4.3. Biomechanische Grundlagen des Turnens

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4.3. Biomechanische Grundlagen des Turnens
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
Bewegungslehre und Methodik
dargestellt am Beispiel
des Gerätturnens
Prof. Dr. Klaus Wiemann
© 2013
3
Biomechanische Grundlagen des Turnens.................................................. 4
3.1
Einige Grundbegriffe der Mechanik.......................................................................4
3.1.1 Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung................................................... 4
3.1.2 Kraft, Masse, Trägheit............................................................................... 7
3.1.3 Gewichtskraft und Schwerpunkt...............................................................10
3.1.4 Kraftstoß, Impuls und Impulserhaltung.....................................................14
3.1.5 Impulsaddition und Impulsübertragung.....................................................19
3.1.6 Impulsübertragung bei den Kippen............................................................27
1
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3.2
Definition der Drehbewegung................................................................................31
3.3
Drehwinkel, Drehgeschwindigkeit und Drehbeschleunigung.................................33
3.4
Erzeugung einer Drehbewegung...........................................................................35
3.5
Drehmasse, Trägheitsmoment...............................................................................46
3.6
Drehkraftstoß, Drehimpuls, Drehimpulserhaltung..................................................49
3.7
Scheinrotation und Drehrückstoß...........................................................................61
3.8
Drehimpulsübertragung..........................................................................................66
3.9
Biomechanik des Beinschneppers (Courbet).........................................................74
3.10
Biomechanik des Schwingens...............................................................................82
3.10.1 Definition: Pendeln - Schwingen ...............................................................82
3.10.2. Erklärung des Schwingens durch den Energiesatz..................................83
3.10.3. Bewegungsgleichung des Pendels ..........................................................84
3.10.4 Verstärkung des Schwunges durch Pendelverkürzung.............................90
3.10.5 Schwingen eines physikalischen Pendels.................................................94
3.10.6 Schwingen im Sturzhang.........................................................................103
3.10.7 Modifizierende Bedingungen für das Schwingen im Langhang...............110
3.10.8 Ausnutzen der Elastizität der Reckstange...............................................115
3.10.9 Konterschwünge und „Power-Technik“....................................................118
3.10.10 Schwingen im Stütz..............................................................................120
3.10.11 Schwingen an den Ringen....................................................................122
3.11
Biomechanik „elastischer“ Sprünge.....................................................................124
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3.12 Systematisierung turnerischer Bewegungen nach biomechanischen Kriterien.......130
3.12.1 Schwünge..................................................................................................132
3.12.2 Rotationen..................................................................................................135
3.12.3 Kippen........................................................................................................140
3.12.4 Impulsschaffende Zusatzaktionen..............................................................144
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Biomechanische Grundlagen des Turnen des Turnens
Nahezu alle turnerischen Fertigkeiten stellen entweder als Ganzes oder in entscheidenden Bewegungsabschnitten eine Drehung des
gesamten Körpers um irgendeine starre oder freie Achse dar oder enthalten zumindest in einzelnen Bewegungsphasen eine Drehung
des Körpers oder eines Körperteiles. Aus diesem Grunde steht die Biomechanik von Drehbewegungen im Zentrum dieses Kapitels,
wobei zuerst die Drehbewegung definiert wird (Kap. 3.2 und 3.3) und anschließend festzustellen ist, unter welchen Bedingungen der
Turnerkörper in eine Drehbewegung versetzt wird (Kap. 3.4). Daran schließt sich die Erläuterung der Frage an, wie der Turner mit der
vorhandenen Drehbewegung das Übungsziel erreichen kann, d.h. wie er mit der gewonnenen Drehbewegung haushalten muss
(Kap. 3.5 und 3.6). Ob beim Turnen auch Körperdrehungen möglich sind, ohne dass der Turnerkörper einen „Drehimpuls“ besitzt, wird
in Kap. 3.7 beantwortet, während sich das Kap. 3.10 mit einem „Spezialfall“ von Drehbewegungen befasst, nämlich dem Schwingen
um starre Achsen.
Zuvor sind jedoch einige Grundbegriffe der Mechanik zu erläutern, für die im Folgenden nicht jeweils ein eigenes Kapitel vorgesehen
werden kann, die jedoch bei der Besprechung der Drehbewegungen immer wieder auftreten (Kap. 3.1).
Dies soll mit einem vertretbaren Minimum an physikalischen Erläuterungen geschehen, um auch beim physikalisch Ungeschulten ein Verständnis zu erreichen
und damit ein Interesse an den biomechanischen Zusammenhängen zu wecken und zu erhalten. Aus diesem Grunde können und sollen hier auch keine Dispute
über die Berechtigung von Modellen, die die Wirklichkeit reduzieren und die physikalischen Zusammenhänge vereinfachen, geführt werden, obwohl man sich
bewusst sein muss, dass eine Vereinfachung immer auch die Gefahr mit sich bringt, Unkorrektheiten zu riskieren.
3.1
Einige Grundbegriffe der Mechanik
3.1.1 Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung
Die Bewegung eines Turners erkennt man daran, dass sein Körper (oder ein Teil desselben) seine Position gegenüber der Umgebung
von einem Zeitpunkt zum anderen verändert. Die räumliche Distanz von der ersten zur zweiten Position nennt man „Weg“.
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Läuft ein Turner an (Abb. 3.1), um einen Überschlag über einen Kasten auszuführen, legt er einen Weg (s)
zurück, der sich in Metern (m, hier als Beispiel 20 m) messen lässt und dessen Richtung durch den Ablaufpunkt
und die Absprungstelle definiert ist. Wege sind somit gerichtete Größen (= Vektoren). Gerichtete Größen werden
als Vektorpfeile dargestellt, wobei die Pfeilspitze die Richtung und die Pfeillänge den Betrag des Weges
wiedergeben.
Alle physikalischen Größen, die die Grundgröße „Weg“ enthalten wie Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft, Impuls u.a., sind ebenfalls gerichtete Größen. Hier
und im Folgenden wird davon abgesehen, dass die einzelnen Körperabschnitte des Turners unterschiedliche Wege zurücklegen. Statt dessen wird der Turner
auf einen Massepunkt reduziert.
Für das Zurücklegen des Anlaufweges benötigt der Turner eine bestimmte Zeit (t), die in Sekunden (s) gemessen wird. Nehmen wir
an, der Turner möge für den 20 m langen Anlauf bis zum Sprungbrett 4 s benötigen, dann legt er den Weg in einer
Durchschnittsgeschwindigkeit (v) von 5 m/s zurück. Allerdings ist seine Geschwindigkeit in einzelnen Zeitabschnitten des Anlaufes
unterschiedlich groß, weil er zu Anfang langsamer läuft, dann seine Geschwindigkeit steigert und kurz vor dem Absprung wieder
etwas verringert (Abb. 3.1).
Die durchschnittliche Geschwindigkeit (v) eines Turners in einem Teilabschnitt des Anlaufes zum Sprung über
den Kasten ergibt sich aus dem im Teilabschnitt zurückgelegten Weg (s), dividiert durch die dafür benötigte Zeit
(t), v = s/t bzw. v = (s2-s1)/(t2-t1), gemessen in m/s (Meter pro Sekunde).
In der Regel genügt es, die Durchschnittsgeschwindigkeiten in größeren oder kleineren Weg- oder Zeitabschnitten zu bestimmen. Will man die momentane
Geschwindigkeit in einem Zeitpunkt ermitteln, muss das Differential v = ds / dt berechnet werden.
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s [m]
10
0
v [m/s]
4
0
2
4
a [m/s ]
0
-4
t [s]
Abb. 3.1: Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung beim Anlauf zum Sprung über ein Gerät
Die Änderung der Geschwindigkeit im Beispiel Abb. 3.1, die Beschleunigung (a), gemessen in m/s², steigt erst langsam, nimmt dann
stärker zu, um – beim Reduzieren der Geschwindigkeit – einen negativen Wert anzunehmen. In diesen Fällen der negativen
Beschleunigung lässt sich auch von Verzögerung sprechen.
Die durchschnittliche Beschleunigung (a) in einem Teilabschnitt des Anlaufes ergibt sich aus der Geschwindigkeitsänderung
(v2-v1), dividiert durch die dazu benötigte Zeit (t2-t1), a = (v2-v1)/(t2-t1), gemessen in m/s2 (Meter pro Sekunde zum Quadrat).
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Die Momentanbeschleunigung berechnet sich durch das Differential a = dv / dt.
Der Anlauf zum Sprung über ein Turngerät erfüllt mindestens zwei Ziele. Zum einen will der Turner genügend Geschwindigkeit
erreichen, um nach dem Absprung das Gerät überfliegen zu können, bevor die Schwerkraft ihn wieder auf den Boden zieht. Zum
anderen aber muss die Anlaufgeschwindigkeit dazu ausgenutzt werden, den Turner auch in eine – je nach Art des Sprunges kleinere
oder größere – Drehbewegung zu versetzen. Dieses zweite Ziel, das auch bei einer Vielzahl anderer Turnübungen verfolgt werden
muss, wird oft übersehen und vernachlässigt, was dann zum Misslingen der Übung führen kann (s. dazu Kap. 3.4).
3.1.2 Kraft, Masse, Trägheit
Wenn ein Turner seinen Körper in Bewegung setzen (beschleunigen) will, beispielsweise bei einem Strecksprung, müssen seine
Muskeln aktiv werden, was dazu führt, dass zwischen dem Turnerkörper und dem Boden eine Kraft wirkt. Der Grund für diese
Notwendigkeit ist die Tatsache, dass der Turnerkörper ein Gebilde aus Materie ist und sich somit durch die Eigenschaft aller
materieller Körper, die Eigenschaft der Trägheit, auszeichnet.
Die Eigenschaft der Trägheit bezieht sich darauf, dass Körper (so auch der Körper des Turners) bestrebt sind, den
Zustand der Ruhe oder der geradlinig fortschreitenden Bewegung beizubehalten und sich Änderungen ihres
Bewegungszustandes zu widersetzen. Die Änderung des Bewegungszustandes setzt die Wirkung einer Kraft voraus
Diese Eigenschaft „Trägheit“ ist die Grundlage des Impulserhaltungssatzes, der in Kap 3.1.4 besprochen wird.
Je mehr Materie ein Körper besitzt, je größer seine Masse (m), die in kg gemessen wird, ist, desto größer ist auch seine Trägheit.
Der Turner erfährt die Trägheit seines Körpers dann, wenn er diesen in Bewegung setzen (wenn er ihn beschleunigen) will und zwar
durch seine Anstrengung, an der in erster Linie seine Muskeln teilhaben. Er nennt diese Anstrengung Kraft.
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Schon hier ist anzumerken, dass die Kraft, die der Physiker am Turner durch die Bestimmung von Masse und Beschleunigung misst, nicht mit der Anstrengung,
die der Turner empfindet, identisch ist (s. Kap. 6). Gleichwohl lässt sich feststellen, dass – in der Regel, aber nicht unter allen Bedingungen - dann, wenn der
Turnerkörper eine wachsende Beschleunigung erfahren muss, die Anstrengung seitens des Turners auch wachsen muss. Wenn umgangssprachlich auf die Kraft
eines Turners hingewiesen wird, ist in der Regel die Fähigkeit des Sportlers gemeint, große Kräfte zwischen sich und der Umwelt wirken zu lassen. Um mit dem
physikalischen Begriff der Kraft nicht in Konflikt zu kommen, wird im Folgenden in diesem Zusammenhang (in der Regel, wenn auch aus sprachlichen
Überlegungen nicht immer konsequent) von der Muskelkraft, der Arm- und Beinkraft oder generell der Stärke gesprochen.
Der Turner muss eine große Kraft erzeugen, wenn er große Teile seines Körpers oder gar seinen gesamten Körper (also eine große
Masse) in Bewegung setzen will – im Gegensatz zur Beschleunigung kleiner Körperteile (einer kleinen Masse). Ebenso muss eine
große Kraft erzeugt werden, wenn eine Masse in kurzer Zeit auf eine große Geschwindigkeit gebracht werden soll. Im Umgang mit
seinem Körper erfährt der Turner den Zusammenhang von Kraft, Körpermasse und der Änderung des Bewegungszustandes der
Masse, d.h., der Beschleunigung der Masse.
Die Wirkung einer Kraft (F) erkennt man daran, dass eine Masse (m) eine Beschleunigung (a) erfährt, F = m * a bzw. F =
m * s/t2 gemessen in kg*m/s2 bzw. in N (Newton).
Da beim Turnen die Masse des Turners durch seine Muskelkraft beschleunigt werden muss, ist es von Vorteil, wenn das
Verhältnis der Masse zur Muskelkraft klein ist, d.h. wenn der Turner leicht, aber stark ist.
Eine weitere Eigenschaft der Kraft wird dem Turner bewusst, wenn er seinen Körper in eine bestimmte Richtung beschleunigen will.
Dies setzt nämlich voraus, dass er die Kraft eben in dieser Richtung wirken lässt. Kräfte sind, wie der Weg, die Geschwindigkeit und
die Beschleunigung, gerichtete Größen (= Vektoren), wobei sich die Richtung der Kraft durch die Richtung des Weges (s) offenbart,
den der Körper durch den Beschleunigungsvorgang zurücklegt.
Der Turner kann seinen Körper in der Gesamtheit aber nur dann beschleunigen, wenn er sich von einem anderen Körper, vom Boden
oder vom Gerät, abstoßen kann. Daraus wird deutlich, dass zu einer Kraft (F) zwangsläufig immer eine Gegenkraft (-F) gehört, die
den gleichen Betrag hat wie die Kraft, dieser aber entgegengerichtet ist (Abb. 3.2 e).
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Unter der Wirkung einer Kraft werden stets zwei Körper in entgegengesetzter Richtung beschleunigt: ein Strecksprung
beschleunigt den Turnerkörper nach oben, den Boden mit der gesamten Erde in umgekehrter Richtung.
Es gilt:
F = -F oder
mt * at = me * -ae,
wobei mt und at Masse und Beschleunigung des Turners und me und -ae Masse und Beschleunigung der Erde darstellen. Da die
Masse der Erde im Vergleich zur Masse des Turners überproportional groß ist, kann die Beschleunigung der Erde gleich Null gesetzt
und vernachlässigt werden.
F
-F
F
-F
a
b
c
d
e
f
Abb. 3.2: Kräfte unterschiedlichen Betrages (a – c) und veränderter Richtung (d). Kraft bzw. actio, F, und Gegenkraft bzw. reactio, -F, (e und f)
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Welcher der beiden „Partnerkräfte“ als actio (F) und welcher als reactio (-F) bezeichnet wird, hängt vom Interpretierenden ab. Man kann bei einer Muskelaktion,
beispielsweise bei einem Absprung vom Boden, die Kraft, die in Richtung der Beschleunigung des Sportlerkörpers weist, zur actio erheben und die Kraft, die
dabei auf das Widerlager drückt, als reactio. Es lässt sich aber mit gleicher Berechtigung die Kraft, mit der die abspringenden Beine gegen den Boden drücken,
als actio definieren und den Widerstand des Bodens als reactio.
Bewegt sich der Turner nach einem Absprung frei fliegend durch die Luft und führt er die gleiche Beinstreckbewegung mit der gleichen
Anstrengung aus wie beim Sprung vom Boden, kann er seinen Körper in der Gesamtheit nicht beschleunigen, da die Aktion nicht auf
einen zweiten, außerhalb des Turnerkörpers gelegenen Körper trifft. Die erzeugte Kraft ist in Bezug auf den Turnerkörper eine innere
Kraft, sie kann nur Teilkörper des Turners beschleunigen, den Oberkörper nach oben und (durch die zwangsläufige Reaktionskraft)
den Unterkörper nach unten (Abb. 3.2 f). Sieht man von Luftreibung und Schwerkraft ab, kann man den Turner in diesem Fall ein
kräftefreies System nennen.
In einem kräftefreien System (z.B. im Körper des Turners beim Flug nach dem Absprung) können nur innere Kräfte wirken.
Diese bewegen zwar Teilkörper des Systems gegeneinander, können das System insgesamt jedoch nicht beschleunigen.
3.1.3 Gewichtskraft und Schwerpunkt
Neben der Trägheit ist die Schwere eine zweite Eigenschaft der Masse. Diese resultiert aus dem Phänomen, dass sich Massen
untereinander anziehen bzw. sich aufeinander zu beschleunigen. Die Beschleunigung zwischen der Masse der Erde und der Masse
von Körpern, die sich auf der Erde befinden, die Erdbeschleunigung bzw. Gravitationskonstante, beträgt g = 9,81 m/s2.
Das Gewicht eines Körpers wird durch die Kraft, die Gewichtskraft (FG), bestimmt, mit der seine Masse (m) durch die
Gravitation in Richtung des Erdmittelpunktes beschleunigt wird.
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Ein Turner mit der Masse von m = 60 kg besitzt somit die Gewichtskraft (das „Gewicht“) von FG = 60 kg * 9,81 m/s2, also
588,6 kg*m/s2 oder 588,6 N.
Obwohl die Erdbeschleunigung auf alle Massenteile (oder Massenteilchen) eines Körpers einwirkt, ist es zweckmäßig, einen Punkt zu
benutzen, der als gedanklicher Vertreter der gesamten Körpermasse dienen kann. Dies ist der Schwerpunkt (= Massenmittelpunkt)
eines Körpers.
Der Schwerpunkt eines Körpers ist dadurch definiert,
- dass er sich so bewegt, als wäre die gesamte Masse des Körpers auf ihn konzentriert, bzw.
- dass man ihn sich als Angriffspunkt der Schwerkraft denken kann.
Diese Definition wird in physikalischen Lehrbüchern generell verwendet. Sie wird hier zum Zweck des besseren Verständnisses seitens der physikalisch weniger
geschulten Leser beibehalten, auch wenn man dagegen Bedenken anmelden könnte.
Da der Körper des Turners kein starres System darstellt, hat der Körperschwerpunkt keinen festen Platz im Körper, sondern seine
Lage verändert sich in Abhängigkeit von der Formveränderung des Körpers und von der Stellung der Gliedmaßen. Unter Umständen
kann er sogar außerhalb des Körpers liegen (Abb. 3.3), was den ideellen Charakter des Massenmittelpunktes deutlich macht. Er ist
außerdem derjenige Punkt, um den sich ein frei in der Luft befindlicher Körper dreht. Bei einem Salto vorwärts beispielsweise stellt der
Körperschwerpunkt den einzigen Punkt dar, der sich auf einer Wurfparabel bewegt (Abb. 3.3 e).
Die Lage des Schwerpunktes in Bezug zur Unterstützungsfläche bzw. zum Aufhängepunkt bestimmt das Gleichgewicht eines Körpers.
Da sich im Schwerpunkt die Schwerkraftmomente (s. Kap. 3.4) aller Massenteilchen zu Null addieren, strebt der Schwerpunkt eine
stabile Lage senkrecht unter dem Aufhängepunkt an (Abb. 3.3 d, stabiles Gleichgewicht). Andererseits ist ein Körper nur dann
standfest, wenn der Schwerpunkt senkrecht über der Unterstützungsfläche (oder dem Unterstützungspunkt, labiles Gleichgewicht)
liegt (Abb. 3.3 a und b)
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= KSP
a
b
c
d
e
Abb. 3.3: Lage des Körperschwerpunktes (KSP) bei unterschiedlichen Körperpositionen (a – c) sowie beim stabilen Gleichgewicht (d) und beim
labilen Gleichgewicht (a – b). Bewegung des KSP auf der Wurfparabel (e) beim Salto vorwärts.
Befindet sich der Schwerpunkt des Turners – z.B. im ruhigen Hang – senkrecht unter dem Aufhängepunkt, besitzt der Turner
ein stabiles Gleichgewicht. Befindet sich der Schwerpunkt oberhalb des Unterstützungspunktes – z.B. im aufrechten Stand
oder im Handstand - , spricht man von einem labilen Gleichgewicht. Die Standfestigkeit im labilen Gleichgewicht steigt mit
der Größe der Unterstützungsfläche und sinkt mit zunehmender Höhe des Schwerpunktes über der Unterstützungsfläche.
Die Bedeutung von Kraft und Schwerkraft im Turnen ist allgegenwärtig. Wie in kaum einer anderen Sportart liegt der Reiz im
Turnen bzw. im akrobatischen sich-Bewegen darin, die Schwerkraft zu überlisten und sich bei der Ausführung der akrobatischen
Elemente leicht und quasi schwerelos zu fühlen. Das Kraft/Last-Verhältnis – genauer – das Verhältnis der Kraft, die von der
Muskulatur erzeugt und zwischen Umwelt und Turnerkörper zur Wirkung gebracht werden kann, zur Schwerkraft des Turnerkörpers
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bestimmt, welche Geschwindigkeit dem Körper bei Sprüngen vermittelt werden kann und prägt auf diese Weise die Flughöhe und
damit die Zeit für das Erlebnis der „Schwerelosigkeit“. Die Kraft der Arm und Schultermuskulatur beeinflusst den Anstrengungsgrad
beim Stützen und Hängen und damit das Gefühl der Mühelosigkeit. Um so wichtiger ist es, bei ungünstigem Kraft/Last-Verhältnis die
mechanischen Bedingungen, die sich nicht außer „Kraft“ setzen lassen, zu berücksichtigen, um sich die Ausführung turnerischer
Elemente nicht überflüssig zu erschweren.
b
a
f
c
e
d
g
h
Abb. 3.4: Günstige (a – e) und ungünstige, überflüssige Anstrengung erfordernde (f – h) Zuordnung von Körperschwerpunkt, Schultergelenk
und Unterstützungspunkt bzw. Aufhängepunkt.
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Wer beim Handstand den Körperschwerpunkt senkrecht über die Unterstützungsfläche und senkrecht über das Schultergelenk bringt
(Abb. 3.4 a-b), benötigt kaum Stützkraft, um die Körpermasse zu trage, im Gegensatz zu dem Fall, bei dem bei vorgeschobener
Schulter in den Handstand aufzuschwingen versucht wird (Abb. 3.4 f). Gleiches gilt für das Rad am Boden (Abb. 3.4 c), das bei
richtiger Ausführung kein besonders günstiges Kraft/Lastverhältnis erfordert. Wer beim Schwingen im Langhang Aufhängepunkt,
Schultergelenk und Körperschwerpunkt auf einer Linie hält (Abb. 3.4 d), kann ohne große Anstrengung den Schwung zu Ende führen,
ohne befürchten zu müssen, unter der Wirkung der Schwerkraft senkrecht unter dem Aufhängepunkt den Griff zu verlieren wie
derjenige, der den Schwung mit gebeugten Armen und „Hohlkreuzhaltung“ beginnt (Abb. 3.4 g). Auch beim Unterschwung wird die
Zuordnung von Schwerpunkt und Reckstange schon in der Anschwungphase darüber entscheiden, ob die Bewegung zu einem
schwunghaften wenig Anstrengung erfordernden Bewegungserlebnis führt oder nicht (Abb. 3.4 e und h).
Erfolgreiches und freudvolles Turnen ist vielfach keine Frage der Muskelkraft, sondern der Fähigkeit, die vorhandene
Muskelkraft physikalisch richtig einzusetzen.
3.1.4 Kraftstoß, Impuls und Impulserhaltung
In den bisherigen Betrachtungen wurde außer Acht gelassen, dass sich ein Turner, will er seinem Körper durch einen Absprung eine
Aufwärtsgeschwindigkeit vermitteln, nicht nur Kraft auf die Absprungstelle wirken lassen muss, sondern dass diese Kraft auch eine
bestimmte Zeit wirken muss, bis der Körper die gewünschte Aufwärtsgeschwindigkeit erreicht hat.
Lässt der Turner eine Kraft (F) eine bestimmte Zeit (t) lang wirken, produziert er einen Kraftstoß (p). Dieser ist direkt dafür
verantwortlich, mit welcher Geschwindigkeit (v) sich die Körpermasse - z.B. nach einem Absprung - aufwärts bewegt. Das
Produkt aus Masse (m) und Geschwindigkeit wird „Bewegungsgröße“ bzw. Impuls (p) genannt. Es gilt die Beziehung:
Kraftstoß = Impuls, F * t = m * v = p.
Da die vorhandene Muskelkraft zur Änderung des Bewegungszustandes des Turners begrenzt ist, kann auf dem Wege über
die Vergrößerung der Wirkungszeit (t) der Kraft (F) versucht werden, den erforderlichen Kraftstoß zu erzielen.
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In der Regel wird der Kraftstoß in Newton mal Sekunde (N * s bzw. Ns), der Impuls in Kilogramm mal Meter pro Sekunde (kg * m/s)
gemessen.
Da beide Maßeinheiten identisch sind, kann man auch Kraftstoß und Impuls als identische Größen ansehen. Somit überrascht es nicht, dass häufig – sowohl in
der Physik als auch in der Umgangssprache - der Begriff des Impulses auch für den Kraftstoß verwendet wird. Im Folgenden soll jedoch aus Gründen der
besseren Unterscheidung die Beziehung „Kraft mal Zeit“ Kraftstoß, die Beziehung „Masse mal Geschwindigkeit“ Impuls (ersatzweise Bewegungsgröße oder –
wie in der Umgangssprache – Wucht oder Schwung) genannt werden.
Der Impuls ist eine gerichtete Größe (ein Vektor), wobei die Richtung des Impulses von der Richtung der Geschwindigkeit bestimmt
wird. Gleiches gilt für den Kraftstoß, der seine Richtung durch die Richtung der Kraft erhält.
v2
v1
v3
p2
p3
p1
Abb. 3.5: Darstellung von Geschwindigkeiten und Impulsen unterschiedlicher Größe und Richtung
Die Bedeutung von Betrag und Richtung von Impulsen soll an folgendem Beispiel erläutert werden: Drei Turner springen im Rahmen
eines Synchronturnens gleichzeitig vom Minitrampolin (Abb. 3.5) Die Aufgabe dabei ist natürlich, nicht nur zum gleichen Zeitpunkt
abzuspringen, sondern auch gleich weit zuspringen und zum gleichen Zeitpunkt zu landen, was natürlich nur geschehen kann, wenn
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die drei Turner bei gleichem Absprungwinkel gleiche Absprunggeschwindigkeiten erzeugen. Da nun die Turner unterschiedlich schwer
sind, Turner 1 = 60 kg , Turner 2 und Turner 3 jeweils 70 kg, müssen die Turner 2 und Turner 3 einen größeren Kraftstoß am
Minitrampolin erzeugen als Turner 1. Dies möge Turner 2 auch gelingen, so dass er zusammen mit Turner 1 eine
Absprunggeschwindigkeit von v1 = v2 = 4 m/s in exakt der gleichen Richtung erreicht, in Abb. 3.5 verdeutlicht durch die gleich langen
und gleich gerichteten Vektorpfeile v1 und v2. Trotz gleich großer und gleich gerichteter Geschwindigkeiten besitzt Turner 2 nach dem
Absprungkraftstoß jedoch einen größeren Impuls als Turner 1, weil seine Masse größer ist. Turner 1 hat den Impuls p1 = 240 kg*m/s
und Turner 2 den Impuls p2 = 280 kg*m/s, in Abb. 3.5 erkennbar an den unterschiedlich langen Vektorpfeilen p1 und p2. Die
Voraussetzung für die unterschiedlich großen Impulse waren natürlich unterschiedlich große Kraftstöße auf der Absprungstelle, wobei
Turner 1 einen Kraftstoß von 240 Ns und Turner 2 einen Kraftstoß von 280 Ns erzeugen mussten. Die hier im Beispiel
angenommenen Beträge und Richtungen der Impulse gelten nur für den Augenblick, in dem die Turner die Absprungstelle verlassen.
Sobald die Turner den Flug beginnen, kommt die Erdbeschleunigung zur Wirkung und verändert Betrag und Richtung der Impulse
ständig, und zwar unabhängig von der unterschiedlichen Masse der Turner, so dass beide Turner zum gleichen Zeitpunkt landen –
wie von ihnen geplant.
Im vorliegenden angenommenen Beispiel gelingt Turner 3 () die Aufgabe des synchronen Turnens weniger gut. Sein AbsprungKraftstoß gerät zu groß (315 Ns) und zielt zusätzlich steiler nach oben, so dass Turner 3 nach Verlassen der Absprungstelle eine zu
große (4,5 m/s) und zu steile Absprunggeschwindigkeit besitzt. Die Folge ist, dass er wesentlich höher springt und demgemäß
deutlich später landet.
Aus diesem Beispiel wird deutlich, dass die Aufgabe, sich mit anderen Turnern zusammen synchron zu bewegen, recht anspruchsvoll ist. Die Frage ist, welche
Kriterien die Turner heranziehen, um den Absprung-Kraftstoß auf das zutreffende Maß begrenzen zu können. Turner 2 nützt es nicht zu wissen, dass er 10 kg
mehr wiegt als Turner 1 und dass er deshalb einen stärkeren Absprung-Kraftstoß als Turner 1 ausführen muss. Dazu müsste er abschätzen können, welche
Kraft Turner 1 erzeugt, und seine eigene Absprungkraft derart darauf abstimmen, dass er die gleich Abfluggeschwindigkeit bekommt. Auch die
Bewegungsgeschwindigkeiten oder gar Impulse können Turner weder an sich, noch am Partner abschätzen. Die einzige brauchbare Information ist die Flugzeit.
Diese müssen die Sportler untereinander absprechen bzw. festlegen, am einfachsten unter Vorgabe eines Bewegungsrhythmus. Dann sind die Bewegungen so
lange zu üben, bis den Turnern es gelingt, unter Antizipation der Flugzeit den Absprungkraftstoß in der verlangten individuellen Größe (und Richtung) zu treffen,
und somit gleichzeitig abspringen und gleichzeitig wieder landen (Näheres zur Bewegungswahrnehmung, -vorstellung und Koordination s. Kap 6).
Käme im oben genannten Beispiel der Synchronturner nach dem Absprung vom Trampolin nicht die Schwerkraft zur Wirkung, würden
sich Turner 1 und 2 mit der durch den Absprung-Kraftstoß erzeugten Geschwindigkeit von 4 m/s nebeneinander geradlinig und stetig
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weiter bewegen, Turner 1 mit dem Impuls 240 kg*m/s, Turner 2 mit dem Impuls 280 kg*m/s. In dieser Bewegung käme der
Impulserhaltungssatz zum Ausdruck.
p1
p2
Abb. 3.6: Verdeutlichung des Impulserhaltungssatzes
Der Impulserhaltungssatz – kurz auch: Impulssatz - besagt, dass in einem
System, auf das keine äußeren Kräfte wirken, also in einem abgeschlossenen
(kräftefreien) System, die Summe aller Impulse konstant (unveränderlich) ist.
Dies kann selbstverständlich nur im Zustand der Schwerelosigkeit geschehen, beispielsweise dann, wenn - in einem
Gedankenexperiment – die Turner im Weltraum ihr Trampolin an der Außenwand einer Weltraumstation befestigt hätten (Abb. 3.6).
Würde in diesem Fall ein Absprung-Kraftstoß den Turnern einen Impuls vom oben angeführten Betrag vermitteln, würden sich die
Turner als kräftefreie Systeme mit konstanter Geschwindigkeit und konstanter Richtung von der Raumstation weg bewegen. Selbst
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heftigste Aktionen von Armen und Beinen könnten den Gesamtimpuls des Körpers nicht beeinflussen, sondern nur zu
Massenverlagerungen innerhalb des Körpers führen. Selbst die größten Anstrengungen würden nicht verhindern können, dass sich
der Schwerpunkt unbeirrt von der Raumstation fort bewegen würde.
Auf der Erdoberfläche kann ein solches Ereignis nicht stattfinden, da der Körper des Turners stets der Wirkung äußerer Kräfte
(Schwerkraft, Reibungskräfte, Muskelaktionen, sofern letztere zwischen Turnerkörper und Umwelt zur Wirkung kommen) ausgesetzt
ist.
pf4
p
as
pf1
pf5
pf4
pf2
pab
pf1
pg
pan
pf5
pf3
pg
pg
paf
pf6
pan
pf7
Abb. 3.7: Beispiel für die Beeinflussung der Bewegung des Körperschwerpunktes durch äußere Kräfte im Ablauf einer Hocke über den Kasten.
Folgende Impulse bzw. Kraftstöße sind dargestellt: pab Absprung; paf Abfedern bei der Landung; pan Anlauf; pas Abstützen auf dem
Kasten; pf1 bis pf7 Flugbewegung; pg Schwerkraft (rot)
Am Beispiel einer Hocke über den Kasten (Abb. 3.7) soll dies verdeutlicht werden. Der durch den Anlauf gewonnene Impuls pan in
horizontaler Richtung wird durch den Absprung-Kraftstoß (pab) in einen nach vorn schräg aufwärts gerichteten Impuls der
Flugbewegung (pf1) umgeändert. Dieser unterliegt dem Einfluss der Schwerkraft (pg), wobei seine horizontale Komponente - wenn
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man den geringen Einfluss des Luftwiderstandes vernachlässigt – gemäß dem Impulssatz erhalten bleibt, seine vertikale Komponente
aber unter der Wirkung der Schwerkraft nach Größe und Richtung verändert wird (pf1 wird zu pf2). Erst durch den Kraftstoß des
Aufstützens des Turners auf dem Kasten (pas) kann die Bewegungsrichtung des Schwerpunktes geändert werden zur zweiten
Flugbewegung (pf4). Nach Verlassen des Kasten bewegt sich der Schwerpunkt wieder auf der nur durch die Schwerkraft bestimmten
Wurfparabel (pf5, pf6). Aktionen des Turners wie beispielsweise das Anhocken der Beine oder Bewegungen des Kopfes und der Arme
erzeugen innere Kräfte, da sie nicht auf einen Körper, der außerhalb des Turnerkörpers gelegen ist, wirken können. Sie verlagern
lediglich Teilmassen des Turnerkörpers gegeneinander, ohne den Gesamtimpuls des Turnerkörpers, vertreten durch den Impuls des
Schwerpunktes, beeinflussen zu können. Erst mit dem Aufsetzen der Füße auf den Boden kann der Kraftstoß der Landeaktion (paf)
den Impuls des Schwerpunktes (pf7) aufheben.
Generell lässt sich feststellen:
Nach einem Absprung frei sich im Raum bewegend kann der Impuls eines Turnerkörpers, dessen Masse durch seinen
Körperschwerpunkt vertreten wird, durch innere Kräfte (Muskelkräfte) nicht geändert werden, sondern Richtung und
Geschwindigkeit der Bewegung des Körperschwerpunktes werden allein durch die Schwerkraft verändert.
3.1.5 Impulsaddition und Impulsübertragung
Immer dann, wenn sich im Laufe von Muskelaktionen Körperteile gegeneinander bewegen, findet eine Addition bzw. Übertragung von Impulsen statt. Aus diesem
Grunde muss der Begriff „Impulsübertragung“ für die Erklärung aller möglichen Bewegungsphänomene insbesondere im Gerätturnen herhalten, ohne dass damit
eine Falschaussage riskiert wird. Eine brauchbare Erklärung wird damit meistens nicht geliefert, weshalb dieses Thema hier und in Kap. 3.8 ausführlich
behandelt werden muss.
Die Körperaktionen der in diesem Kapitel besprochenen Beispiele stellen unterschiedliche Drehbewegungen um Gelenkachsen dar. Somit man müsste streng
genommen mit dem Begriff des Drehimpulses argumentiert werden. Um die Sache aber nicht über Gebühr zu komplizieren, wird hier zuerst nur mit der
translatorischen Komponente gearbeitet und erst in Kap. 3.8 die Rotation mit eingeführt.
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20
Das Beispiel von Abb. 3.7 zeigt, wie der Impuls des Körperschwerpunktes unter der Wirkung eines Kraftstoßes nach Betrag und
Richtung geändert werden kann. So addiert sich beispielsweise zum Impuls des Anlaufes (pan), der während und nach dem Absprung
erhalten bleibt, der Absprungimpuls (pab), so dass der Gesamtimpuls des Turners einen neuen Betrag und eine neue Richtung erhält.
Es handelt sich hier um eine vektorielle Addition. Die vektorielle Addition von Impulsen ist eine Konsequenz des Impulssatzes und
muss immer dann berücksichtigt werden, wenn auf einen Körper mit vorhandenem Impuls ein zweiter (oder dritter) Impuls (bzw.
Kraftstoß) einwirkt oder wenn zwei oder mehrere Kraftstöße gleichzeitig auf einen Körper einwirken. Vektorielle Addition
veranschaulicht man mit Hilfe des Vektoren-Parallelogramms.
Erzeugt ein Turner zwei oder mehrere Impulse gleichzeitig oder wirkt auf den Turnerkörper mit einem bereits vorhandenen
Impuls ein zweiter Impuls, addieren sich die Einzelimpulse vektoriell.
pl+s
pG
pa
pa
pa
pa
pa
ps
pG
pl
pl+s
pl+s
pG
pl+s
pk
pb
pb
pa
pk
a)
b)
Abb. 3.8: Beispiele der Addition von Einzelimpulsen im Körperschwerpunkt.
c)
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21
Die turnpraktische Bedeutung der vektoriellen Addition soll am Beispiel des Absprunges zum Salto vorwärts (Abb. 3.8) verdeutlicht
werden. Anlauf (pl) und Sprungkraftstoß (ps) vermitteln dem Turner einen schräg nach vorn oben gerichteten Absprungimpuls (pl+s).
Jeder hat erfahren, dass er durch einen kräftigen beidseitigen Armschwung den Absprung unterstützen kann. Dabei drehen sich die
Arme im Schultergelenk aus einer Rückhalte mit steigender Geschwindigkeit nach vorn oben, wobei sich die Richtung des Impulses
ständig ändert. Wie müssen nun der Absprungimpuls (pl+s) und der Impuls der Armbewegung (pa) zueinander koordiniert sein, damit
bei vektorieller Addition ein möglichst großer Gesamtimpuls zustande kommt?
Da der Gesamtimpuls des Körpers nur so lange durch Teilimpulse beeinflusst werden kann, wie der Körper Kontakt mit der Umwelt
(Boden) besitzt, ist für den Betrag und die Richtung des Gesamtimpulses die Richtung und die Beträge der Teilimpulse unmittelbar vor
Verlassen des Bodens von Bedeutung. Durchlaufen in diesem Augenblick die Arme gerade die Waagerechte, hat der
Armschwungimpuls (pa) die gleiche Richtung wie der Absprungimpuls (pl+s), so dass ein recht großer Gesamtimpuls (pG) zustande
käme (Abb. 3.8). Aber der Betrag des Armschwungimpulses (pa) könnte noch anwachsen, wenn die Arme weiter über die
Waagerechte hinaus nach oben geschwungen würden (Abb. 3.8 b). Allerdings fällt in diesem Fall die Richtung des
Armschwungimpulses (pa) derart ungünstig aus (Abb. 3.8 b), dass die Addition zum Absprungimpuls (pl+s) eine für das Ziel der Übung
ungünstige Richtung des Gesamtimpulses ergäbe (Abb. 3.8 b). Die günstigste zeitliche Zuordnung beider Impulse muss man somit
dann erwarten, wenn kurz vor dem Augenblick, in dem die Füße den Kontakt mit dem Boden verlieren, die Arme um wenige Grad die
Waagerechte durchschwungen haben.
Das biomechanische Prinzip der zeitlichen Koordination von Einzelimpulsen (HOCHMUTH 1982) verlangt somit:
Sollen zwei (oder mehrere) Teilimpulse zu einem möglichst großen Gesamtimpuls führen, müssen die Teilimpulse so
koordiniert werden, dass sie möglichst zum gleichen Zeitpunkt ihren maximalen Betrag durch maximale
Geschwindigkeiten erreichen. Sie sollten in diesem Augenblick auch in die gleiche Richtung zielen.
Ein Beispiel der Addition von drei Teilimpulsen zeigt Abb. 3.8 c (Kippstrecken aus der Nackenkipplage in den Handstand).
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22
Man erkennt, dass es nicht notwendig ist, stets die Vektorenparallelogramme zu zeichnen. Es genügt, die Vektorpfeile, die die drei Kraftstöße aus den Aktionen
Strecken der Hüfte (pb), Abdruck des Kopfes vom Boden (pk) und Strecken der Arme (pa) symbolisieren, derart aneinander zu setzen, als würden sie
nacheinander auftreten. Der Verbindungspfeil des Startpunktes des ersten Kraftstoßes mit dem Endpunkt des letzten Kraftstoßes stellt dann den Gesamtimpuls
(pG) dar. In der Turnpraxis werden diese drei Kraftstöße, die im übrigen auch im Laufe der Rolle rückwärts in den Handstand ausgeführt werden, nicht völlig
simultan, sondern in der hier besprochenen Reihenfolge zeitlich etwas versetzt realisiert. Da die Aktionen mehr oder weniger in senkrechter Richtung erfolgen,
müsste streng genommen noch der Einfluss der Schwerkraft als vierter Kraftstoß mit berücksichtigt werden.
Häufig findet man die Behauptung, man müsse am Ende des Absprunges den Armschwung aktiv abbremsen, damit der Impuls der
Arme auf den Körper übertragen, die „Bodenreaktionskräfte“ erhöht und somit der Absprung unterstützt würde. Um zu prüfen, ob
diese Aussage richtig ist, sollen zuerst zwei einfache Experimente (Abb. 3.9 und Abb. 3.10), die man selbst leicht nachvollziehen
kann, besprochen werden.
KSPG
KSPt1
pt1
Abb. 3.9: Beispiel der Impulserhaltung durch actio-reactio
KSPt2
pt2 = - pt1
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Zwei Turner sitzen hintereinander auf je einem Skateboard, wobei Turner 1 die Füße der gewinkelten Beine auf den Rücken von
Turner 2 plaziert. Beide Turner (und beide Skateboards) sind gleich schwer. Somit bildet KSPt1 den Körperschwerpunkt von Turner 1
(+Skateboard), KSPt2 den Körperschwerpunkt von Turner 2 (+Skateboard) und KSPG den Schwerpunkt des gesamten aus zwei
Turnern und zwei Skateboards bestehenden Systems.
Sind die Skateboard-Rollen optimal geölt, kann man annehmen, dass die Rollreibung gegen Null strebt. Diese Bedingung ist (zumindest die gedankliche)
Voraussetzung für dieses Experiment, damit das System, das aus beiden Turnern (+ Skateboards) gebildet wird, in horizontaler Richtung als kräftefrei gelten
kann.
Führt nun Turner 1 eine heftige Beinstreckbewegung aus, wirkt zwischen beiden Turnern ein Kraftstoß (actio+reactio), der Turner 1
den Impuls pt1 nach links und Turner 2 den Impuls pt2 nach rechts vermittelt. Da das System in horizontaler Richtung als kräftefrei
gelten kann und außerdem beide Turner gleiche Massen besitzen, bewegen sich beide Turner mit gleicher Geschwindigkeit, aber
umgekehrter Richtung vom Ausgangspunkt weg. Die Impulse beider Turner sind gleich groß, aber entgegengerichtet. Es gilt: pt2 = pt1. Die Konsequenz ist, dass das Gesamtsystem unbewegt (unbeschleunigt) bleibt, weil sich in einem kräftefreien System die
Teilimpulse (hier: pt1 und pt2 ) zu Null addieren. Der Schwerpunkt des Gesamtsystems (KSPG) bleibt am ursprünglichen Ort, so weit
sich auch die Turner voneinander entfernen mögen.
Letzteres würde auch gelten, wenn beide Turner unterschiedlich schwer wären, beispielsweise Turner 1 das Gewicht 75 kg und Turner 2 das Gewicht 60 kg
besitzen würden. Nähme man an, Turner 1 bekäme durch den Kraftstoß eine Geschwindigkeit nach links von 2 m/s (und somit den Impuls von 150 kg*m/s), dann
bekäme Turner 2 die Geschwindigkeit nach rechts von (-) 2,5 m/s (und somit den Impuls von (-) 150 kg*m/s). Auch hier bliebe das Gesamtsystem, weil kräftefrei,
unbewegt, sein Impuls bliebe unverändert (= erhalten).
In einem zweiten Experiment wird die Ausgangsbedingung nur dadurch geändert, dass das Skateboard von Turner 2 direkt vor einer
Wand steht (Abb. 3.10). Außerdem sind beide Skateboards durch ein stabiles, etwa 1 m langes Seil miteinander verbunden. In der
Ausgangsstellung liegt das Seil lose zwischen den beiden Skateboards auf dem Boden (Abb. 3.10 a).
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KSPt1
KSPG
24
KSPt2
a)
vG
vt1
pt1
- pt1
=
- pG
vG
vt1
pt1
vt2
pG
pt2
F*t
vt1
pt1
b)
pG
pG
vG
Abb. 3.10: Beispiel der Impulsübertragung
c)
- F*t
vt2
pt2
d)
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Führt nun Turner 1 die schon bekannte Beinstreckbewegung aus (Abb. 3.10 b), bewegt sich Turner 1 mit der Geschwindigkeit (vt1)
nach links, er erthält somit den Impuls pt1. Turner 2 bleibt im Gegensatz zum ersten Experiment unbewegt – zwangsläufig, weil sein
Skateboard von der Wand, vor der es steht, an einer Bewegung nach rechts gehindert wird. Es scheint so, als ob Turner 2 keinen
Impuls bekäme. Aus Kap. 3.1.2, in dem das Actio-reactio-Prinzip besprochen wurde, wissen wir, dass in jedem Fall ein gleich großer,
entgegen gerichteter Impuls auftreten muss. Dieser entsteht in demjenigen Körpersystem, das aus Turner 2, der Wand und der daran
fest verbundenen Erde besteht. Da die Masse dieses Körpersystems im Vergleich zu der Masse von Turner 1 nahezu unendlich groß
ist, ist die Geschwindigkeit, mit der sich dieses System (Turner 2+Wand+Erde) nach rechts bewegt, praktisch gleich Null.
Betrachtet man jetzt dasjenige Körpersystem, das aus den beiden (gleich schweren) Skateboardern mit ihren Skateboards besteht,
müssen wir feststellen, dass dieses System, im Gegensatz zum ersten Experiment auch einen Impuls bekommen hat, der im Grunde
genau so groß ist wie pt1 (Abb. 3.10 b). Da die Masse dieses Gesamtsystems, vertreten durch seinen Schwerpunkt KSPG, aber
doppelt so viel Masse besitzt wie das Teilsystem KSPt1 (Turner 1 + Skateboard), ist seine Geschwindigkeit (vG) nach links
zwangsläufig nur halb so groß wie diejenige von Turner 2 (Abb. 3.10 b).
Was passiert nun in demjenigen Zeitpunkt, in dem sich Turner 1 so weit nach links bewegt hat, dass sich das Seil zwischen den
beiden Skateboards spannt? In Bezug auf Turner 1 (vertreten durch seinen Schwerpunkt KSPt1) ist die Kraft, die von der Spannung
des Seiles herrührt, eine äußere Kraft, denn sie wirkt auf einen zweiten Körper, nämlich auf Turner 2 (bzw. KSPt2). In Bezug auf das
Körpersystem Turner 1+Turner 2, vertreten durch den Schwerpunkt KSPG, ist diese Kraft (mit ihrer Gegenkraft) aber eine innere Kraft,
da sie auf kein Körpersystem wirken kann, das sich außerhalb dieses Körpersystems befindet. Aus diesem Grunde vermindert der
Kraftstoß (F*t), der das Seil spannt, den nach links gerichteten Impuls pt1 von Turner 1 und sein Gegenkraftstoß (– F*t) vermittelt
Turner 2 einen – ebenfalls nach links gerichteten Impuls (pt2). Der Impulsverlust von Turner 1 entspricht vom Betrag her dem
Impulsgewinn von Turner 2. Deshalb lässt sich sagen: Ein Teil des Impulses von Turner 1 wird auf Turner 2 übertragen. Der Impuls
des Gesamtsystems Turner 1+Turner 2 wird jedoch nicht verändert. Die Folge ist, dass sich das Gesamtsystem bzw. sein
Schwerpunkt KSPG nach der Spannung des Seiles, d.h., nach der Impulsübertragung (Abb. 3.10 c und.Abb. 3.10 d), mit der gleichen
Geschwindigkeit (vG) nach links bewegt, wie vor der Impulsübertragung (Abb. 3.10 b). Sind beide Turner – wie vorausgesetzt – gleich
schwer, hat die Impulsübertragung lediglich bewirkt, dass sich die Geschwindigkeit (vt1) von Turner 1 auf die Hälfte verringert hat,
während Turner 2 sich jetzt mit der gleichen Geschwindigkeit wie Turner 1 (und wie das Gesamtsystem) nach links bewegt.
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26
Vernachlässigt man den Impuls, der durch die Beinstreckbewegung von Turner 1 an die Umwelt abgegeben wird, gilt vor der Seilspannung:
pt1 = pG. Da mt1 = ½ * mG , gilt: vt1 = 2 * vG , pt2 = 0, vt1 = 0.
Nach der Seilspannung (Impulsübertragung) gilt:
pt1 + pt2 = pG, vt1 = pt2 = vG .
Wird im Körper des Turners durch innere Kräfte ein Impuls von einem Teilkörper (z.B. Rumpf) auf einen anderen,
zweiten Teilkörper (z.B. Arm) übertragen, ändert sich der Impuls (und damit die Geschwindigkeit) des Gesamtsystems
nicht, denn der Impulsgewinn des zweiten Teilkörpers wird durch den Impulsverlust des ersten Teilkörpers
ausgeglichen.
Aus diesem Experiment folgt dreierlei:
1. Impulse erscheinen nicht einfach aus dem Nichts, sondern: wenn ein Körper einen Impuls erhalten hat, ist dieser durch einen
Kraftstoß einem anderen Körper „weggenommen“. Das heißt: ein Kraftstoß vermittelt stets zwei Körpern Impulse von gleichem Betrag,
aber entgegengesetzter Richtung.
2. Impulse verschwinden nicht im Nichts, sondern: wenn der Impuls eines Körpers „verlorengeht“, hat ein anderer Körper ihn
„übernommen“. Das heißt: Impulse gehen nicht verloren, sondern werden von Körper zu Körper weitergegeben.
3. Der Begriff „Impulsübertragung“ stellt eine Bezeichnung der unter 1. und 2. genannten Regeln dar, und zwar speziell für den Fall,
dass der Beobachter in einem Teilkörper einen Impulsverlust und in einem anderen Teilkörper einen Impulsgewinn erkennt.
Das, was am Skateboard-Experiment gezeigt wurde, lässt sich auf das Blockieren des Armschwunges beim Absprung zum Salto
übertragen. Dabei ist der Armschwung beim Absprung zum Salto mit der Bewegung des Skateboarders 1 nach der Beinstreckung, der
restliche Körper (Kopf+Rumpf+Beine) des Turners beim Absprung zum Salto mit Skateboarder 2 und die den Armschwung
abbremsenden Muskeln mit dem Seil zwischen den Skateboards gleichzusetzen.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
27
Die Muskelaktionen zum Blockieren des Armschwunges erzeugen (in Bezug zum Gesamtkörper des Turners) innere
mechanische Kräfte und können somit die „Bodenreaktionskräfte“ nicht erhöhen.
Durch das Blockieren des Armschwunges beim Absprung zum Salto wird der Impuls der Arme auf den restlichen Körper
übertragen. Dabei erleiden die Arme einen Impulsverlust und der restliche Körper einen Impulsgewinn. Der Impuls des
Gesamtkörpers bleibt durch diese Impuls“verlagerung“ unbeeinflusst. Somit kann ein Blockieren des Armschwunges die
Absprungbewegung zum Salto vorwärts nicht unterstützen.
Natürlich gilt diese Schlussfolgerung für alle Absprungbewegungen, gleichgültig, ob diese einbeinig oder beidbeinig erfolgen. Der Sinn
des Abbremsen des Armschwunges kann nur darin liegen, die Arme an einem Weiterschwingen zu hindern oder die Arme in eine
Position oder eine Bewegung zu bringen, die für die Ausführung der folgenden Aktionen des turnerischen Elementes verlangt werden.
Beim Salto vorwärts werden nach dem Absprung häufig die Hände in Richtung der Schienbeine gebracht, um die Hockbewegung der
Beine zu unterstützen. Das verlangt natürlich eine Armbewegung, die in eine dem Armschwung entgegengesetzte Richtung weist,
was zwangsläufig ein mehr oder weniger heftiges Abbremsen des Armschwunges erfordert. Beim Absprung zu allen Pferdsprüngen
ist dagegen kein heftiges Blockieren des Armschwunges erforderlich. Hier genügt es, wenn die Arme dosiert abgebremst werden bis
sie sich in einer für die erste Flugphase günstigen Hochhalte befinden.
3.1.6 Impulsübertragung bei den Kippen
Insbesondere bei der Oberarmkippe am Barren wird nach einer kräftigen Hüftstreckbewegung („Beinschlag“ oder „Kippschlag“,
unzutreffender Weise auch „Kippstoß“; s. Kap. 6.1.2.4) der Schwung der Beine muskulär abgebremst, um das Aufstemmen der Arme
von der Oberarmlage in den Stütz zu erleichtern (Abb. 3.11). Dies wird in der Regel mit dem Begriff der Impulsübertragung
begründet.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
28
Durch die Hüftstreckbewegung bekommen die Beine des Turners einen Impuls (pb1), der nach vorn oben gerichtet ist (Abb. 3.11,
unten links). Da die zur Erzeugung des Impulses notwendigen Kräfte äußere mechanisch Kräfte sind, erfährt der Rumpf des Turners,
verbunden mit dem Barren und der Erde, aufgrund der Impulserhaltung einen gleich großen, aber entgegengerichteten Impuls (-pb1).
pb1
pb1
pb2
pG
-F
pG
püb
F
-
Abb. 3.11: Impulsübertragung im Laufe der Oberarmkippe. oben: Gesamtablauf. unten links: Einzelphase direkt vor der Impulsübertragung.
unten rechts: Einzelphase direkt nach der Impulsübertragung
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
29
Sofern man den restlichen Körper des Turners als ruhend betrachtet (prest = 0), ist der Impuls (pG) des Gesamtkörpers mit dem Impuls
der Beine (pb1) gleichzusetzen (pG = pb1 + prest = pb1). Die Muskelaktion zum „Blockieren“ der Hüftstreckbewegung erzeugt in Bezug
auf den Turnerkörper innere mechanische Kräfte (F und – F). Das bedeutet: Innerhalb des Gesamtkörpers wird kein zusätzlicher
Impuls geschaffen, sondern ein Teil des Impulses der Beine auf den restlichen Körper „verlagert“, so dass der Gesamtimpuls (pG) des
Turners nicht verändert wird. Der Impuls(pb1) des Teilkörpers „Beine“ verkleinert sich um den Impuls – püb , wodurch der Teilkörper
„Rumpf“ einen Impuls von gleicher Größe, aber entgegengesetzter Richtung (püb) erhält (Abb. 3.11, unten rechts).
Die Betrachtung dieses Geschehens als translatorische Bewegung ist zwangsläufig ungenau. Aus diesem Grund muss diese Thematik in Kap. 3.8 noch einmal
aufgegriffen werden.
Durch das muskuläre Blockieren der Hüftstreckbewegung (des „Kippstoßes“) wird ein Impuls von den Beinen auf den Rumpf
übertragen. Die Folge ist, dass sich - nach der Impulsübertragung – die Beine langsamer, der Rumpf aber schneller nach vorn
oben (in Richtung der Hüftstreckbewegung) bewegen. Dieser Impulsgewinn des Rumpfes reicht aus, diesen für den Turner
spürbar zu „entlasten“, so dass es dem Turner möglich ist, die Arme von der Oberarmlage in den Stütz umzusetzen.
Die Impulsübertragung von den Beinen auf den Rumpf ist ein charakteristisches biomechanisches Merkmal der Kippen. Dabei muss
das Blockieren der Hüftstreckung nicht ausschließlich durch Muskelaktionen erfolgen, sondern kann auch durch andere innere
mechanische Wirkungen, z.B. durch Bänder- oder Knochenhemmung geschehen.
Dies soll jedoch erst in Kap. 3.8 erläutert werden. Hier muss allerdings jetzt schon ein Fall angesprochen werden, bei dem
gelegentlich auch mit dem Begriff der Impulsübertragung argumentiert wird, bei dem eine Impulsübertragung, wie sie bei der
Oberarmkippe abläuft, aber keinen mechanischen Nutzen bringen kann, nämlich bei der „Kippe“ am Reck (Abb. 3.12).
Würde während des Ablaufes der Kernphase der Kippe vorlings vorwärts eine ähnlich heftige Hüftstreckbewegung (pb1) wie bei der
Oberarmkippe erfolgen und diese muskulär blockiert werden, würde die Impulsübertragung im Rumpf einen Impuls (püb) erzeugen, der
der gewünschten Schwungrichtung entgegen gerichtet wäre. Dies ergäbe im Hinblick auf das Bewegungsziel keinen Sinn. Daraus
lassen sich im Hinblick auf eine Systematisierung der Turnelemente schwerwiegende Konsequenzen ziehen:
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
pb1
püb
pb2
Abb. 3.12: Kernphase der Kippe (des Felgaufschwunges vorlings vorwärts) am Reck. oben: Gesamtablauf der Kernphase. unten: Mögliche
Wirkung einer Impulsübertragung
Die Hüftstreckbewegung bei der Kippe vorlings vorwärts am Reck besitzt – im Zusammenspiel mit weiteren Aktionen – eine
andere biomechanische Wirkung, als die Hüftstreckbewegung bei der Oberarmkippe. Der Bewegungserfolg wird bei der
Kippe am Reck nicht primär durch Impulsübertragung von den Beinen auf den Rumpf erreicht.
Nicht alle Übungen, bei denen gemäß einer rein morphologischen Betrachtung aus einer starken Hüftbeugestellung eine
Hüftstreckung erfolgt, die im weiteren Verlauf der Bewegung wieder zum Stillstand kommt, unterliegen den gleichen
biomechanischen Grundbedingungen und dürfen somit nicht ohne weiteres gleichen Bewegungsverwandtschaften
(Strukturgruppen) zugewiesen werden.
30
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
Die biomechanischen Grundlagen der Kippe vorlings vorwärts (des „Kippaufschwunges“ bzw. Felgaufschwunges vorlings vorwärts) werden in Kap. 3.10.4
behandelt. Die Einteilung der turnerischen Bewegungsabläufe in Strukturgruppen gemäß den biomechanischen Grundlagen erfolgt in Kap. 3.12.
D
Abb. 3.13: Translation = fortschreitende Bewegung (links) und Rotation = Drehbewegung (rechts). D: Drehachse
3.2
Definition der Drehbewegung
In der Physik wird die Drehbewegung Rotation genannt und von der fortschreitenden Bewegung, der Translation, abgegrenzt.
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© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
Die Drehbewegung eines Turnerkörpers erkennt der Physiker daran, dass einzelne Massenpunkte des Turnerkörpers
Raumwege zurücklegen, die konzentrische Kreise um eine Achse (Drehachse) bilden (Abb. 3.13, rechts). Bei einer Translation
dagegen überstreichen die einzelnen Körperpunkte Raumwege, die parallel und deckungsgleich sind (Abb. 3.13, links).
Die Definition der Translation bedeutet, dass sich in einem bestimmten Zeitpunkt alle Massenpunkte des Körpers mit gleicher (Bahn-) Geschwindigkeit in die
gleiche Richtung bewegen. Bei der Rotation bewegen sich alle Massenpunkte eines Körpers mit gleicher Winkelgeschwindigkeit.
In der Turnpraxis kommen jedoch reine Translationsbewegungen und reine Rotationen so gut wie überhaupt nicht vor. Immer
überlagern sich translatorische und rotatorische Anteile bzw. es führt der Körper gleichzeitig eine Translation und eine Rotation aus
wie Abb. 3.14 verdeutlichen soll.
Abb. 3.14: Zusammensetzung einer turnerischen Fertigkeit (Salto rückwärts gestreckt) aus einer Translation und einer Rotation
32
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
33
In der Regel wird bei der Besprechung der bewegungstheoretischen Grundlagen jedoch eine der beiden Komponenten, entweder die
Translation oder die Rotation, vernachlässigt. Wenn man beispielsweise den Salto rückwärts gestreckt am Boden zu den
Drehbewegungen rechnet, akzeptiert man stillschweigend, dass er auch eine translatorische Komponente enthält, die jedoch in der
gerade vorliegenden Betrachtung von geringerem Interesse ist. Die translatorische Komponente wird meistens nur dann
angesprochen, wenn man - wie z.B. bei dem in Abb. 3.14 dargestellten Salto - die Flugbahn des Körperschwerpunktes betrachtet. Die
Rotation kommt immer dann zur Sprache – und das ist der weitaus häufigste Fall in der Bewegungslehre des Turnens - , wenn die
Drehung des Körpers um eine starre Achse (wie bei der Riesenfelge am Reck) oder um eine freie Achse (z.B. die quere
Schwerpunktachse wie beim Salto rückwärts am Boden) analysiert wird.
Eine reine Translation eines Turners ist schon deshalb kaum möglich, weil sich die Gliedmaßen um Gelenke drehen. Die Flugphase nach dem Absprung in Abb.
3.13, links, kann nur deshalb als Translation gelten, weil sie eine idealisierte Bewegung darstellt, bei der alle Gelenke des Körpers unbewegt gehalten werden.
Aus dem gleichen Grunde werden immer dann, wenn der Turner während einer Rotation Gelenke bewegt und somit Körperteile gegeneinander verschiebt, keine
reinen Rotationen, sondern zusammengesetzte Bewegungen realisiert.
3.3
Drehwinkel, Drehgeschwindigkeit, Drehbeschleunigung
Dreht sich ein Turner bei einer Riesenfelge um die Reckstange als starre Drehachse (Abb. 3.15), überstreicht die
Verbindungslinien eines ausgewählten Körperpunktes mit der Drehachse einen Winkel, den Drehwinkel (ϕ, phi), der in Grad (°)
gemessen wird.
Der Drehwinkel (ϕ) ist, wie der Weg bei der Translations-Bewegung, eine gerichtete Größe und wird aus diesem Grunde auch als
Vektorpfeil dargestellt. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass die Vektoren aller Größen von Drehbewegungen in der Achse
der Drehbewegung verlaufend dargestellt werden. Die Richtung des Vektorpfeiles wird durch die Rechte-Hand-Regel bestimmt (Abb.
3.16): Weisen die leicht gekrümmten Finger der rechten Hand in Drehrichtung, zeigt der abgespreizte Daumen in die Richtung, in die
auch die Spitze des Vektorpfeiles zeigt. Dadurch ist gewährleistet, dass Drehbewegungen in entgegengesetzter Richtung auch durch
entgegengesetzt gerichtete Pfeile dargestellt werden. Die Länge des Vektorpfeiles symbolisiert den Betrag. Dies verdeutlicht Abb.
3.16, auf der zwei Turner an einem Reck eine Riesenfelge rückwärts in entgegengesetzter Richtung turnen.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
34
ϕ1
D
ϕ2
Abb. 3.15: Drehwinkel (ϕ1 und ϕ2) in zwei aufeinander folgenden Zeitabschnitten der Riesenfelge vorlings rückwärts. D: Drehachse
Abb. 3.16: Verdeutlichung der Lage von Vektoren von Drehbewegungen in der Drehachse und deren Richtungsbestimmung durch die RechteHand-Regel
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
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In Abb. 3.15 wird deutlich, dass der Turner im ersten Zeitabschnitt einen kleineren Drehwinkel überstreicht als im zweiten
Zeitanschnitt. Das bedeutet, dass der Turner anfangs eine kleinere Drehgeschwindigkeit besitzt, dann eine größere.
Die durchschnittliche Drehgeschwindigkeit bzw. Winkelgeschwindigkeit (ω, omega) wird durch das Verhältnis des
überstrichenen Drehwinkels (ϕ) zur dafür benötigten Zeit (t), gemessen in °/s (Grad pro Sekunde), bestimmt:
ω = ϕ / t bzw. ω = (ϕ2 - ϕ1) / (t2 – t1)
Für die Bestimmung der momentanen Winkelgeschwindigkeit in einem Zeitpunkt ist das Differential ω = dϕ / dt zu bilden. Gleiches gilt für die Bestimmung der
momentanen Winkelbeschleunigung: α = dω / dt. Die Bestimmung von Drehwinkel, Winkelgeschwindigkeit und Winkelbeschleunigung wird im Folgenden der
besseren Verständlichkeit wegen auf die Grundeinheit des Winkelgrad bezogen. In der Mechanik ist die vorgeschriebene Einheit jedoch das Radiant, das sich
aus der Gradangabe durch Multiplikation mit dem Faktor π/180 ergibt.
Die Änderung der Winkelgeschwindigkeit (in Abb. 3.15 die Vergrößerung der Winkelgeschwindigkeit vom ersten zum zweiten
Zeitabschnitt) nennt man Drehbeschleunigung bzw. Winkelbeschleunigung.
Die durchschnittliche Winkelbeschleunigung (α, alpha) in einem Teilabschnitt einer Drehbewegung beschreibt die
Änderung der Winkelgeschwindigkeit und wird bestimmt durch den Quotienten aus der Änderung der
Winkelgeschwindigkeit und der dazu benötigten Zeit: α = (ω2 - ω1) / (t2 – t1), gemessen in °/s2 (Grad pro Sekunden zum
Quadrat).
3.4
Erzeugung einer Drehbewegung
Absprung aus dem ruhigen Stand: Die Voraussetzung zur Erzeugung einer Drehbewegung ist – wie schon bei der Translation
(Kap. 3.1.2) besprochen wurde – die Wirkung einer Kraft. Diese darf jedoch, wenn sie eine Drehbewegung auslösen soll, das
Drehzentrum (den Drehpunkt, die Drehachse) nicht treffen, sondern muss unter einem bestimmten Betrag an ihm vorbei zielen. Man
sagt, sie muss eine exzentrische Kraft sein. Dies soll am Beispiel eines Absprunges vom Boden verdeutlicht werden: Trifft die Kraft,
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
36
die die Beinmuskulatur erzeugt, exakt auf den Körperschwerpunkt, der hier als Drehzentrum gilt, resultiert aus der Absprungaktion
eine Beschleunigung des Körpers nach oben in Form etwa eines Strecksprunges ohne jede Drehung des Körpers (Abb. 3.17 a). Neigt
sich dagegen der Turner beim Absprung etwas nach vorn und/oder winkelt er den Körper in der Hüfte leicht an, können die
Voraussetzungen für eine exzentrische Kraft gegeben sein, indem der Kraftvektor hinter dem Körperschwerpunkt vorbei zielt, er also
einen kleineren oder größeren senkrechten Abstand vom Drehzentrum, dem KSP, besitzt. Die Folge dieser exzentrischen Kraft ist,
dass der Körper in eine Vorwärtsdrehung versetzt wird und der Turner unter Umständen einen Salto vorwärts ausführen kann (Abb.
3.17 b).
Eine exzentrische Kraft, also eine Kraft, die nicht auf das Drehzentrum bzw. die Drehachse trifft, sondern um einen bestimmten
senkrechten Abstand (d) an ihr vorbei zielt, kann den Körper in eine Drehung versetzen. Im Turnen sind vier Grundsituationen
der Erzeugung einer Drehbewegung des Körpers zu berücksichtigen:
1. Exzentrische Absprung aus dem ruhigen Stand,
2. exzentrischer Absprung oder Abstoß aus dem Anlauf,
3. exzentrische Abstoß mit den Händen vom Gerät,
4. exzentrische Wirkung der Schwerkraft beim Hang oder Stütz am Gerät,
5. exzentrische Kräfte durch Helfergriffe.
Exzentrischer Absprung oder Abstoß aus dem Anlauf: Jeder, der den Salto vorwärts geturnt hat, weiß, dass es leichter ist, diesen
aus einem Anlauf auszuführen, als ihn aus dem Stand zu springen. Der Grund liegt darin, dass der Anlauf für die Erzeugung der
Vorwärtsdrehung ausgenutzt werden kann: In dem Augenblick in dem der Turner die Füße nach dem Anlauf zum Absprung auf den
Boden setzt, werden diese unter der Wirkung der Haftreibung abgebremst. Die dabei wirkende Kraft (Haftreibung, FR) ist dem Anlauf
entgegen gerichtet, weist somit nicht auf das Drehzentrum, sondern besitzt einen recht großen senkrechten Abstand (d) von diesem
und versetzt den Körper in eine Vorwärtsdrehung (Abb. 3.17 c). Da in diesem Fall sich die Absprungaktion ganz auf die Erzeugung
einer großen Sprunghöhe konzentrieren kann, ist der Salto aus dem Anlauf leichter als der aus dem Stand.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
37
= KSP
d
d
F
d
F
FR
a)
b)
c)
FR
d)
Abb. 3.17: Zentrische Kraft (a) und exzentrische Kräfte (b – d). F: Kraft. d: Senkrechter Abstand der Wirkungslinie der Kraft vom
Körperschwerpunkt (KSP) als Drehzentrum
Den gleichen Effekt nutzt man z.B. auch bei den gestützten Überschlägen aus. Das Aufsetzen der Hände auf den Boden beim
Handstandüberschlag vorwärts, verbunden mit einem Stemmen der gestreckten Arme gegen den Boden (Abb. 3.17 d), erzeugt eine
Kraft (FR), die die vorhandene Vorwärtsdrehung des Körpers verstärken kann.
Bei einem Absprung aus einem Anlauf oder bei einem Abstützen der Hände vom Boden nach einem Anlauf werden die Füße
(bzw. Hände) zwangsläufig durch Reibungskraft abgebremst. Die Reibungskraft wirkt exzentrisch in Bezug zum
Körperschwerpunkt entgegen der Anlaufrichtung und kann zur Erzeugung einer Drehbewegung im anschließenden Flug
genutzt werden.
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38
Die drehende Wirkung einer exzentrischen Kraft steigt mit der Größe der Kraft und mit der Größe des Abstandes der Kraft (des
Kraftarmes) von der Drehachse. Das Produkt aus Kraft (F) und Kraftarm (d) wird „Drehkraft“ und in der Physik offiziell
Drehmoment (M) genannt. Da die Kraft in Newton (N) und der Kraftarm in Meter (m) gemessen wird, ist die Maßeinheit für das
Drehmoment: Newton*Meter (Nm).
M = F * d, gemessen in Nm
Häufig wird für den Kraftarm eines Drehmomentes auch das Symbol „r“ verwendet. Da dieses Symbol hier aber in einem anderen Zusammenhang eingesetzt
werden soll, muss am Symbol d festgehalten werden – dies insbesondere auch deshalb, weil die Größe r gelegentlich auch als Abstand der Drehachse vom
Angriffspunkt der Kraft definiert wird und somit mit der Wirkungslinie der Kraft einen spitzen oder stumpfen Winkel (ϕ) bilden kann. In diesem Fall müsste die
Formel für das Drehmoment die Form M = F *r * sin ϕ annehmen.
In der Formel für das Drehmoment wird vielfach zuerst der Kraftarm (d oder r) und dann die Kraft (F) genannt, nämlich M = d* F bzw. M = r* F. , wobei jedoch bei
der Maßeinheit stets die Nennung zuerst der Maßeinheit für die Kraft und dann der Maßeinheit für den Kraftarm, nämlich N*m, zu finden ist. Um hier Irritationen
zu vermeiden, wird im Folgenden stets die Reihenfolge „Kraft mal Kraftarm“ beibehalten.
Turnpraktische Bedeutung: Die Größe der Drehbewegung (s. Kap. 3.6) hängt bei Drehungen, die durch einen Anlauf erzeugt
werden, von der Geschwindigkeit des Anlaufes direkt vor dem Absprung ab. Turnanfänger neigen dazu, ihren Anlauf kurz vor dem
Absprung abzubremsen oder in einen hohen Ansprung mit reduzierter Horizontalgeschwindigkeit auf die Absprungstelle übergehen zu
lassen. Die Folge ist ein reduziertes bremsendes Drehmoment, so dass der folgende Salto vorwärts oder Handstandüberschlag
vorwärts nicht bis zum Stand abgeschlossen werden kann (Abb. 3.18 und Abb. 3.19 b).
Damit beim Handstandüberschlag vorwärts die große Horizontalgeschwindigkeit auch eine entsprechend hohe Bremskraft erzeugt,
müssen die Hände bei gestreckten Armen, die im Schultergelenk bis in die Hochhalte gebracht sind, kräftig nach vorn gegen den
Boden stützen, als wolle man mit dieser Stützaktion den Vorwärtstrieb tatsächlich abbremsen (Abb. 3.19 a). Im anderen Fall würde die
Trägheit den Körper nach vorn über den Stützpunkt hinaus treiben und keine ausreichende Bremskraft entstehen lassen (Abb.
3.19 b). Die Folge wäre ein Überschlag mit geringer Vorwärtsrotation.
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39
Abb. 3.18: Fehlerhafter Anlauf zum Salto vorwärts mit Verminderung der Anlaufgeschwindigkeit (vh) kurz vor dem Absprung durch einen
ungeeigneten hohen Ansprung. d: „Kraftarm“ der Bremskraft. Fb: Bremskraft.
d
d
a)
Fb
b)
Fb
Abb. 3.19: Handstandüberschlag vorwärts a) mit großer einleitender Horizontalgeschwindigkeit und somit mit großer Bremskraft in der
Stützphase, b) mit geringer Horizontalgeschwindigkeit und geringer Bremskraft. d: „Kraftarm“ der Bremskraft. Fb: Bremskraft.
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40
Das gleiche Prinzip gilt auch für Rückwärtsüberschläge und Rückwärtssalti. Hier müssen die einleitenden Radwenden oder FlickFlacks für die notwendige Horizontalgeschwindigkeit sorgen, damit eine hohe horizontale Bremskraft zu einem entsprechend hohen
Drehmoment (Fb*d) führt (Abb. 3.20).
Selbstverständlich wird die durch den Absprung geschaffene Drehbewegung nicht allein durch das hier beschriebene Prinzip der Bremskraft bestimmt. Auch die
von den Muskeln erzeugte Absprungaktion kann eine exzentrische Kraft produzieren, die sich vektoriell zur Bremskraft addiert, wobei dann die Richtung der
Resultierenden über die Größe und Richtung des Drehmomentes entscheidet.
d
Fb
Abb. 3.20: Radwende, gefolgt von Salto rückwärts als Beispiel der Erzeugung eines hohen Drehmomentes (Fb*d)
Der Vorteil der Nutzung einer hohen Horizontalgeschwindigkeit und deren Abbremsung zur Schaffung eines großen Drehmomentes,
das die Auslösung der gewünschten Drehbewegung bewirkt, liegt darin, dass sich die muskuläre Absprungaktion (bzw. Abstützaktion)
ganz auf die Schaffung einer großen Flughöhe konzentrieren kann. Allerdings muss ein Nachteil in Kauf genommen werden: Da beim
Aufsetzen der Füße (oder Hände) auf den Boden die dadurch entstehende Bremskraft der allgemeine Bewegungsrichtung entgegen
gerichtet ist, wird sie die Horizontalgeschwindigkeit des Körpers um einen gewissen Betrag verringern. Bei den hier besprochenen
Beispielen wird das ohne Bedeutung sein. Bei Sprüngen jedoch, die sich außer durch Körperdrehung und Flughöhe zusätzlich noch
durch eine entsprechende Flugweite auszeichnen sollen wie bei allen Sprüngen über den Sprungtisch, konkurrieren die Aufgaben der
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Erzeugung einer Drehbewegung und des Schaffens einer großen Flugweite miteinander. Da hier die Produktion der Flugweite durch
den Absprung im Vordergrund steht, enthalten alle bisher bekannten Gerätsprünge in der ersten Flugphase, d.h., vom Absprung bis
zum Stütz, allenfalls eine Vorwärtsdrehung (bzw. Rückwärtsdrehung bei Sprüngen mit Rondat) von nur rund 150° bis 170° um eine
quere Achse.
Exzentrischer Abstoß vom Gerät: Neben den durch Absprünge geschaffenen Drehmomenten lässt sich auch durch einen
exzentrischen Abstoß mit den Händen vom Gerät der Körper in Drehung versetzen, eine vorhandene Drehbewegung vergrößern oder
verkleinern oder gar die Drehrichtung verändern.
Fa
d
d
Fa
Abb. 3.21: Erzeugung eines Drehmomentes durch Abstoß vom Gerät. links: Schwungstemme rückwärts und Vorgrätschen. rechts:
Unterschwung und Salto vorwärts
Als Beispiel mögen die in Abb. 3.21 dargestellten turnerischen Elemente dienen. Das Abdrücken der Arme von den Holmen am Ende
des Rückschwunges im Oberarmhang produziert ein so starkes rückwärts drehendes Drehmoment (Fa*d), dass die vom
Oberarmschwung im Körper vorherrschende Vorwärtsrotation in eine Rückwärtsrotation umgeformt wird (Abb. 3.21, links). In ähnlicher
Weise wird die vom Unterschwung stammende Rückwärtsdrehung des Körpers durch das Abdrücken vom Holm des Stufenbarrens in
eine Vorwärtsdrehung überführt, so dass das Anschließen eines Salto vorwärts möglich ist (Abb. 3.21, rechts). Diese Form der
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42
Erzeugung von Drehbewegungen setzt eine heftige Beinschlagbewegung („Beinschnepper“) voraus, die in einem späteren Kapitel
(Kap. 3.9) ausführlicher besprochen werden muss.
A
A
A
d
d
F
F
F
d
Abb. 3.22: Erzeugung eines Drehmomentes durch Abstoß vom Gerät. links: Stützkehre am Barren. mitte: Kreishockwende am Barren. rechts:
Kreisflanken am Pauschenpferd. A: angenäherte Lage der Drehachse. F: Abstoßkraft. d: Kraftarm. Durch die perspektivische
Verzerrung bei der räumlichen Darstellung kann der Winkel zwischen Kraft und Kraftarm kleiner oder größer als 90° erscheinen.
Durch einarmigen Abstoß können Drehmomente bezüglich der Körperlängsachse wie bei der Stützkehre am Barren (Abb. 3.22 links)
geschaffen werden. Bei der Kreishockwende am Barren (Abb. 3.22, mitte) oder beim Kreisflanken am Pauschenpferd (Abb. 3.22,
rechts) liegt eine eher aufrecht stehende Drehachse (A) vor.
Exzentrische Wirkung der Schwerkraft: Neben den durch Muskelaktionen bewirkten Drehmomenten wird im Schwungturnen
vielfältig die Schwerkraft genutzt, um den Körper in Drehung zu versetzen. Da die Schwerkraft als im Körperschwerpunkt angreifend
verstanden werden kann, muss in diesen Fällen das Drehzentrum in einer (meist) starren Achse außerhalb des Körperschwerpunktes
liegen, da sonst die Schwerkraft keine exzentrische Wirkung hätte.
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43
Die Schwerkraft greift natürlich an allen Massenpunkten des Körpers an bzw. übt auf alle Massenpunkte die gleiche Beschleunigung in Richtung Erdmittelpunkt
aus. Würde das Drehzentrum im Körperschwerpunkt liegen, würden sich alle rechtsdrehenden und alle linksdrehenden Schwerkraftmomente zu Null addieren.
Nur wenn sich die Drehachse außerhalb des Schwerpunktes befindet, bleibt auf derjenigen Seite der Senkrechten durch den Drehpunkt, auf der sich der
Körperschwerpunkt befindet, ein restliches, rechts- oder linksdrehendes Schwerkraftmoment (Abb. 3.23).
Nimmt man an, dass die in Abb. 3.23 dargestellten Sportler gleiches Gewicht (besser: gleiche Masse) besitzen, ist das
Schwerkraftmoment (FG*d) im Beispiel e) eindeutig am größten. Aber selbst im Beispiel a) genügt der geringe Abstand der
Wirkungslinie der Schwerkraft von der Drehachse, um den Turner am Ende des Bauchwellaufschwunges in den Stütz zu drehen.
Durch hohes Stützen aus der Schulter heraus muss man zu Beginn des Umschwunges vorlings vorwärts (b) den Schwerpunkt
möglichst weit von der Senkrechten durch die Drehachse entfernen, damit ein großes Drehmoment dem Körper die notwendige
Vorwärtsdrehung besorgt. Im ruhigen Winkelsturzhang (d) befindet sich der Schwerpunkt senkrecht unter der Drehachse, so dass kein
Drehmoment wirken kann. Hier liegt ein stabiles Gleichgewicht vor (s. Kap. 3.1.3).
= Drehachse
= KSP
FG
d
a)
b)
Abb. 3.23: Beispiele für Drehmomente der Schwerkraft.
c)
d)
e)
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44
Der Bauchwellaufschwung, eine Übung für Turnanfänger; wird unglücklicherweise auch Hüftaufschwung genannt. Dies erweckt bei manchen Übenden die
Vorstellung, die Hüfte (etwa die Leistenbeuge) müsse an die Reckstange geführt werden. In Bewegung umgesetzt würde dieses Verhalten aber noch kein
Schwerkraftmoment produzieren, das den Körper in den Stütz drehen könnte, weil sich der Körperschwerpunkt in der Senkrechten durch die Reckstange oder
sogar noch davor befindet. Erst wenn der Bauch (fast in Höhe des Bauchnabels) die Stange berührt, liegt der Körperschwerpunkt um einen gewissen Betrag
hinter der Senkrechten durch den Drehpunkt (= Reckstange), und ein aufrichtendes Drehmoment kann entstehen (s. Abb. 3.23a). Diese Forderung verliert
natürlich bei Geübteren an Gewicht, die gelernt haben, die nötige Drehbewegung durch einen kräftigen Anschwung zu garantieren.
Aus den Beispielen resultiert:
Da die Schwerkraft (FG) für jeden Turner eine individuelle konstante Größe darstellt, kann ein großes Drehmoment der
Schwerkraft (FG*d) nur dadurch geschaffen werden, dass die Masse des Körpers, bzw. der Körperschwerpunkt, möglichst weit
(bzw. so weit, wie es die spezifische Situation der Übung zulässt) von der Senkrechten durch die Drehachse entfernt und somit
der Kraftarm (d) möglichst groß gestaltet wird.
Beim Balancieren kommt dem Schwerkraftmoment ebenfalls eine Bedeutung zu. In Kap. 3.1.3 wurde festgestellt, dass ein Körper
dann standfest ist, wenn sich der Schwerpunkt senkrecht über der Standfläche befindet (Abb. 3.3 a-b). Ist das nicht der Fall, weist die
Schwerkraft auf einen Punkt außerhalb der Standfläche, bildet sie zusammen mit dem Abstand dieses Punktes vom Rand der
Standfläche ein Drehmoment, das den Körper zu dieser Seite umkippen lässt. Beim Balancieren auf dem Schwebebalken ist es von
Bedeutung, diesen Zustand möglichst früh zu erkennen, d.h., zu einem Zeitpunkt, zu dem der Kraftarm dieses Schwerkraftmomentes
noch sehr klein ist, um durch Ausgleichsmaßnahmen die Standfestigkeit wieder herzustellen (s. Kap. 3.7).
Exzentrische Kräfte durch Helfergriffe: Die Aufgabe eines Helfers beim Ausführen turnerischer Fertigkeiten kann unter anderem
darin liegen, beabsichtigte Drehbewegungen zu unterstützen oder Drehbewegungen zu verzögern oder abzubremsen.
Soll ein Helfergriff eine vom Übenden beabsichtigte Drehbewegung zweckmäßig unterstützen, muss der Griff möglichst weit
(bzw. so weit, wie es die Situation erlaubt) von der Drehachse entfernt ansetzen, um einen möglichst großen Kraftarm für
die exzentrische Kraft zu erreichen (Abb. 3.24).
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
45
A
Fr
F
Fl
d
d
F
Abb. 3.24: Erzeugung von Drehmomenten durch Helfergriffe. links: Kreishockwende am Barren. mitte: Handstandüberschlag vorwärts. rechts:
Endphase der Oberarmkippe am Barren. A: angenäherte Lage der Drehachse, in der mittleren und rechten Abbildung sind die
Drehachsen als schwarze Punkte angedeutet. F: Abstoßkraft. d: Kraftarm.
Diese Regel für die Anwendung von Helfergriffen gilt hier nur aus biomechanischer Sicht zum vorliegenden Thema. Sie kann mit anderen Zielen und Aufgaben
der Bewegungsunterstützung konkurrieren. Dies wird in Kap. 7.3.4.4 ausführlich dargestellt.
Beim Ansetzen von Helfergriffen ist zu berücksichtigen, dass die Kraft, die der Helfer aufbringt, unter Umständen in Bezug auf
mehrere Achsen gleichzeitig exzentrisch wirkt. So beeinflusst das Abbremsen der Kippbewegung an den Waden bei der
Oberarmkippe (Abb. 3.24) sowohl das Kniegelenk, als auch das Hüftgelenk und das Schultergelenk. Der Einfluss auf das Kniegelenk
wird durch die natürliche Bänderblockade in der Kniestreckung neutralisiert, so dass die Kraft (Fr) des Helfers beugend auf das
Hüftgelenk wirken würde. Da aber die andere Hand des Helfers den Rücken des Übenden unterstützt (Fl), wird diese Wirkung
gemildert. Beide Griffe zusammen verzögern das durch den drehenden Einfluss der Schwerkraft im Schultergelenk ausgelöste
Abwärtsdrehen des Körpers.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
3.5
46
Drehmasse, Trägheitsmoment
Wie bei der Translation ein Körper einer Kraft seine Masse als Widerstand entgegensetzt (s. Kap. 3.1.2), widersetzt sich ein Körper
auch der Wirkung eines Drehmomentes. Dieser Widerstand wird „Drehmasse“ oder Trägheitsmoment (I) genannt.
Der Widerstand eines Körpers gegen ein Drehmoment, das Trägheitsmoment (I), wird einerseits durch die Größe der Masse
(m), andererseits durch das Quadrat des Abstandes (r) der Masse von der Drehachse bestimmt:
I = m * r², gemessen in kg * m²
ma
r a, r b
mb
m
A
A
mc
r
rc
md
rd
Abb. 3.25: Trägheitsmoment punktförmiger Massen. A: Drehachse. m: Masse. r: Abstand der Masse von der Drehachse
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
47
Die Trägheitsmomente der in Abb. 3.25 dargestellten „Reckturner“ mit punktförmigen Massen sind unterschiedlich groß, obwohl je
zwei Turner gleiche Massen (ma = md, mb = mc) und zwei Turner gleiche Abstände von der Drehachse (ra = rb) besitzen. In die richtige
Reihenfolge gebracht ergäben sich folgende Trägheitsmomente: Ic > Ib > Ia > Id .
Da der menschliche Körper eine ausgedehnte Masse mit vielen einzelnen Massenteilen darstellt, ist es schwer, das Trägheitsmoment
z.B. eines Turners im Langhang zu bestimmen. Hinzu kommt, dass sich die Körperhaltung (bzw. die Körperform) innerhalb einer
turnerischen Fertigkeit ständig ändert. Damit verändert sich zwangsläufig der Abstand der einzelnen Massenpunkte von der
Drehachse und somit auch der Drehwiderstand.
Es bestehen nur zwei wesentliche Möglichkeiten, das Trägheitsmoment eines Turners in einer bestimmten Körperhaltung zu bestimmen. Entweder man reduziert
die einzelnen Körperabschnitte auf einfache geometrische Körper ( Walzen, Kegelstümpfe u.a.) mit bekanntem Trägheitsmoment bzgl. definierter Achsen und
berechnet daraus (u.a. mit Hilfe des STEINERschen Satzes) das gesamte Trägheitsmoment (s. Abb. 3.26). Oder man bestimmt das Trägheitsmoment
experimentell.
A
A
I ≈ 3,5 kg m²
A
A=KSP
I ≈ 7 kg m²
A=KSP
A
I ≈ 9 kg m²
I ≈ 1 kg m²
I ≈ 32 kg m²
I ≈ 85 kg m²
Abb. 3.26: Beispiel von Trägheitsmomenten in unterschiedlichen Körperstellungen und bezüglich unterschiedlichen Drehachsen einer Person
von 1,6m Körpergröße und 50kg Körpergewicht. A = Drehachse. KSP = Körperschwerpunkt.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
48
Abb. 3.26 zeigt die Trägheitsmomente des menschlichen Körpers in verschiedenen Körperhaltungen und bzgl. unterschiedlicher
Drehachsen. Bei der Berechnung ist eine Körpergröße von 1,6 m und ein Körpergewicht von 50 kg zugrunde gelegt worden. Die
angegebenen Werte dürfen nur als Schätzgrößen gewertet werden. Sie ändern sich vor allem bei einer Veränderung des Abstandes
der Körpersegmente von der Drehachse. Aufschlussreich sind die Unterschiede in den Beträgen der Trägheitsmomente in den
diversen Körperpositionen. Streckt man aus dem aufrechten Stand die Arme und ein Bein seitlich waagerecht ab, nimmt das
Trägheitsmoment in Bezug zur Körperlängsachse den 7-fachen Wert an. In gestreckter Körperhaltung mit seitlich angelegten Armen
ist das Trägheitsmoment in Bezug zur queren Schwerpunktachse 9-mal so groß wie das Trägheitsmoment in Bezug zur Längsachse.
Hockt man den Körper aus der gestreckten Körperposition zusammen, verkleinert sich das Trägheitsmoment in Bezug zur queren
Schwerpunktachse fast auf ein Drittel. Im Langhang an der Reckstange als Drehachse ergibt sich offensichtlich das größte
Trägheitsmoment des menschlichen Körpers. Es beträgt fast das 85-Fache des Trägheitsmomentes des gestreckten Körpers in
Bezug zur Längsachse.
Das Trägheitsmoment des Turners wird durch den Abstand der einzelnen Körperabschnitte von der Drehachse bestimmt. Im
Laufe vieler turnerischer Fertigkeiten ist es von Bedeutung zu entscheiden, durch welche Körperaktionen das Trägheitsmoment
am wirkungsvollsten verändert (in den meisten Fällen verkleinert) werden kann.
Körper mit kleinem Trägheitsmoment lassen sich durch ein Drehmoment leichter in eine Drehbewegung versetzen, als Körper mit
großem Trägheitsmoment. Es ergibt sich die Beziehung:
M = I * α (Drehmoment gleich Trägheitsmoment mal Winkelbeschleunigung)
Diese Gleichung entspricht der Gleichung F = m * a bei der Translation.
Spätestens jetzt wird deutlich, dass – in Ergänzung von Kap. 3.4 - das Drehmoment (M) wie auch der Drehwinkel, die
Winkelgeschwindigkeit und die Winkelbeschleunigung gerichtete (vektorielle) Größen sind. Die Richtung wird durch die Richtung des
Drehwinkels bestimmt, den der Körper während der Beschleunigung überstreicht. Die Richtung des Drehmomentvektors erfolgt
ebenfalls durch die Rechte-Hand-Regel (s. Kap. 3.3).
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
3.6
49
Drehkraftstoß, Drehimpuls, Drehimpulserhaltung
Wirkt ein Drehmoment über eine bestimmte Zeit auf einen Körper, wird dieser aus der Ruhe in eine Drehbewegung versetzt, oder eine
vorhandene Drehbewegung wird um einen bestimmten Betrag verändert, d.h., vergrößert, verkleinert oder in ihrer Drehrichtung
geändert. Dabei entspricht der „Drehmomentstoß“ (M * t) der Größe der durch ihn erzeugten Drehbewegung, dem Drehimpuls
(L = I * ω).
Das Produkt aus dem Drehmoment (M) und der Wirkungszeit (t) des Drehmomentes heißt Drehkraftstoß
(Drehmomentstoß, Drehstoß). Dieser ist direkt dafür verantwortlich, mit welcher Winkelgeschwindigkeit
(Drehgeschwindigkeit) sich ein Körper mit einem bestimmten Trägheitsmoment (der Drehmasse, I) um eine definierte
Achse dreht. Das Produkt aus Trägheitsmoment (I) und Winkelgeschwindigkeit(ω) wird Drehimpuls (L) genannt. Der
Drehimpuls definiert die Größe der Drehbewegung nach Betrag und Richtung. Es gilt die Beziehung:
Drehkraftstoß = Drehimpuls, M * t = I * ω = L, gemessen in kg*m²*°/s.
Aufgelöst nach M und I geht die Formel in folgende Form über:
F * d * t = m * r² * ω = L
Die Begriffe „Drehkraftstoß“, „Drehstoß“ oder „Drehabstoß“ werden in der Physik selten benutzt. Statt dessen wird in der Regel das Synonym „Drehimpuls“
sowohl für die Beziehung M * t als auch für das Produkt I * ω verwendet. Aus diesem Grunde wird auch im folgenden hauptsächlich der Begriff des
Drehimpulses benutzt.
Der Drehimpuls ist eine gerichtete (vektorielle) Größe. Der Vektorpfeil wird – gemäß Übereinkunft - in die Drehachse verlegt. Die
Richtung des Vektors wird durch die Recht-Hand-Regel (Kap. 3.3 und Abb. 3.16 und Abb. 3.27) bestimmt.
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50
Id
Ic
Ib
Ia
La
Ld
Lb
Lc
Abb. 3.27: Unterschiedlich große Drehimpulse (L) bei angenommener gleicher Winkelgeschwindigkeit aber unterschiedlich großem
Trägheitsmoment (I)
Besitzen zwei oder mehrere Körper die gleiche Winkelgeschwindigkeit um die gleiche Drehachse, haben sie aber unterschiedliche
Trägheitsmomente, besitzen sie zwangsläufig auch unterschiedlich große Drehimpulse (Abb. 3.27).Da das Trägheitsgesetz
(s. Kap. 3.1.2) auch für Drehbewegungen gilt, bleibt der Drehimpuls eines Körpers erhalten, solange er nicht mit einem zweiten Körper
in Kontakt kommt, der auf ihn eine exzentrische Kraft wirken lässt. Man folgert:
Gemäß dem Drehimpulserhaltungssatz – kurz auch: Drehimpulssatz - bleibt in einem System, auf das keine äußeren
Drehmomente wirken, also in einem abgeschlossenen (kräftefreien) System, die Summe aller Drehimpulse konstant
(unveränderlich).
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51
2. Flugphase
1. Flugphase
L
L
d
3. Flugphase
d
F
L
F
Absprung
Aufstützen
Abb. 3.28: Erhaltung des Drehimpulses (L) beim „Yurchenko“ (Radwende und Überschlag rückwärts und Salto rückwärts)
Beim Sprung kann – wenn man vom Einfluss der Schwerkraft absieht (s. Abb. 3.7) – der Körper während des freien Fluges als
kräftefrei angesehen werden. Aus diesem Grunde bleibt der Drehimpuls (L), der durch die Drehmomente der einleitenden Radwende
gewonnen wurde, in der ersten Flugphase des „Yurchenko“ (Abb. 3.28) erhalten, bis die Füße auf die Absprungstelle setzen. Nimmt
man an, dass die Absprungaktion eine zentrisch wirkende Kraft erzeugt, bleibt der Drehimpuls (L) auch in der zweiten Flugphase mit
gleichem Betrag und gleicher Richtung bestehen. Dasselbe gilt für die dritte Flugphase, sofern angenommen wird, dass das Stützen
auf dem Pferd (Sprungtisch) zentrisch wirkt.
Allerdings muss schon hier angemerkt werden, dass die Körperbewegung beim Stützen im Laufe dieser Übung durchaus in der Lage ist, ein Drehmoment zur
Beeinflussung des Drehimpulses zu bewirken, und zwar wird der Drehimpuls hier vergrößert. Die biomechanische Wirkungsweise wird jedoch erst in Kap. 3.9
besprochen.
Erst mit der Landung müssen Muskelaktionen ein Drehmoment schaffen, das den vorhandenen Drehimpuls „vernichtet“ (d.h., an den
Boden abgibt), damit der Turner zum sichern Stand kommt.
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52
Als Gegenbeispiel dazu kann die Hocke über das quer gestellte Pferd (Abb. 3.29) dienen. Hier wird zwar durch den Anlauf und den
Absprung eine Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn erzeugt, der den gestreckte Körper in der ersten Flugphase um rund 100° um die
quere Schwerpunktachse rotieren lässt, mit der Stützaktion muss dieser Vorwärtsdrehimpuls (Lv) aber nicht nur „vernichtet“, sondern
sogar ein Drehimpuls mit Rückwärtsdrehsinn (Lr) geschaffen werden, der den Körper in der zweiten Flugphase wieder um rund 100°
rückwärts rotieren lässt, damit eine aufgerichtete Körperhaltung eine sichere Landung gewährleistet.
In diesem Beispiel wird davon ausgegangen, dass Rotationen nur durch die Schaffung oder Änderung von Drehimpulsen durch „Drehabstoß“ von der Umwelt
(Boden, Gerät) möglich sind. Es wird noch zu zeigen sein, dass im kräftefreien System auch Drehungen möglich sind, ohne dass der vorhandene Drehimpuls
geändert wird. Diese „Scheinrotationen“ werden in Kap. 3.7 behandelt.
d
F
Lr
d
Lv
F
Abb. 3.29: Hocke über das quer gestellte Pferd als Beispiel zur Schaffung unterschiedlicher Drehimpulse durch Drehabstoß
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53
Während man durch Abstoßaktionen vom Boden oder vom Gerät Drehimpuse schaffen oder verkleinern oder vergrößern
kann, ist der Drehimpuls des Körpers in den Phasen des freien Fluges durch Körperaktionen nicht veränderbar, da der
Körper in Bezug auf Drehbewegungen um Körperachsen (Schwerpunktachsen) als kräftefrei gelten muss.
Die Körperstreckung in der zweiten Flugphase nach dem Abstützen bei der Hocke über das Pferd (Abb. 3.29) kann den
Gesamtdrehimpuls des Körpers nicht beeinflussen. Zwar führen einzelne Körperabschnitte Drehbewegungen um Gelenkachsen aus,
aber zu jedem Einzeldrehimpuls eines Körperabschnittes (Li) entsteht zwangsläufig im benachbarten Körperabschnitt oder im ganzen
restlichen Körper ein gleich großer aber entgegen gerichteter Drehimpuls (- Li). Beide addieren sich zu Null.
Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden:
Das erste Beispiel (Abb. 3.30) stellt eine fiktive Situation aus dem Turnunterricht dar. Der Turnlehrer – bereit zur Hilfestellung –
beobachtet einen Schüler bei der Hocke über den Kasten und bemerkt in dem Augenblick, in dem der Schüler auf dem Kasten
abstützt, dass dieser eine zu große Vorlage besitzt und bei der Landung auf die Nase zu fallen droht (Abb. 3.30a). Der Schüler selbst
– in Erinnerung an frühere schlechte Erfahrungen - spürt dies auch und plant (eher unwillkürlich als wohl überlegt) Aktionen, um den
drohenden Sturz abzuwenden (Abb. 3.30b). Aber bevor der Schüler diese Verhaltensabsicht in die Tat umsetzen kann, kommt der
Lehrer wieder ins Spiel und ruft dem Schüler eine Bewegungsanweisung zu (Abb. 3.30c), in der Hoffnung, seine Befolgung würde den
Schüler vor größerem Schaden bewahren. Letzterer - schon im Absturz in Richtung Boden befindlich – reagiert augenblicklich in
ungetrübtem Vertrauen auf die Unfehlbarkeit der Autorität (Abb. 3.30c) und muss die Konsequenzen ertragen (Abb. 3.30d).
Es sei vorsorglich darauf hingewiesen, dass diese fiktive Situation Reaktionszeiten voraussetzt, die in der Realität nicht möglich sind; denn zum Wahrnehmen
und Verarbeiten der Anweisung des Lehrers sowie zur Planung eines Bewegungsentwurfes als Reaktion auf die Anweisung und letztlich zur Realisation einer
Korrekturbewegung werden deutlich längere Zeitspannen benötigt, als dem Schüler hier zur Verfügung stehen (s. Kap. 5.4 und Kap. 6.1).
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54
zu starke
Vorlage
a)
„Kopf hoch!“
b)
-L
L
d)
c)
Abb. 3.30: Beispiel aus der Unterrichtspraxis zur Drehimpulserhaltung
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55
Was mag hier geschehen sein? Die Bewegungsanweisung des Turnlehrers war gut gemeint, indem erwartete wurde, dass das
Hochreißen des Kopfes dem Körper eine Rückwärtsdrehung im Sinne eines Aufrichtens vermitteln würde. Da sich aber der Schüler
schon frei in der Luft fliegend befand und deshalb ein kräftefreies System darstellte, hatte das schnelle Hochnehmen des Kopfes in
den Nacken – verbunden mit einem reflektorischen Überstrecken der Brustwirbelsäule (s. Kap. 5.3) – keinen Einfluss auf den
vorherrschenden Gesamtdrehimpuls des Körpers. Statt dessen musste zwangsläufig zu dem in Kopf und Oberkörper entstandenen
Drehimpuls mit Rückwärts-Drehsinn (L) im restlichen Körper ein gleich großer Drehimpuls mit Vorwärts-Drehsinn (- L) auftreten. Beide
Drehimpulse (L und –L) addierten sich zu Null, d.h., ließen den Gesamtdrehimpuls unbeeinflusst. Die Folge war, dass die Beine
- anstatt zum Abfangen des Körpers in Richtung Boden geführt zu werden - sich noch weiter vom Boden weg drehten. in diesem Fall
hätte das, was sich der Schüler selbst vor der Bewegungsanweisung des Lehrers vorgenommen hatte (Abb. 3.30b), sicher eher zum
Erfolg geführt, nämlich ein noch weiteres Herunterdrehen des Kopfes und damit ein entsprechendes Gegendrehen der Beine nach
unten in Richtung Boden. Ob das den Sturz völlig vermieden hätte, muss dahin gestellt bleiben. Vielleicht hätte aber das heftige
Armkreisen vorwärts, das zusätzlich Inhalt der Verhaltensabsicht des Schülers war (Abb. 3.30b), noch etwas helfen können. Dies wird
aber erst in Kap. 3.7 entschieden.
Das zweite Beispiel stellt einen wesentlich konkreteren Fall aus der Turnpraxis dar:
Gelegentlich meinen Turner oder Turntrainer, die etwas über die Steuerungsfunktion des Kopfes auf die Körperhaltung und
-bewegung gehört haben, sie könnten nach einem Absprung vom Boden oder nach einem Abstoß vom Gerät zu einem Salto oder
freien Überschlag durch eine Bewegung des Kopfes in Drehrichtung die gewünschte Rückwärts- oder Vorwärtsrotation auslösen oder
vergrößern. Aus dem oben aufgeführten Beispiel sollte klar geworden sein, dass dies nicht möglich ist; denn der Körper stellt ohne
Kontakt zum Boden oder zum Gerät ein kräftefreies System dar, dessen Drehimpuls konstant, also unveränderbar, erhalten bleibt. Hat
der Turner durch den Absprung vom Boden zum Salto rückwärts (Abb. 3.31 links) einen Drehimpuls im Gesamtkörper (LG) gewonnen,
kann er diesen in der Flugphase nicht verändern. Nimmt er nach dem Absprung den Kopf in den Nacken und überstreckt er dabei die
Brustwirbelsäule, ist die Erzeugung des zusätzlichen Drehimpulses (Lk) in diesem Körperabschnitt zwangsläufig mit dem Entstehen
eines gleich großen, aber entgegen gerichteten Drehimpulses (-Lk) im restlichen Körper verbunden. Der Gesamtdrehimpuls (LG) bleibt
dadurch unbeeinflusst, d.h. in der ursprünglichen Größe und Richtung erhalten. Statt dessen bedeutet die durch das Rücknehmen des
Kopfes bedingte Körperhaltung einen ungünstigen Einfluss auf die Drehgeschwindigkeit, wie im Folgenden noch zu zeigen ist.
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LG
Lk
- Lk
I 2 ≈ 3,5 kg*m²
I 1 ≈ 14 kg*m²
Abb. 3.31: Drehimpulse beim Salto rückwärts (links) und Trägheitsmomente beim Salto vorwärts (rechts). I1: Trägheitsmoment bzgl der queren
Schwerpunktachse bei gestrecktem Körper. I2: Trägheitsmoment bzgl. der queren Schwerpunktachse bei zusammengehocktem Körper.
LG: Gesamtdrehimpuls. Lk, -Lk: Teildrehimpulse
Bei allen freien Flügen nach einem Absprung vom Boden oder nach Abstoß vom Gerät lässt sich durch eine Bewegung des
Kopfes in die gewünschte Drehrichtung kein Drehimpuls erzeugen, noch lässt sich der vorhandene Drehimpuls vergrößern
oder verkleinern. Das gilt generell - für Vorwärtsdrehungen und Rückwärtsdrehungen (um die Querachse) genauso wie für
Schraubendrehungen um die Längsachse.
Hat der Turner durch den Absprung vom Boden keinen Drehimpuls gewonnen, kann er durch das Rücknehmen des Kopfes
aus den gleichen Gründen auch keinen Drehimpuls gewinnen.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
57
Trotzdem lässt sich bei konstantem Drehimpuls die Drehgeschwindigkeit verändern!
Das wird bei Betrachtung der Formel für den Drehimpuls deutlich:
L= I * ω bzw. L= m * r² * ω oder umgestellt nach ω:
ω = L(konst) / (m *r² ).
Das bedeutet, dass bei konstantem Drehimpuls (Lkonst) sich die Drehgeschwindigkeit (ω) umgekehrt proportional wie das
Trägheitsmoment verhält. Wird das Trägheitsmoment verkleinert, indem der Abstand der Körpermasse von der Drehachse verkleinert
wird, vergrößert sich die Winkelgeschwindigkeit – und umgekehrt. Hockt man nach dem Anlauf und Absprung zum Salto vorwärts den
Körper zusammen (Abb. 3.31 rechts), verkleinert man das Trägheitsmoment auf ¼ und vergrößert dadurch die Winkelgeschwindigkeit
auf das Vierfache. Es wird deutlich: je besser man den Körper in der Flugphase zum Salto vorwärts zusammenhockt, desto besser
kann man die Winkelgeschwindigkeit steigern. Dieses gute Zusammenhocken oder „Einrollen“ des Körpers lässt sich durch ein
Beugen der Halswirbelsäule („Kinn auf die Brust nehmen“) einleiten und intensivieren. Wohl gemerkt: Nur das Einrollen des Körpers
wird – beim Salto vorwärts - durch das Führen des Kopfes in Drehrichtung ausgelöst (s. dazu Kap. 5.3), nicht aber die
Drehbewegung (der Drehimpuls).
Möglicher Weise hat diese Beobachtung beim Salto vorwärts (Kopf drehen in Drehrichtung vergrößert die Drehgeschwindigkeit) zu der
irrigen Meinung geführt, die Kopfdrehung würde den Drehimpuls vergrößern oder gar „die Drehbewegung einleiten“ und Gleiches
müsse auch beim Salto rückwärts geschehen. Das in Drehrichtung Drehen („in den Nacken nehmen“) des Kopfes beim Salto
rückwärts zieht jedoch reflektorisch (Kap. 5.3) eine schlechte Hockstellung des Körpers nach sich. Das will heißen: Im Gegensatz zum
Salto vorwärts wird das Trägheitsmoment des Körpers nur wenig verkleinert und somit die Drehgeschwindigkeit nur unzureichend
vergrößert (s. Abb. 3.31 links, dritte Figur von links). Besser wäre es hier, den Kopf „auf die Brust“ zu nehmen, um das Anhocken zu
intensivieren und somit die Drehgeschwindigkeit effektiv zu vergrößern (s. Abb. 3.31 links, vierte Figur von links). Das bedeutet zwar
eine Bewegung des Kopfes gegen die geplante Drehrichtung, dies hat – da der Körper im Flug ein kräftefreies System darstellt –
keinerlei Einfluss auf den bestehenden Drehimpuls (über die Bedeutung der visuellen Orientierung bei Rückwärtsdrehungen des
Körpers s. Kap. 5.3).
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
58
Anders jedoch beim gestreckten Salto rückwärts! Hier kann das Rücknehmen des Kopfes eine Überstreckung des gesamten Körpers
nach sich ziehen (Abb. 32a). Dabei wird das Trägheitsmoment gegenüber einem völlig gerade gestreckten Körper von etwa 14 kg*m²
auf etwa 8 kg*m² verkleinert. Dies bedeutet kaum eine Halbierung des Trägheitsmomentes, genügt aber, um eine entsprechende
Vergrößerung der Drehgeschwindigkeit bei unbeeinflusstem Drehimpuls zu bewirken. Da man somit beim Salto rückwärts gestreckt in
der Flugphase wesentlich langsamer dreht als beim Salto rückwärts gehockt, benötigt man bei ersterem mehr Zeit, um die verlangte
Umdrehung um die quere Achse von fast 360° zu vollenden, was eine größere Sprunghöhe voraussetzt.
Bei allen Drehungen um eine Achse im freien Flug lässt sich die Winkelgeschwindigkeit durch Verkleinerung des
Trägheitsmomentes, d.h., durch Annähern der Körpermasse an die Drehachse, die hier stets durch den Schwerpunkt
verläuft, vergrößern. Dadurch kann – je nach Körperhaltung und Drehachse – die Winkelgeschwindigkeit auf den doppelten
bis den vierfachen Wert gesteigert werden. Betrag und Richtung des Drehimpulses bleiben dadurch jedoch unbeeinflusst
(Drehimpulserhaltungssatz).
Damit dieser Effekt zur Wirkung kommen kann, ist das Vorhandensein eines Drehimpulses im Körper unbedingte Voraussetzung. Hat
der Absprung oder Abstoß vom Gerät keinen oder einen zu geringem Drehimpuls geschaffen, kann auch das extremste Anhocken
des Körpers nicht zu einer Drehbewegung führen oder keine nennenswerte Steigerung derselben bewirken. Denn der Verkleinerung
des Trägheitsmomentes bezüglich der Schwerpunktachsen des Menschen sind anatomische Grenzen gesetzt.
Abb. 3.32 zeigt einige Turnübungen, bei denen im freien Flug die Winkelgeschwindigkeit durch Verkleinerung des Trägheitsmomentes
vergrößert wird. Weitere Beispiele sind in Abb. 3.28 und Abb. 3.31 dargestellt. Der Betrag, um den die Winkelgeschwindigkeit im
Einzelnen gesteigert werden kann, sind aus den Zahlenangaben der Trägheitsmomente von Abb. 3.26, Abb. 3.31 und Abb. 3.32 zu
entnehmen. Es gilt: die Winkelgeschwindigkeit steigt in dem gleichen Verhältnis, in dem das Trägheitsmoment verkleinert wird. Zum
Vergleich zeigt Abb. 3.32 auch eine einfache Rolle vorwärts am Boden, bei der das gleiche Prinzip zur Anwendung kommt, auch wenn
hier noch andere Effekte (z.B. Abrunden des Körpers zur Bildung eines besseren Rollkörpers) zu berücksichtigen sind.
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59
I ≈ 4 kg*m²
I ≈ 8 kg*m²
b)
a)
c)
d)
e)
f)
g)
Abb. 3.32: Turnerische Elemente, bei denen im Verlauf des freien Fluges die Winkelgeschwindigkeit durch Verkleinerung des
Trägheitsmomentes vergrößert wird. a) Salto rückwärts gestreckt. b) Überschlag vorwärts mit Anbücken (Yamashita). c) Salto vorwärts
gebückt. d) Salto rückwärts gestreckt. e) Doppelte Stützfelge gehockt rückwärts (Guzcoghy). f) Salto vorwärts gehockt über der Stange
(Gaylord). Zum Vergleich: g) Rolle vorwärts
So lohnenswert eine hohe Drehgeschwindigkeit zur rechtzeitigen Vollendung einer beabsichtigten Umdrehung ist, so wenig nützlich
erweist sie sich bei einer visuellen Orientierung im Raum sowie für eine sichere Landung oder zu einem sicheren Wiederergreifen des
Gerätes. Dazu ist es notwendig, die Winkelgeschwindigkeit rechtzeitig wieder zu vermindern, indem das Trägheitsmoment durch
Entfernen der Körpermasse von der Drehachse - in der Regel durch eine einfache Körperstreckung – wieder vergrößert wird (Abb.
3.28 und Abb. 3.32f).
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
60
Im Laufe von Drehbewegungen im freien Flug lässt sich die Drehgeschwindigkeit (Winkelgeschwindigkeit) durch
Veränderung des Trägheitsmomentes steuern. Insbesondere zur Vorbereitung der Landung oder des Wiederergreifens des
Gerätes muss die Drehgeschwindigkeit durch Vergrößerung des Trägheitsmomentes (durch Strecken des Körpers) vermindert
werden. Richtung und Betrag des Drehimpulses werden dadurch nicht beeinflusst.
Es sollte jedoch niemand glauben, er könne die Drehgeschwindigkeit noch während des freien Fluges regeln, indem er nach rechtzeitigem Vermindern der
Drehgeschwindigkeit sich über die Lage im Raum orientiert und abschätzt, wieviel Zeit bis zur Landung noch zur Verfügung steht und/oder welcher Betrag an
Drehgeschwindigkeit für eine sichere Landung notwendig ist, um dann durch Anpassen des Trägheitsmomentes zu reagieren. Für solche bewussten
Entscheidungen wird wesentlich mehr Zeit benötigt (s. Kap. 5.4), als bei den üblichen freien Flügen im Gerätturnen zur Verfügung steht. Es bleibt nur die
Möglichkeit, durch intensives Üben zu lernen, welches Maß an Drehgeschwindigkeit in den einzelnen Phasen des Turnelementes unter Berücksichtigung der
persönlichen Kraft- und Massensituationen erforderlich ist und welche Körperposition (bzw. welches Trägheitsmoment) diese Drehgeschwindigkeit garantiert.
Somit muss vor der Ausführung des Elementes der Bewegungsplan erstellt werden – in der Hoffnung, dass während des Ablaufes des Elementes keine
Störungen auftreten, die die Umsetzung des Bewegungsplanes beeinflussen könnten.
Einen wesentlichen Anwendungsbereich für die Vergrößerung der Drehgeschwindigkeit durch Verkleinerung des Trägheitsmomentes
bilden Schwünge im Hang, Sturzhang oder Stütz, also Drehbewegungen um starre Achsen, die nicht durch den Körperschwerpunkt
verlaufen.
Allerdings stellt hier der Körper des Turners kein kräftefreies System dar. Durch den Griff an der Reckstange bzw. am Barrenholm
(= Drehachse) können vielfältige Kräfte zwischen Körper und Umwelt wirken, die den Drehimpuls des Körpers beeinflussen können
und dadurch die Wirkung der Verkleinerung des Trägheitsmomentes weniger offensichtlich erscheinen lassen.
Die in Abb. 3.33 dargestellten Beispiele sollen dies belegen. Das Winkeln des Körpers im Vorschwung beim Schwingen im Langhang
stellt eine recht mäßige Verkleinerung des Trägheitsmomentes dar. Für den enormen Effekt dieser Aktion in der Turnpraxis müssen
somit zusätzliche Erklärungen gefunden werden. Ähnlich sieht es beim Sturzhangschwung rücklings vorwärts aus. Aus diesem
Grunde soll hier nicht weiter auf die Mechanik des Schwingens eingegangen, sondern auf Kap. 3.10 verwiesen werden.
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A
I ≈ 14
kg*m²
A
61
I ≈ 65
kg*m²
I ≈ 84
kg*m²
I ≈ 32
kg*m²
Abb. 3.33: Beispiele für die Veränderung des Trägheitsmomentes bezüglich starrer Achsen (A).
3.7
Scheinrotation und „Drehrückstoß“
Der Begriff Scheinrotation deutet darauf hin, dass ein Turner im kräftefreien Zustand Drehungen erzeugt, obwohl sich der
Gesamtdrehimpuls des Körpers dabei nicht verändert. Ist das überhaupt möglich? Um diese Erscheinung zu beschreiben, eignet sich
in besonderer Weise ein Element des Pferdsprunges, das heute nicht mehr allzu oft geübt wird, nämlich der „Hecht“ (Abb. 3.34).
Das Bewegungsziel beim Hecht besteht darin, nach Anlauf, Absprung und Flug mit gestrecktem Körper, wobei – wie bei der Hocke
(Abb. 3.29) – der Körper durch das Drehmoment des Absprunges einen Drehimpuls in Vorwärtsdrehsinn erhält, durch das Abstützen
dem Körper einen Rückwärts-Drehimpuls zu vermitteln, der den gestreckten Körper in der zweiten Flugphase zur Landung wieder
aufrichtet (Abb. 3.34, oben). Da das Abstützen vom Pferd außer für die Erzeugung eines rückwärts drehenden Drehmomentes auch
für die Überhöhung der zweiten Flugphase genutzt werden muss, kommt es in der Trainings- und Wettkampfpraxis häufig vor, dass
der Turner in der zweiten Flugphase einen unzureichenden Drehimpuls besitzt oder sich überhaupt nicht rückwärts dreht und dass
damit die Landung zu misslingen droht (s. auch Abb. 3.30). Als Reaktion darauf versucht der Turner, durch heftige Armkreise vorwärts
seine Körperlage im Raum zu korrigieren, d.h., seinen Körper aufzurichten bzw. rückwärts zu drehen.
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62
LR = – LA
LA
4
A
3
1
2
5
6
7
Abb. 3.34: Scheinrotation beim Hecht. oben: Gesamtbewegung in der Übersicht. unten: Fiktive Einzelphasen der zweiten Flugphase zur
Verdeutlichung der Drehimpulse. A: Querachse (schwarze Punkte). LA: Vektor des Drehimpulses der Arme. LR: Vektor des
Drehimpulses des Rumpfes.
Die Einzelphasen sind zur besseren Übersicht so dargestellt, dass die Querachse senkrecht auf der Zeichenebene steht. Da in diesem Fall die
Vektorpfeile nicht sichtbar wären, sind diese etwas aus der Senkrechten herausgeklappt dargestellt.
Abb. 3.34 unten soll eine zweite Flugphase des Hechtes darstellen, in der der Turner das Gerät nach dem Abstützen ohne jeglichen
Drehimpuls (LG = Null) verlässt. Dies ist an den Einzelphasen 1 bis 3 zu erkennen. Die Erzeugung eines Drehimpulses im
Vorwärtsdrehsinn in den Armen (LA) hat nun – gemäß dem actio-reactio-Prinzip - zwangsläufig das Entstehen eines gleich großen,
aber entgegengerichteten Drehimpulses im restlichen Körper (-LA) zur Folge, der sich zum Drehimpuls der Arme zu Null addiert; denn
in dem kräftefreien System, das der Turner im freien Flug darstellt, bleibt der vorhandene Gesamtdrehimpuls (hier: LG = Null) erhalten.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
63
So lange der Turner also die Arme vorwärts kreist, dreht sich der restliche Körper mit dem Drehimpuls LR = - LA rückwärts. Sobald der
Turner die Armbewegung stoppt (was er in der Turnpraxis natürlich nicht tut, bevor eine sichere Landung gewährleistet ist), stoppt
auch das Rückwärtsdrehen des Rumpfes (s. Abb. 3.34 unten, Einzelphasen 5 bis 7). Der Turner bewegt sich ohne Drehung, aber in
einer gegenüber dem ersten Teil der Flugphase gedrehten (aufgerichteten) Position auf der Wurfparabel weiter. Er scheint sich also,
obwohl der Gesamtdrehimpuls während der zweiten Flugphase stets gleich Null war, gedreht zu haben: Scheinrotation.
Da diese Erscheinung gewisse Ähnlichkeiten mit dem Prinzip des Rückstoßes zeigt, kann sie auch Drehrückstoß genannt werden. Sie beruht auf dem actioreactio-Prinzip (dem 3. Newtonschen Prinzip), nach dem zu jeder Kraft (jedem Drehmoment) eine gleich große, aber entgegen gerichtete Kraft (ein gleich
großes, aber entgegen gerichtetes Drehmoment) gehört (s. Kap. 3.1.2 und 3.1.4).
Im freien Flug nach Absprüngen oder bei Abgängen vom Gerät lässt sich die Körperlage im Raum in Bezug zur Querachse
korrigieren, indem Körperteile (meistens die Arme) dem gewünschten Korrektur-Drehsinn entgegen gedreht werden. Der im
Körper vorhandene Gesamtdrehimpuls bleibt dabei unbeeinflusst (Scheinrotation).
LR
LG
- LA
LG
LA
LG
A
Abb. 3.35: Scheinrotation beim Hecht. Fiktive Einzelphasen der zweiten Flugphase zur Verdeutlichung der Drehimpulse. A: Querachse
(schwarze Punkte). LA: Vektor des Drehimpulses der Arme. LG: Vektor des Gesamtdrehimpulses. LR: Vektor des Drehimpulses des
Rumpfes. (s. auch Bemerkungen Abb. 3.34)
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
64
Selbst dann, wenn der Turner beim Hecht nach Verlassen des Gerätes einen Drehimpuls mit Vorwärts-Drehsinn besitzen sollte (Abb.
3.35, Einzelphasen 1 bis 3), lässt sich durch entsprechend heftige Armkreise die Vorwärts-Drehung des Rumpfes anhalten oder sogar
in eine Rückwärts-Drehung umwandeln (Abb. 3.35, Einzelphase 4). Voraussetzung ist nur, dass der Drehimpuls der
Korrekturbewegungen (LA) den gleichen Betrag oder einen größeren Betrag und die gleiche Richtung wie der Gesamtdrehimpuls (LG)
besitzt. Auch hier würde sich nach einem Anhalten der Korrekturdrehungen der Körper mit unverändertem Gesamtdrehimpuls (LG)
weiter vorwärts drehen (Abb. 3.35, Einzelphasen 5 bis 7).
Korrigierendes Armkreisen kann vom Trainer und vom Kampfrichter als Indiz einer fehlerhaften Ausführung eines Elementes gewertet
werden, wobei die Konsequenzen seitens des Trainers in methodische Maßnahmen zur Korrektur der Fertigkeiten des Turners
münden sollten, während sich die Konsequenz seitens des Kampfrichters meistens in der Benotung ausdrückt.
Auch im Stand auf dem Boden oder auf dem Schwebebalken lässt sich durch kreisförmige Armbewegungen die Körperlage um eine
Quer- oder Sagittalachse korrigieren. Allerdings stellt hier der Körper kein kräftefreies System dar, so dass bei der Erzeugung der
Drehimpulse in den Armen der Gegendrehimpuls auf dem Weg über Rumpf und Beine im Boden entsteht.
Neben den Scheinrotationen um quere Achsen, die fast ausschließlich zur Korrektur der Körperlage im Raum genutzt werden, können
Scheinrotationen auch um Körperlängsachsen produziert werde – hier jedoch vornehmlich nicht zur Lagekorrektur, sondern in der
Regel zur Ausführung bestimmter turnerischer Elemente. Physiklehrer demonstrieren die Wirkung solcher Scheinrotationen oft mit
Hilfe von Katzen (oder von Kaninchen), die bekanntlich bei einem Sturz stets auf den Beinen landen können. Dies wird in Abb. 3.36 a
dargestellt:
Das Kaninchen, das – an den Beinen hoch gehalten und ohne jeglichen Drehstoß fallen gelassen wird - den Sturz also mit dem
Gesamtdrehimpuls LG = Null beginnt, ist tatsächlich in der Lage, während der kurzen Zeit des Fallens den Körper um eine Längsachse
um rund 180° zu drehen. Den Rumpf zuerst bauchwärts, dann seitwärts gebogen, verdreht es Vorder- und Hinterteil gegeneinander
und „schraubt“ sich in die Landeposition („Katzenschraube“).
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
a)
b)
65
c)
Abb. 3.36: Katzenschraube als Scheinrotation um eine Körperlängsachse. a) Katzenschraube des Kaninchens. b) Katzenschraube an einem
still hängenden Ring. c) Katzenschrauben im Laufe turnerischer Elemente. LH: Teildrehimpuls Hinterteil. LO: Teildrehimpuls Oberkörper.
LU: Teildrehimpuls Unterkörper. LV: Teildrehimpuls Vorderteil (aus: WIEMANN 1987)
Physikalisch bedeutet dieses Verhalten die Erzeugung gleich großer, aber entgegen gerichteter Drehimpulse im Vorder- und Hinterteil
– natürlich durch entgegengerichtete Drehmomente (actio-reactio). Da der Körper des Kaninchens während des Falls ein kräftefreies
System bildet, addieren sich die Teildrehimpulse zu Null: Der Gesamtdrehimpuls bleibt unbeeinflusst, nämlich gleich Null.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
66
Die Wirkung der Katzenschraube lässt sich leicht überprüfen, wenn man sich mit beiden Händen ruhig an einen Schaukelring hängt,
die Beine langsam bis in die Waagerechte anhebt und dann in der Waagerechten nach links kreist (Abb. 3.36b). Als Konsequenz wird
sich der Rumpf mit den Armen automatisch rechts herum drehen, so dass man über ein seitliches „Verschrauben“ in den gestreckten
Hang gelangt, jedoch mit dem Blick entgegen der ursprünglichen Blickrichtung: Es wurde eine 180°-Drehung um die Längsachse
durchgeführt, ohne dass dem Gesamtkörper ein Drehimpuls vermittelt werden konnte.
In der Turnpraxis können 180°-Drehungen um die Längsachse – ohne Drehabstoß, d.h. ohne dem Gesamtkörper einen
Drehimpuls um die Längsachse vermittelt zu haben – durch Scheinrotation (durch eine Katzenschraube) ausgeführt werden.
Voraussetzung ist, dass zu Beginn der Erzeugung der Scheindrehung der Körper bei geschlossenen und gestreckten Beinen
um rund 90° im Hüftgelenk gewinkelt (angebückt) ist und aus dieser Position Rumpf und Beine gegeneinander „verschraubt“
werden.
Die Katzenschraube wird in der Turnpraxis vielfach angewendet, am häufigsten bei gebückten Vorwärtssalti mit ½ Drehung am
Boden, beim Sprung (Abb. 46c) oder als Abgang von den Geräten (Abb. 3.36c).
3.8
Drehimpulsübertragung
Aus den vorangegangenen Kapiteln wird deutlich, dass auch Drehimpulse von einem Körper auf den anderen übertragen werden. An
dieser Stelle ist es somit notwendig, noch einmal das Problem der „Impulsübertragung“ bei den Kippen anzusprechen.
Während in Kap. 3.1.5 und 3.1.6 die translatorische Komponente des Kippstoßes (besser: des „Kippschlages“) besprochen wurde, soll
hier die Wirkung der rotatorischen Komponente dargestellt werden:
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
67
-Lüb
Lb2
Lb1
Lb1
LG
LG
Lüb
Abb. 3.37: Drehimpulsübertragung bei der Oberarmkippe. Lb1: Drehimpuls der Beine beim „Kippstoß“. Lb2: Drehimpuls der Beine nach
muskulärem Abbremsen des „Kippstoßes“. LG: Drehimpuls des Gesamtkörpers (Lb1 = LG). Lüb: Drehimpulsgewinn des Rumpfes durch
muskuläres Abbremsen des „Kippstoßes“. –Lüb: Drehimpulsverlust der Beine durch muskuläres Abbremsen des „Kippstoßes“.
Durch die schlagartige Hüftstreckbewegung erhalten die Beine einen Drehimpuls (Lb1) bezüglich der Hüftgelenkachse (Abb. 3.37
links). Das bedeutet, dass man auch dem Gesamtkörper einen Drehimpuls (LG) zuweisen kann; denn die Hüftstreckaktion erzeugt ein
äußeres Drehmoment, dessen Reaktions-Drehmoment auf die Umgebung (Barren, Erde) wirkt. In Kap. 3.1.6 wurde festgestellt, dass
die Muskelaktion zum Abbremsen des Beinschlages in Bezug zum Körper innere Kräfte erzeugt. Somit sind auch die Drehmomente,
die durch die Abbremsaktion aufgebracht werden, innere Momente, die den Gesamtdrehimpuls des Körpers (LG) nicht beeinflussen
können. Statt dessen wird der Drehimpuls innerhalb des Gesamtkörpers von den Beinen (-Lüb) auf den Rumpf (Lüb) übertragen, so
dass sich die Beine nur noch mit dem Drehimpuls Lb1 + (-Lüb) = Lb2 vorwärts drehen, während der Rumpf bei unverändertem
Drehimpuls des Gesamtkörpers (LG = Lüb + Lb2) den Beinen mit dem Drehimpuls (Lüb) folgt und sich somit - vorwärts drehend – von
den Holmen abhebt. Dieses Anheben versetzt den Turner in die Lage, die Arme vom Oberarmhang in den Stütz umzusetzen (Abb.
3.11).
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
68
Welche Komponente (die translatorische oder die rotatorische) bei dieser Aktion die bedeutendere Rolle spielt, kann nicht ohne Weiteres geklärt werden. Würde
nur die rotatorische Komponente von Bedeutung sein, wäre es besser, die Beine zur Erzeugung eines möglichst großen Drehimpulses annähernd bis zur
Hüftstreckung zu schlagen, bevor sie abgebremst werden müssten. Da die Turnpraxis lehrt, dass ein Abbremsen bei leicht gewinkelter Hüfte zweckmäßiger ist,
kann gefolgert werden, dass der translatorischen Komponente (Kap. 3.1.6) auch eine gewisse Bedeutung zukommt.
Es kann in Ergänzung zu Kap. 3.1.6 zusammengefasst werden:
Durch das muskuläre Blockieren der Hüftstreckbewegung (des „Kippstoßes“) bei Kippen wird ein Drehimpuls von den Beinen auf
den Rumpf übertragen. Die Folge ist, dass sich - nach der Drehimpulsübertragung – die Beine langsamer drehen, der Rumpf sich
aber vorwärts (in Richtung der Hüftstreckbewegung) dreht. Dieser Drehimpulsgewinn des Rumpfes reicht aus, diesen für den
Turner spürbar zu „entlasten“, so dass es dem Turner möglich ist, die Arme von der Oberarmlage in den Stütz umzusetzen.
Zwei weitere turnerische Elemente lassen eine ähnliche Übertragung des Drehimpulses erkennen, die Speichgriffkippe am Barren und
die Kippe vorwärts aus dem Sturzhang in den Stütz an den Ringen (Abb. 3.38), die sich mit der Oberarmkippe am Barren zu den
„Vorwärtskippen“ zusammenfassen lassen. Der Unterschied zur Oberarmkippe liegt darin, dass der Kippschlag der Speichgriffkippe
geringfügig steiler nach oben geturnt werden muss als bei der Oberarmkippe, die Kippe an den Ringen einen fast senkrecht nach
oben weisenden Kippschlag zeigt und zudem der Körper um zwei Armlängen nach oben transportiert werden muss. Das hat zur
Folge, dass gerade bei der Kippe an den Ringen die Wucht des Kippschlages für das Erreichen des Bewegungszieles mit
entscheidend ist.
Das Umsetzen der Arme vom Hang oder Oberarmhang in den Stütz gelingt am besten, wenn der Rumpf durch die Impulsübertragung
eine große Wucht (Impuls, Drehimpuls) erhält. Das setzt voraus, dass in den Beinen durch die Kippbewegung ein großer Drehimpuls
erzeugt wurde. Aus der Formel L = I *ω wird deutlich, dass dies durch eine große Winkelgeschwindigkeit (ω) und durch ein großes
Trägheitmoment (I ) erreicht werden kann. Daraus lassen sich für ein effektives Ausführen der Vorwärtskippen unter Ausnutzung der
Impulsübertragung folgende Regeln ableiten:
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
Abb. 3.38: Speichgriffkippe am Barren (oben) und Kippe vorwärts an den Ringen
Regeln für die Ausführung von Vorwärtskippen:
- Durch den Kippstoß (Kippschlag) ist in den Beinen eine möglichst große Wucht (= Impuls, Drehimpuls) zu erzeugen.
- Dazu müssen die Beine mit möglichst großer Geschwindigkeit (Winkelgeschwindigkeit) und bei möglichst großem
Trägheitsmoment vorwärts aufwärts geschlagen werden.
- Das Trägheitsmoment der Beine ist bei völlig gestreckten Beinen am größten.
- Die Wucht der Beine ist bei leicht gewinkelter Hüfte durch eine heftige Abbremsaktion der Hüftbeugemuskeln auf den
Rumpf zu übertragen.
69
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
70
Ein turnerisches Element, das gelegentlich im Zusammenhang mit der Impulsübertragung genannt wird, dessen korrekte Ausführung
allerdings in keiner Weise von dem bei den Kippen beobachtbaren Effekt abhängig ist, stellt der Unterschwung am Barren (Abb. 3.39)
dar. Möglicherweise hat der Umstand, dass diese Übung auch „Schwabenkippe“ genannt wurde und dass bei flüchtiger, rein
phänographischer (d.h. die äußerlich sichtbare Struktur betreffender) Betrachtungsweise ähnliche Körperpositionen und
Hüftwinkeländerungen wie bei den Kippen festgestellt werde können, mit zu dieser Fehleinschätzung beigetragen.
Abb. 3.39: Unterschwung („Schwabenkippe“) aus dem Stütz in den Oberarmhang am Barren. oben: perfekte Ausführung. unten: wenig
schwungvolle Ausführung.
Dem Unterschwung liegt in der Kernphase ein Schwung im Sturzhang zugrunde. Deshalb unterliegt er vornehmlich den
physikalischen Gesetzen der Pendelschwünge (s. Kap. 3.10). Sein Bewegungsablauf beinhaltet keine heftige Hüftstreckung, die dem
Kippschlag ähneln würde. Statt dessen dient die Hüftstreckung lediglich der Unterstützung einer Schulteraktion, die die Masse des
Körpers der Drehachse annähern und danach aufwärts beschleunigen soll. Sie ist zudem nicht explosiv auszuführen, sondern dosiert
an die Dynamik des Schwunges anzupassen. Eine Übertragung des Drehimpulses der Beine auf den Rumpf ist bei optimaler
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
71
Ausführung nicht erforderlich. Statt dessen soll sich der Hüftwinkel zügig öffnen, bis die Oberarme auf die Holmen aufgelegt werden,
um dann fließend in den Oberarmschwung überzugehen.
Im Einzelnen sprechen gegen die Ausführung einer heftigen Hüftstreckung, eines Kippschlages, der im weiteren Verlauf des
Unterschwunges zwecks Impulsübertragung abzubremsen wäre, drei Gründe:
1. Eine heftige Hüftstreckung könnte nur zu demjenigen Zeitpunkt ausgeführt werden. in dem der Turner sich senkrecht unter dem
Drehpunkt befindet, damit das Reaktions-Drehmoment (-Lb) zur Hüftstreckung (Lb) als äußeres Drehmoment über die Arme auf
den Barren wirken kann (Abb. 3.40). Dies würde aber gerade in demjenigen Augenblick, in dem bei Schwüngen die Körpermasse
zwecks Steigerung der Schwunggeschwindigkeit der Drehachse anzunähern ist (s. Kap. 3.10), einen Teil der Körpermasse und
somit auch den Gesamtschwerpunkt von der Drehachse entfernen (Abb. 3.40) und dadurch die Schwunggeschwindigkeit
entscheidend verkleinern.
2. Durch die Hüftstreckung würde der Gesamtkörper einen Drehimpuls gewinnen, der dem durch den Sturzhangschwung
vorgegebenen Drehimplus (LG) entgegengerichtet wäre und diesen entsprechend mindern würde.
Drehrichtung -Lb
Drehachse:
KSP:
Drehrichtung Lb
Drehrichtung LG
Abb. 3.40: Wirkung einer unangemessenen Hüftstreckung im Laufe des Unterschwunges rückwärts am Barren
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
72
3. Dieser (unerwünschte) Effekt würde durch ein Abbremsen der Hüftstreckung nicht aufgehoben werden können, da die Kräfte zum
Abbremsen der Hüftstreckung innere mechanische Kräfte (innere Drehmomente) wären.
Diese Argumente treffen im Übrigen großenteils auch für alle Kippen am Reck zu, wie in Kap. 3.10 noch aufzuzeigen ist. Unterscheiden sich zwei turnerische
Elemente in ihren mechanischen Grundlagen derart massiv, müssen für ihre korrekte Realisation entsprechend unterschiedliche Muskelaktionen geplant und
realisiert werden, was entsprechende Unterschiede in den Bewegungsentwürfen (Kap. 5.4) bzw. Bewegungsvorstellungen (Kap. 6.2) voraussetzt. Eine
lehrmethodische Verknüpfung solcher Elemente verbietet sich somit von selbst (Kap. 7).
Allerdings kann bei schlechter Ausführung des Unterschwunges am Barren ein Verhalten beobachtet werden, dass an das Blockieren
der Hüftstreckung der Kippen erinnert:
Hat der Turner in Folge eines schwachen Sturzhangschwunges eine so geringe Aufschwunghöhe, dass sich die Arme gegen Ende
des Aufschwunges noch unter den Holmen befinden und die Gefahr droht, die Oberarme nicht auf die Holmen zum Oberarmhang
auflegen zu können (Abb. 3.39 unten), hilft sich der Turner dadurch, dass er die Hüfte heftig beugt, um durch das Beschleunigen der
Beine gegen Schwungrichtung eine reaktive Beschleunigung des Rumpfes in Schwungrichtung zu erreichen. Dieses
Zusammenklappen des Körpers kann helfen, das Ziel der Übung trotz voraufgegangener technischer Mängel doch noch zu erreichen.
Häufig erscheint dieses Verhalten nicht so deutlich, wie in Abb. 3.39 (unten) dargestellt und im Text beschrieben. Vielfach überlagern
sich die Aufschwungbewegung des gesamten Körpers und die oben beschriebene „Rettungsaktion“, so dass der Eindruck einer
kippenähnlichen Drehimpulsübertragung entstehen kann. Obwohl auch hier physikalisch Drehimpulse innerhalb des Gesamtkörpers
durch innere Drehmomente „übertragen“ werden, sind Voraussetzung und Ziel bei Kippe und Unterschwung jedoch völlig
unterschiedlich. Daraus resultiert:
Bewegungsweisen, die aus bewegungstechnischem Unvermögen resultieren, sollten nicht als Basis für biomechanische
Modellbildungen dienen.
Der Unterschwung am Barren („Schwabenkippe“) enthält zwar eine Hüftstreckbewegung, diese unterscheidet sich
hinsichtlich Dynamik und Wirkungsweise von der Hüftstreckung (Kippstoß) bei Vorwärtskippen und braucht bei
korrekter Ausführung nicht blockiert zu werden.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
73
Biomechanische Analysen, die Regeln für lehr- und trainingsmethodische Maßnahmen liefern, sollten sich stets an der
Idealform der Bewegung orientieren und nicht an Bewegungsweisen, die Folge eines mangelhaften oder gar
fehlerhaften Verhaltens darstellen.
(An diese Regel wird im Folgenden noch des öfteren erinnert werden müssen.)
Nicht bei allen turnerischen Elementen, die zu den Kippen gerechnet werden können, wird das Blockieren des Kippschlages der Beine
durch Muskelkraft erzeugt, sondern kann auch passiv, z.B. durch Bänderhemmung des Gelenkes erfolgen. Als Vertreter dieser
Gruppe von turnerischen Elementen soll die Kopfkippe am Boden dienen (Abb. 3.41).
-Lüb
Lb2
Lb1 = LG
Lb1
Lüb
LG
Abb. 3.41: Drehimpulsübertragung bei der Kopfkippe am Boden. Lb1: Drehimpuls der Beine beim „Kippstoß“. Lb2: Drehimpuls der Beine nach
Abbremsen des „Kippstoßes“. LG: Drehimpuls des Gesamtkörpers (Lb1 = LG). Lüb: Drehimpulsgewinn des Rumpfes durch Abbremsen des
„Kippstoßes“.. –Lüb: Drehimpulsverlust der Beine durch Abbremsen des „Kippstoßes“. Nach dem Abbremsen des Kippstoßes gilt:
Lb1 = LG = Lb2 + Lüb .
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74
Bei der Kopfkippe am Boden werden die gestreckten Beine aus einer gewinkelten Stellung des Hüftgelenkes mit großer Wucht in
Bewegungsrichtung geschlagen (= Kippstoß, Kippschlag, s. Abb. 3.41). Das Abbremsen (Blockieren) erfolgt nun bei gestrecktem bzw.
überstrecktem Hüftgelenk, vorwiegend durch die Gelenkkapsel des Hüftgelenkes. Eine muskuläre Beteiligung durch die Hüftbeuger ist
natürlich nicht auszuschließen. Da das Drehmoment zur Erzeugung des Drehimpulses der Beine (Lb1) ein äußeres Drehmoment
darstellt, bedeutet der Impulsgewinn der Beine gleichzeitig einen entsprechenden Impulsgewinn des Gesamtkörpers(Lb1 = LG). Da die
Gelenkkapselspannung zum Blockieren der Hüftstreckung innere Kräfte darstellen, wird der durch den Kippschlag gewonnene
Drehimpuls nicht beeinflusst, sondern der Drehimpulsverlust der Beine (-Lüb) hat einen gleich großen Impulsgewinn im Rumpf (Lüb) zur
Folge. Letzterer folgt den Beinen, und die Arme werden entlastet, die jetzt die Bewegung des Körpers durch eine Streckbewegung
unterstützen können. Man sieht: gleicher Sinn und gleicher Effekt wie bei der Oberarmkippe.
3.9
Biomechanik des „Beinschneppers“ (Courbet)
Im Zusammenhang mit der Frage der Erzeugung von Drehmomenten durch ein Abstoßen vom Gerät (Kap. 3.4) wurde der
„Beinschnepper“ schon erwähnt und am Beispiel der Schwungstemme rückwärts mit Vorgrätschen der Beine und des
Unterschwunges mit Salto vorwärts am Reck/Stufenbarren (Abb. 3.21) erläutert.
[Als
Beinschnepper wird hier und im Folgenden ein schlagartiges Peitschen der (meist) gestreckten Beine
- vorwärts aus einer rückwärtigen Bogenspannung des Körpers oder
- rückwärts aus einer leichten Hüftbeugung in eine rückwärtige Bogenspannung des Körpers
verstanden, wobei Schultern und Arme für eine Übertragung der Wucht auf das Gerät oder den Boden verantwortlich
sind.
Das Grundprinzip und die wesentlichen Effekte des Beinschneppers sollen zuerst am Beispiel der Schwungstemme rückwärts am
Barren (Abb. 3.42) besprochen werden:
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
75
Ziel dieses turnerischen Elementes ist es, gegen Ende des Rückschwunges im Oberarmhang die Beine unter dem Körper hindurch
nach vorn zu grätschen. Dazu ist ein Abdrücken von den Armen und – selbstverständlich – ein Lösen des Griffes und ein
anschließendes Wiederergreifen der Holmen nötig. Voraussetzung ist außerdem, dass der Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn (Abb.
3.42, Ls), den der Körper durch den Rückschwung im Oberarmhang bekommen hat, in einen Drehimpuls mit Rückwärtsdrehsinn (Abb.
3.42, La) umgeformt wird. Dazu ist ein nicht unbeträchtliches Drehmoment (Fa * da) zu erzeugen.
La
Fa
Fa
S
da
Ls
Abb. 3.42: Beinschnepper vorwärts im Laufe der Schwungstemme rückwärts mit Vorgrätschen. da: Kraftarm der Abdruckkraft. Fa: Abdruckkraft.
La: Drehimpulsvektor nach dem Abdruck. Ls: Drehimpulsvektor vor dem Andruck. S: Körperschwerpunkt. Beachte: Die Rotation des
Körpers während des freien Fluges ist der Rotation während des einleitenden Schwunges entgegengerichtet!
Dieses Drehmoment erreicht der Turner durch einen Abdruck von den Holmen, der durch ein kräftiges Schlagen der Beine aus einer
überstreckten Körperhaltung in eine Körperhaltung mit gebeugter Hüfte unterstützt wird. Da die dabei erzeugte Kraft (Fa) in Bezug zum
Körperschwerpunkt exzentrisch wirkt, also unter einem senkrechten Abstand (Kraftarm, da) an ihm vorbei zielt, wird die
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
76
Vorwärtsdrehung des Körpers aufgehoben und in eine Rückwärtsdrehung umgeformt. Da außerdem die Abdruckkraft (Fa) nach
oben weist, wird zusätzlich der Körper nach oben beschleunigt, so dass im freien Flug die Beine unter dem Körper nach vorn
gegrätscht werden können und sich zusätzlich der Körper in eine Position rückwärts dreht, in der die Holmen zum Stütz wieder
ergriffen werden können.
Um das Vorpeitschen der Beine möglichst impulsiv gestalten zu können und dadurch einen möglichst kräftigen Abdruck zu erreichen,
werden die Beine gegen Ende des Rückschwunges im Oberarmhang aus einer leichten Hüftwinkelstellung ausholend in die
Überstreckung gepeitscht. Die damit verbunden heftige Vordehnung der Hüftbeugemuskulatur wird dort einen Dehnungreflex (Kap.
5.2.2) auslösen, der die anschließende Kontraktion der Hüftbeugemuskeln zwecks Ausführung des Beinschneppers unterstützt.
Auf Grund dieses peitschenartigen Streckens und Beugens der Hüfte spricht man bei dieser Aktion auch von einer „Beinpeitsche“. Hier und im folgenden soll
jedoch der Begriff des „Beinschneppers“ beibehalten werden, weil bei manchen Beinschnepper-Bewegungen eine heftige Ausholbewegung fehlt und weil beim
Beinschnepper rückwärts der Peitschencharakter nicht immer so deutlich erlebt wird.
Der Beinschnepper vorwärts bewirkt
- einen Drehabstoß vom Gerät mit Drehsinn rückwärts und
- eine Beschleunigung des Körpers in Richtung des Abdruckes vom Gerät, also gegen Richtung des Beinschneppers.
Der Beinschnepper vorwärts kann durch ein ausholendes peitschenartiges Rückschlagen der Beine (aus einer Hüftbeuge- in
eine Hüftstreckstellung) unterstützt werden.
Abb. 3.43 zeigt einen Vorwärts-Beinschnepper im Laufe des Handstandüberschlages rückwärts (Flick-Flack) am Boden. Hier hat der
Beinschnepper die Aufgabe, neben einer Aufwärtsbeschleunigung des Körpers zur zweiten Flugphase die vom Absprung
resultierende Rückwärtsrotation zu verstärken.
Bei einer Gruppe von turnerischen Elementen tritt eine Hüftbeugung aus einer gestreckten Körperhaltung in Erscheinung, die an einen
Beinschnepper vorwärts erinnert, aber nicht dessen Effekte ausnutzt. Dies sind die gebückten (gehechteten oder gegrätschten)
Vorwärts-Salti aus einem Rückschwung im Stütz oder Hang.
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S
Fa
Abb. 3.43: Beinschnepper vorwärts im Laufe der Stützphase des Flickflacks. Fa: Abdruckkraft. S: Körperschwerpunkt
Abb. 3.44: Salto vorwärts gehechtet am Barren (links) und „Jägersalto“ am Reck (rechts) mit einem beinschnepperähnlichen Hüftbeugen.
Beachte: Die Rotation des Saltos zeigt die gleiche Drehrichtung wie die Rotation des einleitenden Rückschwunges!
77
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
78
Da hier der vom Rückschwung im Körper vorherrschende Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn durch eine beinschnepperähnliche
Bewegung nicht gemindert werden darf, sondern zur Ausführung des Salto vorwärts erhalten bleiben muss, ist die Hüftbeugeaktion
nicht derart dynamisch wie beim Beinschnepper vorwärts (Abb. 3.44). Das hat zur Folge, dass bei diesen Übungen auch der beim
Beinschnepper beschriebene zweite Effekt, die Aufwärtsbeschleunigung des Körpers, nur begrenzt ausgenutzt werden kann. Um trotz
dieses Defizits noch eine annehmbare Flughöhe zu garantieren, wird der Beinschnepper statt dessen häufig zur Erzeugung eines
Konterschwunges zur Vorspannung der Reckstange eingesetzt, damit die elastischen Rückstellkräfte der Reckstange für einen
ausreichend hohen Flug beitragen (s. Kap. 3.10.9). In diesen Fällen wird der Beinschnepper nicht im Augenblick des
Verlassens der Griff- bzw. Stützsituation, sondern in einem Sektor etwa senkrecht unter dem Aufhängepunkt realisiert (Abb.
3.47).
F‘a
Fa
da
KSP
Abb. 3.45: Beinschnepper rückwärts im Laufe der Kontergrätsche („Tkatchev“) am Stufenbarren. da: Kraftarm der Abdruckkraft.
Fa: Abdruckkraft. F‘a: Wirkung der Abdruckkraft auf den Körperschwerpunkt. KSP: Körperschwerpunkt. Beachte: Die Rotation des
Körpers während des freien Fluges ist der Rotation während des einleitenden Schwunges entgegengerichtet!
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79
Als Beispiel des Rückwärts-Beinschneppers soll der Tkatchev (die Kontergrätsche) am Stufenbarren dienen (Abb. 3.45). Am Ende
eines Vorschwunges im Langhang werden die Beine aus einer leichten Hüftbeugestellung dynamisch in eine überstreckte
Hüftgelenkstellung geschlagen. Dies ist natürlich nur möglich, wenn der Griff am Holm ein entsprechendes Widerlager herstellt, was
als ein „Reißen“ des Holms nach unten empfunden wird. Die erzeugte Kraft Fa ist in Bezug zum Körperschwerpunkt eine exzentrische
Kraft, so dass das Drehmoment Fa * da den im Körper vorhandenen Drehimpuls des Vorschwunges mit Rückwärtsdrehsinn in einen
Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn umformt. Zusätzlich beschleunigt F’a den Körper aufwärts zum freien Flug über den Holm.
Der Beinschnepper rückwärts bewirkt
- einen Drehabstoß vom Gerät mit Drehsinn vorwärts und
- eine Beschleunigung des Körpers in Richtung des Abdruckes vom Gerät, also gegen Richtung des Beinschneppers.
Der Beinschnepper rückwärts muss durch ein ausholendes Vorschlagen der Beine (= Beugen des Hüftgelenkes) vorbereitet
werden.
Der Beinschnepper rückwärts wird nicht nur bei anspruchsvollen turnerischen Leistungsformen genutzt. Auch manche turnerische
Grundformen können auf ihn nicht verzichten. So ist zum Beispiel der Niedersprung am Ende eines Vorschwunges im Hang ohne
Ausführung eines Beinschneppers rückwärts nicht möglich, weil er dafür sorgt, dass sich der Turnende nach dem Loslassen des
Gerätes vorwärts drehen und im aufrechten Stand landen kann (Abb. 3.46). Würde am Ende des Vorschwunges kein Beinschnepper
ausgeführt, würde der vom Vorschwung gewonnene Drehimpuls des Körpers mit Rückwärtsdrehsinn nach Lösen des Griffes erhalten
bleiben und der Turnende würde sich im freien Flug weiter rückwärts drehen. Eine sichere Landung auf den Füßen wäre dann nicht
möglich.
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80
La
Ls
Abb. 3.46: Beinschnepper rückwärts am Ende eines Vorschwunges im Hang. La: Drehimpulsvektor nach Ausführen des Beinschneppers.
Ls: Drehimpulsvektor des Vorschwunges im Hang. Beachte: Die Rotation des Körpers während des freien Fluges ist der Rotation
während des einleitenden Schwunges entgegengerichtet!
Ähnlich wie beim Beinschnepper vorwärts kann auch der Beinschnepper rückwärts nicht in jedem Fall eingesetzt werden. Beim Salto
rückwärts über die Reckstange („Kovacs“; Abb. 3.47) zum Beispiel würde ein Beinschnepper rückwärts mit dem Verlassen der
Reckstange den Flug zwar nach oben treiben, gleichzeitig aber den für den Rückwärtssalto nötigen Drehimpuls verkleinern. Aus
diesem Grunde muss hier ein Beinschnepper ausbleiben. Statt dessen kann ein Beinschnepper vorwärts genutzt werden, durch einen
Konterschwung für eine höhere Flugkurve zu sorgen (Kap. 3.10.9)
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zum Drehabstoß
81
zur Vordehnung der
Reckstange
a)
b)
Tkatchev
Jägersalto
c)
d)
Yamavaki
Kovacs
Beinschnepper
rückwärts
Beinschnepper
vorwärts
Abb. 3.47: Einsatz des Beinschneppers rückwärts (a und b) sowie des Beinschneppers vorwärts (c und d) vorwiegend zum Drehabstoß (a und
c) und vorwiegend zur Erzeugung eines Konterschwunges (b und d). Schwarze Figuren: Phase des Beinschneppers
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
3.10
82
Biomechanik des Schwingens
"Schwingen“ ist Grundform und grundlegender Bestandteil der menschlichen Motorik: Beim Gehen und Laufen schwingen die Arme
und das freie Bein (Schwungbein) um körpernahe Gelenke, viele Arbeitsbewegungen zeigen einseitige, gegengleiche oder
gleichzeitige Schwünge der Arme, und im Hang schwingt der ganze Körper um den Griffpunkt. Dieses Schwingen im Hang ist
zusammen mit dem Schwingen im Sturzhang und im Stütz Grundlage des Turnens an Geräten. Obwohl sich das Schwingen im Hang
als einfach zu überschauende und leicht zu realisierende Fertigkeit präsentiert, stößt die umfassende physikalische Erklärung auf
nicht geringe Schwierigkeiten, weil eine Vielzahl der in den vorangegangenen Kapiteln besprochenen sowohl grundlegenden als auch
speziellen biomechanischen Problemen zu berücksichtigen sind.
Im Folgenden sollen die wesentlichen Grundlagen der Biomechanik des Schwingens Schritt für Schritt dargestellt werden, indem
zuerst die physikalischen Grundlagen besprochen und dann zunehmend physikalische Zusatzbedingungen eingearbeitet werden.
Dabei soll aus Gründen der Vereinfachung das durch den Turnerkörper gebildete Pendel auf ein „mathematisches" Pendel (mit
punktförmig im Schwerpunkt konzentrierter Masse) reduziert und nur in Einzelfällen der Umstand berücksichtigt werden, dass der
Turnerkörper eigentlich ein „physikalisches“ Pendel darstellt.
3.10.1 Definition: Pendeln - Schwingen
Das Schwingen im Hang unterliegt den physikalischen Pendelgesetzen. Ein Pendel ist jeder Körper, der sich unter dem Einfluss der
Schwerkraft um eine feste Achse dreht, die nicht durch seinen Schwerpunkt verläuft. Wird ein Pendel aus der stabilen
Gleichgewichtslage, bei der sich der Schwerpunkt des Pendels senkrecht unter dem Drehpunkt befindet, herausgedreht, strebt es
unter der Wirkung der Schwerkraft wieder dieser stabilen Gleichgewichtslage zu und führt dabei periodische Hin- und Herbewegungen
(Pendelbewegungen) aus, die in der Physik "Schwingungen" genannt werden.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
83
Spricht man im Gerätturnen vom "Schwingen", meint man solche Pendelbewegungen des Turners um eine mit dem Händen
ergriffene Drehachse, in deren Verlauf dem Körper durch körpereigene Aktionen periodisch Energie zugeführt wird, um
entweder reibungsbedingte Energieverluste zu kompensieren oder - was wesentlich häufiger ist - die Schwingungsweite
(Schwungamplitude) zu vergrößern.
3.10.2. Erklärung des Schwingens durch den Energiesatz
Eine der am häufigsten verwendeten Beschreibungen des Schwingens im Gerätturnen stützt sich auf den Energieerhaltungssatz:
Ergreift man ein Fadenpendel, das ruhig aus der Senkrechten unter dem Drehpunkt hängt, und führt es von diesem Ruhepunkt bei
gestrecktem Faden aus der Senkrechten heraus bis zu einem bestimmten Punkt (Abb. 3.48, P1), so wird die Pendelmasse gleichzeitig
um einen bestimmten Betrag (h) angehoben, d. h., man investiert in das Pendel Arbeit. Lässt man das Pendel in P1 los, besitzt es
aufgrund der investierten Arbeit eine Lageenergie (potentielle Energie), die sich allmählich in Bewegungsenergie (kinetische Energie)
umsetzt und das Pendel abwärts schwingen lässt. Erreicht das Pendel den Punkt P2 senkrecht unter dem Drehpunkt, ist die potentielle
Energie vollkommen in kinetische Energie umgesetzt. Diese treibt das Pendel in Bewegungsrichtung weiter und hebt es dabei an,
wobei sich die kinetische Energie wieder in potentielle Energie umwandelt, bis das Pendel wieder bis zur Ausgangshöhe (h) über dem
Ruhepunkt angehoben ist. Würde die Bewegungsenergie des Pendels keine Einbuße durch Reibungsenergie erfahren, müsste sich
dieser Prozess ständig wiederholen.
Abb. 3.48: Mathematisches Pendel
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
84
Das in Abb. 3.48 bis Abb. 3.50 dargestellte Pendel soll ein „mathematisches“ Pendel darstellen, das aus einer punktförmigen Masse und einem masselosen
Faden mit der Länge l besteht und sich um den Aufhängepunkt bzw. Drehpunkt D dreht. Ändert sich im Laufe eines Pendelschwunges die Pendellänge l, muss
zusätzlich noch ein Krümmungsmittelpunkt M festgestellt werden. Dieser ist das Zentrum des Krümmungskreises, den die Bahn des Pendels in demjenigen
Punkt darstellt, in dem sich das Pendel gerade befindet. Bei konstanter Pendellänge fallen natürlich D und M zusammen.
Nun wird im Schwungturnen aber nicht etwa nur hin- und hergependelt, sondern der Turner führt seinem Körper (s. Definition) Energie
zu, um seine Schwungamplitude zu erweitern bzw. um aus einer relativ niedrigen Abschwunghöhe zu einer großen Aufschwunghöhe
zu gelangen und um zusätzlich reibungsbedingte Schwungverluste zu kompensieren. Diesen Prozess über den Energiesatz zu
erläutern wäre zu unhandlich und unscharf, so dass andere Beschreibungsmöglichkeiten bevorzugt werden sollen.
3.10.3. Bewegungsgleichung des Pendels
Die Bewegungsgleichung des Pendels wird zwar in erster Linie auf "Kreispendel" angewendet, in modifizierter Form kann mit ihrer
Hilfe jedoch auch die Bewegung „ebener Pendel“ - wie im vorliegenden Fall - erklärt werden:
Wird ein Pendel aus der Ruhelage bzw. der stabilen Gleichgewichtslage bis zum Punkt P1 ausgelenkt (Abb. 3.49a) und dann
losgelassen, wirkt auf die Masse des Pendels die Schwerkraft FG. Zerlegt man die Schwerkraft FG in zwei Komponenten, Ft und Fl,
wobei Fl in Richtung des Pendelfadens weist und Ft dazu senkrecht steht, wird deutlich, dass nur die Komponente Ft für die
Beschleunigung des Pendels verantwortlich ist. Die Komponente Fl kann keine Beschleunigung bewirken, weil der Faden des Pendels
dies verhindert.
Bei der Bewegung in Richtung der Senkrechten unter D wächst die Geschwindigkeit des Pendels an, die beschleunigende
Komponente Ft nimmt jedoch beständig ab (s. Abb. 3.49, Punkt P2) und ist senkrecht unter dem Aufhängepunkt, also in P3, gleich Null.
Aufgrund der Trägheit schwingt das Pendel jedoch weiter. Jetzt aber wirkt die Schwerkraft bzw. ihre Komponente Ft zunehmend
verzögernd ( s. P4) bis im Punkt P5 das Pendel zum Stillstand gekommen ist und der Vorgang von neuem beginnt
(= “Umkehrpunkt“). Der Winkel von der Senkrechten bis zum Umkehrpunkt heißt Schwingungsweite (Amplitude). Der
Bewegungsabschnitt bis zur Senkrechten soll Abschwungphase, der Bewegungsabschnitt von der Senkrechten bis zum
Umkehrpunkt Aufschwungphase genannt werden.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
85
Die Zeit, die Schwingungsdauer (T), die ein Pendel für eine Hin- und Herbewegung benötigt, ist von der Länge des Pendels (l)
abhängig. Aus Erfahrung weiß man, dass ein kurzes Pendel „schneller“ schwingt als ein langes, d.h., die Schwingungsdauer eines
kurzen Pendels ist kleiner als diejenige eines langen Pendels. Dem gegenüber ist die Schwingungsdauer von der Schwingungsweite
weitgehend unabhängig.
D
D
l
Fl
P5
P1
Ft
P2 P3
P4
Ft
FG
Fl
a)
FG
FG
Ft
Fl
FG
b)
Abb. 3.49: Mathematisches Pendel a) und Schaukeln an den Ringen b). D: Drehpunkt. FG: Schwerkraft. Fl: radiale Komponente der
Schwerkraft. Ft: tangentiale Komponente der Schwerkraft. l: Pendellänge. P1-P5: Verschiedene Punkt auf der Bahn des Pendels., wobei
P1 und P5 die Umkehrpunkte des Pendels darstellen.
Dies geht aus der Formel für die Schwingungsdauer (T) hervor:
T = 2π
l
,
g
wobei l die Pendellänge und g die Erdbeschleunigung darstellen. Allerdings gilt die Unabhängigkeit der Schwingungsdauer von der Amplitude des Pendels nur
für kleine Amplituden. Mit größeren Schwingungsweiten wird auch die Schwingungsdauer geringfügig größer. Ein Pendel mit einer Schwingungsweite von 45°
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
86
benötigt etwa 4% mehr Zeit für einen Hin- und Hergang als ein Pendel mit der Schwingungsweite von1°. Dies kann im Folgenden jedoch unberücksichtigt
bleiben.
Ein an den Schaukelringen Turnender (Abb. 3.49b) stellt eine für die vorliegenden Zwecke hinreichend gute Näherung eines
mathematischen Pendels dar. Die Schwerkraft FG greift im Körperschwerpunkt an und lässt sich wie beim mathematischen Pendel in
die Komponenten Fl und Ft zerlegen.
In der Abschwungphase eines Pendelschwunges an den Schaukelringen setzt die Schwerkraft (bzw. deren tangentiale
Komponente) den Turnenden in Bewegung und beschleunigt ihn auf der Kreisbahn um den Aufhängepunkt bis zur Senkrechten
unter dem Aufhängepunkt.
In der Aufschwungphase verzögert die Schwerkraft den Pendelschwung, der im Umkehrpunkt zum Stillstand kommt, so dass
sich eine neue Abschwungphase anschließen kann.
Für einen Hin und Hergang benötigt der Turner unabhängig von der Schwingungsweite stets annähernd die gleiche Zeit
(Schwingungsdauer), sofern er seine Körperposition nicht verändert.
Dem gegenüber ist die Schwingungsdauer beim Schwingen im Langhang aufgrund der größeren Pendellänge größer als beim
Schwingen im Sturzhang.
Für den Turnenden ist es nun von entscheidender Bedeutung, welche Kräfte auf seinen Körper während des Schwingens einwirken.
Gemäß Abb. 3.49 sollte man meinen, im Punkt P3, also senkrecht unter dem Aufhängepunkt, würde nur die Schwerkraft zur Wirkung
kommen. Jeder Turner weiß jedoch aus Erfahrung, dass er beim Schwingen an den Schaukelringen in demjenigen Augenblick, in dem
er senkrecht unter dem Aufhängepunkt durch schwingt, wesentliche größere Muskelkräfte aufbringen muss, um sich an den Ringen
festzuhalten, als wenn er ruhig, ohne Schwungbewegung an den Ringen hängen würde. Es scheint somit beim Schwingen zusätzlich
zur Schwerkraft noch eine zusätzliche Kraft an seinem Körper zu „ziehen“. Und diese Kraft scheint umso größer zu sein, je größer die
Amplitude seiner Pendelschwünge ist, d.h. je größer die Drehgeschwindigkeit senkrecht unter dem Aufhängepunkt ausfällt.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
87
D
Umkehrpunkt
D
Umkehrpunkt
l
-Fr
Fr
Fl
Fl
Fl
Fz
FG
Fz
Fz
Fz
a)
b)
Abb. 3.50: Mathematisches Pendel (a) und Schaukeln an den Ringen (b). D: Drehpunkt. FG: Schwerkraft. Fl: radiale Komponente der
Schwerkraft. Fr: Zentripetalkraft. -Fr: Gegenkraft zur Zentripetalkraft. Fz: Zentrifugalkraft (Fliehkraft). l: Pendellänge. (Zerlegung der
Schwerkraft in eine radiale und eine tangentiale Komponente s. Abb. 3.49)
Immer dann, wenn sich eine Masse auf einer krummlinigen Bahn bewegt, muss die Wirkung einer Kraft vorausgesetzt werden, die die
Masse daran hindert, sich gemäß dem Trägheitsgesetz geradlinig in Richtung der Tangenten an den Krümmungskreis weiter zu
bewegen, und die Masse zwingt, ständig ihre Bewegungsrichtung zu ändern. Diese Kraft heißt Zentripetalkraft (Fr). Sie weist vom
Massenpunkt in Richtung des Krümmungsmittelpunktes (Abb. 3.50a), der bei konstanter Pendellänge mit dem Aufhängepunkt (D)
zusammenfällt. Die Gegenkraft (-Fr) zur Zentripetalkraft (Fr) greift am Aufhängepunkt an und ist ihr entgegengerichtet. Der Betrag der
Zentripetalkraft ist von der Masse und von der Drehgeschwindigkeit abhängig. Ist die Drehgeschwindigkeit = Null wie im Umkehrpunkt
des Pendels (Abb. 3.50a), ist auch die Zentripetalkraft = Null. Mit zunehmender Drehgeschwindigkeit in der Abschwungphase steigt
der Betrag der Zentripetalkraft, während Ihr Betrag in der Aufschwungphase wieder abnimmt.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
88
Die Größe der Zentripetalkraft berechnet sich nach der Formel Fr = m * r * ω² , wobei m die Masse, r der Radius und ω die Winkelgeschwindigkeit darstellen. In
den hier benutzten Beispielen (Abb. 3.49 bis Abb. 3.52) ist der Radius r durch die Pendellänge l zu ersetzen.
Für den Turnenden scheint die Zentripetalkraft jedoch von der Körpermasse weg in radialer Richtung nach außen gerichtet zu sein,
indem er das Gefühl hat, sie würde ihn zusätzlich zur Wirkung der Schwerkraft vom Aufhängepunkt weg „ziehen“. Diese Kraft, die man
auch an der Hand spürt, wenn man ein Maurerlot an einem Faden pendeln lässt oder im Kreis herum schwingt, wird Zentrifugalkraft
bzw. Fliehkraft genannt.
Der von „außen“ eine Pendelbewegung oder einen schwingenden Turner beobachtende Physiker muss die Fliehkraft als Scheinkraft behandeln. Für den
Turnenden selbst ist die Fliehkraft jedoch äußerst real, und er muss sich ihr durch Aufbringung von Muskelkraft widersetzen. Aus diesem Grunde wird im
Folgenden auch weiter mit ihr argumentiert.
D
D
-Fr
KSP
Fr
Fz
a)
b)
Abb. 3.51: Kippe vorwärts an den Schaukelringen in den Stütz (a) und Grätschüberschlag rückwärts an den Schaukelringen (b). D: Drehpunkt.
Fr: Zentripetalkraft. -Fr: Gegenkraft zur Zentripetalkraft. Fz: Zentrifugalkraft (Fliehkraft).
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
89
Beim Schwingen allgemein sowie beim Schaukeln an den Ringen im Besonderen muss der Turnende zusätzlich zur
Schwerkraft auch die Fliehkraft ertragen. Diese ist im Umkehrpunkt der Schwünge gleich Null, wächst in der
Abschwungphase bis zur Senkrechten unter dem Aufhängepunkt und nimmt in der Aufschwungphase wieder ab.
Die Fliehkraft wird umso größer, je größer die Drehgeschwindigkeit während des Schwunges ist.
Der Turnende muss die Fliehkraft sowie die jeweilige radiale Komponente der Schwerkraft durch Aufbringen von
Muskelkraft (Festhalten des Griffes) kompensieren.
Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass es in der Turnpraxis unmöglich wäre, einen im Hang schwingenden Körper allein durch die Muskelkraft des Griffes
vor einem Griffverlust zu schützen. Dazu ist in einem beträchtlichen Maß die Reibungskraft zwischen Hand und Gerät erforderlich, die durch entsprechende
Maßnahmen (Griffleder, Magnesium) verbessert werden muss.
Da in den Umkehrpunkten beim Schwingen an den Schaukelringen auf den Turner nur die radiale Komponente der Schwerkraft wirkt,
der Turner also hier recht „leicht“ ist, eignet sich dieser Schwungabschnitt am besten zur Ausführung von turnerischen Elementen, die
den Turner in eine höhere Position in Bezug zum Griffpunkt transportieren, etwa ein Heben des Körpers aus dem Hang in den
Sturzhang, eine Kippe aus dem Sturzhang in den Stütz (Abb. 3.51a) oder sogar eine Schwungstemme aus dem Hang in den Stütz.
Generell gilt für alle Schwünge:
Im Umkehrpunkt zwischen zwei Schwüngen wirken die geringsten äußeren Kräfte auf den Turner, so dass er hier
besonders mühelos Zusatzaufgaben wie Griffwechsel, Drehungen um die Längsachse, Anristen der Beine, Stemmen und
Kippen ausführen kann.
[49]
Löst der Turner – beispielsweise im Laufe der Aufschwungphase – den Griff, verschwinden augenblicklich die Zentripetalkraft und ihre
Gegenkraft bzw. die Fliehkraft. Der Turner, bzw. sein Körperschwerpunkt, bewegt sich gemäß dem Trägheitsgesetz in Richtung der
Tangenten an den Krümmungskreis (Abb. 3.51b) und kann auf diese Weise einen Abgang turnen.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
90
3.10.4 Verstärkung des Schwunges durch Pendelverkürzung
Das Ziel des Schwungturnens ist es nicht, einfach nur mit konstanter Schwingungsweite hin und her zu pendeln, sondern der
Turnende ist bestrebt, seine Schwingungsweite von Schwung zu Schwung zu vergrößern. Diese Vergrößerung der Schwingungsweite
soll im Folgenden Schwungverstärkung genannt werden. Wie diese zu bewerkstelligen ist, kann man sich an einem Fadenpendel,
dessen Faden man - wie auf Abb. 3.52a dargestellt – über den Finger laufen lässt, leicht verdeutlichen:
Lässt man das Pendel, dessen Faden über den linken ortsfest gehaltenen Zeigefinger läuft, hin und her schwingen, kann man durch
Zug mit der rechten Hand am Faden die Länge des Pendels verkleinern. Führt man diesen Zug aus, wenn das Pendel sich gerade im
Umkehrpunkt befindet, bleibt die Schwingungsweite des Pendels unbeeinflusst. Zieht man jedoch genau dann am Pendelfaden, wenn
das Pendel gerade die Senkrechte unter dem Aufhängepunkt durchläuft, schwingt das Pendel zu einer wesentlich größeren
Aufschwunghöhe auf, d.h. die Schwingungsweite wird vergrößert.
D
l3
M
l1
P5
l3
l1
l2
r
P1
Fa
Fr
P4
Ft
P3
a)
P2
b)
Abb. 3.52: Pendelverkürzung am Fadenpendel (a) und am mathematischen Pendel mit Pendelverkürzung (b). D: Drehpunkt. Fa: Kraft der
Verkürzungsaktion. Ft: tangentiale Komponente von Fa . Fr: radiale Komponente von Fa (Zentripetalkraft). l1 – l3: unterschiedliche
Pendellängen. M: Krümmungsmittelpunkt. r: Radius
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
91
Eine Schwungverstärkung ist durch eine Pendelverkürzung zu erreichen. Die Wirkung der Pendelverkürzung ist um so
größer, je größer die Drehgeschwindigkeit des Pendels um den Drehpunkt im Augenblick der Pendelverkürzung ist. Da die
Drehgeschwindigkeit des Pendels senkrecht unter dem Aufhängepunkt am größten ist, hat hier eine Pendelverkürzung den
größten Effekt. Eine Pendelverkürzung im Umkehrpunkt des Pendels ist im Hinblick auf die Vergrößerung der Schwingungsweite
wirkungslos.
[3.50]
Durch den Zug am Faden wirkt auf den Pendelkörper eine Kraft (Fa) in Richtung Drehpunkt (D). Diese beschleunigt den Pendelkörper in dieser Richtung und die
Bahn des Pendels erfährt eine stärkere Krümmung, so dass der Krümmungsmittelpunkt (Abb. 3.52b, M) nicht mehr mit dem Aufhängepunkt (D) zusammenfällt.
Somit zerlegt sich die auf den Aufhängepunkt gerichtete Kraft in eine radiale Komponente (Fr), die auf den Krümmungsmittelpunkt (M) gerichtete ist und eine
Vergrößerung der Zentripetalkraft bedeutet, und eine tangentiale Komponente (Ft), die eine (zusätzliche) Bahnbeschleunigung des Pendels besorgt.
Für das Schwingen im Gerätturnen ergibt sich daraus die Forderung, für eine Schwungverstärkung Aktionen durchzuführen, die die
Masse des Turners näher an die Drehachse bringen und auf diese Weise das Pendel, das der schwingende Turner darstellt, zu
verkürzen. Dies muss ausgerechnet in dem Augenblick des Pendelschwunges geschehen, in dem die äußeren Kräfte, die am
Turnerkörper „ziehen“, am größten sind (s. Abb. 3.50), nämlich im Augenblick des Durchschwingens der Senkrechten unter dem
Aufhängepunkt. Je größer somit die Fliehkraft und die radiale Komponente der Schwerkraft sind, desto anstrengender wird es, einen
bestimmten Anteil der Körpermasse dem Drehpunkt zu nähern.
Die Massenannäherung kann natürlich nicht punktuell erfolgen. Statt dessen wird für diese Aktion eine bestimmte Zeit benötigt, so
dass die Massenannäherung in einem je nach der Dynamik der Aktion kleineren oder größeren Sektor, der sich jedoch senkrecht
unter der Drehachse befinden soll, erfolgen muss.
Einige verschiedene Möglichkeiten, die Körpermasse zwecks Pendelverkürzung der Drehachse anzunähern, sind in Abb. 3.53
dargestellt.
Aus dem Langhang (Abb. 3.53a) lässt sich ein großen Anteil der Körpermasse durch die Arm- und Schultermuskulatur dem
Aufhängepunkt nähern (Abb. 3.53b). Da diese Muskelgruppe aber relativ schwach ist, wird diese Möglichkeit selten zur Anwendung
kommen, beispielsweise bei einem einleitenden Schwungholen am Reck. Bei größeren Schwüngen, d.h. bei höheren Fliehkräften,
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können nur kleinere Massenanteile des Körpers, etwa die Beine, erfolgversprechend der Drehachse angenähert werden. Dazu sind
außerdem kräftigere Muskelgruppen erforderlich, etwa die Rumpfstreckmuskulatur (Abb. 3.53c) oder die Rumpfbeugemuskulatur
(Abb. 3.53d).
e)
a)
b)
c)
f)
g)
h)
d)
Abb. 3.53: Beispiele der Annäherung der Körpermasse (vertreten durch den Schwerpunkt) an die Drehachse zwecks Pendelverkürzung zur
Schwungverstärkung
Im ersteren Fall (Abb. 3.53c) ist der Betrag der Massenannäherung derart gering, dass davon selten Gebrauch gemacht wird,
während das Beugen der Hüfte (Abb. 3.53d) die gebräuchlichste Form der Schwungverstärkung im Langhang darstellt – dies
allerdings nicht ausschließlich aus Gründen der Pendelverkürzung, wie weiter unten noch zu besprechen ist.
Im Sturzhang lassen sich relativ große Massenanteile durch die kräftige Körperstreckmuskulatur der Drehachse annähern (Abb. 3.53e
und Abb. 3.53f), was bei den Sturzhangschwüngen an Reck, Barren und Stufenbarren, aber auch beim Sturzhangschwingen an den
Schaukelringen (Abb. 3.54a) praktiziert wird. Für das Schwingen im Stütz (Abb. 3.53g und Abb. 3.5h) gelten ähnliche Bedingungen
wie für das Schwingen im Hang (Abb. 3.53a bis Abb. 3.53d).
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93
Generell gilt für die Pendelverkürzung zur Schwungverstärkung:
Je größer der Schwung bei einem turnerischen Element ist, eine desto kräftigere Muskelgruppe muss für die
Massenannäherung (= Pendelverkürzung) eingesetzt werden bzw. eine umso geringere Teilmasse des Körpers kann aufgrund
der hohen Fliehkräfte an die Drehachse angenähert werden.
Pendelverkürzung
Pendelverlängerung
KSP
KSP
KSP
KSP
Pendelverkürzung
Abb. 3.54: Pendelverkürzung und Pendelverlängerung beim Schwingen an den Schaukelringen. KSP: Körperschwerpunkt
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94
Im Umkehrpunkt eines Schwunges ist natürlich die Körpermasse wieder soweit wie möglich bzw. soweit es das Ziel der
Übung erlaubt von der Drehachse zu entfernen.
Da eine Veränderung der Pendellänge im Umkehrpunkt eines Schwunges keinen Einfluss auf die Schwingungsweite hat, lässt sich im
Umkehrpunkt das Körperpendel wieder verlängern, ohne einen Schwungverlust befürchten zu müssen.
Diese Pendelverlängerung ist notwendig, um einerseits der Schwerkraft Gelegenheit zu geben, dem Körper im folgenden Abschwung
eine große Drehgeschwindigkeit zu vermitteln und um andererseits gegen Ende des Abschwunges erneut die Möglichkeit zu einer
weiträumigen Pendelverkürzung zwecks weiterer Schwungsteigerung zu eröffnen (Abb. 3.54).
3.10.5 Schwingen eines physikalischen Pendels
Nur in wenigen Ausnahmen (Schwingen an den Schaukelringen) kann der schwingende Turner grob angenähert mit einem
mathematischen Pendel verglichen werden. Im Allgemeinen stellt der Turner aufgrund seiner ausgedehnten Masse ein physikalisches
Pendel dar.
Bei einem physikalischen Pendel muss neben der kreisförmigen Bewegung um den Aufhängepunkt zusätzlich die Rotation der Körpermasse um den
Körperschwerpunkt beachtet werden. Die Pendelbewegung eines physikalischen Pendels bzw. eines Turners z.B. im Hang am Reck muss somit als eine aus
einer Translation (Bewegung des Körperschwerpunktes auf einer Kreisbahn) und einer Rotation (Drehung des Körpers um den Körperschwerpunkt) angesehen
werden (s. Kap. 3.2). Im Folgenden soll jedoch die Bewegung beim Schwingen auf eine Rotation des Turnerkörpers um den Aufhängepunkt als Drehachse
vereinfacht und die translatorische Komponente vernachlässigt werden.
Zur Erläuterung soll das in Abb. 3.55 dargestellte Pendel dienen.
Dreht man das Pendel aus der stabilen Gleichgewichtslage heraus und lässt es los, wirkt auf seine Masse, vertreten durch den
Schwerpunkt (KSP), die Schwerkraft (FG) unter einem Kraftarm (d1). Die Drehkraft (das Drehmoment) FG * d1 versetzt nun das Pendel
in eine Drehbewegung um den Drehpunkt D. Die Drehgeschwindigkeit des Pendels wächst bis zum Punkt senkrecht unter der
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95
Drehachse, wobei die Drehkraft ständig abnimmt, nämlich proportional zur Abnahme des Kraftarmes d (s. Abb. 3.55, Kraftarm d2).
Schwingt das Pendel aufgrund der Trägheit unter dem Drehpunkt hindurch, entsteht für die Schwerkraft FG wieder ein Kraftarm
(s. Abb. 3.55, Kraftarm d3), der sich jetzt "auf der anderen Seite“ der Schwerkraft befindet, was bedeutet, dass die Drehwirkung der
Drehkraft FG * d3 derjenigen der Drehkraft FG * d1 entgegengerichtet ist: Die Bewegung des Pendels wird zunehmend stärker
abgebremst, bis die Ausgangshöhe (= Umkehrpunkt) erreicht ist. Von hier wirkt die Schwerkraft wieder abwärts beschleunigend.
D
KSP
d1
d4
d3
FG
d2
Abb. 3.55: Physikalisches Pendel. D: Drehachse. d1 – d4: Kraftarm der Schwerkraft bezüglich D in verschiedenen Phasen des
Pendelschwunges. FG: Schwerkraft. KSP: Körperschwerpunkt
Allerdings bildet der Körper des Turners nicht ein derart starres Pendel wie in Abb. 3.55 dargestellt. Satt dessen besteht es aus
mehreren gelenkig miteinander verbundenen Abschnitten. Dies kann für die Gestaltung des Schwingens Vorteile, aber auch Nachteile
mit sich bringen.
Die Nachteile werden schnell deutlich, wenn man mit einem zweigliedrigen Pendel experimentiert:
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96
Abb. 3.56: Zweigliedriges physikalisches Pendel. D: Drehachse. KSP1, KSP2: Teilschwerpunkte
Lenkt man ein zweigliedriges Pendel aus und lässt es aus einer gestreckten Position abwärts schwingen (Abb. 3.56a), kann man
beobachten, dass das Pendel nicht in der gestreckten Form verharrt, sondern die beiden Glieder knicken im Laufe der
Abschwungphase gegeneinander ab. Die Ursache liegt darin, dass die Erdbeschleunigung alle Massenteile mit gleichem Betrag
beschleunigt, so dass die einzelnen Massenteile bestrebt sind, in gleichen Zeiten gleiche Strecken („Fallstrecken“) zurückzulegen
(Abb. 3.56a). Durch die Art der Befestigung am Aufhängepunkt bzw. untereinander wird dies jedoch verhindert, so dass die dem
Aufhängepunkt näher gelegenen Segmente in der Drehbewegung vorauszueilen scheinen, was den Körper in sich abknicken lässt.
Gleiches widerfährt demjenigen Turner, der in der Abschwungphase zum Schwung im Langhang seinem Körper keine Spannung
verleiht. Unter der Wirkung der Erdbeschleunigung wird er „ins Hohlkreuz“ (in eine Überstreckung) gezwungen. Die Folge kann sein,
dass – bedingt durch Schwerkraft und Fliehkraft – in der Senkrechten unter der Reckstange ein Konterschwung („Sackschwung“)
auftritt, der Ursache für ein Verlieren des Griffes sein kann (Abb. 3.56b).
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Daraus resultiert eine erste Regel für das Schwungturnen im Hang:
In der Abschwungphase sollte der Körper des Turners durch aktive Muskelspannung in der für die jeweilige Übung günstigen
Körperstellung fixiert werden.
D
KSP
d1
D
FG
KSP
d2
d3
a)
b)
Abb. 3.57: Unterschiedliche Körperhaltung in der Abschwungphase beim Vorschwung im Hang (a). Zweigliedriges physikalisches Pendel mit
Pendelverkürzung (b). D: Drehachse. d1 – d3: Unterschiedliche Kraftarme der Schwerkraft. FG: Schwerkraft. KSP: Körperschwerpunkt.
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Der Vorteil der Tatsache, dass das Körperpendel aus gegeneinander drehbaren Segmenten besteht, liegt darin, dass der Turner in
der Lage ist, die Länge des Pendels zu verändern, d.h. seine Körpermasse – je nach Erfordernis – von der Drehachse zu entfernen
bzw. ihr anzunähern und auf diese Weise sein Trägheitsmoment in Bezug zur Drehachse zu verändern.
Für ein effektives Schwungturnen ergeben sich folgende Fragen:
1. Wie kann der Turner einen möglichst großen "Schwung“ (physikalisch richtig: eine möglichst große Drehbewegung, einen
möglichst großen Drehimpuls) bekommen?
2. Wie kann der Turner seine Aufschwunghöhe gegenüber der Abschwunghöhe steigern?
Zur Beantwortung der ersten Frage mache man sich klar, dass die Größe der Drehbewegung, die der Turner (bzw. das Pendel) in der
Senkrechten unter dem Drehpunkt besitzt, von der Größe der Drehkraft (des Drehmomentes der Schwerkraft) und der Größe der
Wirkungszeit der Drehkraft abhängig ist. Die Wirkungszeit der Drehkraft lässt sich dadurch vergrößern, dass man das Pendel aus
einer größeren Höhe abschwingen lässt, die Größe der Drehkraft lässt sich - da die Schwerkraft durch die Masse des Pendels
vorgegeben ist - nur durch die Vergrößerung des Kraftarmes der Drehkraft erreichen. D. h., je weiter sich die Masse von der
Drehachse entfernt befindet, was bei völlig gerade gestrecktem Körper der Fall ist (s. Abb. 3.57a), um so größer wird der Kraftarm der
Drehkraft. Daraus lässt sich eine zweite Regel für das Schwungturnen ableiten:
Will der Turner im abschwingenden Teil einer Schwungbewegung einen möglichst großen „Schwung“ (eine möglichst große
Drehbewegung) bekommen, sollte er den Abschwung aus einer möglichst großen Höhe beginnen und während des gesamten
abschwingenden Teils der Schwungbewegung seine Körpermasse soweit wie möglich, bzw. so weit es die Struktur des
Turnelementes erlaubt, von der Drehachse entfernt halten.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
99
Das Erfüllen dieser Regel verhindert zusätzlich den oben beschriebenen Sackschwung bei Erreichen der Senkrechten unter der
Drehachse. Das gilt insbesondere für die Grundschulung im Gerätturnen. Über abweichende Ausführungen der Abschwungphase
beim Leistungsturnen muss noch in Kap. 3.10.9 gesprochen werden.
Nun zur Beantwortung der zweiten Frage! Die Schwerkraft, die dem Turner im abschwingenden Teil der Schwungbewegung den
„Schwung" besorgt, ist in gleicher Weise für den Verlust an „Schwung“ im aufschwingenden Teil verantwortlich. Will demnach der
Turner im aufschwingenden Teil der Schwungbewegung zu einer Aufschwunghöhe gelangen, die höher liegt als die Abschwunghöhe,
muss er im aufschwingenden Teil in irgendeiner Weise die Schwerkraft „überlisten“: Er muss sich genau entgegengesetzt verhalten
wie im abschwingenden Teil der Schwungbewegung, nämlich die Körpermasse der Drehachse annähern (s. auch Kap. 3.10.4). Die
Wirkung dieses Verhaltens kann – je nach Sichtweise – unterschiedlich begründet werden:
1. Der Turner verkleinert den Kraftarm der Schwerkraft, so dass die Schwung bremsende Wirkung der Schwerkraft (d.h., das
Schwerkraftmoment FG * d) kleiner wird. Aus diesem Grunde kann er zu einer größeren Höhe aufschwingen, bevor es der Schwerkraft
gelingt, seine Drehbewegung zum Stillstand zu bringen.
2. Er nutzt den Drehimpulserhaltungssatz aus, indem er durch die Verkleinerung des Trägheitsmomentes seines Körpers (I = m * r²)
seine Winkelgeschwindigkeit (ω) vergrößert (s. dazu Kap. 3.5 und 3.6 und Abb. 3.33).
Die Erläuterung über den Drehimpulserhaltungssatz stößt auf das Problem, dass der Drehimpuls des Pendels nicht konstant ist, sondern im Abschwingen wächst
und im Aufschwingen abnimmt. Man kann sich jedoch vor und hinter der Senkrechten unter der Drehachse einen hinreichend kleinen Abschnitt mit
näherungsweise konstantem Drehimpuls vorstellen, innerhalb dessen die Verkleinerung des Trägheitsmomentes eine Vergrößerung der Winkelgeschwindigkeit
bedingt.
3. Der Turner vergrößert seine Drehgeschwindigkeit zusätzlich dadurch, dass er durch Muskelaktionen seinen Körper tangential in
Schwungrichtung beschleunigt (s. Kap. 3.10.4 und Abb. 3.52).
4. Er vermittelt seinem Körper einen zusätzlichen Drehimpuls im Rückwärtsdrehsinn, indem er den Beinen durch die Hüftbeugeaktion
einen Drehimpuls im Drehsinn rückwärts vermittelt.
Ein 5. Effekt wird erst in Kap. 3.10.7 beschrieben.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
100
Die Effekte Nr. 2 und 3 bewirken zusätzlich, dass die Wirkungszeit der Schwerkraft zum Abbremsen der Schwungbewegung noch
weiter reduziert wird.
Wichtig ist noch zu wissen, zu welchem Zeitpunkt des Schwunges die Massenannäherung an die Drehachse erfolgen muss: natürlich
– wie schon in Kap. 3.10.4 im Zusammenhang mit der Pendelverkürzung beschrieben - genau dann, wenn der Drehimpuls gerade
seinen größten Wert erreicht hat, nämlich senkrecht unter der Drehachse. Eine Massenannäherung zu irgendeinem anderen Zeitpunkt
hat einen geringeren Erfolg, eine Massenannäherung im Umkehrpunkt des Pendels hat überhaupt keine schwungverstärkende
Wirkung.
Auch hier lässt sich die Massenannäherung in der Praxis nicht derart "punktuell" durchführen. Statt dessen wird für diese Aktion eine
bestimmte Zeit benötigt, so dass die Massenannäherung in einem je nach der Dynamik der Aktion kleineren oder größeren Sektor, der
sich jedoch senkrecht unter der Drehachse befinden soll, erfolgen muss (Abb. 3.58).
Aus all dem lässt sich nun eine dritte Regel für das Schwungturnen ableiten:
Will ein Turner seinen im abschwingenden Teil der Schwungbewegung gewonnenen „Schwung“ möglichst effektiv steigern, muss er
in einem möglichst schmalen Sektor senkrecht unter der Drehachse seine Masse der Drehachse annähern und die dabei erlangte
Körperposition im aufschwingenden Teil der Schwungbewegung beibehalten, bis das Erreichen der geplanten Aufschwunghöhe
garantiert ist.
Vereinfacht könnten die beiden Regeln für das Schwungturnen zusammengefasst lauten:
„Im Abschwung weg von der Stange, im Aufschwung ran an die Stange!“
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
101
Diese vereinfachte Regel kann natürlich nur eine grobe Orientierung geben und muss, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auf die verschiedenen
Schwungsituationen angepasst werden.
D
KSP
Abb. 3.58: Vorschwung im Langhang am Reck, korrekte Ausführung.. D: Drehachse. KSP: Körperschwerpunkt
Auf einige Möglichkeiten der Massenannäherung beim Übergang von der Abschwungphase zur Aufschwungphase und auf die damit
verbundenen Schwierigkeiten wurde schon in Kap. 3.10.4 und Abb. 3.53 hingewiesen. Beim Vorschwung im Hang am Reck bleibt nur
die Möglichkeit, in etwa senkrecht unter der Reckstange die Hüfte kräftig zu beugen in Form eines Nach-vorn-oben-Peitschens der
Beine. Ein korrekter Vorschwung im Hang erhält damit die in Abb. 3.58 dargestellte Form. Der gestrichelte Kreisbogen stellt jeweils die
theoretische Kreisbahn des Körperschwerpunktes um den Drehpunkt dar. Die ausgezogene Linie verdeutlicht die tatsächliche
Schwerpunktbahn, an der man den Zeitpunkt und das Ausmaß der Massenannäherung an die Drehachse ablesen kann.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
102
Durch die Hüftbeugeaktion wird das Trägheitsmoment des Körpers zwar nur von I = 85 kg*m² auf rund I = 70 kg*m² (berechnet für
eine Person mit den in Abb. 3.26 zugrunde gelegten Daten) verkleinert, auf Grund der oben beschriebenen zusätzlichen Effekte reicht
es jedoch aus, den Schwung spürbar zu vergrößern.
Allerdings steht der konsequenten Befolgung der dritten Regel für das Schwungturnen die Tatsache entgegen, dass die Aktionen zur
Massenannäherung gerade in derjenigen Phase der Schwungbewegung erfolgen müssen, in der die Schwerkraft und die Fliehkraft
ihren höchsten Wert anstreben und gemeinsam von der Drehachse weg, senkrecht nach unten, also der verlangten
Massenannäherung entgegen gerichtet sind.
Abb. 3.59: Schwingen im Langhang an der sprunghohen Stange (Einzelphasen nach Schmalfilm)
Turnende lassen gern diese Phase verstreichen und führen die Massenannäherung an die Drehachse erst dann aus, wenn der Körper
wieder „leicht“ wird und sich die Pendelverkürzung mühelos realisieren lässt - in einer Phase also, in der die entgegengerichteten
Kräfte schon wieder abgenommen haben (Abb. 3.59). Die Folge ist natürlich eine weniger optimale Aufschwunghöhe. Hier müssen
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
103
Trainer und Lehrer auf die Übenden einwirken und ihnen bewusst machen, dass die Aktionen gerade dann zu realisieren sind, wenn
die äußeren Kräfte am stärksten den Körper nach unten ziehen.
Es sei an dieser Stelle schon darauf hingewiesen, dass bei turnerischen Elementen, die durch den Langhang führen, je nach Gerätesituation und
Schwungrichtung weitere Zusatzbedingungen zu berücksichtigen sind, die in Kap. 3.10.7 besprochen werden.
Sollte es das Bewegungsziel sein, nach einem Umkehrpunkt einen Rückschwung im Langhang anzufügen, ist es – wie schon in
Kap. 3.10.4 festgestellt – notwendig, im Umkehrpunkt des Schwunges den Körper wieder zu strecken (die Körpermasse wieder von
der Drehachse zu entfernen, den Körper wieder „lang zu machen“), um die oben aufgestellte erste Regel für das Schwungturnen zu
erfüllen. Dabei wird die Hüfte nicht völlig gestreckt, sondern – wie auch bei der Abschwungphase des Vorschwunges (Abb. 3.58) - in
eine „gebundenen“ Stellung (d.h. mit leicht fixierten Hüftmuskulatur) gebracht, um diese Haltung gegen die verformende Wirkung der
Erdbeschleunigung während der gesamten Abschwungphase beibehalten zu können.
3.10.6 Schwingen im Sturzhang
Bei den Sturzhangschwüngen(Abb. 3.60) wird die Massenannäherung an die Drehachse durch koordinierte Aktionen sowohl im Hüftals auch im Schultergelenk realisiert, wobei im Hüftgelenk eine Streckung, im Schultergelenk eine Retroversion (der Arme in Bezug
zum Rumpf; Kap. 2.1) durchzuführen sind. Beide Aktionen müssen an die jeweilige Schwungrichtung (vorwärts oder rückwärts), an
das Verhalten zum Gerät (vorlings oder rücklings) und an das Bewegungsziel angepasst werden.
Da das Erlernen der Kippe vorlings vorwärts einen Markstein in der Entwicklung eines jeden turnerischen Werdeganges darstellt und
sie aus diesem Grunde in der Methodik mit der entsprechenden Ausführlichkeit behandelt wird, weil sie zudem als Grundtyp des
Sturzhangschwunges angesehen werden kann, soll sie hier ausführlicher besprochen werden.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
a)
b)
c)
104
d)
Abb. 3.60: Schwünge durch den Sturzhang. a): Kippe (Kippaufschwung) vorlings vorwärts am Reck. b): Felgabgrätschen vorlings rückwärts am
Reck. c): Ellgriffkippe am Barren. d): Felgumschwung rücklings vorwärts am Reck
Bei der Kippe vorlings vorwärts (Abb. 3.60) beginnt die Massenannäherung (Pendelverkürzung) schon zu einem Zeitpunkt, bevor die
Masse des Körpers senkrecht unter der Drehachse hindurch schwingt. Dies ist aufgrund des Vorlingsverhaltens und der
Bewegungsrichtung erforderlich, weil andernfalls die Fliehkräfte zu groß würden, um den Körper noch der Reckstange annähern zu
können. Gleichwohl darf die Übung auf eine deutliche Abschwungphase nicht verzichten, um der Schwerkraft Gelegenheit zu geben,
im Körper einen Drehimpuls zu schaffen, d.h. den Körper in eine deutliche Drehbewegung um die Reckstange zu versetzen. Der
wesentliche Anteil der Massenannäherung erfolgt jedoch nach Durchschwingen der Senkrechten unter der Drehachse (Abb. 3.60a,
Abb. 3.61c und Abb. 3.62). Die Verkleinerung des Trägheitsmomentes um fast 50% - mit der damit verbundenen Verdoppelung der
Winkelgeschwindigkeit - garantiert, dass auch bei einer mäßig weiten Amplitude des Abschwunges das Bewegungsziel, der Stütz,
erreicht werden kann.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
105
Im Laufe der Kippe vorlings vorwärts kann die Aktion zur Annäherung der Körpermasse an die Drehachse, eine Verkleinerung
des Arm-Rumpfwinkels und eine Vergrößerung des Hüftwinkels, Kippstreckung genannt werden, um sie vom Kippstoß bzw.
Kippschlag der „echten“ Kippen (z.B. Oberarmkippe) abgrenzen zu können. Der Turner empfindet sie als ein dosiert
dynamisches Schieben der Beine an der Reckstange entlang nach oben, unterstützt durch eine Zugbewegung aus der
Schulter heraus.
Also: Kein Kippstoß beim Kippaufschwung!
Diese Forderungen an den Bewegungsablauf des Kippaufschwunges und die daraus resultierenden Maßnahmen für die Methodik werden zwar schon seit
langem gestellt (s. z.B. WIEMANN 1968 und 1969), trotzdem wird immer wieder – selbst von versierten Turntrainern – die Forderung nach einer explosiven
Bewegungsweise (Kippstoß oder Kippschlag) erhoben, was u.a. BRUNKE / ZAISS noch 2003 nach Computersimulationen zu der „neuen Erkenntnis“ über die
korrekte Form des Kippaufschwunges ohne Kippstoß führt.
Die Kippstreckung erzeugt in Rumpf und Beinen Teildrehimpulse, die einander entgegengerichtet sind. Sie heben sich somit in Bezug
zum Gesamtkörper gegenseitig annähernd auf. Schon dies ist ein Grund, die Forderung des Blockierens einer Kippstreckung zwecks
Drehimpulsübertragung zu verwerfen (s. auch Kap. 3.8). Tatsächlich wird nicht nur hier, sondern bei den meisten turnerischen
Elementen, bei denen der Körper durch den Sturzhang schwingt, die Hüftstreckbewegung nicht abrupt angehalten, sondern sie klingt
in der Regel mit dem Erreichen des Bewegungszieles aus.
Um in den Sturzhangschwung vorwärts zu gelangen, der die Kernphase aller Kippen vorlings vorwärts bildet, stehen mehrere
Möglichkeiten zur Verfügung, von denen im Folgenden die gebräuchlichsten genannt sind:
- Absenken aus dem Stütz in den Sturzhang (Stützkippe),
- Vorschwung im Langhang am hohen Reck oder am hohen Holm des Stufenbarrens (Schwungkippe, Abb. 3.61a),
- Vorschweben im Schwebehang am Stützreck oder am niedrigen Holm des Stufenbarrens (Schwebekippe, Abb. 3.61b),
- Vorlaufen aus dem Hangstand am Stützreck oder am niedrigen Holm des Stufenbarrens (Laufkippe).
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106
a)
b)
c)
Abb. 3.61: Schwungkippe (a→c) und Schwebekippe (b→c)
Nun könnte man die Meinung vertreten, die Massenannäherung zur Schwungsteigerung (Pendelverkürzung) beginne schon in der
Aufschwungphase des einleitenden Schwunges und würde sich im Sturzhangschwung fortsetzen. Aus folgenden biomechanischen,
turntechnischen und lehrmethodischen Gründen sollte man jedoch beide Schwünge klar voneinander trennen:
1. Das Vorhochschwingen der Beine („Anristen“) beim Vorschwung im Langhang (Abb. 3.61a) verkürzt zwar das Langhangpendel und
könnte aus den beschriebenen Gründen dessen Schwungamplitude erweitern. Aber bei einer turntechnisch gut gestalteten
Schwungkippe werden die beiden Schwünge (Langhangschwung und Sturzhangschwung) sauber herausgeturnt, indem der
Langschwung in der Aufschwungphase einen gestreckt gespannten Körper zeigt und das Anristen der Beine zum Sturzhangschwung
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
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erst annähernd im Umkehrpunkt erfolgt (Abb. 3.61a). Ähnliches gilt auch für die Schwebekippe (Abb. 3.61b) und die Laufkippe. Somit
kann das Anristen zwar das Körperpendel verkürzen, diese Aktion hat aber kaum einen schwungsteigernden Effekt.
2. Am Ende des Langhangschwunges (und des Anschwebens), also beim Übergang zum Sturzhangschwung, tritt wie zwischen jedem
Hin- und Herschwung ein Umkehrpunkt auf, in dem der Drehimpuls des Körpers gegen Null strebt, um sich im Sturzhangschwung
unter der Wirkung der Schwerkraft mit umgekehrtem Drehsinn wieder aufzubauen. Aus diesem Grunde wäre es sinnlos, zu Beginn
des Sturzhangschwunges mit der Pendelverkürzung schon zu beginnen oder gar die Massenannäherung, mit der man gegen Ende
des Langschwunges schon begonnen hat, hier ohne Pause weiterzuführen. Statt dessen muss in einer Abschwungphase , die um so
deutlicher sein muss, je geringer die Schwungamplitude ist (Abb. 3.62), zuerst „Schwung“ gewonnen werden, der dann durch eine
Pendelverkürzung, die Kippstreckung, gesteigert werden kann.
Bei allen Formen der Kippe (des Kippaufschwunges) vorlings vorwärts sollten der einleitende Schwung (Hinschwung) und der
Sturzhangschwung (Herschwung) sauber herausgeturnt werden und das Anristen annähernd im Umkehrpunkt zwischen beiden
Schwüngen erfolgen. Die Pendelverkürzung des Sturzhangschwunges sollte deutlich von der Massenannäherung durch das
Anristen getrennt sein und erst etwa senkrecht unter der Reckstange beginnen.
Ein Verwischen dieser Strukturen führt zu einem geringeren Erfolg und zu einem wenig ansehnlichen Bewegungsablauf.
3. Turnanfänger, die schon gegen Ende des einleitenden Schwunges die Beine an die Reckstange angeristet haben, neigen dazu,
schon im Umkehrpunkt zwischen einleitendem Schwung und Sturzhangschwung oder kurz danach, also zu einem Zeitpunkt, in dem
der Körper noch keinen genügend großen Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn erhalten hat, die für die Kippe vorlings vorwärts
notwendige Massenannäherung durchzuführen. Da diese in diesem Fall zu keiner deutlichen Vergrößerung der Drehgeschwindigkeit
beitragen kann, dreht sich der Körper nicht bis in den Stütz, sondern fällt hinter der Reckstange nach unten. In der lehrmethodischen
Praxis ist deshalb großes Augenmerk auf das richtige Timing und die korrekte Dosierung der Kippstreckung zu legen. Die
Wahrscheinlichkeit, dass wegen einer zu früh eingeleiteten Kippstreckung die Übung misslingt, ist ungleich größer als das bei einer
vermeintlich zu spät eingeleiteten Kippstreckung der Fall ist.
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108
Sturzhangschwung
Langhangschwung
Abb. 3.62: Bahn des Körperschwerpunktes bei der Schwungkippe bei unterschiedlicher Dynamik des Langhangschwunges.
Wie bei der Kippe vorlings vorwärts wird auch bei den übrigen Schwüngen durch den Sturzhang die Aktion zur Massenannäherung
nicht abrupt angehalten, sondern klingt mit Erreichen des Übungszieles aus. Dies ist insbesondere auch bei den Felgumschwüngen
vorlings rückwärts zu erkennen, von denen in (Abb. 3.60 b) das Felgabgrätschen dargestellt ist. Die Hüftstreckbewegung, die das
Heranbringen der Körpermasse an die Drehachse durch Verkleinerung des Arm-Rumpfwinkels (im Sinne einer Retroversion)
unterstützt, klingt erst im Handstand oder - wie in Abb. 3.60 b – in der Hüftstreckung des freien Fluges aus. Die Retroversion im
Schultergelenk kann, sobald abgeschätzt werden kann, dass das Übungsziel erreicht wird, in eine Anteversion umgeändert werden,
um den Körper über der Drehachse weit nach oben zu transportieren. Eine spezifische Schwierigkeit der Felgen vorlings rückwärts
liegt darin begründet, dass allein die Schultermuskeln, im Besonderen die Retroversoren, den Körper beim Übergang von der
Abschwungphase in die Aufschwungphase der Reckstange annähern müssen. Damit sie bei dieser Aufgabe nicht überfordert werden,
darf die Körpermasse gemäß der vorn genannten ersten Regel für das Schwungturnen in der Abschwungphase nicht einen allzu
großen Abstand von der Drehachse zeigen - je nach Kraft und Geschick des Turnenden nur zwei bis drei Handbreiten zwischen
Reckstange und Hüfte.
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Als Beispiel von turnerischen Elementen, denen ein Sturzhangschwung rücklings vorwärts zugrunde liegt, sind in Abb. 3.60 die
Ellgriffkippe am Barren (Abb. 3.60 c) und der Felgumschwung rücklings vorwärts am Reck (Abb. 3.60 d) dargestellt. Bei beiden
Elementen wird in der Abschwungphase Regel 2 des Schwungturnens dadurch berücksichtigt, dass die Hüfte bei gestreckten Beinen
maximal gebeugt wird, wozu eine entsprechende Dehnfähigkeit der Hüftstreckmuskulatur nötig ist (s. Kap. 4.3). Zu Beginn der
Aufschwungphase kann dann das Trägheitsmoment durch leichtes Strecken der Hüfte und Verkleinerung des Arm-Rumpfwinkels (in
Sinne einer Retroversion) etwa halbiert werden, was eine Verdoppelung der Winkelgeschwindigkeit in der Aufschwungphase
verspricht. Im Gegensatz zur Felge vorlings rückwärts wird – sobald der Körper sich oberhalb des Drehachsenniveaus bewegt – die
Retroversion der Arme fortgesetzt, um den Körper möglichst weit nach oben zu treiben.
Auch bei der Ellgriffkippe am Barren ist kein explosiver Kippstoß und kein Blockieren eines Kippstoßes zur Impulsübertragung
erforderlich, sofern man die Regeln für das Schwungturnen richtig in die Praxis umsetzt
Abb. 3.63 gibt die gute und die schlechte Ausführung einer Felge am Barren wieder, gezeichnet nach Schmalfilmaufnahmen. Es ist
leicht zu erkennen, welche Konsequenzen die Missachtung der vorn aufgestellten Regeln mit sich bringt: In der Abschwungphase hat
Turner B einen deutlich geringeren Abstand der Körpermasse von der Drehachse, die im Griff an den Holmen zu finden ist (Abb. 3.63;
vergl. Einzelfigur a bis c von Turner B mit Figur 1 bis 3 von Turner A). Damit versäumt er die Gelegenheit, sich von der Schwerkraft
einen großen Drehimpuls beschaffen zu lassen. Er beraubt sich gleichzeitig der Möglichkeit, zu Beginn der Aufschwungphase einen
großen Weg für die Massenannäherung zur Verfügung zu haben. Beim Durchschwingen der Senkrechten unter dem Drehpunkt
beginnt Turner B nicht etwa schon mit der Massenannäherung, sondern lässt sich durch die Fliehkraft in eine noch stärkere
Hüftbeugehaltung zwingen (Figur d), so dass die schwungverstärkende Aktion (Figur e) deutlich zu spät einsetzt – im Gegensatz zu
Turner A, der diese Aktion in dem Augenblick durchführt, in dem der Körperschwerpunkt etwa senkrecht unter dem Griffpunkt
(= Drehpunkt) durchschwingt.
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110
6
1
4
2
3
5
A
f
e
a
B
b
c
d
Abschwungphase Aufschwungphas
Abb. 3.63: Felge in den Stütz am Barren, korrekte (A) und fehlerhafte (B) Ausführung
3.10.7 Modifizierende Bedingungen für das Schwingen im Langhang
Die Erfahrung aus der Turnpraxis lehrt, dass beim Riesenfelgumschwung rückwärts die Hüftbeugeaktion zur Schwungsteigerung
zeitlich früher - nämlich unter oder sogar „vor“ der Reckstange – einsetzt als beim Riesenfelgumschwung vorwärts, bei dem der
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111
Turner den Eindruck hat, erst „hinter“ der Reckstange die Hüfte zu beugen. Um zu klären, ob hier biologische oder physikalische
Gründe vorliegen, wurden Versuchsreihen mit einem mechanischen Modell durchgeführt (s. WIEMANN 1990 und 1993). Der
Modellturner, dessen zweigliedriger Körper die gleichen Massen- und Längenproportionen besaß wie ein menschlicher Körper,
begann seinen Schwung stets aus einer horizontalen Position (90° zur Senkrechten). Die Massenannäherung wurde in Reihentests
manuell zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Schwungbewegung ausgelöst und die erreichte Aufschwunghöhe kinematografisch
ermittelt.
120%
110%
Aufschwunghöhe in %
Abschwung- 100%
höhe
60°
40°
20°
Abschwungphase
0°
20°
60°
40°
Aufschwungphase
Abb. 3.64: Abhängigkeit der Aufschwunghöhe vom Zeitpunkt des Beginns der Massenannäherung durch Hüftbeugebewegung (schwarze
Punkte) und des Endes der Massenannäherung (Kreise) im Laufe eines Vorschwunges. Gestrichelte Senkrechte: Übergang von der
Abschwungphase zur Aufschwungphase. Punktierte Senkrechte: 45° vor der Senkrechten durch die Drehachse.
Als Ergebnis konnte festgestellt werden:
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112
Die Aufschwunghöhe am Ende eines Vorschwunges wird am größten, wenn die Hüftbeugebewegung rund 40° vor Erreichen
der Senkrechten beginnt und bei Erreichen der Senkrechten abgeschlossen ist (Abb. 3.64), während bei einem
Rückschwung aus gleicher Ausgangshöhe die höchsten Aufschwünge erreicht werden, wenn die Hüftbeugebewegung kurz
vor der Senkrechten beginnt und etwa 50° nach Durchschwingen der Senkrechten vollendet wird (Abb. 3.65).
120%
110%
Aufschwunghöhe in %
100%
Abschwunghöhe
60°
40°
20°
Abschwungphase
0°
20°
60°
40°
Aufschwungphase
Abb. 3.65: Abhängigkeit der Aufschwunghöhe vom Zeitpunkt des Beginns der Massenannäherung durch Hüftbeugebewegung (schwarze
Punkte) und des Endes der Massenannäherung (Kreise) im Laufe eines Rückschwunges. Gestrichelte Senkrechte: Übergang von der
Abschwungphase zur Aufschwungphase. Punktierte Senkrechte: 45° nach der Senkrechten durch die Drehachse
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
113
Mit diesem Befund kann angenommen werden, dass die Differenzen zwischen den Zeitpunkten der Aktionen für die
Massenannäherung bei Vor- und Rückschwüngen im Langhang primär auf rein physikalischen Verursachungen beruhen.
Zur physikalischen Erklärung dieses Phänomens sei an die Wirkung des Beinschneppers erinnert (s. Kap. 3.9). Das heftige Abwinkeln
der Hüfte beim Vorschwung erzeugt (wie beim Beinschnepper vorwärts) einen Druck der Hände gegen die Reckstange, dessen
Reaktion dem Körper einen (zusätzlichen) Drehimpuls mit Rückwärtsdrehsinn beschafft und ihn gleichzeitig entgegen der
Beinschnepper-Richtung und somit entgegen der Schwungrichtung beschleunigt. Dies mag eine Verlängerung der Einwirkungszeit der
Schwerkraft auf den Körper in der Abschwungphase bedeuten, was verständlich macht, dass die Ausführung der Hüftbeugeaktion
nach Durchschwingen der Senkrechten unter der Reckstange, also in der Aufschwungphase, diesen Effekt nicht haben kann (Abb.
3.66 a).
Da die Hüftbeugeaktion beim Rückschwung gegen die Schwungrichtung erfolgt, somit den notwendigen Drehimpuls mit
Vorwärtsdrehsinn vermindern würde, und zusätzlich den Körper in Schwungrichtung beschleunigt, wird deutlich, dass hier die Aktion
erst nach Durchschwingen der Senkrechten unter der Reckstange, also in der Aufschwungphase, realisiert werden muss (Abb. 3.66
b). Auf diese Weise wird die Einwirkungszeit der Schwerkraft, die hier „bremsend“ auf den Körper wirkt, vermindert und somit ein
höherer Aufschwung gewährleistet.
Im Gegensatz zum Vorschwung (bzw. zum Riesenumschwung rückwärts), bei dem der Ausführende bei der Hüftbeugeaktion die Bewegungsvorstellung eines
kräftige Vor-Hochschlagens der Beine realisiert, herrscht beim Rückschwung (bzw. beim Riesenumschwung vorwärts) eher eine Vorstellung vor, die mit
„Heranziehen bzw. Heranstemmen des Körpers in Richtung Reckstange bei gleichzeitigem Winkeln der Hüfte“ umschrieben werden kann. Diese
unterschiedlichen Bewegungsvorstellungen sind Ausdruck der unterschiedlichen mechanischen Wirkungen des Hüftbeugens bei Vorschwung und Rückschwung.
Die Forderungen aus diesem physikalischen Phänomen sind bei der Realisation einfacher Riesenumschwünge rückwärts und
vorwärts zu berücksichtigen (Abb. 3.66), sofern nicht Zusatzaufgaben andere Ausführungsvarianten (z.B. Konterschwünge, s. Kap.
3.10.6) erforderlich machen.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
a)
b)
Abb. 3.66: Riesenumschwung rückwärts (a) und Riesenumschwung vorwärts (b) am Reck
Weitere Ergebnisse, die durch Versuchsreihen zur Mechanik des Schwingens im Hang mit dem oben beschriebenen Turnmodell
gewonnen wurden und weitgehend die theoretischen Überlegungen zur Mechanik des Schwingens bestätigen, sind:
1. Je stärker die Hüfte bei einem Schwung im Langhang gebeugt wird, d.h. je intensiver die Masse der Drehachse angenähert
wird, desto größer ist der Gewinn an Aufschwunghöhe. Das gilt sowohl für den Vorschwung als auch für den Rückschwung.
2. Die Aufschwunghöhe (beim Vorschwung im Langhang) ist größer, wenn die Hüftbeugebewegung aus einem überstreckten
Hüftgelenk geturnt wird.
114
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
115
Beim mechanischen Modell ist dieses Ergebnis allein durch den geringfügig größeren Beschleunigungsweg der Hüftbeugeaktion zu erklären, was zu einer
größeren Wucht der Aktion führt. In der Turnpraxis kommt hinzu, dass die überstreckte Hüfte eine Vordehnung der Hüftbeugemuskulatur und – als Folge davon –
eine kräftigere Hüftbeugeaktion bewirken kann.
3. Eine Hüftstreckbewegung kurz vor Ende der Aufschwungphase des Vorschwunges im Langhang bewirkt eine geringfügig
größere Aufschwunghöhe. Es ist zu erwarten, daß dieser Effekt umso wirkungsvoller wird, je mehr sich der Aufschwung der
Senkrechten über der Reckstange nähert.
Punkt 3 ist durch die Effekte zu erklären, die an Beinschnepperbewegungen geknüpft sind (s. Kap. 3,9). Im Zuge eines Riesenumschwunges rückwärts (s. Abb.
3.66 a) wird jedoch eine heftige Körperstreckbewegung im letzten Viertel des Umschwunges auf eine mangelhafte Ausführung der Abschwungphase und des
„vortreibenden“ Hüftbeugens hinweisen. Ein guter Riesenumschwung kennzeichnet sich dagegen dadurch aus, dass die Körperstreckung im letzten Viertel des
Umschwunges dosiert ausgeführt wird und mit Erreichen der Handstandposition ausklingt.
3.10.8 Ausnutzen der Elastizität der Reckstange
Will ein Turner seinen Abgang vom Reck zu einer besonders großen Flughöhe treiben, um genügend Zeit für die Ausführung
mehrfacher Salti oder Schrauben zur Verfügung zu haben, wird er durch die Ausführung der vorbereitenden Riesenumschwünge
einen Energieaustausch zwischen seinem Körper und Reckstange als elastischem Widerlager besorgen (ARAMPATZIS /
BRÜGGEMANN 1999).
Dies soll am Beispiel eines Punktspur-Diagramms einer Riesenfelge rückwärts am Reck, die als Vorbereitung für einen Überschlag
rückwärts mit ganzer Schraube diente (Abb. 3.67; Kinemotogramm der vorletzten Riesenfelge vor dem Abgang nach 16mm-Film),
verdeutlicht werden. Das Diagramm ist bezogen auf den Nullpunkt des Koordinatenkreuzes im Ruhepunkt der Reckstange. Die
folgenden Referenzpunkte sind während des Schwunges in 12 Bewegungsphasen beobachtet (von innen nach außen): a) die
Reckstange in Höhe des Griffes, b) die Schlüsselbeingrube, c) der Trochanter und d) der äußere Fußknöchel. Für den
Reckstangenpunkt (a) ist nur eine Punktspur ermittelt, die die Auslenkung der Reckstange wiedergibt. Für die restlichen Punkte sind
jeweils 3 Bewegungsbahnen dargestellt:
1. ein Kreisbogen (gestrichelte Linie) um die Ruhelage der Reckstange mit dem Radius des Abstandes des jeweiligen Punktes von
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116
der Reckstange in Phase 1,
2. die reale Bewegungsbahn (ausgezogene Linie),
3. eine Bewegungsspur, die den hypothetischen maximalen Abstand in den 12 Bewegungsphasen vom zugehörigen (ausgelenkten)
Reckstangenpunkt wiedergibt (punktierte Linie).
12
11
10
1 d
9
c
b
2
a
8
3
7
4
5
6
Abb. 3.67: Punktspurdiagramm eines Riesenumschwunges rückwärts (Erläuterungen im Text)
Auf diese Weise lässt sich erkennen, welche der realen Auslenkungen durch das Nachgeben der Reckstange und welche durch das
Nachgeben oder ein aktives Verkürzen der Körpersegmente verursacht sind.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
117
Insbesondere die Spuren der Referenzpunkte b und c verdeutlichen, dass nicht nur die Reckstange unter der Wirkung der Fliehkraft
nachgibt, sondern auch die Körpersegmente (Phase 3 bis Phase 6). Erst ab Phase 7 nähert sich Referenzpunkt b - etwa durch
reflektorische und/oder willkürliche Kontraktion der Schultermuskulatur – wieder deutlich dem Griffpunkt an. Diese Aktion wird die
elastische Vorspannung der Reckstange noch vergrößern. Da Referenzpunkt c diese Annäherung nicht mitvollzieht, lässt sich folgern,
dass durch das Annähern der Schultern an die Reckstange einerseits und durch die gleichzeitig ablaufende Hüftbeugung andererseits
sich der Rumpf elastisch auflädt. Erst ab Phase 8 kommt die elastische Rückstellkraft der Reckstange (und ab Phase 9 auch die des
Rumpfes) zur Wirkung und vermittelt dem Körper des Turners eine zusätzliche Beschleunigung in (radialer und) tangentialer Richtung
und vergrößert dadurch die Drehgeschwindigkeit des Riesenumschwunges.
Die Determinante für die Aktionen zur Vorspannung der Reckstange ist das Bewegungsziel. Es bestimmt, in welche Richtung die
Rückstellkräfte den Körper beschleunigen sollen, etwa nach hinten oben zur Steigerung der Geschwindigkeit der Umschwünge (Abb.
3.67) oder nach vorn oben zur Erzeugung einer hohen Flugkurve für einen Abgang. Die gewünschte Richtung der Rückstellkräfte
bestimmt ihrerseits den Zeitpunkt der Aktionen zum Vorspannen der Reckstange, der unter Umständen mit dem günstigsten Zeitpunkt
für ihre Wirkung auf die Massenannäherung konkurriert oder abgestimmt werden muss. Welche Wirkung letzten Endes die vorrangige
Bedeutung hat, wird durch die unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst wie Übungsziel, Elastizität der Reckstange, Geschwindigkeit
der Schwungbewegung und Gewicht, Größe, Kraft und Koordinationsvermögen des Turners.
Während eines Schwunges im Hang werden durch Fliehkräfte und Körperaktionen die Reckstange (die Barrenholme) und
Körpersegmente elastisch verformt. Es gilt, die daraus resultierenden elastischen Rückstellkräfte für das Erreichen der jeweiligen
Bewegungsziele zu nutzen.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
118
3.10.9 Konterschwünge und „Power-Technik“
Will eine Turnerin am hohen Holm des Stufenbarrens einen Riesenumschwung rückwärts turnen, ist es ihr nicht möglich, die in
Kap. 3.10.4 aufgestellte zweite Regel für das Schwungturnen zu beherzigen. Statt dessen muss sie in der Abschwungphase die Hüfte
so weit beugen, dass sich die Füße am niedrigen Holm vorbei nach unten bewegen (Abb. 3.68).
Abb. 3.68: Riesenumschwung rückwärts am Stufenbarren unter Ausnutzung eines Konterschwunges
Damit nun der Körper in der Senkrechten unter dem hohen Holm nicht ruckhaft gestreckt und die Gefahr des Griffverlierens
heraufbeschworen wird (s. Abb. 3.56), muss die Turnerin rechtzeitig, d.h., sobald die Füße den niedrigen Holm passiert haben, den
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
119
Körper aktiv überstrecken, um dann beim Durchschwingen der Senkrechten unter dem hohen Holm die Beine mit einer dem
Beinschnepper (Kap. 3.9) ähnlichen Bewegung zur Massenannäherung nach vorn oben peitschen zu können.
Auf diese Weise wird der Kraftstoß der Fliehkraft (p = Fzf * t), den die Turnerin in der Senkrechten erfährt, zwar nicht verkleinert, aber
durch eine Verlängerung der Zeitkomponente (= Vergrößerung der Wirkungszeit t) wird die Kraftkomponente (Fzf) abgeschwächt
(= verkleinert). Trotzdem reicht die Fliehkraft aus, den hohen Holm genügend stark durchzubiegen, um im aufschwingenden Teil des
Riesenumschwunges durch Rückstellkräfte die Bewegung zu unterstützen (s. Kap. 3.10.9).
Diese Konterschwünge eignen sich besonders, wenn am Ende des Aufschwunges ein Beinschnepper rückwärts (s. Kap. 3.9) z.B. zur
Ausführung einer Kontergrätsche angeschlossen werden soll.
Abb. 3.69: Riesenumschwünge in Power-Technik (vergl. Abb. 3.66)
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
120
Auch beim Turnen am Hochreck sind Konterschwünge nicht mehr wegzudenken, zumal die Reckriemen mit eingearbeitetem Röllchen
die Gefahr reduzieren, in der Senkrechten unter dem Reck den Griff zu verlieren. Diese sogenannten Schwünge in Power-Technik
lassen sich bei Rückwärts- und Vorwärtsriesen in ähnlicher Weise realisieren (Abb. 3.47 und Abb. 3.69).
Durch die Ausnutzung der elastischen Rückstellkräfte der Reckstange bzw. des hohen Holms des Stufenbarrens können an
Riesenumschwünge in Powertechnik (mit einem Konterschwung) besonders hohe Flugteile als Abgänge oder zum
Wiederergreifen des Gerätes angeschlossen werden.
Riesenumschwünge in Powertechnik eignen sich besonders als Vorbereitung eines Beinschneppers (s. Kap. 3.9) am Ende der
Aufschwungphase.
3.10.10 Schwingen im Stütz
Insbesondere beim Rückschwung im Stütz am Barren ist es kaum möglich, durch eine Massenannäherung an die Drehachse, die hier
im Schultergelenk zu suchen ist, eine wesentliche Vergrößerung des Schwunges zu erreichen; denn die im Aufschwung
einzunehmende leichte Überstreckung des Körpers stellt im Vergleich zum völlig gerade gestreckten Körper nur eine geringfügige
Pendelverkürzung dar.
Allerdings lässt sich durch eine zügige Verlagerung des Drehachse (= der Schulterachse) nach vorn (Abb. 3.70 a) eine tangentiale
Beschleunigung des Körpers erreichen (vergl. Fadelpendel Abb. 3.70 b), die ausreicht, die Körpermasse bis zur Senkrechten über
dem Stützpunkt schwingen zu lassen. Von hier aus kann dann der Körper durch Muskelkraft weiter z.B. bis in den Handstand
gehoben werden.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
121
Dieses Prinzip kommt auch beim Stützschwingen seitwärts am Pauschenpferd zur Anwendung, z.B. bei den Scheren (Abb. 3.71).
Durch den Abdruck des linken Armes bei der Schere links wird die Drehachse, die in sagittaler Richtung durch die Schulter verläuft,
nach oben rechts verlagert und auf diese Weise das Pendel in tangentialer (und radialer) Richtung beschleunigt (vergl. Abb. 3.70 b).
Zusätzlich wird vorher durch das seitliche Beugen des Körpers eine Massenannäherung an die Drehachse und eine Vergrößerung
des Drehimpulses verwirklicht, was nach den besprochenen Gesetzen zu einer Vergrößerung der Drehgeschwindigkeit führt.
D
M
ar
a)
at
b)
Abb. 3.70: Schulterverlagerung beim Rückschwingen im Stütz am Barren. ar: Radialbeschleunigung. at: Tangentialbeschleunigung.
D: Drehpunkt = Aufhängepunkt. M: momentaner Krümmungsmittelpunkt.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
122
KSP
KSP
Abb. 3.71: Schere „vorwärts“ links am Pauschenpferd als Beispiel eines Schwingens im Stütz seitwärts. KSP: Körperschwerpunkt.
Beim Schwingen im Stütz wird die Schwungverstärkung – teilweise zusätzlich zur Pendelverkürzung - durch impulsive
Verlagerung des Pendel-Aufhängepunktes entgegen der Fliehkraft realisiert.
3.10.11 Schwingen an den Ringen
Wie schon in Kap. 3.10.3 und 3.10.4 beschrieben, lässt sich an den Schaukelringen im Langhang und im Sturzhang schwingen, wobei
die schwungsteigernden Aktionen denen beim Schwingen am Reck ähnlich sind.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
123
Wird an den Schaukelringen im Langhang mit Bodenkontakt geschwungen (Abb. 3.54), ist darauf zu achten, dass das
Aufsetzen der Füße auf den Boden deutlich vor Erreichen der Senkrechten unter dem Aufhängepunkt der Ringe erfolgt, damit
das Vorhochschwingen der Beine zur Pendelverkürzung noch rechtzeitig beim Durchschwingen der Senkrechten oder kurz
danach durchgeführt werden kann.
Beim Erreichen des Umkehrpunktes ist selbstverständlich der Körper wieder zu strecken. Ein entsprechend frühzeitiges Aufsetzen der
Füße gilt in gleichem Maße auch für den Rückschwung, obwohl hier das anschließende Schwingen der Beine nach hinten in die
überstreckte Körperhaltung nicht den gleichen schwungsteigernden Effekt verspricht, weil die Massenannäherung an die Drehachse
durch Überstreckung des Körpers wesentlich geringer ausfällt als das beim Vorschwung durch Beugen der Hüfte der Fall ist.
(Weitere Bedingungen zum Schwingen an den Schaukelringen s. Kap. 3.10.3 und 3.10.4!)
Das Schwingen an den still hängenden Ringen kann entweder als eine Rotation des Körpers um den Körperschwerpunkt, der sich in
der Senkrechten auf und ab bewegt, oder als ein Pendeln des Körpers um den Griffpunkt, der sich nach vorn und hinten verlagert,
angesehen werden. Prinzipiell gelten hier die gleichen Bedingungen wie beim Schwingen im Langhang am Reck. Allerdings können
sich einerseits durch das Fehlen der vom Reck bekannten Gleitreibung und andererseits durch die Auf- und Abwärtsbewegung des
Körperschwerpunktes in der Senkrechten Unsauberkeiten in der Körperhaltung wesentlich nachhaltiger durch „Sackschwünge“ und
durch ein Verlieren des Griffes bemerkbar machen als am Reck.
Um beim Vorschwung im Hang an den stillhängenden Ringen ein ruckhaftes Durchschwingen der Senkrechten zu vermeiden,
sind zu Beginn der Abschwungphase des Vorschwunges die Arme aus der Schulter heraus weit nach vorn zu strecken (Abb.
3.72 a, schwarzer Pfeil), und zusätzlich ist gegen Ende des Abschwunges der Körper von den Händen bis zu den Füßen in eine
leichte kontrollierte Überstreckung (= Bogenspannung;) zu versetzen.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
a)
124
b)
Abb. 3.72: Schwingen an den still hängenden Ringen. a): Vorschwung. b): Rückschwung
Dieses Verhalten verkleinert zwar nicht den Betrag des abwärts gerichteten Kraftstoßes (F * t), den der Turner in der Senkrechten zu ertragen hat, verlängert
(vergrößert) aber die Zeitkomponente (t), was eine proportionale Verkleinerung der Kraftkomponente (F) mit sich bringt: Der Turner braucht weniger Kraft
aufzubringen, um sich gegen die Fliehkräfte, die ihn nach unten reißen wollen, durchzusetzen, und kann auf diese Weise seinen Griff beibehalten und die
Bewegung sicher aussteuern.
Sinngemäß ist beim Rückschwung (Abb. 3.72 b) zu verfahren: Streckung der Arme zu Beginn des Abschwunges aus den Schultern
heraus über den Kopf nach hinten und leichte „Bindung“ in der Hüfte gegen Ende des Abschwunges (= leichte Hüftbeugung durch
Spannung der Hüftbeugemuskulatur; s. Abb. 3.72 b, zweite und dritte Einzelfigur). Die das Pendel verkürzenden Aktionen erfolgen in
beiden Fällen nach Durchschwingen der Senkrechten dann nahezu reflektorisch-automatisch.
3.11
Biomechanik elastischer Sprünge
Neben den üblichen einbeinigen Sprüngen werden beim Turnen vermehrt beidbeinige Sprünge realisiert, die in der Bewegungslehre
als Drop-Jumps bekannt sind und beim Turnen „prellende Absprünge“ genannt werden. Bestes Beispiel für einen Drop-Jump ist der
beidbeinige Absprung zum Salto vorwärts aus dem Anlauf (Abb. 3.73 a). Hier lassen sich die Charakteristika des Drop-Jumps deutlich
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
125
erkennen:
Beim Drop-Jump
- werden die Ballen des Vorderfußes auf den Boden gesetzt, d.h. der Fuß rollt nicht von den Fersen bis zu den Zehen ab;
- erfolgt die Absprungaktion vornehmlich aus dem Fußgelenk, ohne dass zwischenzeitlich die Fersen den Boden berühren;
- ist die Kontaktzeit des Fußes mit dem Boden extrem kurz.
.
a)
b)
Abb. 3.73: Prellende Absprünge (Drop-Jumps). a: Absprung zum Salto vorwärts. b: Absprung zum Salto rückwärts aus der Radwende
Aufgrund der kurzen Bodenkontaktzeit ist es der Sprungmuskulatur (hier vorwiegend: Wadenmuskulatur) nicht möglich, beginnend mit
dem Aufsetzen der Füße auf den Boden einen kompletten Dehnungs-Verkürzungszyklus durchzuführen, um den Körper im Laufe der
Muskelverkürzung aufwärts zu beschleunigen. Statt dessen wird die Muskulatur schon vor der Bodenberührung maximal vorgespannt.
Beim Aufsetzen der Füße auf den Boden dehnen Gewichtskraft und Trägheitskraft sowie die Kontraktionskraft derjenigen
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
126
Beinmuskeln, die die Streckaktion schon vor der Bodenberührung beginnen, die angespannte Wagenmuskulatur wie eine elastische
Feder, die danach durch elastische Rückstellkräfte den Körper aufwärts beschleunigt (Abb. 3.74).
Welchen Anteil die einzelnen serienelastischen Element des Muskels an dieser elastischen Reaktion haben, lässt sich nur vermuten. Möglicherweise spielt die
Elastizität der Myosinmoleküle innerhalb der Sarkomere eine größere Rolle als die Elastizität der Achillessehne. Ist die Kontaktzeit nicht zu kurz (> 100 ms),
werden auch Dehnungsreflexe, die sich zur Willkürkontraktion addieren (SCHMIDTBLEICHER u.a. 1978), den Absprung unterstützen.
Bei prellenden Absprüngen (Drop-Jumps) nutzt der Turner die elastischen Rückstellkräfte der vorgespannten Muskulatur,
insbesondere die der Wadenmuskulatur.
Eine wichtige Kenngröße für elastische Körper ist die Schwingungsdauer, also die Zeit, die für den Hin- und Hergang einer
Schwingung benötigt wird. Diese Schwingungsdauer steigt mit der Masse, bzw. mit der am elastischen Körper anliegenden Last und
verkleinert sich mit steigender Federkonstanten (D), also mit der Federhärte. Da bei elastischen Sprüngen in der Regel die Last in
Form der Masse des Turners konstant ist, hängt die Schwingungszeit hier nur von der Federhärte des kontrahierten Muskels ab.
Diese lässt sich durch Variieren des Kontraktionsgrades an die vorliegende Aufgabe anpassen.
Entdehnen
Dehnen
Abb. 3.74: Verdeutlichung der elastischen Reaktion der Wadenmuskulatur beim prellenden Absprung (Salto rückwärts): Dehnen der
kontrahierten Muskulatur durch äußere Kräfte, Entdehnen durch elastische Rückstellkräfte
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
127
Die Schwingungszeit genügt der Formel:
T = 2π
m
. Dabei ist m die Masse und D die Federkonstante.
D
Bei prellenden Absprüngen hängt die Zeit, die für den Bodenkontakt zur Verfügung steht, oft von äußeren Bedingungen ab. Beim Absprung zum Salto vorwärts
sinkt die Zeit, in der der Fuß Kontakt mit dem Boden hat, mit steigender Anlaufgeschwindigkeit. Deshalb muss bei einer hohen Anlaufgeschwindigkeit die
Federhärte der Wadenmuskulatur durch einen erhöhten Kontraktionsgrad gesteigert werden. Steht einem Turnenden nicht die notwendige Muskelkraft zur
Verfügung, tut er gut daran, eine niedrige Anlaufgeschwindigkeit zu wählen. Die Abstimmung zwischen Kontaktzeit und Muskelaktivitätsgrad wird durch ständiges
Üben herausgebildet, ohne dass dem Übenden die physikalischen Zusammenhänge bewusst sein müssen. Lehrer und Trainer mit entsprechenden
Physikkenntnissen können jedoch dem Übenden wertvolle Tipps geben z.B. über die günstigste individuelle Anlaufgeschwindigkeit beim Salto vorwärts.
Selbstverständlich sind bei prellenden Absprüngen auch andere Muskeln beteiligt, insbesondere die Knie- und Hüftstreckmuskeln. Die Rumpfmuskulatur hat
darüber hinaus die Aufgabe, den Rumpf zu stabilisieren, damit dieser sich unter der Wirkung des Absprungkraftstoßes nicht verformt oder der Kraft ausweicht.
Für die Verdeutlichung des elastischen Prinzips genügt jedoch eine Konzentration auf die Wadenmuskulatur.
Bei prellenden Absprüngen sind die Absprungzeit und der Kontraktionsgrad der Sprungmuskeln (und somit die
Schwingungsdauer und die Federhärte in der Elastizität des kontrahierten Muskels) durch ständiges Üben aufeinander und auf
das Bewegungsziel abzustimmen.
Die Abhängigkeit zwischen Schwingungsdauer und Federhärte (Elastizitätskonstante) ist besonders auch bei der Nutzung elastischer
Sprunghilfen von Bedeutung. Da die im Turnen benutzten Sprunghilfen feststehende Federhärten besitzen (nur beim
Wasserspringen vom Brett lässt sich die Federhärte regulieren), ist für die jeweilige Bewegungssituation die günstigste Sprunghilfe
auszuwählen. Dies wird beim Vergleich zwischen Reutherbrett (als „kurzhubiger“ Sprunghilfe mit hoher Elastizitätskonstanten) und
Minitramp (als „langhubiger“ Sprunghilfe mit niedriger Elastizitätskonstanten) deutlich (Abb. 3.75). Die große Schwingungsdauer des
Minitramps verlangt beim „Einsprung“ eine niedrige Horizontalgeschwindigkeit des Turners, weil dieser eine vergleichsweise lange
Zeitspanne benötigt, um die Sprunghilfe vorzudehnen und die Rückstellkräfte auszukosten. Zusätzlich ist die Masse des Turners zu
berücksichtigen, denn ein schwerer Turner verlängert die Schwingungsdauer der Sprunghilfe im Vergleich zu einem leichten Turner.
Da im Gegensatz zu der Elastizitätskonstanten von Sprunghilfen das Gewicht von Turnern nur vergleichsweise geringfügig variiert, kann diese Abhängigkeit
vernachlässigt werde. Unterscheidet sich das Gewicht zweier Turner um 10% (beispielsweise 60 kg und 66 kg), ist die Schwingungsdauer der Sprunghilfe beim
schwereren Turner nur um rund 5% größer.
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a)
128
b)
Abb. 3.75: Absprung mit hoher Horizontalgeschwindigkeit und kurzer Fußkontaktzeit von einer kurzhubigen Sprunghilfe (a) und Absprung mit
niedriger Horizontalgeschwindigkeit und langer Fußkontaktzeit von einer langhubigen Sprunghilfe (b)
Bei der Auswahl und Konstruktion von Sprunghilfen beim Pferdsprung (Sprung am Sprungtisch) besteht ein Konflikt zwischen gewünschter Sprunghöhe und
notwendiger Sprungweite. Eine große Sprungweite, z. B. über das längsgestellte Pferd oder den Sprungtisch, verlangt eine hohe Anlaufgeschwindigkeit, so dass
die Kontaktzeit auf der Sprunghilfe nur kurz sein kann. Das erfordert ein „hartes“ Sprungbrett mit kurzer Schwingungsdauer. Soll dagegen der Sprung eher in die
Höhe zielen oder ist die Sprungweite von geringerer Bedeutung, können weichere (und langhubige) Sprungbretter mit längerer Schwingungsdauer zum Einsatz
kommen. Die Anlaufgeschwindigkeiten (und selbstverständlich die Vorspannung der Sprungmuskulatur) sind dabei entsprechend anzupassen.
Die Abhängigkeit der Schwingungszeit von der Elastizitätskonstanten erkennt man leicht beim Vergleich eines einfachen mit einem
doppelten Reutherbrett (Abb. 3.76). Generell ist die Schwingungszeit vom Grad der Verformung unabhängig, was bedeutet, dass eine
große Rückstellkraft F1 bei starker Verformung des einfachen Reutherbretts über die gleiche Zeitspanne (t1 = t2 = ½ T) auf den
Springer wirkt wie eine kleinere Rückstellkraft F2 . Der größere Kraftstoß (F1 * t1) bedingt einen größeren aufwärts gerichteten
Absprungimpuls. Wird ein doppeltes Reutherbrett mit der gleichen Kraft (F3) vorgedehnt wie das einfache Reutherbrett durch F2 ,
entsteht aufgrund der halbierten Elastizitätskonstanten ein doppelt so großer Verformungsbetrag. Dazu wird aber eine 1,4-fach
größere Zeit (t3) benötigt, die ebenfalls zur „Entladung“ , d.h. zur Freisetzung der Rückstellkräfte, einzukalkulieren ist. Somit erhält der
Kraftstoß am doppelten Reutherbrett einen entsprechend größeren Betrag.
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F1
F1
F2
t1
F2
F3
F3
t2
t3
Abb. 3.76: Rückstellkräfte (F1 – F3, schematisch) und deren Wirkungszeit (t1 – t3) bei einem einfachen und einem doppelten Reutherbrett.
Bei gleicher Absprungkraft liefert das doppelte Reutherbrett einen 1,4-mal größeren Absprungimpuls als das einfache
Reutherbrett. Zur Erzeugung des Absprungimpulses wird aber eine 1,4 mal längere Kontaktzeit der Füße mit der
Absprungstelle benötigt.
129
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130
3.12 Systematisierung turnerischer Bewegungen nach biomechanischen Kriterien
Aufgrund der Vielzahl und Vielfalt turnerischer Fertigkeiten bestand schon immer das Bedürfnis, die im Turnen möglichen
Bewegungsäußerungen nach den unterschiedlichsten Kriterien in ein System zu ordnen, um die Überschaubarkeit zu verbessern. Als
Kriterien für eine solche Systematisierung könnten die physikalischen Grundlagen dienen.
Das Unterfangen einer systematisierenden Einordnung der turnerischen Fertigkeiten wird jedoch auf Probleme stoßen. Dies soll an folgender Übung an den
Ringen, die gemäß den Wertungsvorschriften (2001) „doppelte Stützfelge rückwärts gehockt in den Hang“ (Abb. 3.77) lautet, verdeutlicht werden:
Die Übung besteht aus mehreren Phase, nämlich aus einem Schwung im Langhang mit Rückwärtsdrehsinn (Abb. 3.77; graue Figuren links), einer
anschließenden Phase mit einer doppelten Rotation rückwärts um eine quere Schwerpunktachse (Abb. 3.77; schwarze Figuren) und einem anschließenden
Schwung im Langhang (Abb. 3.77; graue Figuren rechts). Welche dieser Phasen soll nun für die Einordnung der Übung maßgeblich sein? Der Schwung im
Langhang stellt zwar die Basis der gesamten Fertigkeit dar und schafft die für die Ausführung nötige Dynamik, die in diese Schwungbewegung eingeschobene
doppelte Rückwärtsrotation stellt aber das eigentliche „Kunststück“ dar. Dem gemäß könnte man die Übung zu den „Langschwüngen“ rechnen, aber auch mit
denjenigen Elementen zusammenfassen, die ebenfalls Rückwärtsrotationen zeigen. Dieses Dilemma wird man bei dem Großteil der als Turnübungen
bezeichneten motorischen Fertigkeiten am Boden und an Geräten finden. Es scheint demnach angebracht, nicht Gesamtübungen, sondern die Kernphasen,
aus denen sie zusammengesetzt sind, nach biomechanischen Kriterien zu systematisieren.
Abb. 3.77: „Doppelte Stützfelge rückwärts gehockt in den Hang“ (Guzcoghy)
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131
Kernphasen turnerischer Fertigkeiten sind solche Abschnitte im Bewegungsablauf, die sich durch ein einheitliches
biomechanisches Wirkungsprinzip kennzeichnen lassen und der Übung ihre spezielle Charakteristik vermitteln.
Zu Kernphasen turnerischer Fertigkeiten sollen nicht solche Aktionen gerechnet werden, die der Alltagsmotorik entstammen wie Anläufe, Armschwünge,
Beinschwünge u.a.
Andere Kriterien zur Systematisierung turnerischer Fertigkeiten können eigenmotorische Phänomene sein, etwa die Bewegungsempfindungen des Turners
während der körperlichen Auseinandersetzung mit den mechanischen Gegebenheiten. Dies behandelt u.a. Kap. 6 mit einem weiteren
Systematisierungsverfahren, wobei auch untersucht wird, inwieweit die beiden Verfahren Entsprechungen zeigen.
Eine Systematisierung von turnerischen Fertigkeiten sollte sich auch in der Übungsbezeichnung niederschlagen, indem Übungen mit gleichen mechanischen
Voraussetzungen gleiche Bezeichnungen erhalten. Da dies insbesondere für die Bildung der Bewegungsvorstellung zur betreffenden Übung von Bedeutung ist,
wird dieses Thema erst in Kap. 6 eingehender besprochen.
Gemäß den definitorischen Bestimmungen turnerischer Bewegungsabläufe (Kap. 1.1) und den biomechanischen Betrachtungen
(Kap.3) lassen sich Kernphasen innerhalb turnerischen Fertigkeiten insbesondere nach drei Kriterien gliedern, nämlich
- nach der Art der Drehung (Drehbewegung), die der Turnerkörper vollzieht, und
- nach der Art des Kraftstoßes (des Drehmomentes), der den Turnerkörper (2a) in eine Drehbewegung versetzt bzw. (2b) die
vorhandene Drehbewegung verstärkt oder die Drehrichtung ändert. Dazu kommt
- eine weitere Gruppe von Aktionen der Schultern und Arme, die den Körper – meistens gegen Ende der Drehbewegung - gegen
der Wirkung der Schwerkraft nach oben treiben (s. auch Kap. 4.2.1), um eine möglichst hohe Endposition oder zumindest das
definierte Endziel einer Fertigkeit zu erreichen.
Innerhalb der ersten Gruppe, der Drehungen, ergeben sich weitere Unterteilungen nach der Art der Drehachse, der Drehrichtung und
der Körperhaltung.
Bei den Drehachsen sind „feste“ und „freie“ Drehachsen zu unterscheiden. Die mechanischen Bedingungen unterscheiden sich
prinzipiell bei Bewegungen um feste bzw. freie Drehachsen. Besteht die Kernphase einer Turnübung aus einer Drehung um eine feste
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Drehachse, sollen im Folgenden diese Kernphasen „Schwünge“, bei Drehungen um freie Drehachsen „Rotationen“ genannt
werden.
3.12.1 Schwünge
Im Rahmen des Gerätturnens sollen Schwünge solche Kernphasen turnerischer Fertigkeiten genannt werden, bei denen sich
der Körper um eine solche Achse dreht, die nicht durch den Körperschwerpunkt verläuft. Bei Schwüngen unterliegt der Körper
somit den Pendelgesetzen.
Innerhalb der Gruppe der Schwünge sind die Bewegungen nach mehreren Bedingungen zu unterscheiden und zwar
a) nach der Körperhaltung (Langhang, Sturzhang oder Stütz),
b)- nach dem Verhalten zum Gerät (vorlings oder rücklings) und
c) nach dem Drehsinn (vorwärts oder rückwärts).
Im Hinblick auf die Körperhaltung bei Schwüngen wird hier von Langhang (Abb. 3.78) gesprochen, wenn die Masse der
Beine weiter von der Drehachse entfernt ist als die Masse des Rumpfes. Schwünge im Sturzhang (Abb. 3.79) sind dann
gegeben, wenn die Masse der Beine näher zur Drehachse positioniert ist als die Masse des Rumpfes.
132
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(M 1) Drehungen (Schwünge) um „feste“ Achsen (Langhang und Stütz)
Bedingungen
im Drehsinn vorwärts
im Drehsinn rückwärts
Schwung seitwärts
Kreisen
Schwung
um eine Querachse Langhang
vorlings
Langhang
rücklings
Langhang
am
Barren
Langhang
an den
Ringen
Oberarmhang
Stütz
Schwung um
Tiefenachse bzw.
nahezu senkrechte
Raumachse
Stütz
Abb. 3.78: Drehungen (Schwünge) um feste Achsen im Langhang und Stütz. Schwarze Figuren:
schwungverstärkende Aktion
133
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134
(M 2) Drehungen (Schwünge) um „feste“ Achsen (Sturzhang)
Bedingungen
im Drehsinn vorwärts
im Drehsinn rückwärts
Schwung im Sturzhang vorlings
mit
dosierter
Hüft-Schulteraktion
Schwung im Sturzhanghang
rücklings
mit
dosierter
Hüft-Schulteraktion
Schwung im Sturzhang „quasi”
rücklings
mit
dosierter
Hüft-Schulteraktion
Schwung im Sturzhanghang
rücklings
gegrätscht
mit dosierter
Hüft-Schulteraktion
Abb. 3.79: Drehungen (Schwünge) um feste Achsen in unterschiedlichen Sturzhangformen. schwarze
Figuren: schwungverstärkende Aktion
Zu den Definitionen des Verhaltens zum Gerät und des Drehsinns wird auf Kap. 2.2 verwiesen. Bei den
Schwüngen an den Ringen lässt sich zwar im umgangssprachlichen Sinn nicht von „festen“ Drehachsen sprechen.
Gleichwohl unterliegt der Turnerkörper den Pendelgesetzen, was insbesondere in derjenigen Phase deutlich wird,
in der der Turner die Senkrechte unter dem Aufhängepunkt durchschwingt. Bei den Kreisflanken kann der Körper
mit einem Kreispendel gleichgesetzt werden.
Da sich beim Sturzhangschwung am Barren im Querverhalten zwischen den Griffpunkten kein Teil des Gerätes
befindet, entfällt hier die Trennung zwischen vorlings und rücklings. Das turntechnische Verhalten gleicht aber eher
dem der Rücklingspositionen, weshalb hier von „quasi rücklings“ gesprochen werden soll.
Zur sprachlichen Trennung der Schwünge im Langhang und im Sturzhang bietet es sich an, die Übungen, die in
der Kernphase einen Langhangschwung zeigen, Riesenschwünge (z.B. Riesenschwung rücklings rückwärts mit
Stemmen in den Stütz) zu nennen, während man die Sturzhangschwünge als Felgen (z.B. Felgaufschwung
vorlings rückwärts in den Stütz, Felgumschwung rücklings vorwärts gegrätscht mit Ausgrätschen in den Hand)
bezeichnen sollte. (s. dazu auch Kap. 2).
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135
3.12.2 Rotationen
Von freien Drehachsen soll dann gesprochen werden, wenn sich der Turner ohne Kontakt zum
Boden oder zum Gerät um eine Achse dreht, die durch den Massenmittelpunkt
(Körperschwerpunkt) verläuft, der sich dabei in der Regel auf einer Wurfparabel bewegt. Der
Körper stellt also einen „kräftefreien Kreisel“ dar. Solche Drehbewegungen sollen im Folgenden
„Rotationsbewegungen“ (Abb. 3.80 bis Abb. 3.83) genannt werden
Im Rahmen des Gerätturnens sollen Rotationsbewegungen (oder kurz: Rotationen,
Gruppe M 3) solche Kernphasen turnerischer Fertigkeiten genannt werden, bei denen
sich der Körper um eine „freie“ Achse (eine Schwerpunktachse) dreht.
Gemäß den mechanischen Bedingungen müssen die Rotationsbewegungen untergliedert
werden in eine Gruppe, in deren Verlauf die Drehgeschwindigkeit durch Verkleinerung des
Trägheitsmomentes vergrößert wird, nämlich durch ein scharfes Anhocken oder Anbücken der
Beine, und in eine weitere Gruppe, in deren Verlauf sich der Körper in völliger Streckung
überschlägt. In der ersteren Gruppe werden alle Rollen zusammengefasst.
Rollen sind Rotationen um freie Achsen, in deren Verlauf zwecks Vergrößerung der
Drehgeschwindigkeit die Beine an den Rumpf angehockt bzw. angebückt werden.
Dies sollte auch für die Kernphase der einfachen Rollen am Boden gelten. Zwar lässt sich hier – je nach
Bezugsystem – die Drehachse auch im Bodenberührungspunkt sehen und das Anhocken der Beine als die
Herstellung eines guten „Rollkörpers“ werten. Da aber auch hier zusätzlich das Prinzip der Verkleinerung des
Trägheitsmomentes gilt und die Einrollaktion des Körpers mit derjenigen der freien Rollen identisch ist, soll an
dieser Zuordnung festgehalten werden.
Natürlich gehört zu jeder Fertigkeit aus der Gruppe der Rollen eine Aktion, die die Rotationsbewegung erzeugt,
und ebenso eine, die sie beendet. Beim Salto vorwärts am Boden wären dies der Anlauf mit Absprung sowie die
Landung, also Bewegungen, die nicht spezielle turnerische Fertigkeiten darstellen. Dies muss aber nicht
notwendigerweise sein. Zur Auslösung der Rotation kann gleichwohl eine andere turnerische Fertigkeit oder die
Kernphase einer solchen dienen, etwa ein Handstützüberschlag vorwärts oder ein Schwung im Langhang
rückwärts (wie beim Gaylord am Reck, Abb. 3.32). Der entscheidende Bewegungsabschnitt (die Kernphase)
genügt nach wie vor den Bedingungen der gehockten Vorwärtsrotationen. Gleiches gilt auch für die „gehockte
Stützfelge rückwärts“ an den Ringen (Abb. 3.32 und Abb. 3.77). Selbst die Tatsache, dass der Griff nicht vom
Gerät (Ringe) gelöst wird, ändert nichts an der Zugehörigkeit der Kernphase zu den gehockten
Rückwärtsrotationen, also den Rollen rückwärts.
Die „freien“ Rollen werden in der Turnsprache gelegentlich auch mit dem Begriff der „gehockten Überschläge“
bezeichnet. Dies wird hier aus Gründen des dynamisch-eigenmotorischen Informationsgehaltes verbaler Zeichen
(Kap. 6.1.2.4) abgelehnt. Statt dessen wird dafür der Bergriff „Salto“ im Sinne von „Luftrolle“ reserviert und der
Begriff „Überschlag“ den gestreckten Rotationen zugewiesen.
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136
vorwärts
Rollen
Rollen
rückwärts
seitwärts
Luftrollen,
Salti
rückwärts
vorwärts
vorwärts/vorwärts
Rotationen
rückwärts/rückwärts
Mischformen
seitwärts/rückwärts
gestützte
Überschläge
vorwärts
rückwärts
Überschläge
seitwärts
freie
Überschläge
vorwärts
rückwärts
Abb. 3.80: Blockschaltbild zur Kernphasengruppe „Rotationen“.
Nach biomechanischen Gesichtspunkten lassen sich die Kernphasen weiterer Übungen zu den
Rotationen rechnen. Hier befindet sich der Körper zwar nicht im freien Flug, sondern dreht sich
um eine ortsfeste Achse (Reckstange, Holm). Durch die Art der Bewegung tritt jedoch eine
Situation auf, bei der die quere Schwerpunktachse mit der festen Achse zusammenfällt, so dass
der Körper um die quere Schwerpunktachse rotiert und allein hierdurch die Bedingungen der
Rollen erfüllt. Dies sind der Umschwung vorlings vorwärts und der Hüft- (bzw. Bauch-)
Umschwung vorlings rückwärts (Abb. 3.82). Da hier die Drehgeschwindigkeit
(Winkelgeschwindigkeit) durch eine Verkleinerung des Trägheitsmomentes des Körpers
vergrößert wird, indem sich der Körper mit gestreckten Beinen „einrollt“ (anbückt, anhechtet),
liegen die gleichen Bewegungskriterien vor wie bei den Rollen und es ist berechtigt, diese
Fertigkeiten der Gruppe mit der Kernphase „Rollen“ zuzuordnen.
Von der zweiten Gruppe der Rotationen, in deren Verlauf sich der gestreckte Körper
mindestens um rund 360° überschlägt, lässt sich eine Gruppe abtrennen, in der während der
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
137
Überschlagbewegung mit den Händen am Boden bzw. Gerät abgestützt wird. Diese
gestützten Überschläge werden den „freien“ Überschlägen gegenübergestellt. Allen
Überschlägen ist jedoch gemeinsam, dass während der Rotation die Drehgeschwindigkeit
nahezu konstant bleibt. Allenfalls lässt sich bei den gestützten Überschlägen durch eine
während der Stützphase durchgeführte Schnepperbewegung der Drehimpuls des Körpers
beeinflussen. Zusätzlich lassen sich gestützte Überschläge finden, die eine Kombination aus
einer Überschlagbewegung und einer Rollbewegung erkennen lassen (Abb. 3.81). Dabei
beginnt die Übung mit einer Überschlagbewegung, während mit der Stützphase aber die
gestreckte Haltung aufgegeben und mit verkleinertem Trägheitsmoment (eingerolltem oder
gebücktem Körper) weiter geturnt wird.
Überschläge sind solche Rotationen, in deren Verlauf sich der gestreckte Körper
ohne Veränderung des Trägheitsmomentes – also mit konstanter
Drehgeschwindigkeit - um eine Schwerpunktachse dreht, dabei sind gestützte
Überschläge durch ein zwischenzeitliches Abstützen der Hände vom Boden oder vom
Gerät gekennzeichnet.
Auch im Laufe von „Schrauben“ dreht sich der Körper um eine Schwerpunktachse. Da dies in
der Regel im Laufe von Rollen oder Überschlägen zusätzlich erfolgt, sollen Schrauben der
Vollständigkeit halber an die Gruppe der Rotationen angeschlossen werden (Abb. 3.81).
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Bedingungen
Vorwärtsdrehsinn
um die
Querachse
(M 3a) Rotationen aus Absprüngen
Trägheitsmoment Kombination / Mischform
Trägheitsmoment groß
klein (Rollen/Salti)
(Überschläge)
gestützt
frei
Rückwärts- gestützt
drehsinn
um die
Querachse
frei
Drehung
um die
Tiefenachse
gestützt
frei
Drehungen Schrauum die
ben
Längsachse
Abb. 3.81: Unterschiedliche Drehungen (Rotationen) um freie Achsen. graue Figuren:
Ausgangspositionen
138
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139
(M 3b) Rotationen um „quasi freie“ Achsen (Stütz)
Bedingungen
im Drehsinn vorwärts
im Drehsinn rückwärts
Umschwung
Abb. 3.82: Drehungen (Rotationen) um „quasi freie“ Achsen im Stütz. Graue Figuren: Ausgangs- und
Endposition
Neben den Rotationen, die aus einem Absprung resultieren, besteht eine Gruppe von
Rotationen, die sich aus einem Schwung im Langhang ergeben (Abb. 3.83). Auch hier kann der
Körper in gestreckter Form rotieren, oder er wird zwecks Vergrößerung der
Winkelgeschwindigkeit „eingerollt“ (= Verkleinerung des Trägheitsmomentes). Den Drehimpuls
erhält der Körper entweder aus der Schwungbewegung, wobei ein Schwung im
Rückwärtsdrehsinn zu einer Rückwärtsrotation (z.B. Überschlag rückwärts am Barren) und ein
Schwung im Vorwärtsdrehsinn zu einer Vorwärtsrotation (z.B. Jägersalto, ) führt, oder die
Drehrichtung wird zwischen Schwung und Rotation durch eine Schnepperbewegung (=
Drehabstoß am Gerät) umgekehrt, von vorwärts auf rückwärts (z.B. Yamavaki) oder von
rückwärts auf vorwärts (z.B. Tkatchev).
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Rotation
vorwärts
140
(M 3c) Rotationen aus Schwüngen
Bedingungen
Trägheitsmoment klein Trägheitsmoment groß
Drehrichtung (aus
Schwung mit
Vorwärtsdrehsinn)
bleibt erhalten
Drehrichtung (des
Schwunges mit
Rückwärtsdrehsinn)
wird umgekehrt
Rotation
rückwärts
Drehrichtung (aus
Schwung mit
Rückwärtsdrehsinn)
bleibt erhalten
Drehrichtung (des
Schwunges mit
Vorwärtsdrehsinn)
wird umgekehrt
Abb. 3.83: Rotationen aus Schwüngen. Schwarze Figuren: Rotation. Graue Figuren: vorbereitender
Schwung
3.12.3 Kippen
Im Grundlagenturnen gehören Übungen, die eine heftige Hüftstreckbewegung aus stark
gewinkelten Körperstellung zeigen, zu denjenigen Elementen, die zur Einführung und
Vorbereitung von Vorwärts- und Rückwärtsdrehungen gehören. Dabei muss eine heftige
Hüftstreckbewegung (Kippschlag, Kippstoß) aus einer stark gewinkelten Körperposition die
initiale Wucht zur Ausführung der Bewegung schaffen (Abb. 3.84).
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
141
(M 4) Kippen
Bedingungen
Kippen Impulsvorwärts übertragung
aktiv
Impulsübertragung
passiv
Kippen
rückwärts
Kippstoß
aus der
Kipplage
reduzierter
Kippstoß
aus Rolle
oder
Schwung
ohne
Kippstoß
Abb. 3.84: Übungen mit Kippstoß oder Kippschlag als initiale Kernphase. Schwarze Phase:
Kippbewegung (Kippschlag)
Mit zunehmender Könnensstufe kann die Kippbewegung (Kippschlag, Kippstoß) reduziert
werden oder ganz entfallen, indem einleitende Roll- oder Schwungbewegungen herangezogen
werden, um einen Teil oder die gesamte für die Ausführung nötige Energie zu schaffen.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
142
Kippen sind solche Kernphasen turnerischer Bewegungen, die aus einer intensiven
Hüftbeugestellung eine explosive Hüftstreckung zeigen, um die einleitende Wucht zur
Erreichung einer Zielposition oder Zielbewegung zu schaffen.
Im Laufe der Kippstreckung kann die Streckbewegung aktiv und ruckhaft in leichter
Hüftbeugestellung durch Muskelkontraktion abgebremst werden (Vorwärtskippen in den Stütz),
oder die Streckbewegung wird durch passive Strukturen gestoppt. In jedem Fall profitiert der
Turner von einer Übertragung des in den Beinen gewonnenen Impulses auf den Gesamtkörper
(Kap. 3.8).
Die in der Kippphase gewonnene Wucht kann durch vorgeschaltete Bewegungen wie Rollen
oder Schwünge ersetzt werden. In diesen Fällen lassen sich Ausführungen erkennen, in denen
die Kippbewegung zunehmend abgebaut wird. Häufig tritt noch eine Zwischenstufe auf, bei der
nur noch eine Hüftstreckbewegung aus einer leichten Hüftbeugung zu erkennen ist, die
gelegentlich auch „Felgbewegung“ oder „gefelgte Bewegung“ genannt wird. Diese verliert die
mechanische Funktion der Impulsübertragung und ähnelt in der Wirkungsweise den
Schnepperbewegungen (Kap. 3.9). Im Idealfall reicht allein die vorgeschaltete Aktion (Rolle
oder Schwung) für die Erreichung des Zieles aus. In diesem Fall hat die Übung ihre
Zugehörigkeit zu den Kippen verloren.
3.12.4 Impulsschaffende Zusatzaktionen
Neben den drei großen Gruppen von turntypischen Kernphasen (Schwünge, Rotationen,
Kippen), müssen einige Zusatzaktionen Erwähnung finden, die
a) zur Schaffung einleitender Impulse bzw. Drehimpulse beitragen oder
b) das abschießende Erreichen des Übungszieles unterstützen.
Zu den einleitenden Drehkraftstößen (Abb. 3.85) gehören Absprünge, Abstoßbewegungen mit
den Armen vom Boden und Gerät und Schepperbewegungen, zu den letzteren Stemm- und
Hebeaktionen aus den Schultern und Armen (Abb. 3.86). Diese Aktionen treten in allen
Kernphasengruppen in unterschiedlicher Ausprägung auf und können deshalb nicht Anlass
sein, zusätzliche getrennte Strukturgruppen zu erstellen.
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
(M 5) Aktionen zur Erzeugung von Drehimpulsen
Bedingungen
im Drehsinn vorwärts
im Drehsinn rückwärts
Absprung mit unterstüzendem
Armschwung
Hüftstreckung
“Kippstreckung“
mit unterstützendem Armstoß
Hüftstreckung
“Kippstreckung“
mit unterstützender Armstemme
rückwärts
Armabstoß
mit Beinschnepper
Beinschnepper
mit unterstützendem Armeinsatz
Abb. 3.85: Aktionen zur Erzeugung von Drehbewegungen. Graue Figuren: Übergang zur
Drehbewegung
143
© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens
144
(M 6) Schulter-Arm-Aktionen zur Aufwärtsbeschleunigung des Körpers
Bedingungen
Adduktion
Abduktion
Anteversion
Retroversion
Abb. 3.86: Arm- und Schulteraktionen zur Aufwärtsbeförderung des Körpers aus unterschiedlichen
Ausgangspositionen. Schwarze Figur: Ausgangsposition. Graue Figur: Endposition