dieser Kompassklasse sind engagiert und geduldig. Immer wieder sprechen sie ihren Schülern Mut zu – und sich selbst auch. Denn nur etwa zehn Prozent der Schüler erreichen den Hauptschulabschluss, noch weniger ergattern eine Lehrstelle. Förderschule – das sei eben doch ein Makel, sagt ein Schülerin: O-Ton 7: Schülerin „Die Lehrer sagen, das ist für uns was ganz Gutes. Aber ich mit meinem Förderschulabschluss: das einzige, was man kriegen kann ist meiner Meinung nach: Putzfrau und mehr nicht.“ Zu denen, die es schaffen könnten, zählt Jan. Der Neuntklässler hat schon eine Lehrstelle sicher. Andere in seiner Klasse, die eigentlich 15 Schüler stark ist, hätten sich aber schon abgeschrieben: O-Ton 8 Schüler Jan “In der Klasse sieht es aus, dass wir nicht so viele sind. Immer die Hälfte. Weil die anderen krank sind oder fehlen oder schwänzen.” 2 Die Lehrer versuchen täglich aufs Neue, das Selbstbewusstsein der Schüler zu stärken. Doch immer dann, wenn sie das Schulgebäude verlassen, wird Jugendlichen wie Orhan und Valentina das Förderschul-Dilemma wieder bewusst: O-Ton 10: Schüler Orhan: „Wenn du dich mit einem Mädchen treffen willst und sie fragt, auf welche Schule gehst du, dann sagst du: Auf ne Hauptschule – obwohl das nicht so ist. Weil Förderschule kommt nicht so gut an. Das ist nicht normal, die Leute machen sich lustig darüber – und die denken, dass es eine Behindertenschule oder so ist. Wenn die sagen „Förderschule“ – lernt doch nichts und so.“ Bevor ein Kind auf eine Förderschule überwiesen wird, hat es viele Niederlagen einstecken müssen: Ständig schlechte Zensuren, Hänseleien, Kritik der Lehrer, Sitzenbleiben und dergleichen mehr. Oft machen die Eltern zusätzlichen Druck. Maja – auch dieser Name ist geändert – erzählt, wie sie regelmäßig für schlechte Noten zuhause drangsaliert wird: O-Ton 11: Schülerin „Zuhause stresst bei mir mein Vater rum. Er sagt, ich soll üben. Er gibt mir immer so schwere Aufgaben auf, die ich auch meistens gar nicht kann. Ich komm damit nicht klar. Und meist weine ich zuhause, weil ich damit nicht klar komme. Und dann meckert er mich immer noch an. Oh, ich wein auch gleich, eh,. Ich kann nicht weiter reden, das ist schwer.“ Es sind nur noch wenige Tage, dann ist für Maja die Schule zu Ende. Sie wird, dass weiß sie schon jetzt, sehr traurig sein. Ihre Klassengemeinschaft hat ihr gefallen. Sie verlässt die Schule, obwohl sie immer noch nicht richtig rechnen kann. Liegt es an ihr? Oder am Schulsystem: O-Ton 12: Schülerin „Ich mag die Schule. Ich finde die besser als meine anderen Schulen, wo ich früher war. In der Grundschule wollten die mir Mathe beibringen und so. Und das haben die nicht geschafft. Und dann haben sie mich immer spielen geschickt. Und seitdem kann ich immer noch kein Mathe. Und ich bin auch noch immer unsicher dabei.“ Auf die Förderschüler warten nach dem Schulabschluss die nächsten Sondereinrichtungen, im Normalfall Berufsvorbereitungsklassen, in denen sie wieder mit denen zusammen sind, die ebenfalls überwiegend aus einem bildungsfernen Armutsmilieu kommen. Deutschland war „immer besser im Aussortieren als im Einsortieren“, sagt die Behindertenbeauftragte Karin Evers-Meyer dazu. Einst führend auf dem Gebiet der Heilpädagogik – bereits 1778 entstand in Leipzig erstmals eine Gehörlosenschule habe es sein Sonderschulwesen zu einer fragwürdigen Perfektion getrieben. Die Sonderschulpädagogik hat sich zu einer mächtigen Profession entwickelt, mit vielen Schulen inklusive gut dotierter Leitungsstellen und teilweise – je nach Behinderung – teuerster Ausstattung. Sonderschullehrer sind gut ausgebildet und werden gut bezahlt, vielleicht, so argwöhnen Kritiker, auch als Dank dafür, dass sie dem allgemeinen Schulwesen die schwierigen Schüler abnehmen. Wie aber steht es mit 3 der Effizienz? Zu den wenigen, die sich überhaupt mit dem Thema beschäftigt haben, gehört der mittlerweile emeritierte Hamburger Erziehungswissenschaftler Hans Wocken. Er hat Schülerleistungen an den Förderschulen in Hamburg, Niedersachsen und Brandenburg mit denen in Hauptschulen verglichen: O-Ton 13: Prof. Wocken „Bislang gibt es wenige Untersuchungen zur Effizienz der Förderschule, aber der internationale Forschungsstand wie auch meine eigenen Untersuchungen bezeugen, dass die Förderschule den Leistungsrückstand zu den nichtbehinderten Kindern nicht aufholen. Aus dem zweijährigen Rückstand wird im Laufe der Jahre ein dreijähriger Rückstand und das kann kein Beleg sein für optimale Förderung.“ Wocken hat auch die Förderschulen untereinander verglichen, Brandenburg etwa, wo die Schüler im Durchschnitt länger an einer Förderschule verweilen, mit Hamburg und seinen kürzeren Förderschulzeiten. Sein Fazit lautet: Je länger ein Kind eine Förderschule besucht, desto mehr bleibt es in seinen Leistungen zurück. Wocken, um griffige Formel selten verlegen, spricht von den Förderschülern als „dem Kaffeesatz des Bildungssystems“: O-Ton 14: Prof. Wocken „Die Ursache ist relativ einfach deutlich zu machen. Ich bringe es mal auf die Kurzformel: Das Milieu erzieht. Dass Kinder durch das Milieu des Elternhauses erzogen werden ist jedermann geläufig. Die sozial Benachteiligten Kinder bekommen weniger Anregungen, die Kinder von Studienräten bekommen viele Anregungen. Die Schule ist aber auch ein Milieu. Und in der Förderschule sind Kinder beieinander, die sich alle auf einem niedrigen Leistungsniveau befinden und wo der eine Schüler von dem anderen Schüler wenig lernen kann. Wir nennen das in der wissenschaftlichen Fachsprache „Reduktive Didaktik“. Es ist alles ein bisschen nach unten gezogen und in diesem niveaureduzierten, homogenen Anregungsmilieu können die Schüler nicht weiterkommen.“ Dabei geht - von außen betrachtet - alles streng wissenschaftlich zu. Als lerngehindert gilt, wer ein schwerwiegendes Schulleistungsversagen aufweist, zumeist gepaart mit einer Beeinträchtigung der Intelligenz. Dem einzelnen schwachen Schüler wird nach einem Test nicht nur „Förderbedarf“ attestiert, für ihn wird sogar ein Förderplan ausgearbeitet. Allerdings sind genaue Abgrenzungen, etwa zu Sprach- Verhaltens- oder Geistigbehinderten nur schwer zu ziehen. Oft liegen mehrfache Behinderungen vor, manchmal aber auch nur schwere psychosoziale Vernachlässigungen. Irmgard Schnell, Sonderschulpädagogin und Professorin an der Universität Frankfurt bezweifelt, dass man mit den gängigen Tests überhaupt herausfinden kann, welcher der beste Förder-Ort für den Schüler ist: O-Ton 15: Prof. Schnell „Ich war jetzt in einer Schule, da ist ein Kind mit Down-Syndrom, von dem der Arzt gesagt hat, auf keinen Fall die allgemeine Schule, muss in die Schule für Geistigbehinderte, der kann nicht kommunizieren. Und nach ‚nem Dreivierteljahr Schule hat der natürlich kommuniziert, war mittenmang im Geschehen, fing schon an, mit Buchstaben zu arbeiten. Die Prognose war 4 völlig falsch. Allein in meinem Berufsleben habe ich genügend Fehlprognosen erlebt, so dass man das nicht von vornherein sagen kann.“ Auch Befürworter von Sonderschulen räumen ein, dass sich in der Tat die Schüler nicht gegenseitig stützten. Aber: Sonderschulen seien immerhin ein wichtiger Schonraum. Auch dieses Argument lässt die Erziehungswissenschaftlerin Schnell nur mit Einschränkung gelten. Auch an Sonderschulen gebe es Selektionsinstrumente: O-Ton 16: Prof. Schnell „Also es ist nicht so, dass in der Schule für Lernbehinderte ein Kind denken kann, da wird es mir jetzt gut gehen, da werde ich in meiner Individualität geachtet, mit meinen Möglichkeiten zu lernen respektiert. Die kriegen genauso schlechte Zensuren, müssen die Klasse wiederholen, ich halte das für absurd. / Und die Schule für Lernbehinderte ist die vorletzte Stufe, auch von der Schule für Lernbehinderte kann man abgeschult werden in die Geistigbehindertenschule.“ Erst kürzlich wiederholte Vernor Munoz, Kommissar der UNMenschenrechtskommission, seine schon vor zwei Jahren vorgebrachte Kritik am deutschen Schulwesen. Es sei hochselektiv, defizitär und mit dem „Menschenrecht auf Bildung“ nicht vereinbar. Doch verteidigen die meisten deutschen Bundesländer ihre starken Sonderschulen – bis heute. Am Erfolg könne es kaum liegen, resümiert Irmtraud Schnell. Der liege nämlich nicht vor. Offenbar gehe es bei der deutschen Sonderschule, vor allem auch bei den Förderschülern um etwas ganz anderes – das Aussondern vermeintlich lästiger Schüler: O-Ton 17: Prof. Schnell „Im Grunde hat sie die Rolle immer noch, die bis Anfang der neunziger Jahre in den Schulgesetzen stand, nämlich die allgemeine Schule zu entlasten von schwierigen Schülern. Das ist angesichts unsrer Geschichte ja schon etwas fatal. In den 60iger Jahren sagte Bach, das war ein GeistigbehindertenPädagoge in Mainz, je mehr Sonderschulen, desto mehr Gymnasiasten.“ Vor etwa 15 Jahren wurden Eltern in Deutschland aktiv. Sie wehrten sich gegen die selbstverständliche Aussonderung behinderter Kinder auf spezielle Sonderschulen egal welcher Art. Es war eine Bewegung überwiegend von deutschen Mittelschichteltern zugunsten ihrer hör- oder seh-, geistig- oder körperbehinderten Kinder. Fast alle Bundesländer führten damals – mehr oder weniger engagiert – einzelne integrative Klassen ein. Dort werden behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam beschult, wobei in vielen Unterrichtsstunden zwei Lehrkräfte zur Verfügung stehen. Diese Klassen erfreuen sich bis heute einer großen Beliebtheit, auch bei bildungsbewussten Eltern nicht-behinderter Kinder, sagt Camilla Dawletschin-Linder, die Bundesvorsitzende des Eltern-Vereins „Gemeinsam Lebengemeinsam lernen“: O-Ton 18: Dawletschin-Linder „Neulich sagte eine Mutter eines hochbegabten Kindes in einer Veranstaltung, mein Kind ist in einer Integrationsklasse am besten aufgehoben, da wird individueller Unterricht gemacht, da wird es am besten gefördert. Ich finde, dass ist die Art des Unterrichts, die für alle Kinder die besten Chancen bietet, 5 das zu lernen, was sie lernen können - nicht nur im sozialen Bereich sondern auch im kognitiven Bereich.“ Sie selbst hat zwei Söhne, einer davon mit einer geistigen Behinderung. Natürlich wisse man als Mutter, dass dieses Kind, wenn es mit anderen Kindern zusammen kommt, auch gehänselt und gemobbt werden könnte. Genauso gut könnte sich aber jemand finden, der für den behinderten Mitschüler auch Verantwortung übernimmt. Und überdies gebe es ohnehin keine Alternative: O-Ton 19: Dawletschin-Linder „In der Sonderschulen, das wird ja oft gesagt, da haben sie es leichter, da ist nicht laut und wollen sie ihrem Kind wirklich antun, dass es auf dem Schulhof auch mal ne Keilerei miterleben muss und so. Ich denke, dass Leben ist anders. Also wenn ich einem kleinen Kind, dass nicht behindert ist, immer verwehre, dass es hinfällt, dann wird es nie laufen lernen. Und so ist es mit unseren behinderten Kinder auch. Wenn wir es immer fernhalten vom wahren Leben, dann wird es sein ganzes Leben lang in Sondereinrichtungen leben müssen und vielleicht auch ein unglücklicher Mensch werden, ich weiß es nicht.“ Kein verantwortlicher deutscher Bildungspolitiker spricht sich öffentlich gegen Integration aus. Doch was heißt das, wenn man weiß, dass in Deutschland 85 Prozent aller Kinder mit Förderbedarf auf besondere Schule ausgesondert werden. Die Zahl der Überweisungen insbesondere von lernbehinderten Schülern hat in den letzten Jahren sogar noch zugenommen. Die Gründe liegen auf der Hand. Nach dem PISA-Schock erhöhte sich in den Regelschulen der Leistungsdruck durch zentrale Prüfungen. Zudem wird die Quote von Schulabbrechern immer mehr zu einem Negativ-Kriterium bei der Schulbeurteilung. Häufig erwarten aufstiegsorientierte Eltern, dass Störenfriede aus den Regelklassen entfernt werden. Da kann es aus Sicht der Regelschulen von Vorteil sein, sich rechtzeitig der schwierigen Schüler zu entledigen, für deren Betreuung ohnehin keine zusätzlichen Ressourcen vorhanden sind. 1997 urteilte das Bundesverfassungsgericht allerdings, behinderten Kindern müsse der Besuch einer Regelklasse ermöglicht werden. Das gilt allerdings nur – so lautet der entscheidende Nachsatz - wenn dem Schulträger damit keine unzumutbaren Zusatzkosten erwachsen. Und so begründen Kultusministerien ihre Ablehnung integrativer Beschulung in aller Regel mit den Kosten. Obwohl Bildungsforscher wie der Berliner Ulf Preuß-Lausitz nicht müde werde, vorzurechnen, dass beispielsweise in dünnbesiedelten Landstrichen allein die Fahrtkosten für einzelne Sonderschüler immens sind - Geld, das übrigens in der Regel nicht aus dem Topf der Kultussondern aus dem der Sozialminister stammt. Mit der neuen UN-Konvention im Rücken schöpfen die Gegner der Aussonderung wieder neue Hoffnung. Würde sie umgesetzt, hätte das weitreichende Folgen, ist sich Karin Evers-Meyer, die Behindertenbeauftragte des Bundesregierung, sicher: O-Ton 20: Evers-Meyer „Das Fachwort heißt „Inklusion“ und ich fordere ein inklusives Schulsystem für alle Kinder, weil ich wirklich der festen Auffassung bin, dass ein inklusives Schulsystem nicht nur für behinderte Kinder das beste Schulsystem ist, 6 sondern auch für Nichtbehinderte Kinder. Ich spreche ja in der Regel nur für behinderte Kinder, aber auch unsere Kinder, die etwas lernschwächer sind, die hätten auch eine individuelle Förderung nötig und auch unsere hochbegabten Kinder. Also auf inklusiven Schulen ist für alle Kinder die beste Beschulung möglich.“ Um die genaue Bedeutung der UN-Konvention kam es in Deutschland zu einer interessanten Kontroverse. Im englischen Originaltext ist von „inclusion“ also „Inklusion“, einem gängigen Begriff aus dem Angelsächsischen, die Rede. Die deutsche Übersetzung spricht aber von „Integration“. Die unterschiedlichen Begriffe bezeichnen unterschiedliche Sachverhalte. Man kann nur jemanden integrieren, der bereits außerhalb steht. Inklusion heißt aber, dass von vornherein niemand ausgeschlossen wird, ist also die weitergehende Formulierung. Mit dem Begriff „Inklusion“, da ist Karin Evers-Meyer sicher, hätte die UN-Konvention den Bundestag nicht passiert. Dem weniger deutlichen „Integration“ aber konnten alle zustimmen, obwohl, so Karin-Evers-Meyer, die englische Fassung und damit der Begriff „Inklusion“ gilt. Was aber die Inklusion anbetrifft, ist Deutschland gewissermaßen ein Entwicklungsland – wenn auch in Abstufungen: O-Ton 21: Evers-Meyer „In der Diskussion habe ich erlebt, dass einige Länder wie Schleswig-Holstein, die integrieren mittlerweile 45 Prozent aller behinderten Kinder und sagen ganz selbstbewusst, bis 2018 schaffen wir auch die 80 Prozent. Das ist Wahnsinn. Niedersachsen ist absolutes Schlusslicht mit vier Prozent, Nordrhein-Westfalen auch.“ Niedersachsen hält den Negativrekord. Gut 95 Prozent, also fast alle, Schüler mit Förderbedarf werden dort an eine besondere Schule überwiesen. Corinna Fischer, stellvertretende Pressesprecherin von Kultusministerin Heister-Neumann, möchte das so nicht stehen lassen: O-Ton 22: Pressesprecherin Fischer „Der Eindruck ist so nicht richtig. Das liegt daran, dass wir in Niedersachsen versuchen, von Anfang an möglichst viele Kinder, teilweise auch schon vor der Einschulung so weit zu fördern, dass sie gar nicht erst mit sonderpädagogischem Förderbedarf diagnostiziert werden. Das heißt, wir haben in der Tat eine sehr niedrige Quote an Kindern, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben. Diese Quote liegt nur bei 4,5 Prozent. Das ist der zweitniedrigste Wert im Bundesvergleich, das liegt daran, dass wir versuchen, möglichst die Kinder wohnortnah mit einer sonderpädagogischen Grundversorgung zu versorgen und diese Kinder gar nicht erst einen sonderpädagogischen Förderbedarf bekommen zu lassen.“ Doch fördert Niedersachsen wirklich besser? Rheinland-Pfalz hat im Verhältnis sogar weniger Sonderschüler, Hessen, Bayern und Schleswig-Holstein nur unwesentlich mehr. Es bleibt dabei: ein Bundesland, dass von seinen 40.000 als förderbedürftig eingestuften Schülern 38.000 in Sondereinrichtungen aussondert, kann sich das Etikett hoher Integration nicht anhängen. Die niedersächsische Elterninitiative führt seit langem Klage darüber, dass es häufig nicht gelingt, behinderte Kinder in Integrationsklassen unterzubringen. In anderen Regionen das gleiche Bild: Die meisten Bundesländer sind gerade noch bereit, Förderkinder in Grundschulen zu akzeptieren. 7 Spätestens ab Klasse fünf aber ist Schluss. Die Schulgesetze sind zumeist so formuliert, dass ein behindertes Kind eine Regelklasse nur dann besuchen darf, wenn es genau so gut ist wie die anderen auch. Mit dieser Zielvorgabe sind die meisten Behinderten allerdings von vornherein ausgeschlossen. Einen anderen Weg geht Schleswig-Holstein. Die Helene-Dieckmann-Schule in KielAltenholz ist eine Förderschule ganz ohne Schüler. Ihre Sonderpädagogen arbeiten fest an den allgemeinen Schulen der Umgebung. Für Wolfgang Lerch, im sechsten Jahr Schulleiter, war es immer wichtig, pragmatisch auszuloten, was geht und was nicht: O-Ton 23: Schulleiter Lerch „Nach unserer Erfahrung haben sich alle Schüler in den integrativen Situationen deutlich besser entwickelt als in getrennten Systemen. Wenn es im Einzelfall Probleme gibt - im Bereich der sozialen Integration - ist das eine Aufgabe der beteiligten Lehrkräfte und Schulen daran zu arbeiten. Ein schönes Beispiel für mich war in diesem Zusammenhang der Besuch in einer unserer Partnerschulen, dort hatte die Klasse als gemeinsames Plakat für die Klassentür ein großes Blatt gestaltet mit ganz viel Händeabdrücken und darüber stand, es ist normal, verschieden zu sein.“ Dabei wird nicht verschwiegen, dass die Schüler unterschiedliche Leistungen bringen. Allerdings – und das ist entscheidend - ist eine Benotung nicht zwingend vorgesehen. Kein Kind werde durch die inflationäre Verteilung von Fünfen und Sechsen beschämt, betont Martina Frey, die stellvertretende Schulleiterin: O-Ton 24: Lehrerin Frey „Förderschüler werden ja verbal beurteilt, solange sie diesen Förderschulstatus haben. Und wir haben ja jetzt die Form an der Regionalschule beispielsweise, dass wir gemischte Zeugnisse formulieren dürfen. Also, wenn es eine Hauptschulzensur ist, dann bekommen die Schüler die auch. Wenn es ne 5 oder 6 ist, dann wird dann verbal beurteilt, das ist natürlich pädagogisch sehr motivierender, wertvoller.“ In einem Holzpavillon nahe der Altenholzer Hauptschule, einem früheren Jugendzentrum, bereiten sich Haupt- und Sonderschüler gemeinsam auf die Abschlussprüfung vor. O-Ton 25: Schülerin „Ich war ja früher Förderschülerin. Jetzt bin ich Hauptschülerin. Ich hatte keine Unterstützung, hatte nur Fünfen im Zeugnis und seit ich hier bin, bin ich besser geworden, seit der achten und neunten. Realschule und danach vielleicht Abitur, aber erst mal Realschule.“ Die Schüler sitzen an Vierertischen. In Ordnern finden sie die Aufgaben, die sie bewältigen müssen. Der Lehrer assistiert, doch im Mittelpunkt steht die Arbeitsanforderung. Wobei man sich selbstverständlich gegenseitig hilft: O-Ton 26: Schülerin “Man kann auch von den anderen was lernen. / Wenn sie etwas besser weiß und ich eben halt nicht, dann frag ich sie , dann weiß ich das halt, dass hilft 8 mir sehr, wenn sie hier sitzt. / Wie helfen uns gegenseitig./ Und manchmal versteht man auch was besser, wenn man sich das gegenseitig erklärt, als wenn die Lehrer das erklären. Manchmal erklären die Lehrer das kompliziert und dann fragt man den Nachbarn und dann versteht man das wieder besser.“ Natürlich ist dieses eine besondere Klasse. Aber warum eigentlich? Hier spürt der Außenstehende, wie die Schule der Zukunft aussehen muss, und zwar für alle Schüler. Nicht mehr Abgrenzung lautet das Stichwort sondern Zusammenarbeit. Das gilt auch für die Sonderschulpädagogin und ihre Hauptschulkollegin, die sich als gleichberechtigt verstehen: O-Ton 28: Hauptschullehrerin „Ich denke, wir ergänzen uns ganz gut. Natürlich steht für mich als Hauptschullehrerin etwas mehr das Leistungsdenken im Vordergrund und für meine Kollegin das Fördern der Schüler, auch sehr schwacher Schüler. Aber inzwischen, glaube ich, haben wir beide uns aneinander ausgerichtet und achten beide sowohl auf die soziale und individuelle Förderung wie auch auf die Hebung des Wissensstandes der Schüler.“ Noch sind Modelle wie das in Kiel-Altenholz Ausnahmen. Doch dabei wird es nicht bleiben, ist sich Elternvertreterin Camilla Dawletschin-Linder sicher: O-Ton 29: Dawletschin-Linder „Es wird ne Klagewelle geben. Wir werden mal sehen. Es hat ja das letzte Bundesverfassungsgerichtsurteil vor etwa 13 Jahren gegeben. Es ist damals negativ ausgegangen. Ich glaube, die Argumente, die damals noch ausschlaggebend waren, der finanzielle Vorbehalt, die kann man heute nicht mehr anführen. Das wird interessant zu sehen, wie sich die Gerichte jetzt auf den Weg machen. Die Kultusministerkonferenz hat eine Arbeitsgruppe zum Thema „Sonderschulen“ eingerichtet. Die Federführung hat Niedersachsen übernommen. Denkbar ist, dass die Kultusminister künftig großzügiger auf Klagen von Eltern reagiert. Das würde aber bedeuten, dass sich vor allem Mittelschichteltern, die ihre Rechte energisch wahrzunehmen wissen, durchsetzen. Lernbehinderte Kinder aus benachteiligten Familien würden dann ein weiteres Mal gesondert behandelt. Deshalb plädiert Professor Hans Wocken für eine Reform, die alle Kinder gleichermaßen erreicht: O-Ton 30: Prof. Wocken „Ich preferiere selbst eine zweigeteilte Strategie. Für die Kinder mit allgemeinen Entwicklungsproblemen im Lernen, in der Sprache, im Verhalten, meine ich, sind die Erfahrungen so gut und so hinlänglich, dass wir sagen könnten, für alle diese Kinder soll eine inklusive in der allgemeinen Schule Pflicht sein. Für die Kinder mit speziellen Behinderungen, also Sehen, Hören, geistige Entwicklung würde ich gegenwärtig noch das Elternwahlrecht preferieren, was bedeutet, die Eltern können wählen, ob sie ihr Kind in die allgemeine Schule geben oder in eine Sonderschule.“ Die Ängste vieler Eltern, in Klassen mit behinderten Kindern würde das Lernniveau sinken, kann er zerstreuen: 9 O-Ton 31: Prof. Wocken „Das ist eine nachvollziehbare Angst. Das ist empirisch in keiner Weise belegbar. Auch PISA und ähnliche Studien zeigen, dass heterogene Schulsysteme nicht dazu führen, dass alles auf einen niedrigen Durchschnitt heruntergezogen wird.“ Alle Experten sind sich einig: Eine inklusive Schule darf nicht eine Schule sein, in der alles weiter läuft wie bisher, nur mit ein paar schwierigen Schülern zusätzlich. Das Geld, was in den teuren Sonderschulen eingespart wird, muss dem allgemeinen Unterricht zugute kommen. Die Klassen müssen kleiner, der Unterricht schülerbezogener werden. Es könnte gut sein, dass die UNBehindertenrechtskonvention dem deutschen Schulsystem wichtige Impulse gibt. In zwei Jahren muss die deutsche Regierung berichten, wieweit Deutschland bei der Umsetzung der UN-Konvention gekommen ist. Zur Verfügung gestellt vom NDR Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z. B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR. 10