5. »Als ob es Gott nicht gäbe«. Eine theologische Spurensuche
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5. »Als ob es Gott nicht gäbe«. Eine theologische Spurensuche
5. »Als ob es Gott nicht gäbe«. Eine theologische Spurensuche 5.1. Einführung in Bonhoeffers Gotteslehre Letztlich geht es in der Gotteslehre immer um die Frage, welche Vorstellungen sich hinter dem Wort »Gott« verbergen. – »Es gibt keinen Gott.« Wer das sagt, meint eigentlich präzise: »Mein Verständnis der Wirklichkeit lässt sich mit meinem Bild von Gott nicht in Einklang bringen.« Beides, Wirklichkeits- und Gottesverständnis, sind zugleich die wichtigsten Elemente in der Gotteslehre Dietrich Bonhoeffers.1 Diese lässt sich in vielen verstreuten und impliziten Hinweisen in den »großen« Veröffentlichungen wie auch in den nachgelassenen Fragmenten zur »Ethik« und in der Briefsammlung »Widerstand und Ergebung« entdecken. Wie in kaum einem anderen theologischen Bereich ist die Entwicklung einer durch Luther und Barth inspirierten Theologie erkennbar. Zugleich verwundert es kaum, dass die Äußerungen Bonhoeffers in den Tegeler Gefängnisbriefen zeitlich parallel zu seinem Nachdenken über eine Ethik entstanden sind. Gerade die Grundfrage, wie Gottes- und Weltwirklichkeit aufeinander bezogen werden können, prägt jeden ethischen Ansatz, weil sich das konkrete Handeln immer in einer Welt mit christlichen und nichtchristlichen Einflüssen vollzieht. Deshalb fokussieren die folgenden Hinweise zur Gotteslehre auf die letzten Jahre Bonhoeffers, die 1940er Jahre. »Etsi deus non daretur« Das Besondere an der heutigen Sicht auf die Theologie Bonhoeffers ist, dass sie vielfach vor allem auf deren fragmentarischen und schlagwortorientierten Charakter aufbaut. Dieser lässt sich gut an dem knappen »etsi deus non 1. Dramm, S. 53 geht so weit, von der Wirklichkeit Gottes als dem »latente[n] und manifeste[n] Lebensthema Dietrich Bonhoeffers« zu sprechen. Zumindest für die Zeit ab 1933 rückt aber gerade das Wechselspiel zur Weltwirklichkeit in den Vordergrund. 83 Bonhoeffer 28.12. 83 28.12.2006, 11:14 Uhr daretur« (»als ob es Gott nicht gäbe«) erkennen. Dieser Satz stammt aus dem Brief vom 16.07.1944, den Bonhoeffer aus dem Tegeler Gefängnis an seinen Freund Eberhard Bethge geschrieben hat. Im heutigen Verständnis ist deshalb immer zwischen dem zu unterscheiden, was sich tatsächlich im Werk belegen lässt, und dem, was die Interpreten an Bonhoeffers Stelle und aus seinen Gedanken heraus weiterentwickelt haben. Bonhoeffer bezieht sich explizit auf Hugo Grotius. Dieser hatte, ohne dass Bonhoeffer dies ausführt, in seinem Werk »De Jure Belli ac Pacis« (1625) im § 11 des Vorwortes geschrieben: »Diese Zeilen würden auch dann ihre Gültigkeit behalten, wenn wir die große Sünde begehen würden, die Existenz Gottes oder seine Fürsorge für uns zu leugnen. Sowohl die Vernunft als auch die Tradition haben uns aber vom Gegenteil überzeugt, und außerdem werden wir unserer Überzeugung durch die vielen Beweise und Wunder, von denen sicherlich Jahrhunderte Zeugnis ablegen, bestärkt.«2 Bonhoeffer zitiert in seinem Brief genau genommen nicht Grotius, sondern aus Wilhelm Diltheys »Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation«. Dieser hatte die Textpassage ins Deutsche mit »auch wenn es keinen Gott gäbe« übersetzt. Bonhoeffer übersetzt ins Lateinische zurück mit »etsi deus non daretur«. Grotius hat in aufklärerischer Absicht das ius divinum des Mittelalters abgelehnt, als er darauf hinwies, dass das menschliche Recht unbeschränkt gilt, dass es auch Gott nicht ändern könne – übrigens ähnlich wie Gott auch in die mathematische Logik nicht eingreifen könne. Menschliches Recht basiere auf menschlicher Vernunft und dem freien Willen des Menschen. Während es also bei Grotius letztlich um die Autonomie der Vernunft geht, steht bei Bonhoeffer der Umgang mit Säkularisierung und den sich daraus ergebenden Veränderungen im Gottesbild im Vordergrund. Gotteslehre angesichts der Säkularisierung Mit der Prämisse »… etsi deus non daretur …« arbeitet nach Bonhoeffer jeder Versuch, die Autonomie des Menschen und der Welt zu vertreten. »Der anti2. Gerrit Jan Hoenderdaal hat in seiner biografischen Skizze für die »Gestalten der Kirchengeschichte« den Werdegang des Bonhoefferschen Zitats nachgezeichnet. Von Hoenderdaal stammt auch die Übersetzung des lateinischen Originals. Gerrit Jan Hoenderdaal: Hugo Grotius, in: Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 8 Die Aufklärung, Stuttgart – Berlin – Köln, 2. Aufl. 1994, S. 54f. 84 Bonhoeffer 28.12. 84 28.12.2006, 11:14 Uhr ke Kosmos ist ebenso wie die mittelalterliche geschaffene Welt endlich. Eine unendliche Welt – wie auch immer sie gedacht sein mag – ruht in sich selbst »etsi deus non daretur«. […] Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten.«3 Bonhoeffer weist damit auch auf eine zwar mögliche, aber in seinen Augen falsche Sichtweise der Theologie hin. Das mag zunächst verwundern, weil üblicherweise hier eher »etsi deus daretur« argumentiert wird, also gerade unter der Prämisse, dass es Gott gibt. Jedoch, und hier zeigt sich die Linie zur theologischen Religionskritik Barths4, ist es gerade das religiöse Bedürfnis des Menschen, das von Bonhoeffer abgelehnt wird. »Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina.«5 Wer sich also von einem Bild des allein auf die Rolle des Nothelfers beschränkten Gottes leiten lässt, der missachtet in Bonhoeffers Augen Gott, weil dieser zu einem Objekt der menschlichen Bedürfnisse abqualifiziert werde. Gott übernimmt in einem solchen Bild die Aufgabe des letzten Retters, der mit all seiner Macht in die Geschicke des Menschen und der Welt eingreifen kann und dies vor allem in Notsituationen auch tut.6 Ein solches Gottesbild steht fraglos auch hinter der Prägung »Gott mit uns«, die auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zu finden ist. Inhaltlich entfaltet Bonhoeffer mit diesem Aspekt seiner Gotteslehre somit ein positives Säkularisierungsverständnis: Die Säkularisierung befreit den 3. Brief vom 16.07.1944, WuE S. 192 – DBW 8, S. 532–533. 4. Brief vom 30.04.1944, WuE S. 141 – DBW 8, S. 404–405. Bonhoeffer grenzt sich hier von Barth ab, der die Problematik zwar gesehen, aber einem restaurativen Offenbarungspositivismus verfallen sei. »Für den religionslosen Arbeiter oder Menschen überhaupt ist hier nichts Entscheidendes gewonnen.« (DBW 8, S. 405.) Ähnlich auch im Brief vom 05.05.1944, WuE S. 144 – DBW 8, S. S. 413–416. Seinen Ansatz sieht er selbst in gewisser Nähe zu Bultmanns Programm der Entmythologisierung, jedoch diesen überbietend. Nicht nur die Wunder, auch Gott müsste »nicht-religiös« interpretiert und verkündigt werden. »Bultmanns Ansatz ist eben im Grund doch liberal (d.h. das Evangelium verkürzend), während ich theologisch denken will.« Brief vom 05.05.1944, WuE S. 143 – DBW 8, S. 414. 5. Brief vom 16.07.1944, WuE S. 192 – DBW 8, S. 534. 6. Vgl. Brief vom 30.04.1944, WuE S. 142 – DBW 8, S. 407. 85 Bonhoeffer 28.12. 85 28.12.2006, 11:14 Uhr christlichen Glauben von der Wirkung religiöser Bedürfnisse des Menschen. Die Menschen bilden eine »mündig gewordene Welt«, die zwar »Gott-loser und darum vielleicht gerade Gott-näher als die unmündige Welt«7 ist. Die ursprüngliche Bedeutung der Trennung von Staat bzw. Gesellschaft und Kirche bzw. Glauben wird als innerer Prozess verstanden, in dem die religiösen Bedürfnisse nicht mehr mit der Begegnung Gottes durch Jesus Christus in Beziehung stehen. Säkularisierung bewirkt dann nicht per se den Glaubensverlust und die Entkirchlichung/Entchristlichung, sondern vielmehr für ein um die Religion geläutertes Christentum, in dem nicht der Mensch mit seinen Bedürfnissen, sondern Gott im Mittelpunkt steht. »Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.«8 »Religionsloses Christentum« – »Nicht-religiöse Interpretation« Die Sicht Bonhoeffers auf ein religionsloses Christentum, auf ein Gottesbild ohne die religiösen Bedürfnisse der Menschen entsteht in der Enge der Tegeler Gefängniszelle, die er als exemplarischen Ort für die religionslose Welt der »Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden«9 empfindet. An diesem Ort möchte er nicht die religiöse Sprache verwenden, die er als unklar und darum auch als schwach ansieht. Seine Blickrichtung wandert nun von der Kirche als Ort des christlichen Glaubens hin zur Welt, auf die die Liebe Gottes sich bezieht. Die Zuwendung Gottes zur Welt zeigt sich gerade in dessen Schwachheit, die der Kreuzestod Jesu Christi dokumentiert (s. o.). Dieses Kreuzesverständnis erinnert an die theologia crucis bei Martin Luther und an dessen Ablehnung einer theologia gloriae, die die Herrlichkeit und die Anbetung Gottes betont. Der Christologie wächst damit die Aufgabe zu, vor einem falschen Gottesbild zu schützen und zugleich Perspektiven für die Zukunft der Welt zu eröffnen. »Christus ist 7. Brief vom 18.07.1944, WuE S. 194 – DBW 8, S. 537. 8. Brief vom 16.07.1944, WuE S. 192 – DBW 8, S. 533–534. 9. DBW 8, S. 38. (»Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden, sehen gelernt haben.«) 86 Bonhoeffer 28.12. 86 28.12.2006, 11:14 Uhr dann nicht mehr Gegenstand der Religion, sondern etwas ganz anderes, wirklich Herr der Welt.«10 Viele Verbindungen zu anderen Veröffentlichungen treten zu Tage. Sei es der Gedanke aus der Dissertation, dass ein Mensch erst an dem Gegenüber des anderen zum Menschen werde: »Gott oder der Heilige Geist tritt zum konkreten Du hinzu, nur durch sein Wirken wird der andere mir zum Du, an dem mein Ich entspringt, m. a. W. jedes menschliche Du ist Abbild des göttlichen Du«.11 Sei es der Gedanke, dass in Christus Welt- und Gotteswirklichkeit miteinander versöhnt sind: »Die Wirklichkeit Gottes erschließt sich nicht anders, als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor. Das ist das Geheimnis der Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus Christus.«12 Die Schlagworte »religionsloses Christentum« bzw. »nichtreligiöse Interpretation« sind die Begriffe, mit denen Bonhoeffer in Tegel sein Zukunftsprogramm umreißt. Er geht dabei zunächst den Weg der negativen Beschreibung, indem er die Fehlentwicklungen hin zur Gegenwart aufzeigt. Gott sei verdrängt worden aus der menschlichen Existenz, der Öffentlichkeit. Ihm sei der Platz im Privaten (»Kammerdienergeheimnisse«) zugewiesen worden, dem »Jagdgebiet der modernen Seelsorger«13. Damit werde der Blick auf die »Sünden der Schwäche« gelenkt (Bonhoeffer nennt als Beispiele die Ehebrüche bei Napoleon und Goethe), anstatt die »starken Sünden« beim Namen zu nennen: die Hybris, das Durchbrechen der Ordnung oder die Scheu vor der freien Verantwortung.14 Deshalb: »Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion, sondern zum Leben. […] Wenn man von Gott ›nicht-religiös‹ sprechen will, dann muss man so von ihm sprechen, dass die Gottlosigkeit der Welt dadurch nicht irgendwie verdeckt, sondern vielmehr gerade aufgedeckt wird und gerade so ein überraschendes Licht auf die Welt fällt.«15 10. 11. 12. 13. 14. 15. Brief vom 30.04.1944, WuE, S. 141 – DBW 8, S. 405. Vgl. DBW 1, 32-35. hier: S. 33. DBW 6, S. 40. Brief vom 8.7.1944, WuE S. 185 – DBW 8, S. 509. Brief vom 8.7.1944, WuE S. 185 – DBW 8, S. 511. Brief vom 18.7.1944, WuE S. 194 – DBW 8, S. 537. 87 Bonhoeffer 28.12. 87 28.12.2006, 11:14 Uhr Handlungsorientierte und religionskritische Gotteslehre »Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden.«16 Bonhoeffer hat zum Schluss seines Lebens die radikale Diesseitigkeit des christlichen Glaubens proklamiert und damit einen entscheidenden Anstoß für stark auf die Gegenwart bezogene Theologien gegeben. Seine Gedanken wurden zumindest inhaltlich von kontextuellen und politischen Theologien rezipiert, aber auch in ihrem religionskritischen Impetus von Anhängern der Wort-Gottes-Theologie wertgeschätzt. Am 3.8. 1944 schickt er den »Entwurf für eine Arbeit« aus dem Tegeler Gefängnis. Diese Arbeit bleibt zwar nur Fragment, das einerseits die Abkehr gewohnter und hergebrachter Denkmuster bedeutet, andererseits zugleich zum Weiterdenken anregt. Deshalb hier die für die Gotteslehre wichtigen Passagen: »Nicht zuerst ein allgemeiner Gottesglaube an Gottes Allmacht etc. Das ist keine echte Gotteserfahrung, sondern ein Stück prolongierter Welt [d.h. verlängerte Welt, aus der Welt abgeleitet]. Begegnung mit Jesus Christus. Erfahrung, dass hier eine Umkehrung alles menschlichen Seins gegeben ist, darin, dass Jesus nur »für andere da ist«. Das »Für-andere-dasein« Jesu ist die Transzendenzerfahrung! Aus der Freiheit von sich selbst, aus dem »Für-andere-dasein« bis zum Tod entspringt erst die Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart. [Diese Attribute Gottes werden traditionell jeglicher Gotteslehre vorangestellt.] Gott ist das Teilnehmen an diesem Sein Jesu. (Menschwerdung, Kreuz, Auferstehung.) Unser Verhältnis zu Gott ist kein »religiöses« zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im »Dasein-für-andere«, in der Teilnahme am Sein Jesu. Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente. Gott in Menschengestalt! […] »der Mensch für andere«! darum der Gekreuzigte. Der aus dem Transzendenten lebende Mensch.«17 16. Brief vom 16.7.1944, WuE S. 192 – DBW 8, S. 533. 17. Brief vom 3.8.1944, WuE S. 204 – DBW 8, S. 558 88 Bonhoeffer 28.12. 88 28.12.2006, 11:14 Uhr 5.2. Didaktische Anmerkungen Einer der markanten und oft überlieferten Sätze Bonhoeffers ist der, dass der Christ in der Welt leben müsse »etsi deus non daretur« – als ob es Gott nicht gäbe. Er stammt aus dem Brief an Eberhard Bethge, den Bonhoeffer aus dem Gefängnis in Berlin-Tegel am 16.7. 1944 schrieb. Er nimmt hier das Thema der nicht-religiösen Interpretation wieder auf, über das er mit Bethge bereits korrespondiert hatte. Dieses Motiv zieht sich durch Bonhoeffers Brieftext, in dem er philosophische und theologische Betrachtungen zu Mensch, Welt und Gott immer wieder mit diesem Gedanken verknüpft. Das falsche Gottesbild ist das des »Deus ex machina«, eines allmächtigen, in die Welt unmittelbar eingreifenden Gottes. Der christliche Glaube dagegen erkennt die eigene Verantwortung für die Welt, die der Mensch vor Gott und für die anderen wahrnehmen muss. »Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt«. – Diese Gedanken haben übrigens die Theologin Dorothee Sölle inspiriert, das Leiden und Sterben Christi am Kreuz so zu interpretieren, dass hier Gott (d. h. das falsche Gottesbild eines allmächtigen Gottes) stirbt und sich stattdessen der wahre Gott als im Leiden erkennbarer und naher Gott offenbart. Insofern ist das Schlagwort »… als ob es Gott nicht gäbe« ein didaktisch fruchtbarer Zugang zur Reflexion über die Gottesfrage und über christliche Gottesvorstellungen. Es klingt ja zunächst provokativ und könnte Bonhoeffer dem Verdacht aussetzen, dass er einem Agnostizismus oder Atheismus Vorschub leisten würde. Beim genaueren Hinsehen erschließt sich aber die theologische Religionskritik, die hinter diesen Ausführungen steht. Ein falsches christliches (!) Gottesbild, das auch den Nährboden für eine nationalsozialistische Religiosität geliefert hat und nun dieser nichts entgegenzusetzen weiß, wird mit philosophischen und vor allem christologischen Argumenten entlarvt. Der Brieftext ist knapp, komprimiert und nicht bis zu Ende gedacht – er endet mit dem spannenden Ausblick: »Hier wird wohl die ›weltliche Interpretation‹ einzusetzen haben«. Insofern bleibt genügend Raum zum Nach- und Weiterdenken. Die Arbeit mit dem Text stellt hohe Ansprüche an die Lerngruppe und ist daher erst in der gymnasialen Oberstufe sinnvoll. Im nachfol89 Bonhoeffer 28.12. 89 28.12.2006, 11:14 Uhr genden Unterrichtsentwurf wird in Übersichtsform gezeigt, wie eine solche Textinterpretation in der Lerngruppe erarbeitet werden kann. Besonders kommt es auf eine saubere Unterscheidung der Gottesvorstellungen an, die Bonhoeffer einerseits als falsch (Deus ex machina) und richtig (Christus hilft kraft seiner Schwachheit, seines Leidens) charakterisiert. Das wird überblicksartig in der dem Material beigegebenen Tabelle dargestellt. 5.3. Praxisbaustein Unterrichtsentwurf »Als ob es Gott nicht gäbe« Entwurf: Constance Kiersch (redaktionell überarbeitet) Eine Doppelstunde (90 min) für die Sekundarsufe II (z. B. im Grundkurs Kl. 11 »An Gott glauben«) Bonhoeffer – Leben in der Welt »etsi deus non daretur« (Ausschnitte des Briefes vom 16.7.1944) Ziele: Die Schüler sollen … – ... erkennen, dass persönliche Frömmigkeit und Gottvertrauen mit der Aufgeklärtheit des modernen Menschen (in einer Person) vereinbar sind. – ... stereotype Vorstellungen von Christen (als Menschen, die Eigenverantwortung und Verstand an der Kirchentür abgeben) hinterfragen. – ... zuvor Erlerntes anwenden, indem sie einige der kennen gelernten religionskritischen Aussagen der vorangegangenen Stunden (mindestens stichwort-assoziativ) zuordnen. – ... eine Möglichkeit kennen lernen, auch mit längeren Texten komplexen Inhaltes umzugehen. – ... angeregt werden, sich ergebende offene Fragen zu formulieren und somit aktiv auf den weiteren Verlauf der Unterrichtseinheit einzuwirken (bzw. Hilfe und Anleitung zu einem vertiefenden selbständigen Arbeiten an diesen Fragen zu ermöglichen). 90 Bonhoeffer 28.12. 90 28.12.2006, 11:14 Uhr Verlaufsplanung UnterrichtsMethode/HandlungsMaterialien/ Bemerkungen phase muster, Sozialform Medien ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Begrüßung L: begrüßt Schüler; lässt ggf. Schüler- Je nachdem, wie lange die voranund kurze (nach kurzem NachAufzeichgegangene Stunde zurückliegt, Wiederdenken/-lesen) einige nungen sollte die Wiederholung kürzer holung Schüler das (vorläufige) oder ausführlicher ausfallen. Gottesbild Bonhoeffers In jedem Falle sollte schon zu darstellen Beginn der Stunde Schüleraktivität gefordert werden, um die Schüler auf aktive Mitarbeit einzustimmen. In der vorangehenden Stunde haben sich die S. bereits mit dem Gottesbegriff Bonhoeffers beschäftigt. Nun wird der religionskritische Aspekt herausgearbeitet. ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Hinführung/ L: präsentiert einen Folie mit Alternativ ist es auch möglich, Impuls ersten Abschnitt des Textabschnitt Folien mit dem Text an SchülerTextes ohne Angabe des (M 5/1); gruppen auszuteilen und diese Autors; fordert Schüler ggf. Schüler- beschriften zu lassen, um die auf, Assoziationen zur Aufzeichnun- Ergebnisse der Mini-GruppenReligionskritik stichpunkt- gen u. Lehrarbeit anschließend kurz artig festzuhalten. buchtexte vorstellen zu lassen. ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Auswertung Unterrichtsgespräch Folie; Die Kommentare auf der Folie L. erfragt das Erarbeitete, wassersollen knapp sein. Eine unterfordert S. auf, das lösliche strichene Zeile mit dem Erkannte/die AssoziaFolienstifte; Kommentar »Laplace« ist schon tionen in knappen Stichkleiner ausreichend. Je nachdem, wie worten neben den feuchter versiert die Schüler im »Querentsprechenden TextLappen lesen« von Texten sind, kann abschnitten auf der Folie (für evtl. der Textabschnitt länger (z. B. 20 festzuhalten (BezugsKorrekturen) Zeilen) sein, oder bis auf fünf zeilen evtl. zu (möglichst aussagekräftige) unterstreichen). Mögliche Zeilen heruntergekürzt werden. S-Antworten: »Diese Schüler scheuen sich manchmal, Arbeitshypothese habe etwas Vorläufiges auf Folie zu ich nicht nötig« Laplace bannen – wasserlösliche Folienauf die Frage Napoleons, stifte können hier ein einfaches wo denn Gott in seinem Mittel sein, Hemmungen zu System vorkäme; Mündignehmen. werden als Leitmotiv der 91 Bonhoeffer 28.12. 91 28.12.2006, 11:14 Uhr Aufklärung; Freud: Religion als Sehnsucht nach einem Übervater, der einen durch die Wirrungen des Lebens führt; Kirchenkritik bei Marx; Autonomie als Postulat des Existenzialismus; …) ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– ProblemUnterrichtsgespräch evtl. AufDieses Vorgehen des Lehrers stellung L. fordert zu einem zeichnungen könnte natürlich als ›unlauter‹ Vergleich des der letzten empfunden werden. Engagierte (spekulativen) Autors mit Stunde Schüler könnten sich hier Bonhoeffer auf. Welche durchaus aufs Glatteis geführt/ Einstellung zu Religion/ »veralbert« fühlen. Dies lässt Gott wird im Text deutlich, sich aber gut auffangen, indem welche hat Bonhoeffer? man auf die Stereotype einL. nennt Bonhoeffer als geht, die uns dazu gebracht Autor des Textes. Wenn haben anzunehmen, dass BonS. nicht selbst darauf hoeffer (wie wir ihn bisher kenkommen, führt L. mit nen gelernt haben) den jetzt Impulsen zu der Frage, vorliegenden Text nicht gewie dies zusammenpasst/ schrieben haben kann: Was in einer Person vereinbar verbinden wir mit »fromm«? ist. Ist Bonhoeffer nun Was mit »aufgeklärt« und »krieines dieser schizophretisch«? Sind dies Widersprünen intellektuellen che? (Anknüpfungspunkte zum ›Zwitter‹-Wesen, auf die er nächsten Abschnitt) selbst anspielt (vgl. Z. 6f.)? ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Obwohl der Text sehr anErarbeitung Textarbeit Arbeitsblatt spruchsvoll ist, sollen die Schümit ler ihn zunächst ohne LeitfraZur Klärung dieser Frage Bonhoeffergen lesen. Die herauswird nun der gesamte Text (M 5/2) gearbeiteten Anspielungen auf Auswahltext heran(die für den gezogen. übernächsten die Religionskritik erleichtern das Verständnis des Textes. Der (L. teilt Arbeitsblatt aus.) Schritt nicht Schwerpunkt liegt auf dem S. konzentrieren sich vor benötigten allem auf den zweiten Teil Teile sind klei- zweiten Teil: hier sollen die des Textes. ner gedruckt) Schüler zumindest herausfinden, warum der Text so schwer zu verstehen ist. (➝ Formulierung in – scheinbaren – Widersprüchen bzw. Paradoxien!) ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 92 Bonhoeffer 28.12. 92 28.12.2006, 11:14 Uhr UnterrichtsMethode/HandlungsMaterialien/ Bemerkungen phase muster, Sozialform Medien ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Reflexion Unterrichtsgespräch Arbeitsblatt Der zweifach verschiedene Vertiefung und AnGebrauch des Wortes »Gott« Mögliche Fragen: Wie merkungen/ macht den Text zunächst fast wirkt der Text auf die notierte unzugänglich. Wenn dies Schüler? Gibt es einen Fragen der einmal erkannt ist, kann die Gedanken/einen Satz, Schüler wirkliche Textarbeit stattfinden. der euch gut gefällt oder der euren Protest hervorruft? Warum ist der Text so schwer zu verstehen? (➝ Widersprüche bzw. Paradoxien!) S. finden heraus, dass von »Gott« einmal als abwesend (negativ) und als anwesend (positiv) die Rede ist. Sie äußern Verständnisprobleme. ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Da der Text oft mitten im Satz Erarbeitung L. fordert auf, den Text Arbeitsangeteilt werden muss, ist dieser (unter Auslassung der weisung mit kleiner gedruckten Teile) beispielhafter Arbeitsschritt sicherlich nicht durch farbige Markierung/ Farbdefinition ganz leicht für die Schüler. Dennoch sollte ihnen genüUnterstreichung in zwei auf Folie gend Zeit gegeben werden, um Teile zu teilen. z. B.: gelb = Aussagen über den Arbeitsblatt, erst einmal selbst zu »tüfteln«. Wenn die Lösung einfach nur abwesenden/überflüssi- Textmarker/ gen/nicht existierenden Stifte in min- vorgegeben wird, würde hier Gott; Aussagen, wie Gott destens zwei eine Möglichkeit verschenkt, (nach christlichem Ver(unterschied- bei der die Schüler einen sehr komplexen Text durch eigenes ständnis)/ Christus nicht lichen und ist; orange = Aussagen neuen) Farben Zutun verstehen können. Über dieses mögliche Erfolgserlebüber den Gott, der da ist/ nis sollte man (unter dem Geeine Rolle in unserem sichtspunkt der Motivation für Leben (als Christen!) weitere Textarbeit) gerade am spielt; Aussagen, wie Gott Anfang der Sekundarstufe II (nach christlichem Vernicht vorschnell hinwegeilen. ständnis)/Christus ist. Evtl. werden die ersten Sätze als Beispiele gemeinsam angestrichen. ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 93 Bonhoeffer 28.12. 93 28.12.2006, 11:14 Uhr UnterrichtsMethode/HandlungsMaterialien/ Bemerkungen phase muster, Sozialform Medien ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Computer und Die Tabelle eignet sich auch Auswertung/ Unterrichtsgespräch ErgebnisDer Text wird gemeinsam Beamer (und hervorragend zur Ergebnissievtl. Drucker); cherung. Im Idealfall kann sie Sicherung in der Klasse »auseinoder Folie (in schon im Unterricht ausgeandersortiert« und in druckt und an die Schüler vereine Tabelle »Ohne Gott/ »Zeilenstreifen«), Schere teilt werden. Der angestricheMit Gott« eingeordnet. und Overne Text allein (zumal im S. machen Vorschläge, head-Projek- ›Plenum‹ ja eine u.U. von der begründen diese, diskutor; oder Text Lösung des Einzelnen abweitieren untereinander: die auf großen chende gemeinsame Lösung Tabelle entsteht und wird Papierstreigefunden wird) führt nicht so am Schluss spaltenweise fen, Schere sehr zum »Aha-Erlebnis« wie gelesen. und Magnet- die Tabelle. Außerdem wird tafel. beim konsequenten Aufteilen L. fragt z. B.: Was für des Textes eher deutlich, dass Aussagen lassen sich es auch »strittige« Stellen gibt jetzt erkennen? Welches (bes.: »Der Gott, der mit uns Gottesbild hat Bonist, ist der Gott, der uns verhoeffer? Was unterscheilässt.«), an denen man evtl. det das christliche (biblitextimmanent nicht weitersche) Gottesverständnis kommt und andere Texte Bonvon dem »der Religionen« hoeffers zu Rate ziehen müssbzw. der »falschen te. (Gegen das Abschreiben Gottesvorstellung«? Was von Folie/Tafel spricht die Länbedeutet dies für uns ge und Gefahr der bloßen AbChristen? Welche Art von schreibübung) Christen wünscht sich Bonhoeffer? L. ergänzt, erklärt, wo nötig. Erwartetes Ergebnis aus der Textanalyse: – Feststellung: Z.1-7: moderne Natur- und Geisteswissenschaften kommen ohne Gott (= deus ex machina) aus – Konsequenz: Z.8-22: der moderne Christ soll sich dieser Situation bewusst stellen, er soll selbstbestimmt und mündig (er- 94 Bonhoeffer 28.12. 94 28.12.2006, 11:14 Uhr wachsen) sein – biblisch-theologische Begründung: Z.22ff.: Gott, der in Christus Mensch geworden ist (nicht deus ex machina), verzichtet auf Allmacht …, hilft gerade durch seine Schwachheit. L. druckt Tabelle für alle Beispielaus, entw. sofort oder bis tabelle zur nächsten Stunde. s. M 5/3 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Ausblick L. fordert die Schüler auf, (evtl. Im Idealfall haben die Schüler offene Fragen aufzuvorbereitete jetzt ja noch offene Fragen/ schreiben bzw. Themen, Stimmzettel) Interesse an der weiteren die zur Weiterarbeit Klärung einiger Punkte: z. B.: interessant wären, Bonhoeffers Gottesbild/ (aus einer vorbereiteten Vorstellung vom Christen in der Liste) auszuwählen Welt; Theodizee-Frage ➝ Hausaufgabe allgemein; Theologie vom leidenden Gott; Allmacht vs. Ohnmacht Gottes; … ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Abschluss/ Unterrichtsgespräch Arbeitsblatt Rückbezug Vergleich mit »Von guten (M 5/2) Mächten«: Besteht ein enthält Widerspruch zum Motiv Liedtext in Der Vergleich mit dem Lied soll der »Geborgenheit« (evtl. CDdas Bild abrunden und nimmt (»Gott ist mit uns« Spieler/ bewusst den Einstieg in die Strophe 3)? Ein erwarteInstrument) Stunde über den »frommen tes Ergebnis wäre z. B.: Bonhoeffer« wieder auf. Die Der Tenor ist derselbe: Schüler sollen erkennen, dass der Gott der Bibel räumt beides stimmig zusammennicht alle Hindernisse aus passt. unserem Leben, er mutet uns den »Kelch des Leids« (Nach einer so arbeitsintensizu, aber im Leid ist er an ven Doppelstunde einen fast unserer Seite. Hier könnte schon liturgischen Abschluss das Lied zum Abschluss zu machen, ist nicht in allen noch einmal vorgespielt/ Lerngruppen möglich. Wo dies gemeinsam gesungen möglich ist, sollte es aber um werden; auch ein der »Bodenhaftung« abstrakter Gedicht oder Gebet Theologie willen nicht verBonhoeffers könnte säumt werden.) (vor)gelesen werden ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 95 Bonhoeffer 28.12. 95 28.12.2006, 11:14 Uhr