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Seite 1 Vorwort Für alle, deren Refugium, vorausgesetzt die Jugend wurde nicht allzu sehr von Lehrern und Eltern, oder wie es in der Fachsprache heißt, Pädagogen und Erziehungsberechtigten, voreingenommen, wenn nicht gar, ohne theatralisch zu dramatisieren, oder gleich im Vorfeld ausfallend in Erscheinung zu treten, traumatisiert, zumal jenes schwere Folgen auf das Unterbewusstsein haben kann und den Teufelskreis gebären lässt und sich alles wieder auf die zwei wesentlichen Faktoren zurückschließen lassen kann, Lehrer und Eltern, Humor ist und hoffentlich, wenn nicht etwas allzu Unangenehmes, ich wünsche es keinem, dazwischenkommt, bleibt Antoine Levy, Nizza, 2000 Seite 2 Es war wieder einmal einer dieser gottverdammten Tage, an denen man sich die Griffel abfror. Noch diese letzte Steigung und dann ging es endlich bergab. Im Winter war alles tot, vor allem aber dunkel und da ich immer noch keine Fahrradbeleuchtung hatte, hatte ich manchmal Angst, obwohl der Klugscheißer Tony, wenn Besuch zu uns kam nannten ihn meine Eltern meinen großen Bruder, mich jedes Mal ermahnte, „...weißt Du eigentlich wie gefährlich das ist?“, jeder der einen großen Bruder hatte, kennt wahrscheinlich schon die verkratze Platte, die wohl keiner noch einmal hören möchte. Nicht etwa, dass ich Angst vor irgendwelchen Aliens, die mir nachts in den wildesten Träumen begegneten, sondern Angst davor, das eventuell ein Baum umgefallen war, das passierte hier im tiefen Schwarzwald öfters, ich ihn zu spät erkennen und mir daraufhin alle Knochen brechen würde. Na bitte, es ging bergab. Ich sah von weitem wie gerade der Schulbus anhielt, die ersten Chaoten stiegen schon aus, unter anderem auch Peggy, sie war zwar vier Jahre älter als ich, aber hatte richtig geile Titten. Ihre Brüste waren so spitz, dass sie selbst ohne Büstenhalter jedem stolz mit der ungebändigten Aufforderung „bitte fummeln“ entgegentrotzten. Sie und Andere galt es nun zu beeindrucken, dass ich mit dem Fahrrad weitaus schneller war, als dieser versiffte Schulbus, in dem man sowieso nur einstieg, weil man dort die jüngeren Seite 3 Nachbarskinder verprügeln konnte, Andere meist mitmachten und so die Schuld auf Mehrere verteilt war. Das war unheimlich praktisch, denn wenn die Eltern der Nachbarn zu den Meinen kamen, konnte ich immer sagen der und der waren aber auch dabei und haben eigentlich angefangen. Ich frage mich bis heute noch, ob meine Eltern mir wirklich abgekauft hatten, dass immer die Anderen die Schuld hatten. Nun galt es aber die Gruppe von „Aussteigern“ rasant mit meinem Rad zu überholen. So kam es auch, wenn nicht dieser blöde Depp von Oskar gewesen wäre, der immer was zu sagen hatte, „..na Lenny willst Du uns etwas beweisen?“, schrie er mir hinterher. Blödes Arschloch, ich glaube Peggy hat es auch gehört, aber wahrscheinlich nicht weiter darüber nachgedacht, denn sie unterhielt sich gerade mit Dennis, einem Typ übersäht mit eitrigen Pickeln, die ich am liebsten höchstpersönlich ausgedrückt hätte, indem ich mit jedem Faustschlag durch den anfallenden Druck den Eiter zum Platzen brächte und das Pickel für Pickel. Auch hatte er eine fürchterlich lange Nase, die wahrscheinlich als Rutschbahn für den anfallenden Stirnschweiß beim Anblick von Peggys Titten diente. Eigentlich brauchte ich mich erst gar nicht aufzuregen, denn sie war ja älter und weitaus schöner als ich. Meine Chancen standen Seite 4 also eins zu einer Millionen. Dennoch eine Chance hatte ich und damals glaubte ich noch an Wunder. In weit ausgeholtem Bogen nahm ich die anstehende Kurve, um mein Rad am überdachten Stellplatz abzustellen. Ich hatte einen Zahlencode am Schloss und meine Griffel waren so durchgefroren, dass mir die Anreihung der richtigen Zahlen schwer fiel. Ich hätte es mir mit größter Wahrscheinlichkeit mit Handschuhen leichter gemacht, aber das war für mein Empfinden ziemlich uncool und mein Motto lautete schon damals: „Was Dich nicht umbringt, härtet Dich ab.“ Langsam schlurfte ich über den Hof, so dass die Truppe der Busfahrenden noch hinter mir ging. Durch die Tür und runter zu den Schließfächern, kein schlechter Service, aber das kann man ja auch von einer Anstalt wie dieser verlangen. Mein Schließfach war immer vollgestopft, denn ich nahm nur selten ein Schulbuch mit nach Hause, wozu auch, das wäre doch nur unnötiger und zudem schwerer Ballast auf der alltäglichen Heimfahrt gewesen. Auf der Türinnenseite las ich den heutigen Stundenplan ab, um die dazugehörigen Schulbücher Widerwillen mitzunehmen, doch schweifte mein Blick meist etliche Zentimeter tiefer, wo ich ein Poster von Samanta Fox befestigt hatte, das war damals die Sexbombe mit Riesentitten schlechthin, also noch größer als die von Peggy, leider nicht splitternackt, denn das war erstens unheimlich schwierig zu Seite 5 besorgen, und zweitens hätte mir das zu viel Ärger bei meinem Schuldirektor gekostet, dem Herr Auer, einem altem Sack mit langem weißen Bart, dessen einzige Lebensaufgabe war, eine artengerechte Haltung von Flöhen und Zecken zu gewährleisten, aufgrund der Tatsache, dass die Essensreste noch an seinem Bart baumelten und bei Dunkelheit wahrscheinlich die Viecher aus dem Inneren des Bartes und aus seiner Nase sich an die Leckerbissen heranmachen konnten, dabei versehentlich aber jedes Mal ein Stückchen von seinem Bart abbissen, was den unregelmäßigen Verlauf seines Wuchses erklärte. Schon oft wurde ich in seinem Büro „eingeladen“, weigerte mich aber stets entschlossen durch die Nase zu atmen, um mir noch ein bisschen Lebensglück zu bewahren. Florian, mein schlauester Mitschüler, ein Indiz dafür war zumindest, dass er eine Brille trug, nannte ihn immer Marx. Mit dem Unterschied, dass Marx wenigstens tot war, was man von unserem Direktor nicht gerade behaupten konnte. Beim Zuschlagen der Schließfachtür wurde ich von Oskar, der fetten Sau überrascht. Eigentlich war er ein guter Kumpel, aber er hatte mich einmal schwer enttäuscht. Ich hatte ihn mal zu meiner Geburtstagsparty eingeladen, als wir noch zur Grundschule gingen, und als sein Geburtstag war, lud er mich nicht ein. Das habe ich ihm bis heute nicht verziehen, obwohl wir damals erst elf Jahre alt waren. Seite 6 „Na Lenny warst Du schneller als der Bus?“, grinste er höhnisch, hätte ich doch bloß einen Vorschlaghammer gehabt. „Warum hältst Du nicht einfach Dein Maul?“ „Hast Du Deine Hausaufgaben gemacht? Du weißt doch, dass Du der Liebling von der Kollwitz bist?“. Die Kollwitz. Die alte Jungfer. Eine Zicke die so sehr schielte, dass sie immer zwei Leute gleichzeitig beobachten konnte. Wenn sie eine Frage stellte, musste sie den Namen immer dazu sagen, sonst bekam sie zwei Antworten, außer von mir, da bekam sie außer ein automatisiertes Achselzucken wenig zu sehen. Das alte Weib schaute mich immer so an, als sei ich ein wildes Reh, das gerade vom Jäger angeschossen wurde und mit flehendem Blick um einen Gnadenschuss winselte und sie nicht wusste ob sie nun abdrücken sollte, oder nicht. Das lag wahrscheinlich Zusammenfassung daran, über eine dass wir einmal Kurzgeschichte eine schreiben mussten, da ich aber nicht zugehört hatte, kannte ich auch diese Geschichte nicht. Ich war schon ganz traurig, dass ich wieder einmal eine lebensnotwendige Anekdote verpasst hatte, also tat ich so als würde ich eifrig schreiben, schrieb meinen Namen in Schönschrift nieder, als mein Nebensitzer Gerd, äußerlich war er sehr schüchtern, psychisch aber musste sich wahrscheinlich selbst Stephen King in Acht vor ihn nehmen, ein Herz um meinen Namen malte und schrieb: Seite 7 „ + Horst“ Ich schmunzelte bloß und dachte, wie kann man nur einen so bescheuerten und abgründigen Namen wie den haben. Doch mein Schmunzeln verriet mich und schon kam die alte Zicke auf mich zu. „Lenny, wie weit bist Du denn schon?“, ich spürte, wie Gerd sich schwer zusammenreißen musste, um nicht in schallendes Gelächter zu fallen, meine Birne hingegen lief rot an und alles was mir einfiel war, meinen Ellenbogen auf das Papier gegen den Tisch zu drücken, denn sie hatte schon bereits die Ecke an ihren krummen Fingern und zerrte daran, bis ich schließlich nachgeben musste. Sie blickte auf das Papier. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, aber als das Blatt langsam sank, ihr verstörtes Schielen mich anstarrte und aus Ihren Lippen fiel: „ ...wer ist denn Horst?“, wurde mir ganz schön mulmig zumute. Sie wusste ja nicht, ob das nun Spaß oder Ernst war, legte das Blatt nieder, verfolgte weiter Ihren Unterricht, war aber dennoch bis zum Ende der Stunde sehr verstört. Die arme Alte. Wahrscheinlich glaubte sie wirklich, ich hätte Liebeskummer mit Horst. Wahrscheinlich erzählte sie im Lehrerzimmer, dass ich in Horst, den keiner kannte, verliebt war und deswegen auch immer so schlechte Noten mit nach Hause bringen musste, denn mein Liebeskummer musste doch schließlich unendlich groß sein. Seite 8 Es war gerade einmal sieben Uhr dreißig und dann musste man sich so eine Zicke reinziehen. Gemeinsam gingen wir zu unserem Klassenraum. Dabei stellte ich mir vor, den Oskar vor mir her zu rollen, denn sein Übergewicht nahm von Tag zu Tag bedrohlich zu. Aber wahrscheinlich würde ich ihn lieber vor mir her treten. Vor dem Klassenraum war schon die ganze Mannschaft versammelt. Der Klassenraum war abgeschlossen und wir mussten wie jeden Morgen auf die Zicke warten. Da kam sie auch schon angehumpelt. Sie hatte einst einen schweren Autounfall, sagte man zumindest. Vielleicht aber humpelte sie bloß, um Mitleid bei den Männern zu erregen, um doch noch einen abzukriegen. Andere Erfolgsmethoden konnte ich mir bei der nun wirklich nicht erklären. Sie begann ihren Unterricht und ich wusste, der Tag war gelaufen, zumindest für den Rest des Morgens. Endlich, das Klingeln der Schule ertönte und schallte noch lange in mir weiter, denn das war das Zeichen, der himmlische, dankbare Hinweis, nun nach Hause gehen zu dürfen. Schnell machte ich mich auf die Socken, um wieder früher als der Bus zu Hause anzukommen. Ich durfte keine Zeit mit unnötigen Gesprächen verlieren, der Zahlencode musste auf Anhieb stimmen und der Start musste erfolgreich beginnen, sonst wäre es zu knapp gewesen, den Bus zu übertrumpfen und es war stets mein eigener Ehrgeiz schneller Seite 9 zu sein als der Bus. Oft hatte ich das Gefühl, dass mein größter Feind in mir selbst steckte, ich ständig beweisen musste stärker zu sein als er. Natürlich und wie so oft gelang es mir auch diesmal. Garage auf, Rad rein, Garage zu. In unserem Haus, eigentlich war es gar nicht unser Haus, sondern das meiner Eltern, angekommen, begrüßte mich meine Mutter. Sie zu beschreiben war äußerst schwierig, denn meist sah ich sie nur von hinten. Beim Kochen, beim Abspülen, beim Wäsche waschen, beim Boden Schrubben. Ach, da kam mir auch schon mein Bruder Tony, dieser unterentwickelte Yeti, das noch in der präpubertären Phase steckengeblieben war, entgegen. Seine Haare waren so lang und fusselig, dass es schwierig war zu bestimmen, wo vorne und wo hinten war, ich ging zumindest davon aus, dass es das gab. „Hi!“ „Mmmhh.“ Mehr war auch selten aus ihm herauszubekommen. Seltsamerweise behielt er das meiste für sich. Aber ich war im Prinzip auch nicht viel besser. Ich ging gleich auf mein Zimmer, schmiss den Computer an und spielte wie so oft „Universal Man“. In dem Spiel ging es darum, die blöden angreifenden Außerirdischen abzuknallen. Zugegeben, es war ein stupides Spiel, doch ich stellte mir immer wieder vor, es Seite 10 seien meine Lehrer, gefolgt von ihrem Oberhäuptling Auer, der leider immer noch dem Kampf gegen Flöhen und Zecken standhielt. Gewonnen hatte ich bei diesem Spiel nie, wie sollte es auch anders sein, in der Realität war es doch auch nicht besser. Die Tür ging auf, Tony spähte zwischen seinem fettigen Haarvorhang durch. „Essen kommen.“ „Hey, das Yeti beherrscht unsere Sprache.“ „Wie war das?“, er hob die Faust, wahrscheinlich ein Zeichen der Ermahnung. „Ich wollte nur wissen, wie Du das machst, dass alle Frauen auf Dich stehen.“ Er grinste und fing an, „Also, das ist so...“ Ich schnellte an ihn vorbei und rannte die Treppen hoch. Am Tisch angekommen triumphierte ich: „Erster!“ Mein Vater saß schon am Tisch, zumindest nahm ich das an, denn meist waren nur seine Hände zu sehen, die versuchten die Tageszeitung so zu halten, dass man ihn nicht mehr sehen konnte. „Ja, ja wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ So, so dachte ich mir, das war ja klar, dass irgendeine Bemerkung kommen musste, es hätte ja sonst auch etwas Seite 11 gefehlt. Alltäglichen Fragen konnte ich mich auch heute nicht entziehen. „Wie läuft es in der Schule?“ „Ich weiß auch nicht, ich bin eingeschlafen, aber glücklicherweise wurde eine Klingel installiert, um mich am Ende des Unterrichts zu wecken.“ Die Zeitung senkte sich und ein nicht gerade einladendes Gesicht warnte mich mit folgenden Worten: „Hör mal zu Junge,“, wenn man zuhören musste, so war das in der Regel ein schlechtes Zeichen, „ wenn Du glaubst der Stärkere zu sein, beenden wir gleich das Spiel. Wenn Du dieses Jahr wieder sitzen bleibst, verschenke ich Deinen Computer an den Heiner, ..klar?“ Ach du Scheiße, der Junge von nebenan, ein inzüchtiger Mutant mit einer typischen, saublöden Dorffresse. Das Dumme war wirklich, dass mein Vater immer genau wusste, wie er mich rankriegen konnte. Ob das wohl an den Genen lag? In der Schule hatten wir mal gelernt, dass sich Gene weitervererben und die sich auf das Aussehen und auf den Charakter bemerkbar machen. Das würde aber heißen, dass ich eines Tages meinem Vater ähnlich wäre. Mir blieb nur die Hoffnung, dass der Postmann nicht nur für die Post zuständig war, sonst wären eventuelle Ähnlichkeiten, welcher Art auch immer, nicht auszuschließen. Andererseits, wenn ich aber an Seite 12 unseren Postmann dachte, wusste ich nicht genau was schlimmer wäre. Ich gewöhnte mir an, immer den Mund voll zu stopfen, denn mit vollem Mund durfte ja nicht geredet werden, somit konnte ich jeglichen Fragen, die meist unangenehm waren, ausweichen. Besonders störten mich Fragen wie: „ Hast Du eigentlich schon eine Freundin?“ Was sollte ich darauf antworten, wenn ich eine hätte, wäre ich doch wohl nicht hier, oder? Abgesehen davon, was wissen „die“ denn schon von Gefühlen, außer den Noten und den lebenswichtigen Informationen wie zum Beispiel: „Weißt Du, wen ich heute gesehen habe?“, kannten die doch sowieso nichts. Mein Bruder grinste dann immer nur. In einem James Bond Film hatte ich einmal gesehen, wie Mr. Bond einen Schuh hatte, wo man an der Schuhspitze eine Stahlnadel ausfahren konnte. Die hätte ich am Tisch häufig gebrauchen können, schließlich saß mir mein Bruder täglich gegenüber. Oder ich hätte den großen „Beißer“ gebrauchen können, den zwei Meter zwanzig großen Mann, mit seinen riesigen Stahlzähnen, der auf ein abgesprochenes Zeichen jedem eins in die Fresse haute. Das hätte mir viel Ärger und Nerven erspart. Vor allem aber wäre das in Schule eine praktische Hilfe gewesen, bei den Klausuren, beim Morgenschlaf, mit dem Kopf auf der Schulbank, womöglich Seite 13 rührt daher meine heute fliehende Stirn, beim Anbaggern von Mädchen und beim Bäcker auf dem Schulhof, wo sich ständig Typen aus höheren Klassen vordrängten. Stattdessen aber hatte ihn so ein Typ, null null sieben, der immer alle Frauen rum bekam, nur weil er so charmant lächelte. Bei mir klappte das nie, auch wenn ich schon viele Nachmittage vor dem Spiegel geübt hatte. Doch im Schulbus drehten sich entweder die Mädchen weg, oder streckten mir die Zunge raus, die meist gelb oder violett war, vom vielen Lutschen der Bonbons. Das Essen bei uns verlief meistens schneller, als der alltägliche Streit nach dem Essen, wenn es darum ging, ob mein Bruder mit dem Abräumen vom Tisch an der Reihe war, oder ich. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht hatte, aber häufig blieb die Arbeit an mir kleben. Im Prinzip war mir das aber auch egal, denn ich hatte im Fernsehen gesehen, dass die Leute im Gefängnis auch arbeiten mussten. Ich hatte also dieselbe Strafe. Am schlimmsten aber war, das alltägliche Aufstehen um sechs Uhr dreißig. Ich fühlte mich jeden Morgen wie ein neugeborenes Kätzchen, das eine Woche brauchte, seine verschleimten Augen zu öffnen, um zu sehen was hier eigentlich abging. Mit Freunden hatten wir uns schon häufig gefragt, wer eigentlich der Erfinder der Schule war. Wir waren uns nach wochenlangen Diskussionen, mit häufigen Prügeleinlagen einig, dass es sich um eine Erfinderin handeln Seite 14 musste. Die Frauen hatten sich gedacht, warum diese Bälge schon am Morgen zu Hause haben? Wir schicken sie an einem Ort, wo frustrierte, unverheiratete Frauen und Männer versuchen können, Ihnen Lebensweisheiten zu vermitteln, weil sie es selber nicht geschafft hatten, ihr Leben vernünftig auf die Reihe zu bekommen. Einige hatten diese Strafe sicherlich verdient, aber warum zum Teufel gerade ich? Ich hatte mich mit Oskar am Nachmittag verabredet. Oskars Vater war ein echter Schwabe. Er sprach den schwäbischen Dialekt so extrem, dass Oskar immer simultan übersetzen musste, damit ich ihn überhaupt verstand. Allzu Interessantes hatte sein Vater nie zu erzählen. Zudem war er auch noch schwerhörig, weshalb man sich immer die Kehle aus dem Hals schreien musste, damit man wiederum eine Antwort bekam, die sowieso keiner verstand, geschweige denn interessierte. Seine zwei Brüder waren, wie sollte es auch anders sein, genauso fett wie Oskar. Also gab es doch so etwas wie eine genetische Veranlagung. Wahrscheinlich mussten seine Großeltern fette Schweine gewesen sein, denn seine Eltern waren normal gebaut. Oder waren das adoptierte Kinder. Besser ich fragte erst nicht. Oskar stand an der Tür mit seinem breiten Grinsen: „Hast Du die Diskette dabei?“ Seite 15 „Glaubst Du etwa ich bin so dumm wie Deine Brüder?“, ich hatte ihm ein neues Computerspiel mitgebracht. „Ne, dümmer geht’s doch kaum. Komm rein jetzt.“ Er holte tief Luft: „Pass mal auf, ich muss Dir etwas zeigen.“, er klang irgendwie geheimnisvoll. „Was heißt da etwas?“ „Pst, nicht so laut!“, er schloss die Zimmertür, begab sich an seinen Computer und drückte auf die eine Taste. Sein Drucker sprang an und fing sofort an zu knattern. Er hatte einen vierundzwanzig Nadel Drucker, das war damals so ziemlich das Beste was man bekommen konnte - sein ganzer Stolz. Wir starrten beide wie blöde auf seinen Drucker. „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“ „Jetzt warte es doch mal ab. Meine Fresse, diese Jugend, immer so ungeduldig!“, wie zwei versteinerte Statuen standen wir gebückt vor dem Apparat. Das erste Viertel der Seite war schon fertig, als ich langsam zu meinem Entsetzen erkannte, was das war. „Bist Du verrückt? Schalt die Kiste ab! Wenn Deine Mutter reinkommt, dann sind wir dran.“ „Jetzt bleib cool Mann, wenn Du so weiter grölst, kommt sie wirklich.“ Er stellte sich schützend vor den Drucker, für den Fall das seine Mutter wirklich reinkam. Was da zu sehen war, Seite 16 war eine komplett nackte Frau, und wenn ich nackt sagte, dann meinte ich auch nackt. Also nicht irgendwie mit Wonderbra oder sonstigem Fummel, sondern einfach nur nackt. Die alte Drecksau. Ich fragte mich immer, wie kam er bloß an solche Sachen ran? Mir gelang das nie, obwohl ich es mir so oft wünschte. Gespannt beobachteten wir den weiteren Verlauf des Ausdrucks. Fertig. Ratsch. Er zog das noch feuchte Papier heraus und hielt es stolz in die Höhe. „Jetzt bist Du platt, hä!“ „Boah, die ist ja echt megageil!“, eifersüchtig war ich ja schon ein bisschen. Wenn ich einen Drucker gehabt hätte und dazu noch einen so guten, so wäre mir das auch gelungen. Er legte das Blatt auf den Schreibtisch, wir setzten uns beide und betrachteten das Bild. Es herrschte minutenlange Stille. Ich vermute mal, dass er so ziemlich das gleiche dachte wie ich. Die Tür ging auf, panisches Gerücke der Stühle und Oskar ließ das Blatt in Windeseile in seinen Schulranzen verschwinden. Seine Mutter trat ein: „Hallo Lenny, wie geht es Dir?“, sie hielt mir Ihre Hand entgegen. „Ja ganz gut, wir waren gerade beim Lernen.“, unsere Hände schüttelten sich. Oskars Kopf war schon vor lauter Röte Seite 17 geschwollen, ich versuchte cool zu bleiben und konzentrierte nun meinen Blick hypnotisierend auf meine Schuhe. „Wollt ihr etwas zu trinken?“ „Nein, wollen wir nicht!“, er schoss die Antwort so hinaus, dass jeder Depp erkannt haben musste, dass wir etwas zu verbergen hatten. „Naja, ich will euch ja nicht stören“, sie schüttelte lachend den Kopf, drehte sich um und verließ das Zimmer. Wenn wir beim Ausatmen das Luftvolumen gemessen hätten, so hätten wir wahrscheinlich eine zehnköpfige U-Boot Truppe eine Woche lang mit Sauerstoff versorgen können. „Scheiße Du, das war echt knapp.“, flüsterte er. Ich versuchte nur meine Kopftemperatur zu drosseln. „Du Arsch, ich hab’s Dir doch gesagt!“ Wir dachten beide nach und versuchten uns zu beruhigen. „Wenn wir jetzt gleich aus dem Zimmer gehen, so wäre das wahrscheinlich auffällig, und sie würde merken, dass wir gar keine Hausaufgaben machen.“, schlussfolgerte er. „Also wenn Du mich fragst, dann steht sie hinter der Tür und lauscht, was wir zu verbergen haben.“, ich bewegte mich leise zur Tür und versuchte an der Tür zu horchen, ob da nicht vielleicht irgendetwas Auffälliges war. Aber da war nichts. Also warteten wir eine gute halbe Stunde. Seite 18 Das Bild übrigens wagten wir nicht mehr rauszuholen. Es war besser zu warten, bis Gras über die Sache gewachsen war. Ich wollte jetzt nur noch nach Hause. Er begleitete mich bis zur Haustür und ich betete nur, dass mir nicht seine Mutter über den Weg laufen würde. An meinem Rad angekommen, strampelte ich wie ein Idiot nach Hause. Ich dachte nach. Vielleicht hatte sie schon meine Eltern angerufen, um ihnen mitzuteilen, dass irgendetwas im Gange war. Ich fuhr langsamer. Vielleicht warteten sie jetzt hinter der Haustür. Vielleicht bekam ich dieses Mal richtig Ärger. Ich stellte mein Fahrrad in die Garage. Verdammt, der Wagen von meinem Vater stand schon da. Die Motorhaube war auch noch ganz warm. Womöglich hatte sie meinen Vater im Büro angerufen und er ist schnell nach Hause gefahren. Wie sollte ich ihm das bloß erklären? An der Haustüre ließ ich die Schlüssel langsam in das Schlüsselloch gleiten und wartete, dass die Türklinge nach unten schnellte, die Tür aufging, meine Eltern mit grimmiger Fresse vor mir standen. Ich wartete. Nichts. Ich drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Keiner da. Ich merkte schon, die wollten mich also ins Messer laufen lassen. Ich zog meine Schuhe aus. Eintritt ins Wohnzimmer. „Hallo.“ Meine Mutter war in der Küche und hörte nichts, mein Vater saß wie immer auf seinem Sessel und hatte seine Kopfhörer Seite 19 auf, um in Ruhe Fußball zu schauen. Ich winkte, „Hallo“. Mein Vater nickte mit dem Kopf und hob die Hand. Das war seine allgemein bekannte und wohlwollende Begrüßung. Schien wohl alles im grünen Bereich zu sein. Ich ging sehr früh ins Bett und blieb noch lange Zeit wach, doch es kam keiner in mein Zimmer, um mit mir über die „Sache“ zu reden. Es gab also mehrere Möglichkeiten. Es war ihnen peinlich darüber zu reden. Sie hatten gar keine Lust darüber zu reden. Sie wollten bis morgen damit warten. Sie hatten womöglich meinen Direktor angerufen, damit er mit mir darüber redet sollte. Oder aber, Oskars Mutter hatte nicht angerufen. Das würde aber heißen, dass Oskar jetzt den ganzen Ärger bekam. Naja, schließlich war es ja auch seine Idee. Was kann ich denn dafür, wenn Oskar nackte Weiber ausdruckte. Ich hatte doch mit der Sache nichts zu tun. Das war das letzte Mal, dass ich zu ihm hingehen würde. Doch das hatte ich mir schon oft geschworen. Dann schlief ich ein. „Lenny, aufstehen!“, ich hoffte, dass das eine Stimme aus einem tiefen Alptraum war, der gleich zu Ende ging. „Es ist sechs Uhr dreißig, Du kommst noch zu spät!“, meine Mutter zog mir skrupellos meine Decke weg. Die eisige Kälte Seite 20 machte sich bis in meinen Zehen bemerkbar. Das war verdammt unangenehm. Hätte das Fernsehen eine Rolle für eine gnadenlose Folterin gesucht, so hätte ich als erstes meine Mutter hingeschickt. Sie ging gleich ebenso entschlossen auf das Zimmer meines Bruders zu: „Tony, steh endlich auf.“ Sie riss die Rolläden auf und öffnete das Fenster. Mein Bruder war etwas älter und somit wurden die Foltermethoden mit zunehmendem Alter brutaler und hemmungsloser. Die Kälte zog in seinem Zimmer so schnell ein, dass er wie von einer Tarantel gestochen aufsprang, um das Fenster wieder zu schließen. Mit dieser hinterhältigen Taktik brachte man jeden in Sekundenschnelle zum Aufstehen. Mein Bruder war dann meist eifersüchtig auf mich, dass sie mit mir sanfter umging, kam in seinem Pyjama zu mir rüber und riss auch mein Fenster auf, doch meist schaffte ich es meine Tür vorher zuzuschließen. Wir drückten dann meist wie blöde gegen die Tür um zu sehen, wer der Stärkere war, er wollte es einfach nicht wahrhaben, dass ich der Stärkere war, weshalb ich es ihm jeden Tag neu beweisen musste. Doch unser Ächzen und Stöhnen war meist so laut, dass schon von oben die brüllenden Schreie von meinem Vater im Haus schallten. Dann schlich mein Bruder schnell wieder in sein Zimmer, ich machte sanft die Türe auf, und wir zogen uns schnell an. Denn eine Seite 21 zweite Ermahnung gab es selten. Mein Vater war das lebendige Beispiel dafür, dass die Regel, dass bellende Hunde nicht beißen würden, nicht stimmte. Im Klartext: Er kam die Treppen heruntergerast, und es gab eins auf die Löffel. Ich glaubte nicht, dass irgendjemand so seinen Tag beginnen wollte. Ich verstand dennoch nicht, worin der Sinn lag, die Schule so früh zu beginnen, wo man sich doch noch in einem völlig unzurechnungsfähigen Zustand befand. Aber ich merkte schon, in diesem Leben ging es nicht darum Fragen zu stellen, sondern Fragen zu beantworten. Mein Bruder und ich frühstückten in der Regel zu zweit, denn meine Mutter war eine Frühaufsteherin, und mein Vater aß nicht am Morgen, wahrscheinlich war auch ihm von der morgendlichen Folter meiner Mutter schlecht. Die allgemeine Frühstücksregel lautete, wer als letzter am Tisch saß, hatte abzuräumen. Da mein Bruder und ich zur gleichen Zeit am Tisch saßen, musste immer so gehandelt werden, dass man wenn es darauf ankam, blitzschnell reagieren konnte, indem man aufstand und „Erster“ grölte. Damit war der Gegner kampfunfähig gemacht worden und das hinterlistige Gefühl der Schadenfreude hielt noch lange an. Beim Frühstücken trafen sich häufig unsere Blicke, wie in einem Wildwestfilm, wo sich zwei Cowboys gegenüber standen, um den Anderen zu erledigen. Jeder achtete darauf, wie viel Milch und Cornflakes Seite 22 noch in seiner Schüssel waren, um so zu kombinieren, wie viel Zeit der Andere noch in Anspruch nahm. Doch konnte auch geblufft werden. Man konnte die Schüssel noch halbvoll haben, aber dennoch aufstehen und den Rest im Stehen in der Küche schlürfen. Das machte die Sache natürlich noch spannender. Heute gewann ich und das traf sich gut, denn ich traf mich um sieben Uhr unten an der Straße mit Oskar, um gemeinsam mit ihm in die Schule zu fahren. Mein Bruder nahm häufig den Bus, denn er ging auf eine andere Schule, die etwas weiter weg lag. Oskar wartete schon ungeduldig auf seinem Rad und hielt seine Hände zwischen die Beine. Wahrscheinlich fror er sich gerade die Eier ab, vorausgesetzt er hatte welche. Wir fuhren los. Keiner von uns wagte auf der Fahrt auch nur ein Wort über das gestrige Ereignis zu verlieren. Das war auch besser so und ich hoffte, dass er daraus gelernt hatte. Jeder konzentrierte sich im Wesentlichen darauf, die Kontrolle über seine Kondition zu bewahren, denn schon früh steckte der Eroberungsgeist in uns Männern. Das war ja schließlich auch normal, denn irgendjemand musste ja den Mädchen zeigen wo es lang ging. Aber seltsamerweise bekamen die Mädchen meist die besseren Noten in den Klausuren. Vor allem von Lehrerinnen. Wahrscheinlich hielten Frauen zusammen und wollten nicht ihre Schwächen Seite 23 wahrhaben. Wir zeigten uns meist kulant und gönnten ihnen dieses kleine, wenn auch kurz anhaltende Vergnügen. Ausgesprochen schlecht war es, wenn einer von uns nicht mehr konnte, nur noch so auf seinem Rad röchelte, wenn es steil bergauf ging und der Andere dann fragte, „Geht es noch, oder soll ich warten?“, man entschlossen mit dem Kopf schüttelte und schweren Atems stöhnte, „Es geht schon.“, man sich aber schwer beherrschen musste, um nicht zu hecheln wie ein in der Wüste laufender Hund mit langen, pelzigen Haaren. Laber, laber, laber. Glücklicherweise saßen wir in der letzten Reihe und das betörende Gelaber von unserem Lehrer wurde weitgehend vom Teppich gedämpft. Gerd saß neben mir, mit verschlafenen Augen, er hatte wieder einmal die halbe Nacht am Computer gesessen und versucht seine Bestleistung in „Universal Man“ zu übertrumpfen. Unsere größte Beschäftigung war es, unter den Büchern und Schulheften mit der Zirkelspitze ein Loch in den Tisch zu bohren, ohne dass der oder die Lehrerin, Geschlechtsunterschied, doch es in gab ihrer zwar einen verzweifelten pädagogischen Art waren sie alle gleich, es bemerkte. Wir nannten es Ölbohrungen und nach jeder Stunde nahm Oskar Maß von der Tiefe der Bohrung, meist waren es nur wenige Millimeter, doch das war eine ganz schön mühselige Arbeit. Seite 24 Wir waren uns natürlich im Klaren darüber, dass wir nie auf Öl stoßen würden, doch unter diesem Aspekt war es viel lustiger. Ich bemerkte die genervten Blicke unseres Mathematiklehrers, Herr Grausam, der hieß wirklich so, ein Öko-Typ, erkennbar an seinen Birkenstock-Latschen, auch wenn es noch so kalt war, sie waren unentbehrlich, die auf Gerd gerichtet waren und ich blickte unschuldig auf die Tafel, runzelte die Stirn, als würde ich gerade nachdenken. „Gerhard, kannst Du bitte einmal meinen letzten Satz wiederholen?“ Wir hatten in Deutsch gelernt, dass dies eine rhetorische Frage war. Das war eine Frage, wo man die Antwort schon von vornherein kannte. Warum zum Teufel stellte er sie also? Au Backe. Gerd hatte nicht einmal bemerkt, dass er angesprochen wurde. Ich stieß ihn mit meinem Ellenbogen in die Rippen. Er blickte verstohlen auf mich. Ich wies ihm nur mit einem Kopfnicken nach vorne, da vorne spielte die Musik! Er hatte es begriffen. Im Begreifen waren wir immer gut. Er lächelte den Lehrer an. „Ja bitte?“, fragte Gerd freundlich. Die ganze Klasse lachte, ich auch. Herr Grausam winkte verachtend ab, kehrte uns den Rücken zu und schrieb auf seiner geliebten Tafel weiter. Wenn einer seit über zwanzig Jahren jedes verfluchte Jahr ein und dasselbe an die Tafel schrieb, dann war ja wohl die logische Seite 25 Schlussfolgerung, dass man früher oder später kommunikationsunfähig werden musste. Das war wohl der Preis, den man als Lehrer zu zahlen hatte. Jeder, der am Anfang diesen Beruf ausübte, dachte wohl, soweit würde es nicht mit ihm kommen. Doch alle täuschten sich, vorausgesetzt sie gingen in Frührente und kratzten dann doch noch die Kurve. Das war das allgemeine Schicksal dieser Anstalt und wer als Schüler nicht aufpasste, endete genauso. Da hatten wir zum Beispiel einen ganz schwierigen Fall in unserer Klasse. Birgit. Ein Mädchen. Klein, dick, hässlich, dumm und unfruchtbar. Sie machte immer alle Hausaufgaben, zog sich immer adrett an, widersprach nie, versuchte immer das Leid anderer hilflosen Menschen zu verstehen, das Synonym von Mutter Theresa schlechthin. Mit dem Unterschied, dass sie nicht half, sondern schadete, denn jeder von uns bekam Magengeschwüre mit sofortiger Wirkung, wenn sie nur das Maul aufmachte. Sie sabbelte wie eine Lehrerin, war aber so alt wie wir und ihre Eltern übten seltsamerweise einen normalen Beruf aus. Vielleicht lebte sie in der Nähe eines Atomkraftwerks. Ich hatte mal gehört, dass das große Schäden am Menschen heraufbeschwören kann. Nichtsdestotrotz, hatte es Gerd wieder einmal beim Grausam verschissen. Auf Einmal mehr oder weniger kam es sowieso nicht mehr an. Ich glaubte, die ganze hintere Reihe hatte Seite 26 verschissen. Das war unser Ruf und auf den waren wir auch stolz. Am Ende der Stunde, als der Grausam das Zimmer verließ, natürlich nicht ohne eine gehörige Portion Hausaufgaben, alter Sadist, maß Oskar unsere Lochtiefen. Es waren schon vier Millimeter. Die Tischplatte hatte eine Dicke von zwei Zentimetern. Mir fehlten also nur noch eins Komma sieben Zentimeter. Oder so. Auf jeden Fall nicht mehr viel. Ist ja auch egal. In der nächsten Stunde hatten wir Biologie. „Bios“ hieß so viel wie leben und „Logie“ so viel wie Logik. Wenn Bios also logisch war, warum musste es dann noch gesagt werden. Das war doch völlig unlogisch. Es hätte also eher Bio-a-logis heißen müssen, weil wenn alles logisch wäre, wozu hätten wir dann noch den ganzen Kram lernen müssen. Aber ich merkte schon, bei besonders langweiligen Themen versuchte man immer entweder unaussprechliche Namen zu geben, wie zum Beispiel Wurzelfunktion, beim genaueren Betrachten, erkannte man keine Wurzeln, sondern eher einen Kotflügel von einem Sportwagen, oder man sagte es in einer Fremdsprache, die schon längst ausgestorben war, lateinisch, ora et la boa. Ora ist die Zeit und Boa die Schlange. Sinnesgemäß ergab das: Die Stunde der Boa-Schlange hat geschlagen. Also so viel wie: Das Spiel ist aus. Warum also musste alles so kompliziert umschrieben werden, wo doch alles so einfach war? Da kam auch schon unser Biologielehrer Seite 27 rein, oder sollte ich lieber Biologe sagen, aber so wie der stank würde Biotop besser zu ihm passen. Der rauchte so viel, dass seine Haut wie eine mehrmals geteerte Mondlandschaft aussah. Einmal hatten wir bei ihm die Entstehungsgeschichte der Menschheit behandelt, also dass der Mensch vom Affen abstammt und nicht umgekehrt und als er uns den Australupiticus Aferensis Schädelmerkmale erklärte, Unterkiefer, nach die vorstellte, der hinten seine große typischen vorgeschobene fliehende Stirn, die breitgeschlagene Nase eines Boxers und der krumme Gang, mussten alle lachen. Denn im Prinzip beschrieb er sich selbst. Er brauchte uns nicht einmal ein Dia zu zeigen. Das Lustigste war, dass er sogar mitlachen musste. Das entschuldigte fast alles. Er war echt in Ordnung. Fast alles, weil er mal mitten in seinem Unterricht mit der flachen Hand auf den Tisch haute, ich aufzuckte, ich war gerade erst so schön auf dem Tisch eingeschlafen und er sagte: „Wir sind nicht zum Schlafen hier!“ Mein Ohr pfiff noch den ganzen Tag, denn er hatte sehr heftig auf den Tisch gehauen. Das war aber auch gut so, wenigstens hörte ich dann niemanden mehr, bis auf den blöden Vogel im Ohr natürlich. Bei ihm konnte man aber auch nur schlafen, denn die Tische waren aus Stein, für eventuelle physikalische Experimente, so dass weder Bohrungen, noch Seite 28 Beschmierungen auf den Tischen möglich waren und wenn man den Kopf auf den Tisch legte, so wurde er gut gekühlt. Ich saß ganz hinten und alleine, denn vorne waren schon alle Plätze belegt und schaute meist zu, wie sich die Anderen amüsierten. Was für ein Schauspiel, ein langweiliges dazu. Glücklicherweise hatte ich eine Nagelschere mitgenommen, schnitt mir also sauber die Nägel und feilte sie. Ich überlegte mir, ob ich nicht einfach die Schuhe ausziehen sollte, um mir dann auch noch die Fußnägel zu schneiden, fand aber dann doch auch, dass das wohl zu weit gegangen wäre. Also beließ ich es bei den Fingernägeln, ließ mir aber viel Zeit. Was Peggy jetzt wohl so machte? Vielleicht schlief sie auch gerade auf dem Tisch und ihre Brustspitzen berührten sanft den Tisch, der davon ganz geil würde, ihr Lehrer womöglich auch. Denn jetzt konnte er endlich in ihr Dekolleté reingucken. Zuhause bekamen die Lehrer so etwas bestimmt nicht geboten. Deswegen brachte sie auch immer die Einsen nach Hause. Sie hatte schon die richtige Taktik gefunden. Aber wenn ich Shorts trug und die Lehrerinnen endlich mal Gelegenheit hatten meine tollen Beine anzuschauen, ich weiß das, weil mein Vater immer am Tisch sagte, „Mensch hat die Beine!“, so bekam ich dennoch keine bessere Noten. Die Sonne lachte von draußen und das war die Gelegenheit meine Uhr zu testen. Ich hielt sie in der Sonne und ein Kreis erleuchtete an Seite 29 der Decke. Ich ließ den Kreis langsam bis zur vorderen Wand gleiten, als unser Biologielehrer, Herr Knecht, sich umdrehte um etwas an die Tafel zu schreiben, der Kreis genau um seine Kreidespitze tanzte. Er wartete. Ich auch. Es wurde immer stiller. Er drehte sich plötzlich um. Ich ließ auch plötzlich den Kreis verschwinden. Aber er starrte mich an. Woher wusste er bloß, dass ich das immer war? „Lenny, noch einmal und Du fliegst!“ „Braucht man dafür einen Flugschein, ich bin nämlich noch nicht Achtzehn?“ Ich stand draußen. Ich glaubte, ich war diesmal wieder zu weit gegangen. Es blieben sowieso nur noch zehn Minuten die es zu warten galt. Wenn ich rausflog, was das mit Fliegen zu tun hatte, weiß ich bis heute nicht, ging ich immer den Flur rauf und runter, versuchte mit dem Fuß mittig in die Fliese zu treten und zählte dabei die Anzahl der Fliesen. Das war mühsam, aber eine andere Methode die Zeit totzuschlagen fiel mir nicht ein und ich hoffte, dass wenigstens Oskar Scheiße baute, dass auch er rausflog, so dass mir nicht ganz so langweilig wäre. Doch er flog natürlich nicht raus. Als die Stunde zu Ende war und alle anderen schon das Klassenzimmer verließen, musste ich zu einer Unterredung zum Knecht antanzen. Dann musste ich mahnende und erzieherische Worte über mich ergehen lassen und fertig war das Amen in der Kirche. Ich Seite 30 sollte mir für die nächste Stunde wirklich was Besseres einfallen lassen, damit mir nicht langweilig werden sollte, denn die alte Kollwitz war jetzt dran. Im Flur kam mir Pad entgegen. Ein cooler Typ mit langen Haaren, wir hörten damals die gleiche Musik, das machte ihn zu einem meiner besten Freunden. Wir hegten auch gleich eine neue Taktik aus. Die Stunde begann. Ich starrte auf meine Uhr. Noch fünf Minuten. Vier Minuten. Drei ......Die Tür ging auf. Pad stand an der Türangel und fragte ob ein gewisser Lenny in dieser Klasse anwesend sei, er blickte unschuldig in die Runde. Frau Kollwitz kam schon misstrauisch auf ihn zu. Jetzt musste mein Einsatz kommen. „Pad, Du altes Haus, mein Cousin, was für eine Überraschung!“, ich stand auf, ging auf ihn zu und wir umarmten uns. Er sagte: „Mensch Lenny hast Du Dich aber verändert“ Verdammt die Kollwitz schaute immer noch so misstrauisch. Ich blickte zu ihr und sagte: „Das ist mein Cousin Pad, wir haben uns schon seit Jahren nicht mehr gesehen, kann ich nicht nach Hause gehen?“ Warten. Stille. Sag doch Ja Du Alte Zicke. Ich glaubte sie hatte den Braten gerochen. Sie lehnte diese Art von Schwindel energisch ab, schloss die Tür vor Pads Nase und verwies mich auf meinen Platz zurück. Blödes Rindviech. Dass sie mir aber Seite 31 auch jeden Spaß verderben musste. Immerhin, am Ende der Stunde gab sie mir wenigstens keine Strafarbeiten. Das war auch schon etwas wert. Hätte es geklappt, wäre Pad in seine Klasse gegangen, hätte sich für sein Zu-Spät-Kommen entschuldigt und wir hätten die gleiche Tour noch einmal drehen müssen. Wer weiß, ob das geklappt hätte. Wir zweifelten sehr daran, aber es hatte ja so oder so nicht geklappt. Leider durfte Pad nie mit zu mir nach Hause kommen, denn er wusch sich nicht regelmäßig, trank heimlich Bier und hatte eine ganze Menge Ohrringe. Mein Vater hatte ihn einmal von weitem gesehen und steckte ihn gleich in die Schublade „Abschreckendes Beispiel.“ Seltsam, ich fand ihn ja echt in Ordnung. Eltern hatten ja sowieso seltsame Einstellungen und Weltansichten. Das Erste wonach sie fragten, wenn ich ihnen von einem neuen Freund erzählte war, nicht etwa wie er so drauf wäre, oder wie er aussähe, sondern gleich die ultimative Frage: „ Was machen eigentlich seine Eltern?“ Sie stellten diese Frage auch immer so, als sei sie beiläufig gestellt worden. Dies erkannte man auch an dem „eigentlich“. Was hieß da eigentlich, wolltet ihr es nun genau wissen oder nicht? Ich wusste es sowieso nur selten, aber schon wenige Tage später hatten es meine Eltern irgendwie ausfindig Seite 32 gemacht. Wurde die Frage nicht standesgemäß von mir beantwortet, so lautete die zweite Frage: „Was für ein Auto fährt denn sein Vater?“ Ich dachte anfangs, es sei eine gestörte Verhaltensstruktur meiner Eltern, doch als ich bei einem Freund war und zum zufälligen Abendbrot von dessen Eltern eingeladen wurde, so wurde mir von fremden Eltern, ich meine natürlich noch fremder als die Meinen, was denn Meine so beruflich machten. Ich antwortete meist mit meiner Standartantwort: „Meine Mutter schmeißt den Haushalt und mein Vater ist ihr Chef.“ Dann ließen sie mich auch in Frieden, doch wurde ich dann auch meist nicht mehr eingeladen. Ob diese alte Labertasche Kollwitz wohl Kinder hatte? Wenn ja, so würden die wahrscheinlich nie den Beruf ihrer Mutter erwähnen. Ich stellte mir vor, wie ihr Sohn gerade beim Abendessen gefragt würde: „Was machen Deine Eltern eigentlich beruflich?“. „Ach, die ist tot!“ Meist stellten die Mütter diese Fragen, obwohl sie von den Vätern in die Welt gesetzt wurden. Doch aus einem weiblichen Mund, erwartete man keine üblen Hintergedanken einer Frage. „Also mein Vater ist abgehauen und meine Mutter ist Lehrerin.“ Seite 33 Das eine war die Konsequenz vom Anderen und umgekehrt. Das nannte man in der Mathematik Affinität. Das hieß, dass man aus dem Einen oder Anderen das Eine oder Andere schlussfolgern konnte, ohne das Eine oder Andere, oder das Andere oder Eine, zu kennen und umgekehrt. Alle ließen den Löffel in die Suppe fallen und das einst königliche Abendmahl wurde spontan zu einem Fast-Food umdisponiert. In Falle eines Sohnes einer Lehrerin, vor allem aber einer solchen, wurde man zum Lügner geboren. Das war eine lebensnotwendige Notlüge. Oder man musste die Existenz der Eltern leugnen. Armes Schwein. Naja, vielleicht hat der Mann aber die Kollwitz schon vorher verlassen, also ich meine bevor sie Kinder zur Welt bringen konnte. Wenn es so war, so war das wohl das Beste für alle. Eine Doppelstunde war vorbei, denn die Klingel läutete. Ende der Veranstaltung. In der Regel standen dann alle gleichzeitig auf, bis auf die dumme Birgit natürlich, und alle hatten auch schon ihre Jacken, ihre Handschuhe, ihre Schale an und der Schulranzen war auch schon fertig gepackt. Dann gab es meistens das „Moment bitte“, oder „Ich bin noch nicht fertig“, oder „Das Läuten ist ein Zeichen für mich und nicht für Euch“. Dann mussten wir uns zurücksetzten, die Jacken öffnen, die Schulhefte auf den Tisch legen. Eine Minute Gelaber und Predigt der Götter und die Aufbruchprozedur konnte von Neuem erfolgen. Lehrer Seite 34 vergaßen oft, dass Ludwig XIV. schon lange tot war und dass die Taktik „L´ État c´est moi“ sich nicht bewährt hat. Sollte es also einmal eine Revolution geben, das Beil wäre schon gefeilt und zum Fall bereit, so würden wir sagen: „Moment, Moment. Das Beil sollte doch noch einmal geschärft werden.“ Erst dann würden diese Säcke unser Leid verstehen. Doch dann wäre es zu spät, denn ich glaubte nicht, dass es zu einer Begnadigung gekommen wäre. Und auch dieses Mal kam es wie angesprochen. „Moment.......“ Ich wartete draußen auf Oskar, doch er kam nicht. Gut, dann fuhr ich eben alleine los. Die Wintersonne schien wunderbar und die Heimfahrt durch die herrliche Landschaft waren immer die schönsten Momente an den Tagen, denn das war die Zeit, an denen ich weder mit quälenden Fragen gestört, noch mit unerträglichen Hausaufgaben belästigt wurde. Es war einfach nur schön. Doch diese Momente hielten in der Regel nur sehr kurz an. Deshalb machte ich oft eine Pause, legte mein Fahrrad auf den zerbröckelten Asphaltweg und setzte mich in die Schneewiese um die Sonne und die Natur zu genießen. Im Sommer war das natürlich weitaus genialer, denn da konnte ich mich ins Gras legen, das schon meterhoch gewachsen war, so dass mich keine vorbeigehenden Spaziergänger Seite 35 sehen konnten. Dann zog ich mein vom Radfahren verschwitztes T-Shirt aus und schaute den vorbeiziehenden Wolken im Himmel zu. Oft träumte ich dann davon, dass ich, wenn ich mal groß und stark würde, also ich meine natürlich noch größer und noch stärker als ich es ohnehin war, neben mir eine scharfe Mieze läge, die mir schöne Geschichten erzählen würde, mich mit einem bezaubernden Lächeln besänftigen würde, oder die einfach nur ihren Kopf auf meine starke Brust legen würde und meinen Atem spüren würde. Jemand, der mich verstand, jemand der so fühlte wie ich, so dass ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen könnte, für meinen ganz persönlichen Sonnenschein. Jemand der einfach nur da wäre, wenn man ihn bräuchte. Doch jetzt war die Zeit oder ich wohl nicht reif und welches Mädchen wollte schon mit einem Chaoten wie mir ausgehen. Das war wohl der legendäre Unterschied, zwischen dem Potentiellen und dem Reellen, potentiell war ich ein Held, doch scheiterte ich an der gnadenlosen Realität. So, ich hatte nun aber auch lange genug über diese Welt nachgedacht und es war Zeit die Heimfahrt anzutreten, vorausgesetzt ich suchte Streit mit meinen Mitbewohnern. Ich wünschte mir häufig, ein dickes Fell wie ein Bär zu haben, mit einem so dicken Bauch, dass ich gemütlich in der Schule beim Einschlafen den Kopf auf den Bauch legen könnte. Denn Seite 36 das Phantastische an Bären war, dass sie einen Winterschlaf halten konnten, so dass sie einfach nur die schlechteste Zeit im Jahr überschliefen. Ich hätte das auch gekonnt, aber wahrscheinlich hätte ich schon spätestens nach dem zweiten Tag heiße Ohren und rote Arschbacken von meinem Vater bekommen. Auch wäre ich dann erst mit zweiunddreißig aus der Schule entlassen worden, dann käme wirklich jede psychotherapeutische Hilfe zu spät. Dieser Winter hielt noch lange an und das Einzige, dass meine Laune warm hielt, war der Gedanke, dass ich endlich mal mit einem Mädchen ausgehen würde. Das wäre der entscheidende Moment, an dem sich dann auch alles ändern würde. Keine Probleme mehr. Keine Sorgen mehr. Keine dummen Eltern, die ständig rum nölen würden. Doch nichts dergleichen geschah und der Kalender meldete auch schon bald den Frühling an. Ich konnte schon die Handschuhe in den Winterschrank wegräumen, denn meine Finger schrien förmlich nach der, wenn auch noch frischen, aber herrlichen Frühlingsluft. Ein Blick auf meine Stoppuhr verriet mir auch schon, dass ich schneller mit meinem Rad zur Schule fuhr, als im Winter. Das mussten die Hormone sein, die Glücksgefühle, dass das Frieren nun ein vorübergehendes Ende gefunden hatte. Oskar Seite 37 fuhr immer seltener mit mir zur Schule. Er hatte sich nämlich ein Moped gekauft und wenn er angeben wollte, so nahm er den Radweg und überholte mich, grinste mir zu und überließ mich mit seinem Auspuffgestank, der penetranter war als jeder lang zurückgehaltene Furz. Die größte Sauerei zudem war, dass er jetzt schamlos alle Mädels zu einer Spritztour einlud, da hinten noch reichlich Platz war. Dann erklärte er ihnen, dass sie sich dicht an ihn anschmiegen müssten, und ihre Hände fest um seinen Körper umschlungen halten mussten, um bei den „abartig“ hohen Geschwindigkeiten von ganzen fünfzig Sachen nicht runter zu fallen. Das war eine wirklich ganz blöde und billige Masche, doch zu meinen Entsetzten ließen sich fast alle Mädels darauf ein. Das lag wohl daran, dass Mädels dumm waren. Er erklärte mir auch, dass Frauen zwar keine Mopeds mochten, aber Männer mit Mopeds. Aha, das hieße, dass ich ein Moped bräuchte. Da könnte ich aber lange bei meinen Eltern anklopfen. Demzufolge müsste ich ein Mädel suchen, dass schon ein eigenes Moped hatte, dann konnte ich sicher sein, das sie auf eine so blöde Tour nicht reinfiel. Aber ich merkte schnell, dass sie sich genau aus dem Grund kein Moped zulegten. Nun gut, fest stand jedenfalls, dass der Frühling begann, die Röcke kürzer wurden und die Brunftzeit nicht nur bei den Tieren ihren freien Lauf nahm. Mir war sowieso aufgefallen, dass Peggys Titten geschwollener Seite 38 waren als sonst. Entweder lag es tatsächlich am Jahreszeitwechsel, oder sie bekam diese Schwellung nur vom vielen Fummeln, zumindest erschien mir das als logischer. Der Frühling war wahrscheinlich deshalb so toll, weil man schon ahnen konnte, dass der Sommer nicht mehr fern war. Die Sonne begann dann die Haut zu streicheln, sie wurde weicher und schöner. Die Mädchen könnten nun endlich ihre prallen Brüste zur Schau stellen und die Jungs versuchten verzweifelt in aller Kürze ihren Körper mit Muskeln, wie ein Weihnachtsbaum zu verzieren. Doch meistens war das notwendige Training so lange, dass sich schon bald darauf wieder der Winter meldete. Zumindest trübte das Gewissen nicht mehr, man hätte nichts getan. Aber dieses Problem tangierte mich reichlich wenig, denn ich fuhr ja schließlich jeden Tag mit dem Rad in die Schule. Bei den älteren Herrschaften war mir immer wieder aufgefallen, dass sie, da sie keine Muskeln mehr hatten, sich meist einen richtig geilen Schlitten zulegten. Und erstaunlicherweise saß immer, aber auch immer wieder irgend so eine geile Tussi an deren Seite. Ob das am Auto lag? Ich eilte gerade über den Schulhof, um die nach Hause Fahrt anzutreten, als mir Pad entgegen kam. „Hey Lenny, alter Hase.“ Seite 39 „Ich bin weder alt, noch ein Hase.“ „Wie geht’s wie steht’s?“ „Wie soll es mir denn schon gehen. Schließlich ist heute Samstag. Das ganze Wochenende schlafen. Kein Wecker, kein Stress.“ „Wie sieht’s aus? Heute Abend ist Disco angesagt. Voll Party und echt geil.“ „Du hast gut reden. Wir kommen da bestimmt nicht rein.“ „Klar und wie wir da reinkommen. Vorher hängst Du Dir noch ein Ohrring dran, ziehst eine schwarze Hose an und dann kann es losgehen.“ „Meine Eltern machen das bestimmt nicht mit.“ „Ach! Scheiß auf Deine Alten. Die junge Generation regiert die zukünftige Welt.“ „Ich weiß, aber schließlich sind wir nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart.“ „Na und eine Tracht Prügel hat noch niemandem geschadet.“ „Meinst Du vielleicht ich will mir eine Tracht Prügel verpassen lassen?“ „Sag mal bist Du blöd? Ich meine natürlich, dass Du Deinen Alten ordentlich eine verpasst!“ Pad hatte gut lachen, seine Eltern waren geschieden, sein Vater war abgehauen und seine Mutter bekam ihn schon mit siebzehn. Zudem war sie kleiner als er, womit er Zuhause die Seite 40 Regie übernahm. Im Prinzip regierte ich auch Zuhause, nur eben nicht so offensichtlich. Sagen wir mal so, ich war mehr die Fernbedienung, die mit magischen Frequenzen regierte und er war mehr der Türsteher, der einem gleich eins auf die Nase gab, wenn ihm was nicht passte. So etwas konnte ich mir leider nicht erlauben, denn ich hatte schon ein paar Mal eine Ohrfeige von meinem Vater bekommen. Also lief ich eine Woche mit einer Hamsterbacke herum. Das fand ich gar nicht lustig. „Ich will hier nicht ewig auf eine Antwort warten.“, wenn er nicht sofort bekam was er wollte, wurde er immer so ungeduldig, das mochte ich und provozierte ihn. „Ich weiß nicht so recht. Wollen wir das nicht erst einmal gruppendynamisch ausdiskutieren.“ „Ey, Du hast wohl total den Schaden. Beim nächsten Ton kriegst Du eine aufs Maul.“ Ich wartete. Er pfiff und wollte mir in den Magen hauen, als ich ihm schnell in die Eier griff. Leicht vorgebeugt, vor Angst, dass ich zukneifen würde, hatte er diesen flehenden Blick mit den Worten auf den Lippen „Bitte nicht zudrücken“. „Also gut um neune bei McDonalds.“ „Na also, das ist doch ein Wort. Wenn Du jetzt mein wichtigstes Organ in Frieden lassen könntest.“ Ich ließ los. Seite 41 „Also dann bis heute Abend.“ „Ciao.“ Schon auf dem Nachhauseweg bereute ich, dass ich zugesagt hatte, denn ich wusste nicht, wie ich meine Eltern dazu bringen sollte, mich weggehen zu lassen. Na bestens, da hatte ich mich ja auf eine schöne Scheiße eingelassen. Ich saß am Tisch und meine Mutter war gerade am Servieren der Vorspeise. Dass es lecker aussah, interessierte mich im Augenblick reichlich wenig. Mich beunruhigte mehr die Frage, ob ich vor oder nach dem Essen von meinem Vorhaben erzählen sollte. Wenn ich vor dem Essen nach der gnädigen Erlaubnis zum Ausgehen fragte, so musste ich mir während der ganzen Speise das betörende Gesülze meiner Eltern anhören, würde ich nach dem Essen fragen, könnte es zu einem spontanen Kotzanfall führen, aufgrund der Tatsache, dass ich mir dann die Abendpredigt anhören durfte und durfte ist noch sanft ausgedrückt. Ich konnte die Sprüche jetzt schon hören: „Du lebst auf ganz schön großen Füßen mein Lieber.“ „Andere lernen vor dem Schlafengehen.“ „Als ich in Deinem Alter war, gab es immer Ausgehverbot, geschweige denn davon, dass es gar keine Diskotheken gab.“ Seite 42 Das war ja auch wenig verwunderlich, denn wenn ich mir meine Eltern so ansah, wollte ich erst gar nicht die Anderen aus deren Generation sehen. Also beschloss ich die goldene Mitte zu wählen, mitten beim Essen, da würde ich noch am wenigsten riskieren. Also wartete ich ungeduldig auf die Hauptspeise. Kartoffelknöllchen. Ich zermanschte sie mit der Gabel. So sah es vermutlich jetzt in meinem Magen aus. „Ich hab heute Pad getroffen.“ „Aha.“ Scheiße. Wenn „aha“ alles war dann sollte ich erst besser gar nicht weiter reden. „Ja und.“ Na bitte, es ging doch wenn ihr wolltet. „Er hat in Deutsch eine zwei bekommen und hat daraufhin von seinen Eltern zehn Mark bekommen um eine Cola in der Stadt trinken zu gehen.“ „Seit wann kostet denn eine Cola zehn Mark?“ „Seitdem er Freunde wie mich hat, die er zum Cola trinken einlädt.“ „Dann komme ich aber immer noch erst auf fünf Mark.“, meine Eltern konnten ganz schön skeptisch sein. „Wir sind zwei Jungs, das heißt, auf jeden kommt mindestens ein Mädel, macht wenn ich den Mathematikunterricht richtig Seite 43 verfolgt haben sollte, zehn Mark, inklusive Mehrwertsteuer und einer Menge Spaß.“ „So, dann hast Du also eine Freundin.“ „Das habe ich nicht gesagt. Das war nur eine potentielle Behauptung.“ „Dann wird es aber Zeit, dass dein Potential real wird.“ Pause. „Wenn wir Dich also richtig verstanden haben, so hast Du also vor heute wegzugehen?“ „Wenn Ihr mich so direkt fragt, ja!“ „Und warum sagst Du das nicht gleich?“ „Weil wenn ich eine Suppe serviert bekomme, so esse ich sie nicht gleich, sondern verbessere erst den Geschmack, indem ich sie vorher noch Würze.“ Mein Vater mochte es gar nicht, wenn ich das letzte Wort hatte, also wartete ich. „Also gut, aber nur wenn Du Dich am Sonntag auf Deinen Arsch setzt und für Deutsch lernst. Es wäre stets zu begrüßen wenn wir mal einen progressiven Aufschwung in Deiner schulischen Laufbahn erleben könnten.“, lächelte er höhnisch. Wenn es nach mir ginge würde ich ihm jetzt antworten: „Stets würde ich auch Deine Versetzung in einer höheren Position in Deinem Büro herzlichst begrüßen.“ Seite 44 Aber es ging nun mal nicht nach mir, sondern nur danach, dass ich endlich raus wollte. „Also heißt das, dass ich raus darf?“ „Wenn Du die Randbedingungen erfüllst, ja.“ Boah. Jetzt durfte ich mir nur nicht anmerken lassen, dass ich mich enorm freute, sonst würden sie noch denken, dass ich damit nicht gerechnet hatte. Also tat ich so, als wäre nichts gewesen und aß gemütlich weiter. Eltern waren ein Phänomen, das äußerst kompliziert zu erklären war. Es gab keine Logik in ihnen. Keine Gleichung wie in der Mathematik. Mal waren sie so, mal waren sie anders. Besonders schlimm war es, wenn sie so waren. Dann galt es stillschweigend in seinem Zimmer zu sitzen und zu warten bis wieder bessere Zeiten kamen. Am besten, man begegnete ihnen erst gar nicht im Flur. Unberechenbar, genauso wie Lehrer. Ich ging auf mein Zimmer und zog mich um. Schnell noch ins Bad, Zähne putzen, des Mundgeruchs wegen, Gel in die Haare, Deo unter den Achseln. Nein, das sah doch nicht so gut aus. Gel wieder rauskämmen. Mensch so sah das noch schlimmer aus. Also noch schnell Haare waschen. Föhnen. Kämmen. Nein, so auch nicht. Lieber die Haare verstrubbeln. So! So und nicht anders. Jetzt war es aber wirklich Zeit loszugehen. Auf dem Weg zur Garage blickte ich noch einmal schnell in eine Autoglasscheibe um mich zu sehen. Mist. Mit Gel sah ich Seite 45 irgendwie doch besser aus. Ich blickte auf die Uhr. Aber jetzt war es wirklich zu spät, um meine Frisur noch einmal zu ändern. Also schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr los. Pad wartete schon ziemlich genervt. Meine Güte, ich war doch bloß zwanzig Minuten zu spät. „Ich wusste doch, dass Du kommst.“ „Ich auch.“, hoffentlich zweifelte er nicht an meinem Selbstbewusstsein. Er grinste bloß. Also doch. Wir gingen zum „Nuit totale“, einer Disco wo alle älteren Schüler hingingen. Wir standen in der Schlange. Hinter uns stellten sich eine Brünette und eine Blondine an. Ich glaubte sie sahen ziemlich gut aus, wagte es aber nicht, sie anzuschauen. Ganz anders Pad. Er schaute sie an. Oder besser gesagt, er glotzte sie an. Dann schaute er auf ihre Titten. Mensch, ich hätte vor Scham im Boden versinken können. Es hätte nur noch gefehlt, dass Schleim aus seinem Mundwinkel floss. Dann drehte er sich zu mir und grinste mich an. Das hieß in der Regel so viel wie „geiles Geschoss“. Die Schlange vor uns wurde immer kürzer. Ich war noch nie drinnen und ich fragte mich ernsthaft, ob ich es heute schaffen würde rein zu kommen. Pad war an der Reihe. Der Türsteher hielt seine offene Hand hin, was bedeutete, wie „Her mit der Kohle.“ Pad reichte ihm den Zehnmarkschein und bekam auf seine Hand einen Stempel aufgedrückt. Ich zog auch schon Seite 46 einen Zehnmarkschein aus der Tasche, doch zu meinem Entsetzten hielt er mir nicht die Hand hin. „Ausweis.“ Ausweis. Ist das alles was dieses präpubertäre Arschloch von sich geben konnte? „Ey, hab ich vergessen, ey.“ „Nächster.“ „Ey, was soll das?“ „Nächster.“ Scheiße. Scheiße. Absolute Megascheiße. Pad war außer Sichtweise. Die alte stinkende Sackratte war schon drinnen. Mein Kopf neigte sich nach vorne und langsam entfernte ich mich von der Schlange. So eine verfluchte Scheiße. Ich setzte mich auf eine Bank, am Straßenrand. Es fuhr kein Schwein auf der Straße. Alles lief so gut und dann das. Scheiße. Ich hätte mir doch Gel in die Haare schmieren müssen. Ein echter Mann weinte nicht. Hatte ich mal im Fernsehen gesehen. Also weinte ich nicht, sondern biss mir nur in die Lippe. Die Drecksau von Pad kam nicht einmal raus, um mich zu trösten. Schweigen. Absolutes Schweigen. Ich hatte das unwohle Gefühl, dass ich alles falsch machte, egal was ich machte. Oder sollte ich jetzt doch weinen. Nein, das wäre wirklich lächerlich gewesen. Und wenn die alte Kollwitz mich so gesehen hätte, dann wäre mir das wirklich außerordentlich peinlich gewesen. Ich hörte Seite 47 Schritte hinter mir. Aha, das musste Pad sein, er dachte also doch noch an mich. Ich tat so, als würde ich ihn keineswegs hören oder gar sehen. Er sollte ruhig spüren, wie unangenehm das war, ein Nichts zu sein. Er setzte sich. Nichts. „Zu dumm, wenn man zu jung ist.“, hörte ich eine Stimme sagen. Das war gar nicht Pad. Das hatte einen so hohen Ton, klang richtig geil. Ich drehte mich um und musste erst mal schlucken. Ups, das war die scharfe Blondine die hinter mir stand. Jetzt bloß nicht ausrasten. Ganz cool bleiben, ganz cool. „Ach ja?“, antwortete ich in einem lässigen Ton, ohne mir die geringste Aufregung anmerken zu lassen. „Ja, ich bin auch nicht rein gekommen.“ „Wieso nicht?“ „Weil ich auch zu jung bin.“ „Und die Brünette, ich meine Deine Freundin?“ „Die Brünette ist nicht meine Freundin, sondern meine Schwester. Sie ist älter. Und wer war der andere Typ mit Dir?“ „Ach nur so ein blöder Kumpel von mir.“ „Blöd, aber immerhin älter als Du.“ Haha, das fand ich gar nicht komisch. „Wie heißt Du eigentlich?“ Gut dass sie den Anfang machte. „Lenny. Aber meine Freunde sagen auch Lenny zu mir.“ Seite 48 Sie lächelte. Ihr Lächeln war wunderschön. Ich hätte ihr Lächeln stundenlang anschauen können. „Willst Du nicht wissen wie ich heiße?“ Ich war schon in einer anderen Welt eingetaucht. „Do...doch, doch.“ „Ich bin Sylvia.“ „Schöner Name.“ „Deiner auch.“ „Findest Du?“ „Ja.“ Soso. Jetzt wusste ich wirklich nicht weiter. Ich konnte nicht mal auf ihre Brüste schauen, sonst hielt sie mich womöglich für ein perverses Schwein. Wer wusste es schon? Laut einer Jugendzeitschrift, die ich mal bei einem Kumpel gelesen hatte, wüsste man erst als Mann, also ich meinte ab dreißig, ob man pervers war, oder nicht. „Wohnst Du hier?“, was Besseres fiel mir zunächst nicht ein. „Nein, der Freund von meiner Schwester hat uns hergefahren. Wir wohnen in Westhausen. Kennst Du das?“ „Ja, ich fahre manchmal mit dem Fahrrad daran vorbei.“ „Und Du, woher kommst Du?“ „Aus Trozloch. Das ist, wenn Du die...“ „Ich weiß ich weiß, mein Onkel wohnt dort.“ „Ach ja, wie heißt der denn?“ Seite 49 „Paul Degebert.“ „Nö. Kenn ich nicht.“ „Ist ja auch egal.“ Stimmt. Das war mir auch egal. Was mich vielmehr interessierte, war nach wie vor ihr Lächeln. Ich lächelte sie an. Na bitte. Sie lächelte zurück. Wauoh. Sie sah echt klasse aus. Sie drehte ihr Gesicht weg und schaute verklemmt auf den Boden, dann auf ihre Schuhe, ihre Beine hatte sie ausgestreckt.. Sie hatte Turnschuhe an. Stand ihr wirklich gut. Die knallenge Jeans übrigens auch. Und überhaupt. Ihr stand einfach alles gut. Ich schaute auch auf den Boden. Was sie jetzt wohl dachte? Hoffentlich dachte sie nicht von mir, dass ich ein Idiot oder so was war, deshalb sagte sie vielleicht nichts mehr. „Was hast Du denn für Hobbys?“, fragte ich interessiert. Sie schaute mich an. „Ich lese wahnsinnig gerne, schwimme und schaue gerne Fern.“ „Echt ich sehe gerne nah.“ Sie lachte und neigte dabei ihren Kopf leicht nach hinten. Dabei kam ihre goldene Halskette mit einem kleinem Herz zum Vorschein. Wahrscheinlich war das ein Geschenk von ihrem Freund. Das war ja klar. So eine geile Schnecke hatte natürlich schon einen Freund. Seite 50 „Hast Du eine Freundin?“ Ich zuckte kurz zusammen. Verdammt noch mal, konnte sie Gedanken lesen, oder was? „Ach zur Zeit genieße ich das Alleinsein. Wenn ich mir nämlich meine Eltern so ansehe, so frage ich mich, was für eine Sinn das macht eine Freundin zu haben.“ „Wieso, hat Dein Vater eine Freundin.“ „Nein, ich meine natürlich meine Mutter.“ „Ja klar. Blöde Frage.“ So blöd war sie gar nicht. Wer weiß, vielleicht hatte mein Vater wirklich eine Freundin. „Und Deine Eltern, nein, ich meine, hast Du einen Freund?“ „Nein.“ Oh Mann. Die Sache wurde jetzt richtig ernst. „Und warum nicht, wenn man fragen darf?“ „Weil mir keiner gefällt.“ „Lenny, jetzt bist Du gefragt! Das ist Deine Chance! Jetzt aber ran an den Speck!“. Das wären die Worte von Pad gewesen, wäre er jetzt hinter mir. Aber wenn ihr bis jetzt keiner gefiel, warum sollte dann ausgerechnet ich ihr gefallen? Ich hörte Schritte hinter mir. Sie drehte sich um. Hoffentlich war das nicht Pad. Der würde mir sonst noch die ganze Sache vermasseln. Es war ihre Schwester mit ihrem Freund. Seite 51 „Hallo.“ „Das ist Lenny, das ist meine Schwester Karen,... ihr Freund Walter.“ Komisch ihre Schwester hingegen sah ganz schön beschissen aus. Fand ich zumindest. Walter fand das anscheinend nicht. Oder er hatte es einfach besonders nötig. Wer weiß. Besser ich fragte ihn nicht. Das würde gleich einen schlechten Eindruck machen. „Sylvi, wir gehen noch ein Bierchen trinken. Kommt ihr mit?“ Sylvia drehte ihren Kopf zu mir rüber und blickte mich fragend an. „Ich würde ja sau gern mitkommen, aber ich warte besser noch auf meinen Freund.“ Sie stand auf. „Also dann. Tschüs Lenny und bis bald vielleicht.“ „Ja. Bis bald.“ Ich blieb auf der Bank sitzen und schaute ihnen zu, wie sie langsam sie Straße hinuntergingen, bis sie im schwarzen Nichts verschwanden. Ich musste ständig an ihr Lächeln denken. Wie hieß sie doch gleich? Sylvia. Sylvia. Syyyyyyylvia. Den Namen musste man sich förmlich auf der Zunge zergehen lassen. Moment mal. Hatte ich das richtig verstanden? Sie wollte, dass ich mit zum Biertrinken komme? Und was hatte ich daraufhin gesagt? Nein! War ich eigentlich Seite 52 total blöd, oder was!? Ich hatte nein gesagt! Nur wegen des Depps Pad, der sich da drinnen amüsierte, während ich wie ein dummer Köter draußen auf ihn wartete. Das gab es doch nicht! Also manchmal fehlte es mir wirklich im Hirn. Das war doch einfach nicht zu fassen. Aber nun war es zu spät und ich konnte es auch nicht mehr ändern. Ich hatte weder nach ihrem Nachnamen, noch nach ihrer Telefonnummer gefragt. Na toll. Wie sollte ich sie jemals wiedersehen? Dabei hatte sie doch ausdrücklich „Bis bald“ gesagt? Oder träumte ich einfach nur? Ich hatte nun die Schnauze voll, alles nur wegen Pad. Ich ging zu meinem Rad, warf einen letzten Blick auf den Eingang von der Nuit totale und fuhr allein nach Hause. Komisch sonst fühlte ich mich selten einsam. Aber jetzt hatte ich das Gefühl, dass mir dieses bezaubernde Lächeln von Sylvia fehlte. Ihre Zähne funkelten noch in meinen Augen. Sie hatte eine exakte Zahnreihe, wie die Frauen im Fernsehen, wenn sie für irgendwelche Schönheitsprodukte warben. Ich schlich leise in mein Zimmer, legte mich hin und versuchte zu schlafen. Doch mir fiel das außerordentlich schwer. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich besoffen, obwohl ich nichts getrunken hatte. Ich schwebte noch lange in meinem Bett, bevor ich einschlief. Ich träumte. Ich war mitten im törenden Lärm von Schüssen, Bomben und Granaten. Um mich herum war es dunkel, obwohl es oft grell Seite 53 aufblitzte, gefolgt von unglaublich lauten Knallen. Um mich herum fielen lauter Schreie. Ab und zu standen Leute auf, rannten und schmissen sich wieder auf den Boden. Der Boden war nass. Schlamm, in dem ich getränkt lag. Ich hatte große Angst und versuchte mir meine Ohren zuzuhalten. Der Lärm war unerträglich. Auf einmal sah ich Sylvia. Sie stand aufrecht und kehrte mir den Rücken zu. Anscheinend hatte sie keine Angst, denn sie ging ganz langsam über das Feld, indem die Geschosse nur so fetzten. Ich stand auf und schrie, bis mich ein Kugelhagel von hinten zerfetzte. „Wollen wir etwa weg?“, hörte ich meinen Vater vom Wohnzimmer aus sagen. Ich stand schon fertig bereit um nach Westhausen zu fahren, in der Hoffnung zufällig Sylvia an zu treffen. Ich drehte mich um, zog meine Schuhe aus, denn wenn etwas im Paragraph Nummer eins in puncto Hausordnung bei meinen Eltern stand, dann war es: „Betrete nie das Haus mit Straßenschuhen“, ging ins Wohnzimmer und sagte: „Naja, nicht so richtig, nur eine kleine Runde drehen.“ „Gut,“, entgegnete mir mein Vater, “in einer halben Stunde bist Du wieder zurück und dann wirst Du Dich gefälligst an unsere Vereinbarung halten. Du weißt ja, ein Mann ein Wort.“ Seite 54 „Ich weiß, aber ich bin noch kein Mann.“ Er zückte seinen Zeigefinger nach oben, das machten Erwachsene besonders gerne, wenn sie keine Lust hatten, über etwas zu diskutieren. Diese Diskussion hätte sowieso zu nichts geführt, da ich so oder so den Kürzeren gezogen hätte. Also räumte ich meine Schuhe weg, setzte mich an meinen Schreibtisch und begann zu lernen. Was für ein Unfug. Da musste ich doch tatsächlich Deutsch lernen, wo ich doch alles verstand. Also ob man nun Scheiße mit zwei „s“ oder mit „ß“ schrieb war doch nun wirklich scheißegal. Es kam doch, so jedenfalls war ich der Ansicht nur auf den Inhalt an. Aber Rebellion war zwecklos und endete nur mit Hausarrest. Also verbrachte ich das geliebte Wochenende auf meine Arschbacken, die wahrscheinlich, wenn ich noch weitere Jahre auf die Schule ging und das stand mir leider noch bevor, schließlich wollten meine Eltern, dass ich das Abitur machte, nur damit man sagen konnte „Abi hab´i“, eines Tages so plattgedrückt sein würde, das ich meine Jeans mit Watte füllen müsste, um zu einem gut geformten Hintern zu kommen. Montag. Der Alltag ging seinen gewohnten Trott weiter und ich konnte beim besten Willen nicht begreifen, warum die ältere Generation immer wieder sagte: „Ach die Jugend ist doch die schönste Zeit im Leben.“ Seite 55 Dabei hatten es doch die Lehrer, oder in der Fachsprache ausgedrückt Pädagogen, tausendmal besser als wir Jugendlichen. Sie verbrachten weniger Zeit als wir in der Schule, sie durften schwätzen so viel und wann sie wollten, sie durften ihren sadistischen Adern freien Lauf lassen, sie mussten nicht für die Klausuren lernen und standen somit nicht unter Prüfungsstress und das Beste kam erst noch: Sie wurden auch noch dafür bezahlt! Ich wollte erst gar nicht wissen wie viel, aber bestimmt mehr als mein klägliches Taschengeld, dass ich mir jeden Monat hart und bitter, meist mit Verspätung und etlichen Kompromissen, ergattern musste. Gerd saß neben mir und seine Backen wurden von seinen Fäusten, auf das sein Gesicht gestützt war, bis über beide Ohren gezogen. Das war ein Merkmal dafür, dass ich nicht der Einzige war, dem totlangweilig war. Also hegten wir einen Plan aus. In der Pause wurde das Klassenzimmer immer abgeschlossen, damit keiner auf die stupide Idee kam, dem Einen oder Anderen etwas zu klauen, doch vorher hatten wir ein Fenster unbemerkt aufgelassen. Es regnete. Die ganze Klasse blieb also in der großen Pause drinnen. Das war auch gut so, denn wir brauchten jetzt niemanden, der uns beobachten würde. Wir gingen um den Schulhof herum, bis wir vor den Fenstern von unserem Klassenzimmer standen. Unsere Turnschuhe waren schon voller Dreck, da vor den Seite 56 Fenstern nur Grün war. Das Klassenzimmer war vielleicht nur einen Meter über dem Boden, also kletterten wir durch das Fenster, über einen Schultisch und standen nun drin. Gerd war am Fenster und stand Schmiere. Ich ging zur Wand, an denen immer irgendwelche tollen Nachrichten hingen, zum Beispiel wer heute Tafeldienst hatte und so Zeugs und sammelte so viele Reißzwecken, wie ich nur finden konnte. Ich blickte zu Gerd. Er nickte sanft mit dem Kopf. Alles in Ordnung. Ich ging nun von Stuhl zu Stuhl und legte schön ordentlich eine Reißzwecke nach der Anderen mittig, mit der Nadelspitze nach oben und schob dann jeweils den Stuhl zurück unter den Tisch. Nach wenigen Minuten war ich fertig. „Und was ist mit dem Herr Grausam, willst Du ihn etwa verschonen?“, flüsterte er mir zu. Ich legte auch ihm eine Reißzwecke auf den Stuhl. Dann überlegte ich kurz und legte ihm eine zweite dazu. „Altersbonus“, dachte ich mir. Wir sprangen auf den Tisch, durchs Fenster und nichts wie zurück zum Eingang des Klassenzimmers. Wir warteten ungeduldig mit unseren Mitschülern und sprachen über dies und das. Herr Grausam kam und öffnete die Tür und wir lachten uns jetzt schon ins Fäustchen. Alle setzten sich hin und er begann wie gewohnt seinen Unterricht. Ich hörte gar nicht worum es heute ging, sondern rückte nur ungeduldig ständig auf meinem Stuhl herum. Ich konnte es kaum erwarten, bis endlich jemand Seite 57 aufschreien würde. Doch nichts dergleichen geschah. Hatte da etwa schon jemand unsere Reißzwecken entfernt? Fragend blickte ich zu Gerd. Er zuckte unschuldig mit den Achseln. Komisch. „Herr Grausam, Herr Grausam!“, Birgit hob ihren Finger und schnalzte mit dem Finger, dass machten alle Streber, wenn sie zeigen wollten wie schlau sie doch waren. Er schrieb seine Gleichung an der Tafel zu Ende, bevor er sich ruhig umdrehte. „Ja Birgit, was ist denn?“, fragte er sanft. „Jemand hat mir eine Reißzwecke auf den Stuhl gelegt!“, sie konnte vor lauter Aufregung gar nicht mehr richtig schlucken. Ich hätte ihr auch zwei davon hinlegen sollen. „Dummheitsbonus“ sozusagen. Viele standen nun auch auf und wir konnten ständig hören sagen: „Bei mir auch, bei mir auch Herr Grausam.“ Ach gottchen Herr Grausam, so tun sie doch etwas. Wir waren ja so hilflos. Herr Grausam wusste gar nicht mehr wie ihm geschah, er stand dieser Situation völlig machtlos entgegen. Solchen Situationen war er einfach nicht gewachsen. Ihn verließ irgendwie der Mut seinen Unterricht fortzusetzen, denn jeder plapperte wie wild und war zutiefst über diese Tat, ich wollte fast sagen Schandtat, entsetzt. Ich auch übrigens. Also setzte er sich hin, als er plötzlich aufzuckte, aufstand und von Seite 58 seiner Jeans zwei Reißzwecken, die seinen Hintern piksten, riss. Hoffnungslos resignierte er: „Bei mir auch.“ Komisch keiner lachte hier. Denn wir hatten niemanden ausgelassen. Ich reichte unter dem Tisch Gerd eine Reißzwecke rüber. Er stand auf. „Bei mir auch Herr Grausam.“ Das machte er wirklich toll. Daraufhin stand auch ich auf und meinte empört: „Das ist eine Unverschämtheit und ich finde, wir sollten den Schuldigen bestrafen.“, ich dachte, dass mich das somit aus der Verdächtigen-Liste strich. Vereinzelt konnte man Zustimmungen hören, doch war die ganze Klasse in Auffuhr und es herrschte gnadenloses Chaos. Das gefiel mir. „Ruhe. Ruhe bitte.“, flehte Herr Grausam. Er holte tief Luft. „Ruhe!“, brüllte er. Nun war es still. Na bitte, ich wusste doch, dass er Mann genug war, um zu schreien. „So, jetzt beruhigen wir uns erst einmal.“, er war schon recht fertig mit den Nerven und es war fraglich, ob er uns oder ihn damit meinte. „Wir werden jetzt erst einmal nach Spuren suchen.“ Aha, Eigeninitiative hatte er also auch. Heute überraschte er mich wirklich. Hätte ich nicht von ihm gedacht. Er stand auf Seite 59 und ging durch die Bänke, bis zur hinteren Reihe. In der allerletzten Reihe saß niemand und er zeigte triumphierend mit seinem Zeigefinger auf dem Tisch neben dem Fenster, durch das wir gestiegen waren. „Hier haben wir Abdrücke von zwei verschiedenen Paar Schuhen, das müssten dann wohl die Schuhe der Täter sein.“ Alles stand auf und stand um das Indiz herum. Ich fand diesen Umschwung der Situation nun nicht mehr so lustig. Wenn er jetzt jeden einzelnen Schuh verlangte, so waren wir äußerst schlecht dran. Ich schaute nicht mehr zu Gerd, dieser Blick hätte uns vielleicht nur verraten. „Also, wer zugibt, es getan zu haben, bekommt mildernde Umstände. Wenn diejenigen es nicht zugeben, dann werde ich mir Schuh für Schuh anschauen und den Tätern droht der sofortige Schulverweis. Also, ich höre.“ Alle waren still. Er blickte langsam aber sicher in die Runde. Ich stand weiter hinten und konnte so seinen Blicken leicht entgehen. Minutenlanges Schweigen. Hoffentlich hält Gerd sein Maul, dachte ich bloß, sonst wäre ich auch dran. Schließlich stand er ja nur Schmiere. Ich warf unbemerkt einen Blick auf meine Uhr. Ich glaubte, dass das meine Rettung war. Noch wenige Minuten, bis zum Läuten der elementaren Erlösung. Seite 60 „Das ist nun wirklich die letzte Chance die ich den Tätern gebe. Ich zähle bis zehn und dann beginne ich mit der Suche. Eins...Zwei......Drei...“ Ach was sollte es, ob ich nun flog oder nicht war mir jetzt auch egal, da ich sowieso ahnte, dass er nur bluffte. Er war doch viel zu gutmütig, als das man seine Drohungen ernst nehmen konnte. Er war nun bei Zehn angelangt. Er stand hilfloser denn je in dem Kreis, den wir um ihn gebildet hatten. Jeder spürte auch, dass er aufgeschmissen war und dass man ihn nicht mehr ernst nehmen konnte. Er blickte auf seine Uhr. Maßlose Enttäuschung stand in seinem Gesicht geschrieben. „Na gut. Sollten diejenigen unter euch sein, so sehe ich das als einen sehr schlechten Scherz an und bitte euch inständig, dass es dabei bleibt und so etwas nicht mehr vorkommt.“, es war mehr ein Flehen als ein Bitten. Ich hatte so viel Mitleid mit ihm, denn nun buhten ihn einige aus, dass ich mir schwor, das nie wieder zu machen, zumindest nicht mehr mit ihm. Einige gingen an ihren Platz zurück und packten schon ihre Sachen zusammen, bis die Klingel läutete. „In der Hoffnung, dass es bei diesem einmaligen Scherz bleibt, möchte ich noch einmal darüber lachen. Und bis zum nächsten Mal schaut ihr euch bitte die Wurzelfunktionen an, Seite 61 nehmt sie euch zu Herzen, denn die nächste Klausur wird nicht ganz einfach.“ „Ist die schwierige Klausur Ihre Antwort auf den Scherz?“, hörte ich Oskar frech kontern. „Ach Kinder, jetzt hört doch bitte auf.“ Ich glaubte, mit dem war es nun aus. Der war reif für die Anstalt. Er packte seine Sachen zusammen und verließ langsamen Schrittes wortlos das Klassenzimmer. Er schlurfte wie der Glöckner von Notre Dame über den Flur. Wir hatten eine kleine Pause. Ich eilte zur Toilette und pisste erst einmal eine Runde. Als ich aus der Kabine kam, wartete auch schon Gerd auf mich. Er lachte und hielt mir seine flache Hand hin. „Komm schlag´ ein Mann.“, sagte er. Ich zog ihn in die Kabine und meinte: „Hör zu, ich glaube diesmal sind wir mit ihm zu weit gegangen. Der ist hinüber.“ „Ach das ist doch egal. Wenn er fertig mit den Nerven ist, so kommt er in Frührente und bekommt reichlich Kohle vom Staat. Also was sollen wir uns sorgen?“ „Sag mal, woher weißt Du denn so was?“ „Das habe ich mal beim Abendessen von meinen Eltern gehört. Wir haben eine Nachbarin, die einmal als Lehrerin gearbeitet hat, die voll durchgeknallt ist, sich aber alle paar Monate einen neuen Wagen leistet.“ Seite 62 „Was? So viele Kröten bekommen die. Also wenn das so ist, dann kann er uns noch dankbar sein!“ Ich hielt ihm die Hand hin. „Give me five.“ Er schlug ein. Im Prinzip hatten wir für die Menschenrechte gekämpft. Ein Lehrer weniger. Hoffentlich wurden wir nun von weiteren unfähigen Pädagogen verschont. Andererseits hatte man mit denen eine Menge Spaß, vor allem wenn sie nicht durchgreifen konnten. Und wer konnte das schon. Unser Netz hielt so dicht zusammen wie die italienische Mafia. Mit dem Unterschied, dass wir weitaus subtiler arbeiteten, ohne Waffen und Gewalt und so. So weit wäre wahrscheinlich keiner von uns gegangen. Wir verließen die Toilette und gingen zurück zum Klassenzimmer, als mir Birgit über den Weg lief und mir bitter zurief: „Lenny, ich bin mir sicher, dass Du und Dein toller Freund Oskar oder Gerd dahinterstecken.“ Ihre Stimme war perfekt für die Synchronisation des Filmes „Hilfe, ich bin ja so dumm“. Sie stand wie eine alte, gebückte Rentnerin im Flur, völlig hilflos und armselig. Ich ging auf sie zu, ganz dicht und flüsterte ihr ganz leise ins Ohr: „Halt doch einfach das Maul.“ Sie öffnete vor bloßer Empörung den Mund. Wir gingen weiter und lachten stolz. Seite 63 Herr Grausam beschäftigte mich noch eine gute Weile. Beim Mittagessen fragte ich meinen Vater: „Sag mal, angenommen ein Lehrer knallt durch und muss in die Anstalt oder so, stimmt das, dass er dann in Frührente geht und Geld vom Staat bekommt?“ Er blickte mich fragend an. „Hast Du etwa was angestellt?“, fragte er streng. „Also in diesem Haus kann man aber auch gar nichts fragen.“, schoss ich hinaus. „Ist ja gut reg´ Dich doch nicht gleich auf. Ja, das stimmt.“ „Was muss man eigentlich tun, um Lehrer zu werden?“ „Als erstes muss man sein Abi machen. Und daran scheitern schon einige, deren Namen ich nicht in aller Öffentlichkeit nennen möchte.“ Dabei schaute er ununterbrochen auf mich, so als könnte man glauben, dass er mich meinen würde. Ich tat so, als fühlte ich mich keineswegs angesprochen und aß weiter, schaute ihn aber gezielt an, bis er seine Zeitung erhob, um den Blickkontakt abzubrechen. Am nächsten Tag kam schon in der ersten Stunde unser Direktor, Herr Auer. Er hatte mittlerweile ein klein wenig seinen Bart gestutzt und hielt nun seine Rede, über die Gemeinheit, die wir mit Herrn Grausam getrieben hätten, dass er für die Seite 64 nächsten Tagen krankgeschrieben wäre. Warum sagte er nicht gleich, dass er in eine Anstalt war? Er ermahnte uns, dass wenn so etwas in der Art noch einmal passieren würde, er uns allen eine ordentliche Strafe in Form von satten Hausaufgaben verpassen würde. Aus meiner Sicht schnitt er sich nur ins eigene Fleisch, denn wenn er uns Hausaufgaben machen ließe, so müsste einer von denen es ja auch korrigieren. Aber es handelte sich ja schließlich nur um eine Mahnung. Und Mahnungen wurden nie verwirklicht. Also beeindruckte mich das reichlich wenig. Ab und zu warf er mir einen drohenden Blick zu, ich dachte, er wusste genau wer es getan hatte und so laberte er noch etliche Minuten weiter. Mir war das gerade recht, denn diese Zeit wurde letztendlich vom Unterricht der alten Kollwitz abgezogen, die wie ein kleiner Arschkriecher neben ihm stand und hin und wieder mit dem Kopf, wie ein Kakadu, zustimmend nickte. Als er mit seiner Rede fertig war, nickte sie noch mit dem Kopf weiter. So eine Art Trott. Vermutlich hatte sie nicht einmal zugehört. Er schaute sie an, sie zuckte kurz auf und gab ihm die Hand, womit er sich auch schon wieder verabschiedete. „Lenny und Gerd, ihr beide setzt euch in Zukunft nach vorne und zwar getrennt, wenn ich bitten darf.“ „Aber sicher doch Madame.“, antwortete ich. „Yes Mam.“, sagte Gerd. Seite 65 Stille. „Worauf wartet ihr noch?“, ihre Augen wurden größer als sie es ohnehin schon waren. „Ach so, jetzt gleich oder was?“, fragte Gerd. „Wenn ich bitten darf.“ Wir brummelten beide vor uns hin, packten unsere Sachen zusammen und setzten uns nach vorne. Na bestens, jetzt saß ich genau vor ihr. Ich hatte nun das theatralische Privileg den breiten Arsch der alten Henne beim Tafelschreiben in Großaufnahme zu sehen. Das sollte sie mir noch büßen. Während sie mit ihrem Unterricht begann, heckte ich schon neue Pläne aus. Ich saß nun also zwischen Florian, einem Klugscheißer, der aber dennoch für jeden Spaß zu haben war und Andreas. Andreas hatte dunkles Haar und einen perfekt mit Gel überzogenen Seitenscheitel. Seine Ohren waren so frei geschnitten und standen zudem so weit ab, dass er womöglich beim Windsurfen gar kein Segel brauchte. Der war so pingelig, so stubenrein, dass er sogar in der Pause mit dem Radiergummi seinen Tisch säuberte, wenn jemand mit dem Bleistift etwas darauf geschrieben hatte. Ich ahnte, dass wenn er etwas nicht leiden konnte, dann war es, wenn sein Tisch nicht exakt bündig in der Reihe stand. Alles musste bündig sein. Demzufolge konnte ich mich prächtig amüsieren, denn ich fing an, meinen Tisch zu verrücken, so dass eine Seite 66 Zentimeterfuge unsere Tische trennten. Nach nicht mal einer Minute fiel ihm das schon auf und er rückte die Tische wieder kräftig zusammen. Das Lehrerpult war genau vor uns und darauf lagen geöffnet die Unterlagen von der alten Kollwitz. Ich rückte wieder die Tische ein klein wenig auseinander. Andreas starrte mich schon ganz genervt an und rückte die Tische wieder zusammen, diesmal aber kräftiger. Ich spielte das Spielchen noch ein paar Mal. Das Erstaunliche aber war, dass er sie immer wieder zusammenrückte, ein Perfektionist eben. Jetzt war es an der Zeit meinen Plan zum Einsatz zu bringen. Ich nahm eine kleine Füllerpatrone aus meiner Truhe und stieß das Kügelchen, das die Tinte in der Patrone zurückhielt mit meinem Zirkel durch und klebte es vorsichtig mit einem Stück Tesafilm an die Kante meines Tisches in einem Winkel in Richtung Lehrerpult. Ich hob meine Hand und schnalzte mit dem Finger. Sie drehte sich um. „Was ist denn, Lenny.“ „Ich muss mal.“, ich blickte winselnd. Sie winkte mit der Hand zur Tür, woraufhin ich recht schnell das Zimmer verließ. Ich stand draußen und presste mein Ohr auf die Tür. Wenn alles nach Plan lief, dann würde Andreas wieder die Fuge bemerken und die Tische kräftig zusammenrücken. Daraufhin würde durch den anfallenden Druck die Patrone platzen, die Tinte herausspritzen und wenn Seite 67 ich es richtig eingeschätzt hatte, so würde die Tinte genau auf die Unterlagen der Kollwitz landen. „Sag mal Andreas bist Du total übergeschnappt?“, hörte ich sie auch schon brüllen. Die ganze Klasse lachte laut. Ich vermute mal, bis auf Andreas. Und feige wie der war, würde er es nicht mal wagen mich zu erwähnen. „Ich glaube das einfach nicht!“, tobte sie weiter. Die Klasse tobte mit. Einfach göttlich. Es hatte geklappt. „Wir sprechen uns nachher beim Direktor, Andreas. Das ist doch wirklich das allerletzte.“ Nach einer Weile setzte sie ihren Unterricht fort und dann betrat ich auch schon wieder das Zimmer. Keiner ahnte, dass ich etwas damit zu tun hatte, bis auf Florian, aber der fand das auch recht lustig. Als ich mich hinsetzte, stellte ich fest, dass doch nicht alles nach Plan lief, denn als sie sich gerade von der Tafel abwandte, sah ich, wie ein langgezogener Tintenstreifen ihre knallrote Bluse dekorierte. Schade das man nicht immer dann lachen konnte wann man wollte. Nichtsdestotrotz, fand ich es nun an der Zeit mit dem Scheiße bauen ein klein wenig kürzer zu treten, sonst würde sie merken, dass meistens ich dahinter steckte. Und um Andreas machte ich mir keineswegs Sorgen, der hatte doch sowieso nicht den Mumm sich zu rächen oder auch nur aufzumucken. Seite 68 Ich dachte in letzter Zeit immer häufiger an Sylvia. Ich erinnerte mich überhaupt nicht mehr wie sie aussah. Doch an das Lächeln konnte ich mich nach wie vor gut erinnern. Ich fragte mich bloß, wie ich es anstellen sollte, sie jemals wiederzusehen. Westhausen war ungefähr fünf Kilometer entfernt. Mit meinem Rad war das schon eine weite Distanz. Was sie wohl jetzt im Augenblick machte? Vielleicht hatte sie inzwischen einen gefunden, der ihr gefiel. Das war sogar ziemlich wahrscheinlich. Ich hatte die ganze Woche nicht mehr Pad gesehen und das war auch besser so, denn ich war immer noch sehr beleidigt, weil er mich hatte sitzen lassen. Ich hatte den ganzen Nachmittag frei. Weder Schule, noch Hausaufgaben. Ich wäre heute gerne nach Westhausen gefahren, alleine um ihre Nähe zu spüren, doch regnete es in Strömen und ich glaubte nicht, dass sie an einem verregneten Tag wie diesen außer Haus gehen würde. Also lag ich fast den ganzen Tag im Bett und träumte davon, dass hoffentlich bald wieder die Sonne schien. Ich wurde keineswegs religiös erzogen, auch wenn meine Eltern gläubig waren. Sie ließen mir und meinem Bruder die Wahl, irgendwann einmal unseren eigenen Glauben zu finden. Doch wenn die Sonne schien und die Farben sich prächtig dem blauen Himmel präsentierten, stellte ich mir vor, dass eine höhere Macht am Werk war. Mit den Computerspielen, mit dem Fernsehen, mit der Technik Seite 69 und mit den schönen Ferraris, die die alten Säcke fuhren oder den geilen Motorrädern, die coole Rocker fuhren, konnte man sehr viel erreichen, doch einen strahlender Sonnenschein, mit einem abschließenden feurigen Sonnenuntergang konnte man künstlich nicht erzeugen. Mich faszinierte das jedes Mal aufs Neue, doch kam es leider zu selten vor, denn meist war der Himmel grau und bedeckt und im schlimmsten Falle wie heute, regnete es dann sogar. Immer wenn ich auf meine Alten oder auf die Schule keinen Bock hatte, nährte mich der Gedanke an meine alltägliche Heimfahrt durch das Grüne, im Rasen zu liegen und den Lauf der Wolken zu betrachten, in denen ich oft Zeichen sah, Gesichter oder Autos, oder Symbole. Sie waren immer wieder anders und das machte die Sache so interessant. Es läutete. Ich ging zur Tür und hoffte auf ein Wunder, welches es auch immer sein mochte. Ich öffnete die Tür. „Sag mal, geht das nicht ein bisschen schneller?“, fragte kläffend mein Bruder. Ich war wirklich nicht in der Laune ihm zu antworten. „Hey Kleiner, ich habe Dich was gefragt!“ „Wenn es Dir nicht passt, dann vergiss doch einfach nicht mehr Deine Schlüssel, hä!“ Er zog seine Schuhe aus, auch er gab immer fein acht auf Paragraph Nummer eins in der Hausordnung, kam auf mich zu Seite 70 und nahm mich plötzlich in den Schwitzkasten. Das war richtig fies. Man konnte sich in dieser gebückten Haltung nicht wehren und da einem die Kehle zugedrückt wurde konnte man nicht mal schreien, denn Luft war in diesen Augenblicken äußerst knapp. Ich versuchte ihm in die Eier zu treten, doch dadurch, dass er mindestens einen Kopf größer als ich war, kam ich nicht an sie ran. Er ließ ein bisschen locker und die Prügelei ging richtig los. Das waren immer die schönsten Momente mit meinem Bruder. Sich mit ihm zu schlagen machte großen Spaß und ihm vielleicht auch. Schließlich hätten wir uns so schlagen können, bis der andere kampfunfähig gemacht wurde, doch respektierten wir einander. Leider hörten die Kämpfe meistens blöd auf, denn entweder hatte er oder ich Nasenbluten. Das war ganz schlimm, denn wenn ein Tropfen auf den Teppich fiel, knieten wir beide auf den Teppich und versuchten wie besessen mit allen möglichen Waschmitteln und Chemikalien den Fleck wieder raus zu bekommen. Keiner von uns hatte Lust auf Ärger beim Abendessen. So auch diesmal. Ich hatte Nasenbluten. Er hatte mir dann wohl doch zu feste aufs Maul gehauen. Aber wir standen noch am Eingang und dort lagen glücklicherweise Fliesen. Tony nahm seine Tasche und ging auf sein Zimmer. Er tat neuerdings so seriös, denn er wurde bald achtzehn und bereitete sich auf seinen Führerschein vor. Seite 71 Gut, dass ich nicht sein Vater war. Ihm hätte ich bestimmt keinen Führerschein bezahlt. Das wäre doch eine unnötige und potentielle Gefahr für das Volk gewesen. Und überhaupt, ich hatte das Gefühl, dass mein Bruder mehr Afrikaner war, als Europäer. Der Europäer nämlich schrie erst dann, wenn er Schmerzen hatte. Der Afrikaner schrie schon vorher, wenn er den Schmerz vorausahnte. Immer kurz bevor ein Unglück geschah, schrie er auf. Das war unheimlich lustig, denn er war der Einzige, der so war. Aber seine lauten Schreie würden dann lauter Unfälle provozieren. Nach einigen Tagen traf ich im Schulhof Pad. Ich erkannte ihn von weitem, obwohl er mir den Rücken kehrte, wie er sich gerade mit einem Mädel unterhielt, die mir unbekannt war. Ich schlich langsam an ihn heran und schubste ihn mit einem kräftigen Ruck. Er stürzte auf das Mädchen und beide fielen zu Boden, wobei er auf ihr lag. Ich lachte laut auf. Obwohl Pad zunächst erschrocken war, genoss er förmlich die Situation und ließ sich viel Zeit mit dem Aufstehen. Das Mädel war hingegen schon ganz rot vor Scham. Pad gab ihr die Hand und half ihr auf die Beine. Sie war sehr beschämt. „Darf ich vorstellen. Das ist Lenny, ein klasse Kumpel. Und das ist Susie meine baldige neue Freundin.“ Wir gaben uns schüchtern die Hand. Seite 72 „So und warum ist sie erst Deine baldige Freundin?“ „Weil sie sich noch nicht so sicher ist, ob wir nun miteinander gehen sollen oder nicht.“ Er grinste ihr zu, sie kniff ihre Augen zu und streckte ihm die Zunge raus. „Du weißt ja, wie Mädels so sind.“ „Und ich weiß ja wie kleine Jungs so sind.“, kläffte sie bissig zurück. Ich versuchte das Thema zu wechseln. „Vielen Dank, dass Du mich hast draußen sitzen lassen.“ „Du meinst neulich im Nuit totale?“ Ich zog die Augenbrauen hoch. „Hey, jetzt sieh Dir mal Susie an, sieht sie nicht total süß aus? Hätte ich so eine Mieze alleine tanzen lassen dürfen.... Du verstehst?“ Er blinzelte mir zu. Sie blickte geschmeichelt auf den Boden, während er ihre Hand nahm. Gar nichts verstand ich, denn so toll sah sie nicht aus. Den Arsch fand ich zu breit. Und diese spitze Nase, also nein, die wäre nichts für mich gewesen. „Da hättest Du mal sehen sollen welche geile Schnecke ich erst kennengelernt habe.“ „Du? Dich haben sie doch nicht einmal durch die Gesichtskontrolle durchgelassen.“ Seite 73 „Stell Dir mal vor, er gibt auch noch andere Orte, wo man Mädchen ankert.“ „Mister Casanova klärt uns auf. Gebt fein Acht. Wie heißt die Olle denn?“ „Sylvia.“ „Sylvia. Und wie weiter?“ „Weiß ich nicht. Ich weiß lediglich das sie aus Westhausen kommt.“ „Ach die kenne ich.“, sagte Susie gelangweilt. „Sylvia Binder. Eine blöde eingebildete Kuh. Die findet alle Jungs blöd, behauptet sie, aber ich bin mir sicher, dass sie einfach nur eine Lesbe ist. Deshalb hat sie keinen.“ „Ach ja? Wenn sie eine blöde Kuh ist, dann bist Du eine dumme Schlampe.“ Pad fand, dass ich zu weit ging. Sie wollte mir gerade eine auswischen, als ich kurz vor meinem Gesicht ihre Hand ergriff. „Du überlegst zu lange.“, belehrte ich sie. Auf einmal bekam ich eine kräftige Ohrfeige von der anderen Seite. Diesmal war es Pad. „Du überlegst auch zu lange.“, sagte er. Ich war ganz schön beleidigt, strich mir mit der Hand über meine rote Backe, drehte mich um und verließ die Beiden, die nicht einmal wussten, ob sie nun zusammen waren oder nicht, mit den Worten: Seite 74 „Ach ihr könnt mich doch alle mal!“ Zumindest hatte ich nun herausgefunden wie Sylvia mit Nachnamen hieß. Das war mir eine Menge wert. Ich überlegte also den ganzen Morgen in der Schule, wie ich das Gespräch am Telefon anfangen sollte. „Hallo hier ist Lenny. Wie sieht’s aus, gehen wir zusammen aus?“ Nein, das war zu direkt. „Kommst Du heute Abend mit ins Kino?“ Das war irgendwie zu langweilig. „Hast Du inzwischen einen Freund? Es geht nämlich das Gerücht umher, Du seist lesbisch.“ Das war zu unverschämt. Am Nachmittag suchte ich im Telefonbuch nach Binder. Es gab drei Binder in Westhausen. Ich schrieb mir alle drei Nummern auf, kramte alle zehn Pfennigstücke auf, die ich nur finden konnte und machte mich auf den Weg zur nächsten Telefonzelle, denn ich hatte keine Lust, dass auf einmal einer aus meiner Wohngemeinschaft aufkreuzte. Wenn es mein Bruder gewesen wäre, so hätte er mich ständig genervt. Wären meine Eltern gekommen, so hätte ich mir im Hintergrund lauter Schreie zu Ohren bekommen lassen, mit Inhalten wie: „Denk an die Telefonrechnung.“, oder „Das zieh ich Dir von Deinem Taschengeld ab.“ Seite 75 Ich stand vor der Telefonzelle und fragte mich, ob das eine gute Idee war Sylvia anzurufen. Damit wäre ihr sofort klar geworden, dass ich sie mochte und das war generell nicht gut, Mädchen zu zeigen, was man für sie empfand. Denn dann fingen sie an Dich auszunützen. Mach dies, mach das, kauf mir dies, kauf mir das, lade mich hier ein, lade mich dort ein. Ich konnte ihr natürlich auch sagen, dass ich nur rein zufällig anrufe. Nein, das wäre auch blöd gewesen. Ich stand schon in der Telefonzelle, das Geld hatte ich schon eingeschmissen, doch zögerte ich lange, ihre Nummer zu wählen, beziehungsweise eine von den Dreien. Wenn ich aber nicht anrufen würde, so hätte ich nie herausfinden können, wie viel sie von mir hielt. Andererseits hatte ich keine Lust mir einen Korb zu geben. Das war äußerst schlecht für mein Selbstbewusstsein. Hypnotisiert wählte ich die erste Nummer auf meiner Liste. Es tutete. Das war wahrscheinlich sowieso die falsche Nummer. „Ja hallo.“ Ich erkannte sofort ihre Stimme und stellte mir dabei vor, wie sie lächelte. Ich träumte davon sie wiederzusehen und war schon in einer anderen Welt. Ich konnte keinen Ton von mir geben. „Hallo, wer ist denn da?“ So ein Mist, ich wusste nicht, was ich nun sagen sollte. Seite 76 „Ich finde das gar nicht komisch.“, fluchte sie in das Telefon. Ich legte auf. Ich fand das auch nicht gerade komisch, aber ich war nun mal viel zu aufgeregt, um auch nur irgendetwas zu sagen, geschweige denn etwas Vernünftiges. Ich hätte mich ohrfeigen können. Ich Idiot! Warum hatte ich nichts gesagt. Ein zweites Mal konnte ich sie nicht anrufen, zumindest was den heutigen Tag anging. Sonst würde sie ahnen, dass ich vorhin angerufen hatte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als einen Tag zu warten, um meine Haut auf ein weiteres zu riskieren. Ich fuhr durch den Wald, stieg spontan von meinem Rad und brüllte so laut wie ich nur konnte, in den Wald hinein. Ich ärgerte mich schwarz und brüllte weiter. Vorher hatte ich natürlich geschaut, dass niemand in der näheren Umgebung war. Nicht das mich jemand sonst für verrückt erklärt hätte oder so was. Morgen würde ich sie noch einmal anrufen. Auf jeden Fall hatte ich nun die richtige Nummer von ihr. Das war zumindest ein Anfang. Da stand ich nun wieder, einen Tag später, in der Telefonzelle und es fiel mir wieder schwer, ihre Nummer zu wählen. Es war sechzehn Uhr und ich konnte davon ausgehen, dass sie zu Hause war. Es läutete lange. Eine Frau ging an das Telefon. „Ja bitte.“ Sie war außer Atem. „Hallo. Ich würde gerne mit Sylvia sprechen.“ Seite 77 „Wer ist denn dran bitte?“ „Lenny.“ „Moment bitte, sie ist draußen im Garten, ich werde sie ans Telefon holen.“ Ich wartete ungeduldig und hüpfte dabei von einem Bein auf das Andere, ich merkte, dass ich auf einmal ganz dringend pissen musste. Ein Rückzug war nun nicht mehr möglich, denn ich hatte ihrer Mutter meinen Namen gesagt. Hätte ich mich doch bloß mit Hans oder so gemeldet. „Ja hallo.“, das war Sylvia. Mein Körper war wie gelähmt. Jetzt war ich gezwungen zu antworten. „Hallo.“ „Mit wem spreche ich denn?“ Oh je, na die musste ja viele Anrufe bekommen. „Mit Lenny, den Du letzte Woche in....“ „Ich weiß wer Du bist. Ich kann mich genau an Dich erinnern.“ Na bitte. „Das ist ja ein Ding, dass Du mich anrufst. Woher hast Du denn meine Nummer.“ „Ach man kennt halt so seine Leute. Ich hoffe, ich störe Dich nicht.“ „Nein, überhaupt nicht, obwohl meine Mutter schon im Hintergrund faucht, ich soll doch bitte im Garten weitermachen.“ Seite 78 „Aha. Was machst Du denn im Garten?“ „Rasen mähen. Der letzte Mist sag´ ich Dir.“ „Aha.“ „Wie geht’s Dir eigentlich?“ „Ach mir, ganz gut und Dir?“ „Mir geht’s auch gut. Warum rufst Du an?“ Tja, warum rief ich an? Was sollte ich ihr jetzt sagen? Wenn sie es bis jetzt nicht gecheckt hatte, warum ich wohl anrief. „Also ich wollte halt mal so wissen wie es Dir geht. Nein, stimmt nicht. Doch, also auch. Aber ich wollte Dich fragen, ob Du nicht Lust hättest, dass wir uns wiedersehen?“ Schweigen am Apparat. „Du hast angerufen um mir zu sagen, dass Du mich wiedersehen willst?“, sie klang richtig gerührt. „Ja. Ich mag Dein Lächeln.“ Ich hörte ihr zartes Atmen. „Das ist aber sehr lieb von Dir. Natürlich habe ich große Lust, Dich wiederzusehen, Lenny, ich bin halt nur so überrascht, dass Du mich wiedersehen willst, schließlich kennen wir uns doch nicht.“ „Na eben, deswegen will ich Dich ja kennenlernen, damit mich Du das, das nächste Mal nicht fragst.“ Sie lachte schüchtern. Ich lachte mit. „Und wann und wo sollen wir uns wiedersehen?“ Seite 79 „Also vor dem Wochenende kann ich wahrscheinlich nicht, denn ich muss für meine Klausuren lernen. Wir schreiben diese Woche gleich zwei Stück und meine Alten machen mir voll Stress.“ „Ach das kommt mir irgendwie bekannt vor.“ „Wieso, schriebt ihr auch zwei Klausuren?“ „Nein, ich meinte, dass mit den Alten.“ Sie lachte wieder. „Klar, lass uns doch einfach am Wochenende treffen. Wann und wo?“ „Am Samstag um acht am Anfang der Fußgängerzone in der Stadt.“ „Alles klar.“ „Lenny, nimm es mir bitte nicht übel, aber meine Mutter gibt mir wieder Zeichen. Aber wir sehen uns dann.“ „Sicher?“ „Warum sollte ich denn nicht kommen?“ „Ich weiß auch nicht.“ „Ich werde kommen.“ „Mach’s gut. Tschüs.“ Ich wartete ab, bis das Besetztzeichen kam, dann legte ich langsam auf. Jetzt musste ich nicht mehr pissen. Es hätte nicht mehr besser laufen können! Seite 80 Ich öffnete meinen Kleiderschrank. Ich fand, dass ich viel zu wenig Kleider hatte, viel zu einheitlich alles. Wie sollte ich mich für den Samstag Abend vorbereiten? Wenn ich wieder mit dem Rad fahren würde, so könnte es sein, dass es regnen würde. Dann würde ich ein äußerst übles Bild von mir geben. Also müsste ich wohl oder übel den Bus nehmen müssen. Das hieß im Klartext, auf den Bus warten. Ich konnte das Warten grundsätzlich nicht ausstehen, aber in einem Notfall wie diesem, blieb mir wohl oder übel nichts Anderes übrig. Aber vielleicht saß ja irgendein Junge aus der Nachbarschaft im Bus, den ich während dessen verprügeln konnte, als Zeitvertreib sozusagen. Ich gab die ganze Woche nicht einen Pfennig beim Bäcker im Schulhof aus, um mein Taschengeld für das Wochenende zu sparen. Schließlich musste ich Sylvia ja auf einen Drink einladen. Im Fernsehen zeigten sie immer, wie Gentlemans das machten und so einer war ich doch! Ich wollte niemanden um Rat fragen, wie man sich bei einem Date zu verhalten hatte, denn ich wollte mich nicht outen, indem ich sagen musste, dass dies mein allererstes Date mit einem Mädchen war. Der Samstag Abend nahte und ich bereitete mich schon mal mental darauf vor. Samstag Abend: Ich stand wieder verzweifelt vor meinem Kleiderschrank. Wie sollte ich mich zeigen? Klassisch in Seite 81 Jeans, rebellisch in Army-Hosen, sportlich in Jogging-Hose, grufti in Schwarz? Letztendlich entschied ich mich so zu zeigen, wie ich mich am besten fühlte. Klassisch in Jeans mit Turnschuhen und T-Shirt. Ich wartete mindestens fünf Minuten auf den Bus und als er endlich kam, hätte ich am liebsten den Busfahrer sein Lenkrad fressen lassen. Wahnsinn - die konnten einfach nie pünktlich sein. Wenn ich mal fünf Minuten später käme, so würde keiner auf mich warten. Ich setzte mich ganz hinten und zu meiner Enttäuschung saß niemand drinnen, den ich kannte. Der Bus fuhr los und als er bei jeder Roten Ampel anhielt, hätte ich kotzen können, denn mit dem Rad gab es keine rote Ampeln, oder überhaupt Ampeln. Man fuhr einfach weiter und da ich kein Nummernschild hatte, konnte mich demzufolge keiner bestrafen. Bis auf einmal. Da hatte mich so ein blöder Bulle erwischt und eine satte halbe Stunde über die Straßenverkehrsordnung referiert. Hätte er doch lieber zehn Mark verlangt. Dann hätte ich mir nicht sein theoretisches Gelaber reinziehen müssen. Ich nickte immer schön freundlich, bis er sich endlich verabschiedete. Bullen halt. Mindestens so langweilig wie Eltern oder Lehrer. Der Bus erreichte die Fußgängerzone und ich konnte Sylvia schon sichten. Sie saß auf der Bank der Bushaltestelle und blickte wie betäubt in die Landschaft. Ich fing an am ganzen Leib zu Seite 82 zittern. Ich war so aufgeregt, dass ich am liebsten erst gar nicht ausgestiegen wäre. Ich wollte schnell wieder nach Hause in mein Bett. Ich stieg aus. Ich ging auf sie zu. Sie erkannte mich. Sie stand auf..... und lächelte. Ich ging weiter auf sie zu. Sie fiel mir um den Hals. Ein unvergesslicher Moment des Glücks. Ich hatte das Gefühl die ganze Welt zu umarmen. In mir tobte der Bär. Ich schlang auch meine Arme kurz um sie. Nicht zu kräftig, sonst hätte ich sie womöglich noch erdrückt. „Hallo Lenny.“ „Hallo Sylvia. Schön Dich wieder zu sehen.“ „Schön Dich wieder zu sehen!“ Es war nicht zu übersehen, dass wir uns gleichermaßen über unser Treffen freuten. Wir gingen gemeinsam in ein Café ihrer Wahl, ich lud sie natürlich ein und wir unterhielten uns mindestens zwei Stunden über alles Mögliche. Und das Erstaunliche war, dass wir gar nicht mal so verschieden waren. Ich dachte immer, dass ich der Einzige wäre, der so dachte und dass mich niemand auf dieser Welt oder auch nur im geringsten meine ganz persönlichen Probleme verstand. Doch als sie ihre Ansichten und ihre Probleme erläuterte, hatte ich das Gefühl, dass sich mir eine neue Welt aufmachte, die mir gar nicht fremd war. Diese Welt war wunderbar, auch wenn sie mit den gleichen Problemen wie den Meinen bestückt war. Darin standen an erster Stelle die Eltern, an Seite 83 zweiter die Lehrer und an dritter zusammenfassender Stelle: wie kam man aus dieser Scheiße raus? Normalerweise schrie der Hauptdarsteller in den amerikanischen Filmen, mit erhoben Armen, die in den Himmel ragten, wenn er in einer glimpflichen Situation war: „Verdammt noch mal, wie komme ich bloß aus dieser Scheiße wieder raus!“ Im Hintergrund natürlich eine klassische Musik, die ein schweres, wenn nicht gar mystisches Ambiente wiedergab. Doch in unserem Fall konnte man ja nicht „wieder“ sagen, denn wir kannten schließlich nichts Anderes und wir waren vor allem nichts Besseres gewohnt. Auch sie hatte sich erstaunlicherweise zum Ziel erklärt vieles, wenn nicht gar alles zu ändern, sobald sie groß und reich werden würde. Am liebsten hätte ich ihr gesagt: „Bitte nimm mich mit!“ Aber womöglich hätte ich mich ihr gegenüber lediglich geoutet, sie hätte denken können, ich sei zu schwach, um diesen Weg alleine zu gehen. Doch in diesem Augenblick als ich ihr gegenüber saß und sie so sanft auf mich einredete, war ich auch wirklich schwach. So schwach wie ein Reptil, der sich mit nur zwei Beinen um die Erde zieht. Nach einer ganzen Weile schaute sie auf ihre Uhr und kündigte leider ihren Abgang an. Ich war darüber sehr traurig, doch musste ich wieder zur Seite 84 Besinnung kommen, denn sonst würden meine Eltern mich mit dem Baseballschläger bei meiner Ankunft begrüßen und darauf wollte auch ich es nicht unbedingt ankommen lassen. Ich begleitete sie also zur Bushaltestelle und so warteten wir gemeinsam auf ihren Bus. Wir wechselten die letzten Minuten kein Wort. Jeder hockte stillschweigend auf seinem Platz und regte sich nicht. Ich fragte mich, ob das eine gute Idee wäre, jetzt ihre Hand zu ergreifen, doch ich hielt es dann doch für angemessen, noch ein wenig Zeit verstreichen zu lassen. Beim nächsten Mal. Diese Minuten waren eine halbe Ewigkeit. Ihr Bus kam. Ich hätte weinen können. Ich hatte sie in der kurzen Zeit so lieb gewonnen! Wir standen beide auf und wieder nahm sie mich in den Arm, wir standen ein paar Sekunden eng umschlungen, bis der Busfahrer hupte. Ich schwor mir, dass wenn mir der Typ mal über den Weg laufen sollte, ich ihn standesgemäß und skrupellos kastrieren würde. Ich starrte ihn bissig an, während sie einstieg. Er fuhr gleich los und wir winkten uns zu. Das war ein Abend, den ich nie vergessen würde und ich hoffte, dass wir noch viele gemeinsame Abende verbringen würden. Ich hätte große Angst haben können, denn es hätte ja sein können, dass sie mich nicht mehr sehen wollte oder dass sie vielleicht in der Zwischenzeit einen Anderen kennenlernen würde. Aber zum Ersten Mal spürte ich so etwas wie eine Seite 85 innere Wahrheit. Eine Stimme, die mir sagte: sie würde mich nie anlügen, ich also erst gar nicht zu zweifeln bräuchte. Dann fuhr auch ich nach Hause. Am Wochenende durfte jeder aufstehen, wann er wollte, aber das Limit war um zwölf Uhr gesetzt, ansonsten gab es gleich wieder Geschrei in der Baracke und das Wochenende wäre wieder versaut gewesen. Auf einmal mehr oder weniger käme es eigentlich nicht mehr an. Aber meistens stand ich dennoch um fünf vor zwölf auf, wusch mein Gesicht und wenn ich mir die Zähne putzte, verteilte ich die schaumig, verschleimte Zahnpasta aus dem Mund über meine Backen und mein Kinn. Dann zog ich die schon leicht angetrocknete Paste mit der Zahnbürste sorgfältig ab, spülte sie hin und wieder aus und wiederholte diese Prozedur solange, bis alles abgespült war. Ich übte nämlich schon mal das Rasieren des Bartes, so dass wenn ich mal einen haben würde, mir die Umstellung nicht allzu schwer fallen würde. Und überhaupt, das machte mich männlich - fand ich. Beim Mittagessen stritten sich wieder einmal meine Eltern. Heutiges Streitthema war: Die Großeltern wollten zu Besuch kommen. Wenn die kamen, war immer morz die Party im Gange. Dann hieß es: „Ach bist Du aber gewachsen, Lenny.“ „Nein, ich bin Tony, der Kleine hier ist Lenny.“ Seite 86 „Ach, das ist ja auch egal, es ist wieder mal herrlich bei euch zu sein. Habt ihr schon was zu essen vorbereitet?“ Und dann pflanzten sie sich meist vor die Glotze und blieben dort auch meist bis zum Ende ihres Aufenthaltes sitzen. Dort schauten sie sich den größten Mist aller Zeiten an. Manchmal setzte ich mich dann dazu und schon nach nicht einmal fünf Minuten fand ich, dass das was da über den Bildschirm flimmerte so schwachsinnig war, dass mir schon vor lauter Fremdschämen der Sabber aus dem offenen Mundwinkel triefte. Und trotzdem, ich blieb immer bis zum Ende der jeweiligen Sendung sitzen, denn ich konnte einfach nicht glauben, dass es so einen Mist gab und vor allem, dass sich jemand diesen Scheiß reinzog. Man schaute weiter, weil man dachte, naja, die Pointe wird schon kommen. Aber nein! Die monotone Scheiße zog sich über Stunden hinweg. So ungefähr stellte ich mir das Leben eines Rentners vor. Ich hoffte, dass ich dieses Alter niemals erreichen würde, denn wenn ich mir meine Großeltern beim Fernsehgucken so anschaute, eine Hand hielt immer leblos die Fernbedienung, es hätte ja sein können, dass in einem anderen Sender noch ein größerer Scheiß lief, so stellte ich mir den Tod als eine Erlösung vor. Man konnte sie auch nichts fragen, denn die Antwort kam meistens etliche Minuten später. „Häää? Hast Du was gesagt Tony?“ Seite 87 „Nein, ich bin Lenny.“ Dann gab ich es auf. Allerdings durften sie nur bis um zwanzig Uhr das Programm wählen, denn dann war Schichtwechsel. Mein Vater schaute nämlich täglich und megapünktlich seine heißgeliebte Serie: Die Tagesschau. Ein paar Jahre lang hatte ich mir sie mit angeschaut, nicht etwa weil mich die Nachrichten aus aller Welt interessierte, oder so. Nein, ich blickte immer auf die Uhr und war jedes Mal über die gleiche Tatsache erstaunt: Die Ereignisse dieser Welt waren so konstant, so regelmäßig, so im Gleichgewicht, dass die Sendezeit jeden Tag exakt fünfzehn Minuten betrug. Ich hatte noch nie erlebt, dass sie mal länger oder mal kürzer dauerten. Wahnsinn! Heute allerdings wusste ich, dass die Nachrichten so zusammen geschnitten wurden, dass sie exakt die fünfzehn Minuten erreichten. Am Ende gab es dann immer noch die Wettervorhersage. Das wiederum hatte ich bis heute nicht verstanden. Denn egal was für ein Wetter angekündigt wurde, ob es nun schneien, oder regnen, oder die Sonne scheinen würde, es änderte nichts an der Tatsache, dass ich entweder in die Schule, oder aber Hausaufgaben machen musste. Was für einen Sinn ergab also die Wettervorhersage? Meine Mutter, auf jeden Fall, war jetzt schon ziemlich gereizt, denn mein Vater konnte ihre Eltern nicht ausstehen. Ich auch Seite 88 nicht, nebenbei bemerkt, denn sie gaben mir nur selten Taschengeld. Also versuchte meine Mutter raffiniert das Thema zu wechseln. „Wie war Dein Abend, gestern, Lenny?“ Ich hatte gerade eine Fuhre Reis ins Maul geschoben und meinte. „Mmmmhhhmm.“ Mein Vater daraufhin: „Und, was machen die Frauen?“ „Keine Ahnung, diese Spezies ist mir nicht bekannt.“ Mein Bruder lachte nur und sagte: „Der kriegt ja doch keine ab!“ Ich gab ihm einen Tritt in das Schienbein. Mein Vater legte die Gabel in den Teller und fing an, folgendes zu referieren: „Das mit den Frauen ist so: Wenn sie ja sagen, dann heißt das nein. Wenn sie nein sagen, dann heißt das vielleicht. Und wenn sie auf gar keinen Fall sagen, dann heißt das so viel wie ja. Ich weiß das aus eigener langjähriger Erfahrung.“, dabei schaute er meine Mutter an und blinzelte ihr zu. Bei einer Skala von null bis zehn hätte ich für die Bewertung eines Machos meinem Vater elf gegeben. Die Reinkarnation des Casanovas, mit dem Unterschied, dass er erfolglos blieb. Seite 89 Den Rest des Wochenendes verbrachte ich wieder einmal im Bett und hörte laute Musik, die ab und zu von meinem Vater leiser gedreht wurde, nachdem er immer wieder etwas vor sich her brummelte wie, „Geht das nicht ein wenig leiser?“, während ich weiter von ihr träumte. Schule? Ach das war mir doch völlig scheiss-egal. Warum sollte ich weiter lernen, wenn ich das gefunden hatte, wonach ich suchte? Was nützte mir all das Wissen, wenn ich jetzt mehr Wissen genoss, als vorher. Kein Buch, keine Erörterung, keine Gleichung und auch kein Geld dieser Welt konnten mir diese schönen Momente ersetzen. Doch der Alltag nahm seinen gewöhnlichen Trott ein und die schönen Momente mit Sylvia wurden von der Schule und von dem kläglichen Zuhause, oder sollte ich besser Wohngemeinschaft sagen, überschattet. Mir wurde langsam klar, warum diese Erde so langweilig war. Die schönen Momente, wie Freundschaft, Liebe und Urlaub, waren so kurz, dass der Alltag das mürbe Hirn abstumpfte und der Körper nur noch aus Reflex handelte. Das Wochenende ging vorbei und ich war auch recht froh darüber, denn meine Gedanken quälten mich ununterbrochen mit Fragen über Fragen. Wann würde ich Sylvia wiedersehen? Liebte sie mich? Liebte ich sie? Sollte ich sie anrufen? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht? Mit wem konnte ich darüber reden, ohne nicht gleich ausgelacht zu werden? Seite 90 Warum rief sie mich nicht an? Hatte sie keine Zeit? Wollte sie nicht? Wollten ihre Eltern nicht? Fragen über Fragen, die ich mit Aspirintabletten zu unterdrücken versuchte. Ich fand irgendwie, dass das Alleinsein einfacher war. Man hatte zwar weniger Spaß, aber dafür musste man sich nicht ständig irgendwelchen Fragen stellen. Ich lebte einfach nur für mich, mein Rad und den restlichen Problemen dieser Welt, abgesehen von den Nachrichten der Tagesschau und der Wettervorhersage natürlich. Vielleicht hatten die Erwachsenen deswegen die Arbeit erfunden. Wahrscheinlich hatten alle gerade eine Frau oder so kennengelernt und wurden auch von ihrem Unterbewusstsein mit betörenden Fragen belästigt. Darum arbeiteten sie so viel, um ihre Ängste, Sorgen, und Probleme zu unterdrücken. Ja, das musste es sein. Also nahm ich den Schulweg heute leichter als sonst in meinem alltäglichen Ritual auf. Das gehörte vielleicht zum Erwachsenwerden dazu? Aber wenn Erwachsenwerden hieß, so zu enden wie meine Lehrer und meine Eltern, dann wollte ich doch lieber in meinem aktuellen Stadium bleiben, ohne Schule versteht sich. Ich dachte fortwährend nach und nahm die Unterrichtsstunden gar nicht richtig wahr. Oskar musste wohl bemerkt haben, dass ich nicht bei der Sache war. Also bot er mir nach dem Unterricht an: Seite 91 „Wer als erstes an der Hauptstraße in Trozloch ankommt hat gewonnen und bekommt vom Anderen eine Cola bezahlt. Na, was ist?“ Das machte mich spontan hellwach. Das war gut. Das gefiel mir. Eine leicht verdiente Cola. „Du willst wohl verlieren, oder bist Du mit dem Moped da?“ „Nee, heute bin ich mit dem Rad da, mein Moped muss ich gerade reparieren.“ Von wegen, dachte ich mir. So wie er sich in der letzten Zeit angefressen hatte, musste er Sport treiben, um sein Übergewicht zu drosseln. Naja, ich wollte ihn jetzt damit nicht belästigen, denn ich wollte mir ja schließlich die Cola nicht entgehen lassen. Als Zustimmung unserer Wette gaben wir uns kräftig die Hand, wie es sich eben für echte Kerle gehörte. Ich konzentrierte meinen Atem auf die Extremsituation. Er blickte mich an. „Kann es losgehen?“ „Los!“ Wie zwei mutierte Affen rannten wir zu den Rädern. Ich öffnete mein Schloss, zwischendurch warf ich einen Blick auf Oskar, um zu sehen wie weit er schon war. Er fuhr schon los. Ich stieg auf und tritt in die Pedale, was das Zeugs hielt. Das Rad blieb spontan stehen, wie ein Pferd, das nicht mehr weiter wollte. So spontan, dass ich mich überschlug und mein Seite 92 Ellenbogen am Boden aufgeschürfte. Ich lag auf den Boden und verstand gar nichts mehr. Ich blickte auf den Boden, konnte aber keine Ursache erkennen, die mir meinen Weg versperrt hätte. Ich stand stöhnend auf und hob mein Rad auf. Ich schob es ein klein wenig vor mir her, bis ich erkannte, dass noch ein Schloss, dass nicht meins war, an meinem Vorderrad gekettet war. Das war Oskar! Die Drecksau! Das miese Schwein! Er hatte mich ausgetrickst und ich konnte nichts machen. Das sollte er mir büßen. Ich ließ das Fahrrad stehen und besorgte mir vom Hausmeister einen Bolzenschneider. Das war echt ein geniales Ding. Damit konnte ich das Schloss wie Butter durchschneiden. So ein Ding bräuchte ich im Unterricht. Ich müsste es einfach auf den Tisch legen und vor lauter Angst würde mich kein Lehrer mehr belästigen. Als Zeichen der Ermahnung würde ich so wie die Erwachsenen den Zeigefinger erheben. Halt! Bis hierher und nicht weiter. Und am besten dabei süffisant lächeln. Fest stand nun aber, dass ich Oskar eine Cola schuldig war. Ich fuhr langsamer als sonst nach Hause, denn ich überlegte mir schon einmal meinen gnadenlosen Racheakt aus. Und ich hatte da auch schon eine Idee. Am Nachmittag fuhr ich in die Stadt, in eine Apotheke. „Was wünscht der junge Mann?“ „Ich bräuchte so etwas wie ein Abführmittel.“ Seite 93 „Ist das für Dich oder für Deine Eltern.“ „Nein, für mich natürlich.“ „Wie lange hattest Du denn schon keinen Stuhl.“ „Keinen was?“ „Ich meine, seit wann warst Du nicht mehr auf Toilette?“ „Sie meinen, wann ich zuletzt ein Fax aus Darmstadt erhalten habe?“ Der Apotheker verdrehte die Augen. „Ach seit ungefähr eine Woche.“ „Das ist schlimm!“ Der Apotheker verschwand hinter den Regalen und kam mit einer durchsichtigen Tube mit einem langen Schlauch wieder. „Ich empfehle Dir dieses hier.“ Ich glotzte auf den langen Schlauch und wollte mir erst gar nicht ausmalen, wo genau der hin sollte. Ich zog meine Augenbrauen erschrocken hoch und fragte: „Geht das nicht ein bisschen menschlicher?“ „Wir haben auch Zäpfchen, oder Pulver. Aber das Pulver ist sehr aggressiv und reagiert schon nach zwanzig Minuten.“ Ausgezeichnet. Zwanzig Minuten, genau richtig für mich. „Zwanzig Minuten. Die nehme ich.“ „Das ist aber auch teurer. Das macht neun Mark fünfzig.“ Mir egal, das würde mir aber auch der Spaß wert sein. Ich kaufte sein teures Präparat und begab mich gleich nach Seite 94 Hause. Dort rief ich dann Gerd an um ihn als Komplize anzuheuern. Am nächsten Tag grinste Oskar mich an. „Hast wohl verloren. Wie kommt das wohl?“ „Ach ich war einfach nicht in Form.“ „Sicher?“ „Warum sollte ich mir nicht sicher sein?“ „Naja, dann können wir ja in der Pause die abgemachte Cola trinken.“ „Ach, lieber nach der Schule.“ „Wie Du willst, schließlich zahlst Du ja.“, er lächelte wie ein notgeiler Arsch mit Ohren. Warte nur ab, dachte ich mir. Nach der Schule sagte ich zu Gerd. „Komm Gerd, ich lade Dich auch ein. Ich will heute mal ein guter Verlierer sein. Hier. Zehn Mark. Besorg uns doch bitte drei Colas.“ Er nickte, nahm das Geld und ging los. Dabei zwinkerte er mir mit einem Auge zu. Oskar ahnte noch nichts. Er fragte mich: „Sag mal, gestern, war da nichts?“ „Was soll da gewesen sein?“, ich tat so, als würde ich nicht verstehen, was er meinte. Gerd kam wieder, mit drei Colaflaschen bestückt. Er grinste ein klein wenig. Wenn er sich jetzt mal bloß nichts anmerken lassen würde. „Also, auf Dein Wohl Oskar.“ Seite 95 „Ex oder Arschloch.“, sagte Gerd nüchtern. Wir stießen an und tranken auf Ex. Ah, das tat gut. Es ging doch nichts über eine kühle Cola aus der Flasche. Vor allem aber, wenn man wusste, was in Oskars Cola war. Wir redeten und lachten noch eine Weile. Dabei machte Oskar hin und wieder ein verstörtes Gesicht und fuhr sich fragend mit seiner Hand über seinen Bauch. Ich blickte auf die Uhr. Zehn Minuten. Es konnte losgehen. „Also Oskar, ich fahr dann mal los.“ „Ich auch.“, sagte Gerd. „Dann können wir ja gemeinsam fahren, Lenny?“, Oskar fragte das mehr höhnisch, als freundschaftlich. „Nein, das geht leider nicht, weil ich heute bei Gerd zum Essen eingeladen bin.“, Gerd wohnte nämlich in einer anderen Richtung. „Dann halt nicht. Also dann bis morgen. Ciao.“ Wir gingen schnell zu unseren Rädern und fuhren rasant los. Als wir den Wald erreicht hatten, versteckten wir uns im Gebüsch und warteten. Es würde nicht lange dauern, bis Oskar an uns vorbeifahren würde. Gerd holte sein Fernglas raus. Er drückte es an seine Augen. Er suchte eine Weile in der Landschaft, dann nickte er und hielt seinen Daumen hoch. „Gib her, lass mich mal schauen.“ Seite 96 „Warte, warte, ich glaube es geht ihm nicht sonderlich gut. Warte. Er steigt ab. In einer gebückten Haltung.“ „Das sehe ich auch, Du Idiot. Ich will aber seinen Gesichtsausdruck sehen.“ Er war ungefähr zweihundert Meter von uns entfernt. Nun verschwand er von der Straße und ging in den Wald. Wir schlichen uns in seine Richtung. Wir konnten ihn sehen. Er hatte schon seine Hosen heruntergelassen und stand in einer gebückten Haltung da. Ich nahm Gerd das Fernglas ab und schaute. Das war echt zum Totlachen. Sein Gesichtsausdruck war perfekt für den Film: „Ich gebäre ein Balg.“ Dabei versuchte er sich mit einer Hand an einem Ast festzuhalten, um nicht hinzufallen. Nun kam es zu Plan Nummer zwei. Gerd zückte einen Fotoapparat aus seinem Ranzen, den er sich von seinem Vater ausgeliehen hatte. Das sah aus, wie eine Panzerkanone aus den James Bond Filmen, ein morz Gerät, mit einem riesigen Objektiv. Damit konnte man das Bild näher holen, hatte mir Gerd erklärt. Das war auch gut so, denn ich brauchte ihn schließlich in groß. Gerd schoss nun die ersten Fotos. Dabei flüsterte er immer wieder schmunzelnd: „Oskar, Du bist einfach spitze.“ Seite 97 „Wir sollten ihm eine Rolle als Fotostar anbieten, in Cannes oder so.“ „Und in welcher Rolle soll er spielen.“ „Ist doch klar, oder? Wie nehme ich in zwanzig Minuten hundert Kilo ab.“ Wir lachten uns kaputt und er hielt sich wieder seinen Apparat vor die Augen und ich das Fernglas. Wir hätten ihn stundenlang beobachten können. Ich wusste gar nicht, was Jäger am Beobachten von Kaninchen und Rehen so toll fanden. Das hier war weitaus lustiger. Als Oskar fertig war, mit der ersten Fuhre, denn in der Gebrauchsanweisung stand, dass man mehrmals scheißen müsste und dass das am Arsch brennen würde und da Oskar kein Klopapier bei sich hatte, könnte das hoffentlich ganz schön brennen, ging er zu seinem Rad und fuhr weiter. Nicht besonders weit. Vielleicht hundert Meter, als er plötzlich wieder vom Rad stürmte und die Scheißerei von Neuem losging. Ach, ich hätte ihm stundenlang zuschauen können. Diese neun Mark fünfzig hatten sich jetzt schon gelohnt, zumal sich Gerd an fünfzig Prozent beteiligte. Ich stieß Gerd an. „Kommen wir nun zu Plan Nummer drei.“ Er nickte und holte aus seinem Rucksack ein altes Zahlenschloss hervor. Er hielt es mir vor mein Gesicht und schaukelte es in der Luft. Ich lächelte schadenfroh und riss es Seite 98 ihm aus der Hand. Er legte sich schnell das Fernglas an die Augen, während ich mich zu Oskars Rad auf dem Waldweg schlich. Oskar war offensichtlich noch beim Scheißen und ich kettete ihm sein Rad an einen schmalen Baum an. Jetzt wurde mir klar, wozu Bäume gut waren. Ich schlich mich wieder zurück und wir warteten bis Oskar zu seinem Rad zurückging. Fünf Meter vor seinem Rad blieb er stehen und hielt eine Weile inne. Er überlegte wohl. „Na, ob es wohl bald bei ihm klingelt?“, fragte mich Gerd. „Warten wir es mal ab.“ Dann brüllte er mit aller Kraft in eine beliebige Richtung: „Ihr verdammten Arschlöcher. Ihr Schweine. Ihr blöden Wichser! Scheiße, ich hätte es wissen müssen, dass ihr dahinter steckt. Das werdet ihr mir...“, aber seine Gedärme kniffen offensichtlich wieder, er musste sich bücken und hatte nicht einmal die Zeit sich im Gebüsch zu verstecken. Also schiss er mitten auf den Waldweg. Wir kicherten leise, klopften uns auf die Schulter und beobachteten ihn noch eine Weile, wie junge Kinder in einem Zoo, die noch nie eine fliegende Kuh gesehen hatten, bis wir uns verabschiedeten. „Bis Morgen Gerd. Und denk an Plan Nummer vier.“ Ich fuhr nun endlich nach Hause und überlegte mir, was ich nun an Oskars Stelle tun würde. Außer fluchen und zu Fuß nach Hause gehen, waren da wohl nicht viele Möglichkeiten. Seite 99 Das geschah ihm ganz recht. Das nächste Mal würde er sich vielleicht überlegen, wem er in Zukunft ein Schloss an das Rad ketten würde. Am nächsten Tag traf ich mich mit Gerd ein bisschen früher. Um genau zu sein, sehr früh, früher als die Schule begann. „Und wie sind sie geworden?“, fragte ich. „Schau selbst.“ Ich schaute mir die Fotos an und ab und zu konnte ich mir ein lautes schadenfrohes Lachen nicht verkneifen. Ich zeigte auf ein Foto, welches mir besonders gut gefiel. Man konnte sehr gut erkennen, wie Oskar gerade die Zähne zusammenbiss, die Augen dabei vor Anstrengung kniff und hinter ihm ein flüssiger, braun gefärbter Streifen den Wald bereicherte. „Dieses hier nehmen wir.“ „Jo!“ Ich zog aus meinem Rucksack Klebstoff und einen bedruckten Zettel heraus und klebte es hinter das grandios, auserwählte Foto. Dann gingen wir zum Klassenraum. Als wir im Unterricht saßen, mussten wir leider feststellen, dass Oskar heute nicht anwesend war. Was ihm wohl widerfahren war? „Dann müssen wir wohl oder übel bis morgen warten.“, meinte ich enttäuscht. Seite 100 Am darauf folgenden Morgen erschien nun endlich unser kleiner, verfressener Oskar. Er tat so, als wäre nichts gewesen. Ich ging auf ihn zu. Er schwenkte seinen Blick ins Leere. „Und willst Du Dich jetzt bei mir entschuldigen?“ Er staunte und bellte: „Das werdet ihr beiden mir noch bitter zurückzahlen.“, dabei hob er drohend seine Faust vor mein Gesicht. „Also geh ich richtig davon aus, dass Du Dich nicht bei mir entschuldigen willst?“, fragte ich seelenruhig. Er antwortete nicht, doch ich konnte das Brodeln seiner Magensäure hören. Dass er nicht sehr erfreut war, konnte sogar ein Blinder mit Krückstock erkennen. „Also gut, Du hast es ja nicht anders gewollt.“ und ging von ihm. Die alte Kollwitz öffnete den Raum und begann mit ihrem Unterricht. Ich hatte vorher das Foto unter einem Tisch der vorletzten Reihe gelegt. Nach etwa einer halben Stunde konnte man das erste Gelächter in den letzteren Reihen hören. Das Gelächter breitete sich allmählich im ganzen Raum aus. „Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte die Alte energisch. Es kicherte aus allen Ecken und Enden. Bis auf Oskar. Der hatte noch gar nichts gerafft. Sie beobachtete die Klasse, bis Seite 101 sie auf einen Schüler zuging und ihm das Foto aus der Hand riss. „Ich werde laut vorlesen, wenn Du nichts dagegen hast.“ Das war eine rhetorische Frage, denn sie las gleich vor. „Greenpeace fordert mehr Gerechtigkeit für unsere Wälder. Die Verschmutzung auf dieser Welt muss ein Ende finden. Menschen wie diese müssen rigoros mit Prügeleinheiten bestraft werden. Bitte weitergeben.“, dann drehte sie das Foto um. Ihr Mund stand vor Empörung so weit auf, dass man darin die Titanic hätte verschwinden lassen können. „Also.......das.....also....Unverschämtheit.....“, sie ging sofort zum Mülleimer und zerriss es wie eine Gestörte aggressiv und verzweifelt zugleich in kleine Stücke, konnte sich aber zwischendurch einen Blick auf Oskar, der dumm in die Landschaft stutzte, nicht verwehren. Sie war so rot vor Scham, wie ein Baby im Backofen, dass bei 180 Grad schmorte und verzweifelt an die Scheibe klopfte. Oskar hingegen brummelte nur vor sich hin: „Um was geht’s hier eigentlich? Warum schauen mich alle an? Stimmt was nicht?“ Früher oder später würde es ihm schon einer sagen. Ich hatte ihn ja gewarnt, aber er wollte ja nicht auf mich hören. Ja, ja, so konnte es eben kommen, wenn man sich unkooperativ zeigte. Wenige Tage später hatte dann wohl doch Oskar Wind von Seite 102 der Sache bekommen, denn er warf mir gelegentlich teuflische Blicke zu und wenn Blicke hätten töten können, dann wäre ich schon lange tot. Wir sprachen seit dem kein Wort mehr miteinander und was mich wunderte, er nahm nicht einmal Rache. Es klopfte an meiner Tür. „Herein!“ Mein Vater öffnete die Tür einen Spalt und schob seinen Kopf in mein Zimmer. „Ein Mädchen möchte Dich gerne sprechen.“ Ich wunderte mich. Wer könnte das sein. „Lass sie doch rein.“ Die Tür ging wieder auf. „Am Telefon meine ich natürlich.“ Ich stand auf und ging in das Wohnzimmer zum Telefon. Mein Vater glotzte wieder Fern und meine Mutter hing über der Fernsehzeitung und machte ihre Kreuzworträtsel. Was für ein Schwachsinn, fand ich. Adjektiv für Schule in acht Buchstaben. Das hätte ich zur Not noch gewusst. Aber ansonsten konnte ich darin keinen Sinn erkennen. Ich merkte, wie mein Vater den Kopfhörer ein klein wenig von den Ohren schob und meine Mutter die Ohren spitzte, so als ob ich nichts bemerken Seite 103 würde. Mein Bruder kam gerade aus der Küche. Also wenn das mal kein Zufall war. Na toll, dann rief einmal ein Mädchen bei mir an und die ganze Mannschaft war schon am Telefon versammelt. Ich nahm den Hörer ab. „Ja bitte.“ „Lenny, bist Du das?“ Hey, das war Sylvia. Das wunderschöne, lächelnde Geschöpf des Jahrtausends. „Hi, wie geht es Dir.“ „Ach ja. Ganz gut.“ „Warum rufst Du an?“ „Du hast mir gefehlt und da dachte ich mir, dass ich Dich mal zur Abwechslung anrufe.“ Ich stockte. Mein Atem wurde schneller. Was sollte ich denn nun antworten? Ich blickte eine Runde in das Wohnzimmer. Alle lauschten mit einem Ohr. „Moment bitte.“ Ich hielt mit einer Hand den Hörer zu und brüllte: „Sagt mal, kann man hier nicht in Ruhe telefonieren?“ „Hör mal Junge, das hier ist unser Wohnzimmer nicht nur Deins, also bitte.“, hieß es. Das war ja nicht zum Aushalten. Wie sollte ich das jetzt bloß machen, zum Einen etwas Nettes zu ihr zu sagen und zum Anderen so, dass meine Eltern oder mein Bruder nicht auf Seite 104 dumme Gedanken kommen konnten, damit sie mich damit noch jahrelang hätten ärgern können. „Um was geht es denn bitte?“, oh scheiße, das klang jetzt aber ziemlich geschäftlich. „Ich wollte Dich halt nur fragen, ob und vor allem wann wir uns wiedersehen.“, sie klang auf einmal erschüttert und hilflos. Wie sollte sie auch, nach so einer bescheuerten Antwort. „Ja....geht in Ordnung.“, antwortete ich ihr. Oh Mann, sie tat mir richtig leid. Was hockte auch diese elende Bande hier im Wohnzimmer rum. Und vor allem, warum hatten meine Eltern kein drahtloses Telefon. Sie sagte nichts mehr, ich konnte aber ihr Atem hören. Ich antwortete: „Okay, wir sehen uns dann in der Schule, ich bringe Dir dann die Hausaufgaben vorbei. Ciao.“ Ich legte schweren Gemüts auf. „Wer war denn dran?“, mein Vater hatte also tatsächlich das Gespräch mitverfolgt, wie der klägliche Rest des blöden Packs. „Ach nur so ein Mädel aus meiner Klasse, die die Hausaufgaben wollte.“, winkte ich ab. Mein Vater schob auch schon seine Kopfhörer zurück, meine Mutter konzentrierte sich wieder auf ihr Kreuzworträtsel und mein Bruder ging zurück in die Küche. Wie ein Haufen Ameisen, die sich schlagartig splitteten, sobald es nichts mehr Seite 105 zu fressen gab. Ich ging auf mein Zimmer und suchte schnell Zehnpfennigstücke zusammen und verließ das Haus durch den unteren Eingang. Ich fuhr zur Telefonzelle und wählte Sylvia an. „Hallo?“ „Sylvia, ich bin es Lenny.“ „Was sollte das denn?“ „Ach, meine Eltern lauschen immer mit, das mag ich nicht, deshalb war ich auch so abweisend zu Dir. Glaub mir, es hat nichts mit Dir zu tun! Jetzt bin ich in einer Telefonzelle und da können wir ungestört solange reden wie Du nur willst.“ „Naja, das hatte ich mir ja schon fast gedacht. Mit meinen Eltern ist das genauso. Nur mit dem Unterschied, dass wir drei Telefone im Haus haben und wenn ich telefoniere und jemand irgendwo anders den Hörer abnimmt, so kann man das Gespräch mitverfolgen. Das kann manchmal recht unangenehm werden.“ „Wem sagst Du das. Vor allem wenn man über seine Alten lästert.“ „Also, wann sehen wir uns wieder? Diesmal erwarte ich aber eine korrekte Antwort.“ „Wann immer Du begehrst, meine Dame.“ „Wie wäre es mit Donnerstag?“ Seite 106 „Da habe ich leider Schule, aber am Nachmittag ist dies durchaus im Bereich des Möglichen.“ „Hör doch auf Lenny. Du weißt, dass ich den Nachmittag meinte. Und rede jetzt bitte wieder normal mit mir.“ „Okay. Um fünfzehn Uhr in der Stadt?“ „Nein, von der Stadt habe ich genug. Ich möchte mit Dir alleine sein.“ Aha, was hatte das zu bedeuten? „Verstehst Du? Nur wir beide.“, hauchte sie weiter. Hey und wie ich das verstand! Deutlicher ging es ja wohl nicht mehr. Sie und ich. Ich und sie. Also wenn mir mal da das Glück nicht zulächelte. „Gut, kennst Du die blaue Wiese?“, das war voll in der Pampa zwischen Trozloch und Westhausen. „Ja. Das ist eine gute Idee, lass uns dort treffen.“ „Ich freue mich jetzt schon riesig.“ „Ich mich auch. Bis bald.“ „Tschüs.“ So ließ es sich doch viel leichter und angenehmer telefonieren, als wenn die ganze Bande mitlauschte. Ich fuhr nach Hause und freute mich riesig auf den Mittwoch Nachmittag. „Ich freue mich, dass Du gekommen bist.“ Seite 107 Sie lag neben mir auf der blauen Wiese und drehte ihren Kopf zu mir. Ihre Hand hielt sie über die Stirn, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. „Ich bin auch sehr froh.“ Wir schauten beide wieder in den strahlend blauen Himmel. Ich hätte jetzt gerne mein T-Shirt ausgezogen, nicht etwa um sie anzumachen, sondern weil mir zu heiß war. Aber das hätte sie eventuell missverstanden. „Glaubst Du an Gott?“ Sie überlegte eine gute Weile. „Und Du?“ „Nein. Also nicht direkt.“ „Na was denn nun?“ „Ich denke schon, dass es etwas gibt, etwas, das wir nicht verstehen können. Wenn wir auf diese Welt kommen, haben wir so etwas wie eine Seele, oder so, in einem fremden Körper. Wir brauchen viele Jahre, um mit diesem Körper zurechtzukommen. Wir machen mit dem was wir haben das Beste daraus. Zum Beispiel haben wir zwei Arme und dementsprechend passen wir all unsere Gebrauchsgegenstände unseren zwei Armen an, wie mein Rad zum Beispiel. Wie hätte das Lenkrad ausgesehen wenn ich siebzehn Arme hätte?“ Sie lachte. Seite 108 „Wir fühlen also auch nur mit zwei Armen. Wären wir mit siebzehn Armen auf diese Welt gekommen, so hätten wir gar keinen Unterschied bemerkt, da wir ja nichts Anderes kennen. Und genauso ist es auch mit den Augen. Wir nehmen es als selbstverständlich an, was wir sehen. Wenn ich aber in eine Steckdose schaue, so sehe ich nichts, obwohl da Strom ist. Wir hätten doch genauso gut Strom sehen können und wir würden dann diese Welt ganz anders sehen. Wenn es also regnen würde, so würden wir, geblendet durch das Blitzlichtgewitter durch das Aufprallen von Wasser auf Strom, Sonnenschein sehen und umgekehrt. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Also insofern glaube ich schon, dass es etwas gibt, was auch immer es sein mag.“ Ich starrte in den Himmel und hoffte, dass es etwas gab. „Komisch, so habe ich die Sache noch nie betrachtet.“ „Jetzt bist Du aber dran.“ „Ich glaube nicht, dass ich mir so viele Gedanken über Gott und die Welt mache wie Du. Aber zumindest beachte ich die zehn Gebote, denn die Angst, dass ich in der Hölle enden müsste, wäre zu groß für mich.“ „Also glaubst Du an Gott?“ „Ja, sonst würde ich jetzt nicht hier mit Dir liegen.“ Sie rückte näher, zog mich sanft an sich und küsste mich genau auf den Mund. Seite 109 „Ich denke, dass das überzeugend klingt.“, mein Mund stand vor Überraschung offen. Ich küsste sie auch auf den Mund. Als Antwort sozusagen. Das war so wunderschön. Ich hatte ja schon oft an meinen Arm probiert, wie das so wäre, mit dem Küssen, aber dass das so schön sein würde, hätte ich mir nicht im Geringsten erträumt. „Das gefällt mir.“, gestand ich ihr. „Das trifft sich gut, mir nämlich auch.“, dabei lächelte sie wieder einmal. Ich legte behutsam meinen Arm um ihren Kopf. Ihr blondes langes Haar streichelte dabei meinen Arm. „Ist Dir mein Kopf nicht zu schwer?“ „Du wirst mir nie zur Last fallen.“, gab ich zur Antwort. Wir lagen noch lange in der Wiese, aber keiner von uns getraute sich noch einmal den Anderen zu küssen. Als wir uns auf den nach-Hause-Weg machten und sich leider unsere Wege trennten, kniete ich vor ihr auf den Boden und fragte sie: „Sylvia, möchtest Du mit mir ausgehen?“ Ein klein wenig verdutzt war sie schon. „Kommt darauf an, was Du darunter verstehst. Meinst Du einfach nur zusammen gehen, oder zusammen sein.“ Das war doch wohl klar, oder? „Beides.“ Sie zog mich hoch, umarmte mich und flüsterte mir dabei ins Ohr: Seite 110 „Ich bin ja so froh, dass Du mir das sagst.“ Ich drückte sie fest an mich. „Also jetzt muss ich aber wirklich nach Hause.“ Dabei blickte sie mir tief in die Augen und gab mir mit ihren feuchten Lippen einen zarten Abschiedskuss. „Wann sehen wir uns wieder?“, fragte ich sie vorsichtig. „Spätestens im Himmel. Aber ich verspreche Dir, dass wir uns bald wiedersehen.“ Dabei setzte sie sich auf ihr Rad und fuhr los. Ich wartete kurz, fuhr ihr hinterher und schrie: „Warte, Du hast etwas vergessen!“ Sie hielt an und drehte sich um. „Was denn?“ Ich rannte auf sie zu und küsste sie noch einmal auf den Mund. Sie erwiderte den Kuss und es dauerte noch mindestens zehn Minuten bevor wir uns endgültig trennten. Ich fuhr strahlend wie ein Atomreaktor und völlig benebelt nach Hause. Zuhause hingegen war die Stimmung nicht sehr rosig, denn beim Abendbrot fragten mich meine Eltern: „Sag mal, wo treibst Du Dich den ganzen Tag rum?“ „Wieso, habt ihr ein Problem?“ Mein Vater ließ den Löffel in die Suppe fallen und brüllte: Seite 111 „Erstens stelle ich hier die Fragen und zweitens verbitte ich mir diesen Ton. Ich bin immer noch Dein Vater und nicht Dein Freund!“ „Hast Du wieder Ärger im Büro, oder was?“, schrie ich zurück. Ich stieß den Stuhl zurück, stand energisch auf und ging auf mein Zimmer. Meine Mutter folgte mir mit den Worten: „Lenny, ach Lenny, so warte doch.“ Das machten Mütter unheimlich gerne. Hinterherrennen, wenn der Dialog schon zu Ende war. Wenn man überhaupt von einem Dialog ausgehen konnte, meist war es ein homogener Monolog, ohne Witz und Pointe. Punkt. Ich schloss meine Tür, drehte den Schlüssel um. Ich schmiss mich auf mein Bett und weinte. Warum konnte nicht alles so einfach sein, wie mit Sylvia. Mein Vater klopfte an die Tür. „Also gut. Mir ist es völlig egal wo und mit wem Du Dich rumtreibst, Hauptsache Du bleibst nicht sitzen. Haben wir uns verstanden?“ „Laut und deutlich“, brüllte ich weinend zurück und zog mir die Decke über den Kopf. Ich hörte meine Mutter zu meinem Vater sagen: „Ich finde, dass Du zu streng zu ihm bist.“ Meine Eltern waren vielleicht lustig, jetzt wo das Schuljahr sein Ende nahm, wollten sie, dass ich nicht sitzen blieb. Ob es Seite 112 dafür nicht ein bisschen zu spät war? Was sollte es, ich lag auf den Rücken und starrte auf die Decke, bis ich einschlief. In dieser Nacht träumte ich wieder von Sylvia. Wir lagen gemeinsam am Strand, auf so feinem Sand, dass man glauben könnte, es sei mit kleingeschnittenen Seidestücken übersäht. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos, das Wasser Türkis wie in den Reiseprospekten und über uns hingen die Kokosnüsse an den Palmen, die sich vom Wind streicheln ließen. Sie hatte ihren Kopf auf meine starke Brust gelegt, als eine Kokosnuss genau neben mich fiel. Ich fragte sie: „Baby, hast Du Durst?“ Sie blinzelte, was so viel wie „Ja“ hieß. Ich erhob meine Hand und zerschlug die Kokosnuss entzwei. Eine Hälfte reichte ich ihr rüber. „Trink!“ Sie setzte sich auf und schlürfte die Kokosnussmilch gierig hinunter. Sie stand auf und holte ein Palmenblatt, dass sie auf meinen Körper legte. „Vorsicht, sonst bekommst Du noch einen Sonnenbrand.“ Ach war das schön! Auf einmal riss mir irgendein Vollidiot brutal das Palmenblatt von meinem Körper. Ich versuchte meine Augen zu öffnen. Tony stand vor mir. Seite 113 „Aufstehen, Du faule Ratte.“ Er wollte gerade aus dem Zimmer gehen, als er mich ansah und lachte: „Sehe ich richtig, oder täusche ich mich bloß. Hat unser kleiner Bruder etwa das Stadium der Pubertät erreicht?“ Dabei starrte er auf meine Genitalien. Ich blickte nach unten und schämte mich. „Hau bloß ab, Du Arschloch.“, brüllte ich. Er grinste mich an. „Raus jetzt und zwar sofort!“ Ich schmiss ihm mein Kopfkissen ins Gesicht. Er lachte nur. „Lenny wird zum Maaaann, Lenny wird zum Maaaann.“, sang er schadenfroh. Na, der Morgen fing ja ausgezeichnet für mich an. Ich durfte während des ganzen Frühstücks sein dummes Grinsen über mich ergehen lassen. In der Küche gab ich ihm dann einen Tritt in den Arsch. Er drehte sich langsam um und sang melodisch: „Lenny wird zum Maaaann, Lenny wird zum Maaaann.“ Ich machte mich auf die Socken, früher als gewöhnlich, denn sein albernes Getue ging mir echt auf den Sack. Diese Woche schrieben wir auch noch einen Englischtest und außer „Fuck you“ und „Shit“ beherrschte ich nicht sonderlich gut diese ausländische Sprache. Ich konzentrierte mich dennoch darauf Seite 114 und versuchte die Vokabeln in mein Hirn einzutrichtern. Am Tag der Prüfung fragte mich Oskar vor dem Klassenzimmer: „Und? Gelernt?“ „Sehe ich vielleicht wie ein Loser aus?“ „Ja, denn es geht das Gerücht rum, dass Du in diesem Jahr sitzen bleibst.“ Ich packte ihn am Kragen und konterte: „Ich wette, dass ich eine bessere Note absahne als Du.“ „Ist ja gut, hab Dich doch nicht gleich so.“ Ich war recht stinkig, ließ ihn los und schubste ihn dabei von mir. Na toll. Ich hatte nicht einmal einen Spickzettel vorbereitet. Das konnte ja heiter werden. Frau Müller, unsere Englischlehrerin, in Fachkreisen, die letzte Reihe, wurde sie auch das „aufrechtgehende Hamster“ genannt. Ihre vordere Zahnreihe stand so weit vor, dass selbst wenn sie den Mund geschlossen hatte, mindestens zwei bis drei Zähne hervorschauten, was zur Folge hatte, dass immer ein bisschen Mundschleim am Mundwinkel hinunterfloss und sie verzweifelt versuchte beim Einatmen den Schleim wieder hochzuziehen. Das klang immer unheimlich appetitlich. Sie öffnete uns die Tür. Alle setzten sich in Windeseile an ihren Platz und packten ihre Mäppchen aus. Ich ließ mir Zeit. Sie begann mit dem Verteilen der Blätter, legte sie dabei immer umgekehrt auf den Tisch. Es gab A- und B-Blätter, so dass keiner erst auf die Seite 115 Idee kam, abzuschreiben. Man durfte das Blatt erst umdrehen wenn sie ein Zeichen gab. Das war ja schlimmer als bei der Bundeswehr. Außer gehorchen durfte man gar nichts. Sie begann bei uns, der letzten Reihe. Sie kehrte uns den Rücken und teilte die Blätter in den vorderen Reihen aus. Ich sah keinen Ausweg mehr und mir war auch schon ganz schwarz vor Augen. Ich zückte schnell mein Englischheft hervor, öffnete es auf der richtigen Seite und legte es unter meine Oberschenkel, so dass ich darauf saß. Gerd blickte mich fragend an. Ich zog den Mundwinkel hoch, er lächelte verständnisvoll. „So ihr könnt jetzt die Blätter umdrehen. Ich wünsche euch viel Erfolg.“ Alle drehten zeitgleich ihre Blätter um. Dieses ultimative Kommandieren hatte ich satt. Gut, es konnte also losgehen. Ich schaute auf das Blatt. Ich wusste maximal ein Viertel, nicht mehr. Ich übersetzte zunächst das, was mir bekannt war und dann schaukelte ich ganz langsam mit dem Stuhl nach hinten, spreizte ein wenig meine Beine und blickte in mein Heft. Aha. Wieder ein Wort mehr. Ich spielte dieses Spiel eine ganze Weile, als langsamen Schrittes Frau Müller nach hinten kam. Langsam wippte ich meinen Stuhl wieder zurück, schob meinen Hintern so auf den Rand, dass man die Kante meines Heftes nicht mehr erkennen konnte. Sie setzte sich auf den Seite 116 Tisch schräg hinter mir. Verdammt noch mal, was starrte mich diese blöde Kuh so an? „Na, Lenny, wie sitzt man so auf einem Englischheft?“ Scheiße, das war es dann wohl! Zumindest sollte ich ihr eine Antwort geben. „Ach ja, recht gut.“ Sie ging an mir vorbei. „Wir sprechen uns nachher.“ Ich legte meinen Füller behutsam auf das Blatt. Für mich war das Spiel aus. Wie sollte ich das bloß meinen Eltern erklären? Wie sollte ich das bloß Sylvia erklären? Wie sollte ich es nun schaffen nicht sitzen zu bleiben? Und wie sollte ich die Wette mit Oskar gewinnen? Ach das Leben kam mir in diesem Augenblick so sinnlos vor, so nüchtern, so entmutigend. Ich beobachtete die Anderen. Wie angekettete Sklaven schwitzten sie über ihre Aufgabenblätter, als würde es um ihr Leben gehen. Mich wunderte, was alle so sehr bewegte, so viel zu büffeln. Das war doch kein Leben mehr. Das war doch schlimmer als ein Schwein in dem Käfig, das darauf wartete endlich geschlachtet zu werden, aber versuchte seine Sorgen zu vergessen indem es fraß. Wahrscheinlich hieß es auch deshalb „fressen wie ein Schwein“. Wozu war ich auf diese Welt gekommen? Um mir diesen Stress anzutun? Dieses Gerödel? Diese Folter? Eine Welt in der man weder lachen Seite 117 durfte, noch sagen was man dachte. Wie in den Erörterungen. Da hieß es immer, dass jeder eine freie Meinung haben durfte. Das stimmte, doch immer nur zu einem vorgeschriebenen Thema, das kein Schwanz interessierte. Wo blieb also da noch die versprochene Freiheit? „So Kinder, die Zeit ist abgelaufen. Legt bitte die Füller ab, ich sammle jetzt ein.“ Einige schrieben noch schnell die letzten Wörter, wie so Gestörte in der Anstalt. Bis auf Birgit natürlich, sie war ja so schlau, so toll, so umwerfend. Sie saß schon seit einer Weile steif auf ihrem Stuhl, so als hätte man ihr einen Stahlträger in den Rücken geschoben und lächelte stolz in die Runde, denn sie war schon fertig. Hoffentlich gab es einen Himmel, denn sollte sie es schaffen dorthin zu kommen, so würde ihr ganz schön langweilig werden, denn dort würde es keine Schule geben, keine Klausuren, kein lernen, kein büffeln und hoffentlich auch keine Birgits, keine Frau Müller, keine alte Zicken und keinen Auer. Jeder wäre vermutlich auch sein eigener Herr, also auch keine Eltern. Aber jetzt war ich nun mal hier und versuchte das Beste daraus zu machen. Mir blieb jetzt wirklich nur eine, aber wirklich auch nur eine, die letzte Chance die Sache zu bereinigen und die galt es hier und jetzt zu versuchen. Ich hatte mir das mal ausgedacht, für den Fall, dass alles schiefgehen würde. Das Dumme war nur, dass ich Seite 118 diese Taktik nur einmal anwenden könnte. Ich wartete also, bis alle, bis auf Frau Müller natürlich, das Zimmer verließen. Als Gerd ging, klopfte er mir noch vorher auf die Schulter und sagte mit einem Hauch von Mitleid und Schadenfreude: „Viel Spaß.“ „Lenny, komm vor bitte.“ Ich hatte meine Sachen schon gepackt, nahm meinen Ranzen und schob den Stuhl vorsichtig zurück. Ich ging vor und humpelte mit dem rechten Bein. Sie starrte mich an und neigte ihren Kopf zu meinem rechten Bein. Dabei runzelte sie fragend die Stirn. „Hast Du Schmerzen am Bein?“ „Ach nein,“, ächzte ich stöhnend, hielt mir die Hand an das Bein, „es geht schon.“ „Hast Du Dir wehgetan?“ „Nein Frau Müller, es ist alles in bester Ordnung.“ Sie änderte ihren Ton. „Also gut, jetzt zu uns beiden. Du weißt, dass Dein Notenpegel äußerst niedrig liegt. Die Gefahr, dass Du sitzenbleibst ist sehr groß. Und das was Du uns heute hier gezeigt hast, erschwert Deine Schullaufbahn, zumindest für dieses Jahr, erheblich. Du weißt auch, dass ich Dir dieses Mal eine glatte sechs gebe und Du somit beim nächsten Mal mindestens eine zwei, wenn nicht eine eins benötigst. Nicht, dass ich Dich entmutigen will, Seite 119 aber so wie ich Dich kenne, wird das unter den Fünfern und jetzt Sechsern ein echtes Problem.“ Ich nickte fortwährend, schaute dabei aber auf den Boden. „Schau mich an, wenn ich mit Dir rede.“ Ich erhob meinen Kopf und blickte sie betrübt an. Tränen standen in meinen Augen. „Es tut mir wirklich leid, dass ich so dumm war, ich wollte einfach nicht meine Eltern enttäuschen. Sie legen so viel Wert darauf, wissen Sie.“ Ihr Ton wurde sanfter. „Deinen Eltern werde ich übrigens einen Brief schicken.“ Meine Augenbrauen zuckten, meine Hände ergriffen ihre Hand. Ich heulte schluchzend. Hoffentlich sah mich jetzt keiner. „Bitte nicht! Alles bloß das nicht!“, winselte ich verzweifelnd. „Aber Lenny, hör auf, ich muss das machen, das ist meine Pflicht als Lehrerin.“ „Ich schwöre, dass ich so etwas nie, nie wieder machen werde,“ zumindest nicht bei Dir, dachte ich mir, „ich habe einen großen Fehler getan, aber bitte keinen Brief an meine Eltern.“, winselte ich, wie ein Köter an der Gasse. Meine Stimme wurde leiser. „Keinen Brief an meine Eltern.“ Meine Stimme wurde noch leiser. Seite 120 „Keinen Brief an meine Eltern.“ Sie wartete und beobachtete mich. Ich strich mir mit der Hand über das Bein. „Keinen Brief an meine Eltern.“ Sie hob mein Kinn mit ihrer flachen Hand und schaute tief in meine wässrigen Augen, dabei floss eine Träne die Backe herunter. An der Kinnlade angekommen bewegte sie sich langsamer, zögerte - und fiel letztlich zu Boden. Doch konnte man sie nicht hören, denn der Teppich saugte die salzige Träne gierig auf. „Aber Lenny, warum sollte ich ihnen denn keinen Brief schreiben.“ Ich schüttelte den Kopf. „Mir kannst Du es sagen, ich bin Deine Vertrauenslehrerin.“ Ich schüttelte den Kopf. Sie zögerte eine Weile, bis sie mich fragte und den Ton anhob: „Lenny....... schlagen Dich Deine Eltern?“ Na, das hatte aber lange gedauert, bis sie das raffte! Ich blieb starr. „Lenny, antworte mir bitte.“ Ich flüsterte schluchzend. „Aber nur wenn sie es keinem weitersagen.“ „Ja natürlich, aber nun sag es mir, schlagen Dich Deine Eltern?“ Seite 121 „Nur wenn sie es schwören, es keinem weiterzusagen.“ Sie schwörte. „Also, ich höre.“ Ich nickte. „Also Deine Eltern schlagen Dich?“ Ich nickte und rieb mir mein rechtes Bein. „Und das mit dem Bein....“ Ich nickte. „Aber nur wenn ich schlecht in der Schule war.“ „Und das bist Du ja zur Zeit.“, gab sie von sich und atmete dabei tief aus. Sie wartete, während sich am Teppich eine feuchte Stelle ausbreitete, die gierig weitere herunterfallende Tränen saugte. „Also hör zu........ Nein schau.“ Sie nahm meinen Prüfungsbogen und zerriss ihn eigenhändig. Ich konnte recht stolz auf mich sein, fand ich. „Dieses letzte Mal möchte ich ein Auge zudrücken, wenn Du mir versprichst, das nächste Mal zu lernen. Versprich es mir.“ Ich nickte mehrmals schluchzend. „Und jetzt geh und mach Dir mal keine Sorgen, solange Du lernst, wird Dir ja wohl nichts geschehen.“ Es war mehr eine Frage als eine Aussage. Ich flüsterte leise: „Danke, Frau Müller.“ Seite 122 „Schon gut. Und jetzt geh!“ Ich humpelte inzwischen schon so sehr, dass ich mein Bein hinter mir herziehen musste. Das sah echt behindert aus und allem Anschein nach war ich nun dazu verpflichtet das mindestens eine Woche zu machen, als Alibi sozusagen. Naja, zumindest war ich dem Fiasko noch einmal aus dem Weg gegangen und ich schwor mir, bis zum nächsten Mal viel, viel zu lernen. Also verbrachte ich die ganze Woche damit zum Einen zu humpeln, das war unheimlich schwierig, da ich ständig dummen Kommentare ausgesetzt war, zum Anderen jeden Mittag schnell den Briefkasten zu lehren, ob nicht vielleicht doch ein Brief von Frau Müller an meine Eltern gerichtet war. Aber sie hatte Glück. Sie hatte ihnen nicht geschrieben. Ich saß also wieder einmal bei der alten Kollwitz im Unterricht, als ob das nie ein Ende nehmen würde, zwischen Andreas und Florian und ich hatte irgendwie das dumpfe Gefühl, dass da irgendetwas im Gange war. Beide grinsten so dumm in der Gegend, das war nicht mehr normal. Jedes Mal wenn ich entweder zu Florian oder Andreas schaute, schauten sie schnell weg. Schaute ich wieder nach vorne, schauten sie mich an. Das nervte ganz schön. Also haute ich auf den Tisch und sagte ihnen: „Jetzt hört aber mal auf.“ Seite 123 Na, bestens, schon drehte sich die Alte um. „Lenny, ist bei Dir alles in Ordnung, ich meine sonst geht es Dir noch gut?“ „Die beiden hier nerven mich die ganze Zeit.“ „Das unschuldige Schäfchen hat gesprochen. Jetzt weißt Du ja, wie ich mich manchmal mit Dir fühle.“ Sie grinste und setzte ihren Unterricht fort. So eine blöde Kuh. Das war die Wahrheit verdammt noch mal. Ich schenkte meinen Nebensitzer keine Aufmerksamkeit mehr und so spielten sie das Spielchen weiter. Ich hob meinen Finger. Die Alte schielte mich an. „Die beiden hier nerven mich ständig.“ „Jetzt ist aber wirklich Schluss, Lenny.“ Beide lachten sich ins Fäustchen. Ha, ha, ha. Wenn ich bloß wüsste was hier im Gange war. Es verstrich eine Weile, bis es auf einmal abartig nach Scheiße stank. Nein, nach faulen Eiern. Nein, nach den Toiletten, nachdem Herr Auer das Klo benutzt hatte. Abartig. Völlig kranke scheiße. Mir wurde ganz schlecht. Ich hielt mir die Nase zu. Doch der Gestank war so unerträglich, dass ich aufstand, um mich ihm zu entfernen. Frau Kollwitz blickte mich fragend an. Bis sie auch plötzlich das Husten anfing und sich spontan die Nase zuhielt. Innerhalb kürzester Zeit erreichte der Gestank die ganze Klasse und alles quetschte sich in Richtung Fenster, die Seite 124 mittlerweile weit aufgemacht waren, mit zugehaltener Nase und Tränen in den Augen. Drei vollgepackte Mannschaften an drei geöffneten Fenstern, das war ein vielleicht ein Getümmel. Man hätte glauben können, dass drei Rugby-Bälle an Fenstern geschraubt wären und sich alle nun darauf türmten, um die Bälle nicht entkommen zu lassen. Frau Kollwitz stand noch als Einzige in dem leeren Raum, hielt sich aber auch die Nase zu. „Lenny, es reicht mir jetzt definitiv mit Dir!“, sie versuchte zu schreien, aber mit zugehaltener Nase fiel ihr das ziemlich schwer und zudem lachte die ganze Klasse, denn sie klang nicht gerade wie eine autoritäre Person, sondern eher wie Kermit der Frosch. Ich versuchte in dem Getümmel eine Antwort in ihre Richtung zu geben, auch im „Kermit der Frosch“ Stil: „Aber Frau Kollwitz! Das war ich nicht. Ich bin mir sicher, dass das Andreas und Florian waren. Die versuchen mich ja nur auszutricksen.“ Die ganze Klasse lachte. Offensichtlich nahm mir das keiner ab. Also bewährte sich doch das Sprichwort: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht. „Erstens mal liegt die Stinkbombe genau unter Deinem Tisch, “ sie wies mit ihrem Zeigefinger auf das geöffnete Alibi, „Zweitens siehst Du an der Reaktion Deiner Mitschüler, dass Seite 125 Dir keiner glaubt. Selbst ich nicht. Ich gehe jetzt zur Schulleitung und besorge uns erst einmal ein anderes Klassenzimmer, bis der Gestank fort ist.“ Daraufhin verließ sie ebenfalls stinkig wie der Gestank das Zimmer. Alle redeten ununterbrochen wie scheußlich der Gestank war. Vereinzelt waren sogar Stimmen wie: „Coole Aktion, Lenny.“, zu hören. Na toll. Diesmal war ich doch wirklich restlos unschuldig. Es verstrichen wenige Minuten, als sie auch schon mit dem Herr Auer wiederkam. Er hielt sich ein nasses Taschentusch vor die Nase. „Kinder ihr geht bitte in den Raum nebenan und wartet artig auf mich. Birgit, ich übergebe Dir die Verantwortung. Und Du Lenny, kommst bitte mal mit uns.“ Der Rektor verließ ebenso schnell den Raum, er hatte einfach kein Durchhaltevermögen. Alle packten ihre Sachen in Windeseile, einhändig versteht sich, die andere Hand war ja für den Schutz des Geruchs zuständig, dass sah unheimlich lustig aus, zumal es nicht meine Schuld war. Ich ging gegen meinen Willen zur Schulleitung. Herr Auer hustete noch und holte erst einmal tief Luft, bevor er seine Rede abhalten konnte. „Diesmal Freundchen blüht Dir Bitteres.“ Er packte mich bei meinem Ohr und zog es nach oben. Seite 126 „Ich war das nicht, wirklich Herr Direktor.“, winselte ich um Vergebung. Die Alte stand neben ihm und schüttelte den Kopf. Er zog kräftiger. „Ich brauche nur einen Blick in das Tagebuch zu werfen um zu erkennen, dass unter den Ermahnungen Du am häufigsten vorkommst. Ergo bist Du der Schuldige und das wird bitter bestraft.“ Was war das denn bitte für eine Logik? Das wäre genau dasselbe, wie wenn ich sagen würde, dass alle Lehrer doof waren, bloß weil alle die ich kannte auch doof waren. Aber nach der Logik begriff ich nun, dass alle Lehrer nicht doof waren, sondern einfach nur saudoof. Er zückte ein recht dickes Taschenbuch hervor und hielt es mir unter die Nase, während er immer noch an meinem Ohr zog. Möchte mal wissen wie er sich gefühlt hätte, wenn ich ihm am Schwanz gezogen hätte. „Dieses Buch wirst Du lesen und ein mindestens zehnseitiges Resümee schreiben. Dabei lässt Du mir oben und unten zwei Zentimeter Zentimeter. Platz, Name rechts links und links oben, eins Datum Komma rechts fünf oben, Seitenzahlen mittig unten.“ „Das ging mir jetzt ein klein wenig zu schnell, können sie mir das bitte schriftlich geben?“, gab ich frech zur Antwort. Seite 127 Er zog noch einmal kräftig an meinem Ohr, ließ es los und brüllte: „Mach, dass Du raus kommst, Du Lümmel!“ „Bin ja schon fort.“, rieb mir mein Ohr, es hing schon zwei Zentimeter tiefer und eins Komma fünf Zentimeter abstehend vom Kopf und schloss sanft seine Tür. Lümmel. Was Besseres fiel ihm wohl nicht ein. Gut, dass ich nicht sein Zeugnis schreiben musste. Sonst hätte ich über ihn geschrieben: Ihrem Sohn fehlt es an kreativer Phantasie im Umgang mit der Rhetorik unserer Sprache. Auch muss er ständig ermahnt werden, seine Aggressionen nicht in Handgreiflichkeiten übergehen zu lassen. Große Sorge bereitet uns aber nach wie vor sein Outfit. Wir raten ihm dazu, sich zu rasieren, regelmäßig, mindestens einmal die Woche zu waschen und vor allem eine neue Hose zu kaufen, denn seine Gegenwärtige ist am Arsch so ausgebeult, dass man hätte meinen könnte, geprüft hat es allerdings bisher noch keiner aus hygienischen Gründen versteht sich - also bleibt es nach wie vor bei einer Vermutung, er in seine Hosen geschissen hat und das nicht zu dürftig. Lümmel, wie langweilig. Lehrer und Eltern konnten einfach nicht aussprechen, was sie dachten. Arschloch, kleiner Scheißer, Dumpfbacke, kleinkarierter Hosenpisser, Wichser, das war es doch was sie von mir dachten. Aber Lümmel, das Seite 128 hielt ich eher für ein Lob. Trotzdem, da konnten sie lange warten, dass ich ein Buch lesen, geschweige, dass ich eine Zusammenfassung schreiben würde. Nicht mal ein leeres Blatt würden die zu Gesicht bekommen. Die Tür ging hinter mir auf und die Alte schrie mir hinterher: „Lenny, Du hast das Buch vergessen!“ „Ach ja richtig. Meine spirituelle Fundgrube. Meine Existenz, meine Daseinsberechtigung.“ Ich schüttelte nur zynisch mit dem Kopf und nahm es ihr aus der Hand. Ich schaute auf das Buch. „Kleider machen Leute“, von Gottfried Keller. Na der kannte wohl nicht den FKK-Strand. Und offensichtlich hatte es mein Rektor auch nicht gelesen. Ich beschloss es in die Bibliothek meines Vaters zu stellen. Da würde sich das Buch bestimmt ausgezeichnet machen. Gratis und völlig unverbindlich dazu. Ich ging in unseren „neuen“ Klassenraum und verborg meine Wut gegenüber Andreas und Florian, um mir nicht noch ein tolles Buch schenken zu lassen. Andreas hielt mir grinsend die Hand hin. „Jetzt sind wir quitt.“ Ich überlegte. Auch wenn ich ein äußerst schlechter Verlierer war, nickte ich und schlug ein. „Okay“. Ich war froh, dass die beiden wenigstens etwas von mir gelernt hatten. Sich nicht alles gefallen zu lassen. Seite 129 Die letzten Schulwochen waren weniger lustig. Ich sah Sylvia immer seltener, nicht weil ich sie nicht sehen wollte, oder etwa umgekehrt, sondern weil ich die meiste Zeit damit verbrachte noch zu retten, was hoffentlich noch zu retten war: Nicht sitzenzubleiben. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass man dafür so ausgiebig lernen musste. Soviel arbeiteten ja nicht einmal meine Eltern. Denn zuerst musste ich jeden Morgen zur Schule gehen und kam erst immer zwischen dreizehn und vierzehn Uhr wieder nach Hause. Nach einem kurzen, schnellen Mittagessen, ging es dann weiter, beziehungsweise erst richtig los, denn dann musste gebüffelt werden, dass die Kühe flogen. Nicht einfach so über den Büchern hocken und dabei mit der rechten Gehirnhälfte an Sylvia denken. Nein. Ich meinte so richtig pauken. Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben. Auch wenn ich sitzenbleiben würde, wusste ich, dass jenes zwar meinen Eltern nicht gefallen würde, aber geschlagen hätten sie mich bestimmt nicht, abgesehen von ein oder zwei satten Ohrfeigen von meinem Vater, die mittlerweile gar nicht mehr so weh taten, denn ich hatte mittlerweile ein System gefunden, wie ich den Schmerzen aus dem Weg ging. Bücken. Kurz bevor die Hand meine Backe treffen konnte, musste man sich einfach nur bücken. Das tat dann überhaupt nicht weh. Dennoch hatte Seite 130 ich keineswegs Lust sitzen zu bleiben, denn das hieße im Klartext: Ein Jahr länger im Gefängnis sein. Ich hatte mal gehört, dass Afrikaner zum Beispiel nicht einen Tag lang im Gefängnis sitzen könnten, weil sie nicht verstanden, dass es so etwas wie eine Zukunft gab. Das bedeutete, der Afrikaner glaubte in der Zelle, dass nur die Gegenwart zähle, er also immer in der Gegenwart eingesperrt sein würde, er also lebenslänglich dazu verdammt wäre im Gefängnis zu bleiben. Deshalb starben sie. Und im Falle eines Sitzenbleibens müsste ich nicht in der Gegenwart im Gefängnis sitzen, oder sollte ich lieber diese Anstalt hier Kerker nennen, oder beides, schließlich gab es ja auch zwei Varianten simultan, zum Einen das Zuhause, zum Anderen die Schule, sondern ein ganzes Jahr lang. Zweiundfünfzig Wochen. Dreihundertfünfundsechszig Tage. Achttausendsiebenhundertsechszig Stunden. hundertfünfundzwanzigtausendsechshundert FünfMi-nuten. Einunddreißigmillionenfünfhundertsechs-unddreißigtausend Sekunden, um exakt zu sein. Und das hing auch noch davon ab, ob nun ein Schaltjahr war, oder nicht. Das konnte eine verdammt lange Zeit werden. Und ich konnte lange warten, bis mich jemand aus dieser verfluchten Scheiße raus holen würde. Hätte Sylvia das gekonnt, so wäre sie der einzige Seite 131 Mensch gewesen, der das für mich getan hätte. Doch wie sollte sie? Wir steckten in der gleichen Scheiße. Wir hockten im gleichen U-Boot. Und es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder sinken oder weiterfahren, bis endlich Land in Sicht wäre. Ja, diese Zeit war so bitter wie das Kauen einer unreifen, grünen, harten Bananenschale, die es galt wider Willen und auf größtem Verderb hinunterzuschlucken. So gnadenlos, dass die Gladiatoren aus Rom den nächsten Flieger genommen hätten und sich dankbar an ihre Galeeren zurück hätten anketten lassen. So schwer wie die Steine, die die Sklaven der Pharaonen mühsam in der glühend heißen Sonne die Pyramiden hoch schleppten und die Peitscheinheiten der Kommandierenden auf deren Rücken eine zarte Streicheleinheit war, im Gegensatz zu dem was ich hier durchmachen musste. Manchmal nahm ich ein Taschentuch aus meinem Kleiderschrank und biss so kräftig hinein, dass wenn mein Mundwinkel nicht so sehr eingeschränkt wäre, ich einen Goldbarren hätte durchbeißen können. Ach was, eine ganze Goldbarrenkolonne hätte ich zermantschen können. Aber da wir Zuhause kein Gold hatten, kam ich auch nie in Versuchung es auszuprobieren. Ich lernte so viel wie ich in mir eintrichtern konnte und hoffte lediglich darauf, die letzte Chance nicht ganz zu verbocken. Ich hatte einfach schon zu viel verschissen. Die Tage vergingen immer Seite 132 schneller und es huschte eine Klausur nach der Anderen an mir vorbei. Es war ein ständiger Wechsel zwischen Klausur und Lernen und der Wechsel wurde gegen Ende immer heftiger. Der Tag der Abrechnung näherte und näherte sich. „Judgement day“ war so dicht, dass ich nur meine Hand hätte ausstrecken müssen, um diesen Tag zu fühlen. Das Dröhnen meines Weckers riss mich aus meinem unendlichen sanften Schlaf. Es war neun Uhr. Heute war der letzte Schultag, der Tag der Abrechnung, denn es gab Zeugnisse, darunter, wenn auch nicht besonders erwähnenswert, meines. Ich konnte jetzt schon den makabren Streit mit meinen Erziehungsberechtigten ahnen. „Ich hab’s ja gewusst.“ „Den schlechten Teil hat er von Dir geerbt.“ „Ich habe Dir ja gesagt Du gehst zu sanft mit ihm um.“ „Ihm nächsten Jahr wirst Du Blut schwitzen.“ Dies waren allgemeine Antworten nach dem Blick auf mein Zeugnis. Ich wusste allerdings nicht, welche Aussage es bei einem Sitzenbleiben gab. Nun eilte die Stunde der Wahrheit. Ich dachte nicht an mich, sondern nur an meinen Hintern, der mir mindestens so viel Wert war, wie mein Taschengeld eines Monats, der nun todsicher von meinem Vater versohlt werden würde. Seite 133 „So meine Lieben“, fing die alte Kollwitz an, als ob sie meine Geliebte wäre, „ich möchte mich herzlich für eure Zusammenarbeit, sowohl mündlicher als auch schriftlicher Art, bedanken.“ Einige fingen schon an zu schmunzeln, denn ihnen blühte besseres als mir. Wer aber am meisten schmunzelte war natürlich Birgit, die dumme Gans, außer streben wie eine Blöde konnte sie ja doch nichts. Kein Wunder, dass es so viele Scheidungen und Morde gab. Wer mal so eine heiraten würde, wüsste, dass er verloren hätte. Und ausgerechnet solche bekamen auch noch in der Schule, bei den Verwandten und bei den Bekannten Anerkennung. Verkehrte Welt! Aber nun zurück zu den Zeugnissen, schließlich war das im Augenblick ein recht ernst zu nehmendes Thema, nicht nur für meinen Hintern, sondern auch für mein Ego. Komisch, dass man immer abhängig von den Leuten war, die man am wenigsten leiden konnte. Doch die alte Zicke fuhr fort. „Ihr seid wirklich ein erfolgreicher Jahrgang....“, mensch Alte, das ist doch wirklich jedes Mal dieselbe verkratzte Platte. Das trieb einem echt die Gehirnmasse aus den Ohren. Aha jetzt ging es mit dem Verteilen los. Viele Augen schauten auch schon gieriger als beim Verteilen vom Taschengeld. „Ach bevor ich es vergesse“, bitte vergiss es, ich dachte schon das Gelaber hätte sein Ende gefunden, „ein großes Lob muss Seite 134 ich der Birgit aussprechen. Sie ist die beste Schülerin in eurem Jahrgang, wenn nicht sogar in dieser Schule“, sie zwinkerte ihr zu, na wenn ihr mal bloß nicht das Auge raus fiel. „Herzlichen Glückwunsch Birgit“, jaja herzlichen Glückwunsch auch meinerseits. So Baby und jetzt komm bitte zur Sache, dachte ich nur. Sie verteilte also nun endlich die Zeugnisse, eines nach dem Anderen, meist mit total überflüssige Kommentaren bestückt. „Das hast Du wirklich gut gemacht.“, oder „Ich weiß, dass Du mehr kannst, wenn Du nur willst.“, oder „Deine Eltern können stolz auf Dich sein.“, das alljährliche Repertoire, dass Pädagogen im ersten Semester lernten. Das kam mir genauso dumm vor, wie wenn der Kellner den Tisch abräumen würde, mit einem Kommentar wie: „Das habt ihr aber fein aufgegessen“ oder „Morgen scheint für Dich die Sonne“. Mit dem Unterschied, dass Kellner den Gästen hinterher rennen mussten und nicht wie der Schüler hinter den Lehrern. Ich versuchte in aller Schnelle eine Logik in der Reihenfolge der Verteilung zu finden. War es nach Noten oder nach Namen geordnet? Doch schon bald stellte ich fest, dass es gar keine Logik gab. Mein Magen begann sich langsam aber sicher zuzuschnüren und ich riss mich schwer zusammen, um nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen, den Kopf im Seite 135 Dreivierteltakt auf den Tisch zu hauen, bis mein schallendes Lachen zum quälenden Geschrei mutieren würde. Verdammt noch mal. Nun waren doch wirklich schon alle dran! Was wurde hier eigentlich gespielt? Sie kam auch schon auf mich zu, mit nur einem Zeugnis in der Hand, ich dachte mir schon, dass es sich hierbei um das Meine handeln würde. Ihr Gesichtsausdruck wurde in Abhängigkeit der abnehmenden Distanz zwischen uns immer unfreundlicher und mir war klar, dass das kein gutes Ende nehmen würde. Im Klassenraum war es laut, jeder fragte seine Nebensitzer, was er denn für Noten hätte. Ich hatte große Lust „Haltet endlich das Maul!“ zu schreien. Das war doch wirklich ein Scheißleben und in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlichster, als mein Leben mit dem eines Hundes einzutauschen. Hunde hatten es gut. Sie bekamen immer pünktlich zweimal am Tag essen, wurden dreimal am Tag zum Gassi gehen ausgeführt, wurden von jedem grundlos gestreichelt. Ihnen nahm es zudem auch keiner Übel, wenn sie auf Muttis neuen Teppich sabbelten oder auf Papis Tageszeitung kotzten oder einfach nur in Opas Auto schissen. Ich wusste einfach nicht, warum es ihnen keiner übelnahm. Sie bekamen ständig Lob, obwohl sie weder zur Schule gingen, noch brachten sie Geld nach Hause, über das meine Eltern ständig fluchten und sich beklagten, sobald ich eine Taschengelderhöhung forderte, sobald ich im Seite 136 Fernsehen gesehen hatte, dass das Geld, so wie ich es zumindest verstand, weniger wert war, als gestern und deshalb die Arbeiter jetzt mehr Geld wollten. Aber ich war nun mal kein Hund und ich konnte auch dieser äußerst unangenehmen Situation nicht aus dem Wege gehen. Das pralle Leben eben. „Lenny, Dir kann ich leider Dein Zeugnis nicht übergeben,“ meine Kehle war total zugeschnürt und mein Mund war plötzlich ausgetrocknet. Wäre sie ein Mann gewesen, so hätte ich ihr zu meiner Verteidigung wenigstens in die Eier treten können, doch nichts dergleichen war möglich. Sie schaute mich an. Ich schaute sie an. Ich fand, dass sie auf einmal gar nicht mehr so sehr schielte, ich konnte sehr deutlich erkennen, dass sie mich anschaute. Und während ich sie genauer betrachtete fand ich, dass sie gar nicht mal so hässlich aussah. Genau genommen sah sie sogar gut aus. Ich wusste gar nicht mehr warum ich sie immer „alte Zicke“ nannte. „Wieso nicht?“, ich merkte gar nicht mehr wie ich das sagte. „Lenny, Lenny“, der Ton missfiel mir spontan, er hatte so etwas pädagogisches, „Deine letzte schriftliche Strafarbeit, die nebenbei bemerkt ziemlich umfangreich war, hast Du weder vollzogen, geschweige denn abgegeben. Ich hoffe, Du erinnerst Dich überhaupt: Kleider machen Leute!“ Seite 137 Ich schluckte. Na wenn das alles war. Das Buch stand übrigens inzwischen seelenruhig in der Bibliothek meines Vaters und ergötzte sich womöglich an der Wärme seiner Nachbarbücher, die weitaus dicker und schöner waren. „Ohne Strafarbeit, kein Zeugnis.“ Oh, oh. Kein Zeugnis, kein Taschengeld. Kein Taschengeld, kein Spaß. Kein Spaß, kein Leben. Kein Leben, keine Sylvia. „Wann bekomme ich die Arbeit zu Gesicht, wenn Du überhaupt beabsichtigst sie zu tun?“ Jetzt hieß es handeln Lenny, denk nach! „Aber Frau“, fast wollte ich schon Doktor sagen, da mir mein Vater immer gepredigt hatte, willst Du jemanden Honig um den Mund schmieren, so Rede ihn beim Titel an, aber sie hatte ja gar keinen, „.. Kollwitz, ich habe die Strafarbeit schon längst gemacht, fand aber bisher keine Gelegenheit dazu sie Ihnen zu übergeben, und so dachte ich mir, dass wir uns vielleicht nicht wiedersehen.“ „Das mag ja sein, aber...“ „Also bin ich extra heute Morgen bei Ihnen zu Hause vorbeigefahren und habe es in ihren Briefkasten geschmissen.“ Sie zog ihre Augenbrauen hoch. Seite 138 „Mensch Lenny, Du überrascht mich jetzt wirklich.“, ihr Blick wurde ein klein wenig wehleidig. Ich denke sie war ein klein wenig geschmeichelt. „Das tut mir jetzt wirklich leid, dass ich Dir meine böse Behauptung unterstellt habe, ohne dies vorher zu prüfen.“ Wenn sie mich jetzt fragte, wo sie denn überhaupt wohnte, dann war alles aus. Wenn es einen Gott gab, so sollte er bitte jetzt handeln und ihre blöde Birne abschalten. „Hier Dein Zeugnis. Wir haben beschlossen, Dich dieses Jahr nicht sitzen bleiben zu lassen und, dass Du die Strafarbeit vollzogen hast, bestätigt mir, dass Du den Willen hast, Dich zu bessern.“ Daraufhin legte sie mir mein Zeugnis auf den Tisch. Es strahlte vor Glück, als ich es öffnete. Ich wusste nicht mehr worüber ich mich nun mehr freuen sollte. Darüber, dass ich nicht sitzen geblieben war, oder darüber, dass die alte Zicke so dumm war, oder, dass es einen Gott gab, zumindest in diesem kleinen Augenblick. Ich eilte zu meinem Fahrrad, fuhr nach Hause, aber zwischendurch legte ich mich wie gewöhnlich in die Wiese. Die Sonne lachte mir zu, ich dachte an Sylvia - dieser Sommer würde ein ganz Besonderer werden. Seite 139