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Vorwort
Für alle, deren Refugium, vorausgesetzt die Jugend
wurde nicht allzu sehr von Lehrern und Eltern, oder wie es in
der
Fachsprache
heißt,
Pädagogen
und
Erziehungsberechtigten, voreingenommen, wenn nicht gar,
ohne theatralisch zu dramatisieren, oder gleich im Vorfeld
ausfallend in Erscheinung zu treten, traumatisiert, zumal jenes
schwere Folgen auf das Unterbewusstsein haben kann und
den Teufelskreis gebären lässt und sich alles wieder auf die
zwei wesentlichen Faktoren zurückschließen lassen kann,
Lehrer und Eltern, Humor ist und hoffentlich, wenn nicht etwas
allzu
Unangenehmes,
ich
wünsche
es
keinem,
dazwischenkommt, bleibt
Antoine Levy, Nizza, 2000
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Es war wieder einmal einer dieser gottverdammten Tage, an
denen man sich die Griffel abfror. Noch diese letzte Steigung
und dann ging es endlich bergab. Im Winter war alles tot, vor
allem
aber
dunkel
und
da
ich
immer
noch
keine
Fahrradbeleuchtung hatte, hatte ich manchmal Angst, obwohl
der Klugscheißer Tony, wenn Besuch zu uns kam nannten ihn
meine Eltern meinen großen Bruder, mich jedes Mal
ermahnte, „...weißt Du eigentlich wie gefährlich das ist?“, jeder
der einen großen Bruder hatte, kennt wahrscheinlich schon die
verkratze Platte, die wohl keiner noch einmal hören möchte.
Nicht etwa, dass ich Angst vor irgendwelchen Aliens, die mir
nachts in den wildesten Träumen begegneten, sondern Angst
davor, das eventuell ein Baum umgefallen war, das passierte
hier im tiefen Schwarzwald öfters, ich ihn zu spät erkennen
und mir daraufhin alle Knochen brechen würde. Na bitte, es
ging bergab. Ich sah von weitem wie gerade der Schulbus
anhielt, die ersten Chaoten stiegen schon aus, unter anderem
auch Peggy, sie war zwar vier Jahre älter als ich, aber hatte
richtig geile Titten. Ihre Brüste waren so spitz, dass sie selbst
ohne Büstenhalter jedem stolz mit der ungebändigten
Aufforderung „bitte fummeln“ entgegentrotzten. Sie und
Andere galt es nun zu beeindrucken, dass ich mit dem Fahrrad
weitaus schneller war, als dieser versiffte Schulbus, in dem
man sowieso nur einstieg, weil man dort die jüngeren
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Nachbarskinder verprügeln konnte, Andere meist mitmachten
und so die Schuld auf Mehrere verteilt war. Das war
unheimlich praktisch, denn wenn die Eltern der Nachbarn zu
den Meinen kamen, konnte ich immer sagen der und der
waren aber auch dabei und haben eigentlich angefangen. Ich
frage mich bis heute noch, ob meine Eltern mir wirklich
abgekauft hatten, dass immer die Anderen die Schuld hatten.
Nun galt es aber die Gruppe von „Aussteigern“ rasant mit
meinem Rad zu überholen. So kam es auch, wenn nicht dieser
blöde Depp von Oskar gewesen wäre, der immer was zu
sagen hatte,
„..na Lenny willst Du uns etwas beweisen?“, schrie er mir
hinterher.
Blödes Arschloch, ich glaube Peggy hat es auch gehört, aber
wahrscheinlich nicht weiter darüber nachgedacht, denn sie
unterhielt sich gerade mit Dennis, einem Typ übersäht mit
eitrigen
Pickeln,
die
ich
am
liebsten
höchstpersönlich
ausgedrückt hätte, indem ich mit jedem Faustschlag durch den
anfallenden Druck den Eiter zum Platzen brächte und das
Pickel für Pickel. Auch hatte er eine fürchterlich lange Nase,
die wahrscheinlich als Rutschbahn für den anfallenden
Stirnschweiß beim Anblick von Peggys Titten diente. Eigentlich
brauchte ich mich erst gar nicht aufzuregen, denn sie war ja
älter und weitaus schöner als ich. Meine Chancen standen
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also eins zu einer Millionen. Dennoch eine Chance hatte ich
und damals glaubte ich noch an Wunder. In weit ausgeholtem
Bogen nahm ich die anstehende Kurve, um mein Rad am
überdachten Stellplatz abzustellen. Ich hatte einen Zahlencode
am Schloss und meine Griffel waren so durchgefroren, dass
mir die Anreihung der richtigen Zahlen schwer fiel. Ich hätte es
mir mit größter Wahrscheinlichkeit mit Handschuhen leichter
gemacht, aber das war für mein Empfinden ziemlich uncool
und mein Motto lautete schon damals:
„Was Dich nicht umbringt, härtet Dich ab.“
Langsam schlurfte ich über den Hof, so dass die Truppe der
Busfahrenden noch hinter mir ging. Durch die Tür und runter
zu den Schließfächern, kein schlechter Service, aber das kann
man ja auch von einer Anstalt wie dieser verlangen. Mein
Schließfach war immer vollgestopft, denn ich nahm nur selten
ein Schulbuch mit nach Hause, wozu auch, das wäre doch nur
unnötiger und zudem schwerer Ballast auf der alltäglichen
Heimfahrt gewesen. Auf der Türinnenseite las ich den
heutigen Stundenplan ab, um die dazugehörigen Schulbücher
Widerwillen mitzunehmen, doch schweifte mein Blick meist
etliche Zentimeter tiefer, wo ich ein Poster von Samanta Fox
befestigt hatte, das war damals die Sexbombe mit Riesentitten
schlechthin, also noch größer als die von Peggy, leider nicht
splitternackt, denn das war erstens unheimlich schwierig zu
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besorgen, und zweitens hätte mir das zu viel Ärger bei
meinem Schuldirektor gekostet, dem Herr Auer, einem altem
Sack mit langem weißen Bart, dessen einzige Lebensaufgabe
war, eine artengerechte Haltung von Flöhen und Zecken zu
gewährleisten, aufgrund der Tatsache, dass die Essensreste
noch
an
seinem
Bart
baumelten
und
bei
Dunkelheit
wahrscheinlich die Viecher aus dem Inneren des Bartes und
aus seiner Nase sich an die Leckerbissen heranmachen
konnten, dabei versehentlich aber jedes Mal ein Stückchen
von seinem Bart abbissen, was den unregelmäßigen Verlauf
seines Wuchses erklärte. Schon oft wurde ich in seinem Büro
„eingeladen“, weigerte mich aber stets entschlossen durch die
Nase zu atmen, um mir noch ein bisschen Lebensglück zu
bewahren. Florian, mein schlauester Mitschüler, ein Indiz dafür
war zumindest, dass er eine Brille trug, nannte ihn immer
Marx. Mit dem Unterschied, dass Marx wenigstens tot war,
was man von unserem Direktor nicht gerade behaupten
konnte. Beim Zuschlagen der Schließfachtür wurde ich von
Oskar, der fetten Sau überrascht. Eigentlich war er ein guter
Kumpel, aber er hatte mich einmal schwer enttäuscht. Ich
hatte ihn mal zu meiner Geburtstagsparty eingeladen, als wir
noch zur Grundschule gingen, und als sein Geburtstag war,
lud er mich nicht ein. Das habe ich ihm bis heute nicht
verziehen, obwohl wir damals erst elf Jahre alt waren.
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„Na Lenny warst Du schneller als der Bus?“, grinste er
höhnisch, hätte ich doch bloß einen Vorschlaghammer gehabt.
„Warum hältst Du nicht einfach Dein Maul?“
„Hast Du Deine Hausaufgaben gemacht? Du weißt doch, dass
Du der Liebling von der Kollwitz bist?“.
Die Kollwitz. Die alte Jungfer. Eine Zicke die so sehr schielte,
dass sie immer zwei Leute gleichzeitig beobachten konnte.
Wenn sie eine Frage stellte, musste sie den Namen immer
dazu sagen, sonst bekam sie zwei Antworten, außer von mir,
da bekam sie außer ein automatisiertes Achselzucken wenig
zu sehen. Das alte Weib schaute mich immer so an, als sei ich
ein wildes Reh, das gerade vom Jäger angeschossen wurde
und mit flehendem Blick um einen Gnadenschuss winselte und
sie nicht wusste ob sie nun abdrücken sollte, oder nicht. Das
lag
wahrscheinlich
Zusammenfassung
daran,
über
eine
dass
wir
einmal
Kurzgeschichte
eine
schreiben
mussten, da ich aber nicht zugehört hatte, kannte ich auch
diese Geschichte nicht. Ich war schon ganz traurig, dass ich
wieder einmal eine lebensnotwendige Anekdote verpasst
hatte, also tat ich so als würde ich eifrig schreiben, schrieb
meinen Namen in Schönschrift nieder, als mein Nebensitzer
Gerd, äußerlich war er sehr schüchtern, psychisch aber
musste sich wahrscheinlich selbst Stephen King in Acht vor
ihn nehmen, ein Herz um meinen Namen malte und schrieb:
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„ + Horst“
Ich schmunzelte bloß und dachte, wie kann man nur einen so
bescheuerten und abgründigen Namen wie den haben. Doch
mein Schmunzeln verriet mich und schon kam die alte Zicke
auf mich zu.
„Lenny, wie weit bist Du denn schon?“, ich spürte, wie Gerd
sich schwer zusammenreißen musste, um nicht in schallendes
Gelächter zu fallen, meine Birne hingegen lief rot an und alles
was mir einfiel war, meinen Ellenbogen auf das Papier gegen
den Tisch zu drücken, denn sie hatte schon bereits die Ecke
an ihren krummen Fingern und zerrte daran, bis ich schließlich
nachgeben musste. Sie blickte auf das Papier. Ihr Gesicht
konnte ich nicht sehen, aber als das Blatt langsam sank, ihr
verstörtes Schielen mich anstarrte und aus Ihren Lippen fiel:
„ ...wer ist denn Horst?“, wurde mir ganz schön mulmig
zumute. Sie wusste ja nicht, ob das nun Spaß oder Ernst war,
legte das Blatt nieder, verfolgte weiter Ihren Unterricht, war
aber dennoch bis zum Ende der Stunde sehr verstört. Die
arme Alte. Wahrscheinlich glaubte sie wirklich, ich hätte
Liebeskummer mit Horst. Wahrscheinlich erzählte sie im
Lehrerzimmer, dass ich in Horst, den keiner kannte, verliebt
war und deswegen auch immer so schlechte Noten mit nach
Hause bringen musste, denn mein Liebeskummer musste
doch schließlich unendlich groß sein.
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Es war gerade einmal sieben Uhr dreißig und dann musste
man sich so eine Zicke reinziehen. Gemeinsam gingen wir zu
unserem Klassenraum. Dabei stellte ich mir vor, den Oskar
vor mir her zu rollen, denn sein Übergewicht nahm von Tag zu
Tag bedrohlich zu. Aber wahrscheinlich würde ich ihn lieber
vor mir her treten. Vor dem Klassenraum war schon die ganze
Mannschaft versammelt. Der Klassenraum war abgeschlossen
und wir mussten wie jeden Morgen auf die Zicke warten. Da
kam sie auch schon angehumpelt. Sie hatte einst einen
schweren Autounfall, sagte man zumindest. Vielleicht aber
humpelte sie bloß, um Mitleid bei den Männern zu erregen, um
doch noch einen abzukriegen. Andere Erfolgsmethoden
konnte ich mir bei der nun wirklich nicht erklären. Sie begann
ihren Unterricht und ich wusste, der Tag war gelaufen,
zumindest für den Rest des Morgens.
Endlich, das Klingeln der Schule ertönte und schallte noch
lange in mir weiter, denn das war das Zeichen, der
himmlische, dankbare Hinweis, nun nach Hause gehen zu
dürfen. Schnell machte ich mich auf die Socken, um wieder
früher als der Bus zu Hause anzukommen. Ich durfte keine
Zeit mit unnötigen Gesprächen verlieren, der Zahlencode
musste auf Anhieb stimmen und der Start musste erfolgreich
beginnen, sonst wäre es zu knapp gewesen, den Bus zu
übertrumpfen und es war stets mein eigener Ehrgeiz schneller
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zu sein als der Bus. Oft hatte ich das Gefühl, dass mein
größter Feind in mir selbst steckte, ich ständig beweisen
musste stärker zu sein als er. Natürlich und wie so oft gelang
es mir auch diesmal. Garage auf, Rad rein, Garage zu.
In unserem Haus, eigentlich war es gar nicht unser Haus,
sondern das meiner Eltern, angekommen, begrüßte mich
meine Mutter. Sie zu beschreiben war äußerst schwierig, denn
meist sah ich sie nur von hinten. Beim Kochen, beim
Abspülen, beim Wäsche waschen, beim Boden Schrubben.
Ach, da kam mir auch schon mein Bruder Tony, dieser
unterentwickelte Yeti, das noch in der präpubertären Phase
steckengeblieben war, entgegen. Seine Haare waren so lang
und fusselig, dass es schwierig war zu bestimmen, wo vorne
und wo hinten war, ich ging zumindest davon aus, dass es das
gab.
„Hi!“
„Mmmhh.“
Mehr
war
auch
selten
aus
ihm
herauszubekommen.
Seltsamerweise behielt er das meiste für sich. Aber ich war im
Prinzip auch nicht viel besser. Ich ging gleich auf mein
Zimmer, schmiss den Computer an und spielte wie so oft
„Universal Man“. In dem Spiel ging es darum, die blöden
angreifenden Außerirdischen abzuknallen. Zugegeben, es war
ein stupides Spiel, doch ich stellte mir immer wieder vor, es
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seien meine Lehrer, gefolgt von ihrem Oberhäuptling Auer, der
leider immer noch dem Kampf gegen Flöhen und Zecken
standhielt. Gewonnen hatte ich bei diesem Spiel nie, wie sollte
es auch anders sein, in der Realität war es doch auch nicht
besser. Die Tür ging auf, Tony spähte
zwischen seinem
fettigen Haarvorhang durch.
„Essen kommen.“
„Hey, das Yeti beherrscht unsere Sprache.“
„Wie war das?“, er hob die Faust, wahrscheinlich ein Zeichen
der Ermahnung.
„Ich wollte nur wissen, wie Du das machst, dass alle Frauen
auf Dich stehen.“
Er grinste und fing an, „Also, das ist so...“
Ich schnellte an ihn vorbei und rannte die Treppen hoch. Am
Tisch angekommen triumphierte ich:
„Erster!“
Mein Vater saß schon am Tisch, zumindest nahm ich das an,
denn meist waren nur seine Hände zu sehen, die versuchten
die Tageszeitung so zu halten, dass man ihn nicht mehr sehen
konnte.
„Ja, ja wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
So, so dachte ich mir, das war ja klar, dass irgendeine
Bemerkung kommen musste, es hätte ja sonst auch etwas
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gefehlt. Alltäglichen Fragen konnte ich mich auch heute nicht
entziehen.
„Wie läuft es in der Schule?“
„Ich
weiß
auch
nicht,
ich
bin
eingeschlafen,
aber
glücklicherweise wurde eine Klingel installiert, um mich am
Ende des Unterrichts zu wecken.“
Die Zeitung senkte sich und ein nicht gerade einladendes
Gesicht warnte mich mit folgenden Worten:
„Hör mal zu Junge,“, wenn man zuhören musste, so war das in
der Regel ein schlechtes Zeichen, „ wenn Du glaubst der
Stärkere zu sein, beenden wir gleich das Spiel. Wenn Du
dieses Jahr wieder sitzen bleibst, verschenke ich Deinen
Computer an den Heiner, ..klar?“
Ach du Scheiße, der Junge von nebenan, ein inzüchtiger
Mutant mit einer typischen, saublöden Dorffresse. Das Dumme
war wirklich, dass mein Vater immer genau wusste, wie er
mich rankriegen konnte. Ob das wohl an den Genen lag? In
der
Schule
hatten
wir
mal
gelernt,
dass
sich
Gene
weitervererben und die sich auf das Aussehen und auf den
Charakter bemerkbar machen. Das würde aber heißen, dass
ich eines Tages meinem Vater ähnlich wäre. Mir blieb nur die
Hoffnung, dass der Postmann nicht nur für die Post zuständig
war, sonst wären eventuelle Ähnlichkeiten, welcher Art auch
immer, nicht auszuschließen. Andererseits, wenn ich aber an
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unseren Postmann dachte, wusste ich nicht genau was
schlimmer wäre.
Ich gewöhnte mir an, immer den Mund voll zu stopfen, denn
mit vollem Mund durfte ja nicht geredet werden, somit konnte
ich
jeglichen Fragen, die meist unangenehm waren,
ausweichen. Besonders störten mich Fragen wie:
„ Hast Du eigentlich schon eine Freundin?“
Was sollte ich darauf antworten, wenn ich eine hätte, wäre ich
doch wohl nicht hier, oder? Abgesehen davon, was wissen
„die“ denn schon von Gefühlen, außer den Noten und den
lebenswichtigen Informationen wie zum Beispiel:
„Weißt Du, wen ich heute gesehen habe?“, kannten die doch
sowieso nichts. Mein Bruder grinste dann immer nur. In einem
James Bond Film hatte ich einmal gesehen, wie Mr. Bond
einen Schuh hatte, wo man an der Schuhspitze eine
Stahlnadel ausfahren konnte. Die hätte ich am Tisch häufig
gebrauchen können, schließlich saß mir mein Bruder täglich
gegenüber. Oder ich hätte den großen „Beißer“ gebrauchen
können, den zwei Meter zwanzig großen Mann, mit seinen
riesigen Stahlzähnen, der auf ein abgesprochenes Zeichen
jedem eins in die Fresse haute. Das hätte mir viel Ärger und
Nerven erspart. Vor allem aber wäre das in Schule eine
praktische
Hilfe
gewesen,
bei
den
Klausuren,
beim
Morgenschlaf, mit dem Kopf auf der Schulbank, womöglich
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rührt daher meine heute fliehende Stirn, beim Anbaggern von
Mädchen und beim Bäcker auf dem Schulhof, wo sich ständig
Typen aus höheren Klassen vordrängten. Stattdessen aber
hatte ihn so ein Typ, null null sieben, der immer alle Frauen
rum bekam, nur weil er so charmant lächelte. Bei mir klappte
das nie, auch wenn ich schon viele Nachmittage vor dem
Spiegel geübt hatte. Doch im Schulbus drehten sich entweder
die Mädchen weg, oder streckten mir die Zunge raus, die
meist gelb oder violett war, vom vielen Lutschen der Bonbons.
Das Essen bei uns verlief meistens schneller, als der
alltägliche Streit nach dem Essen, wenn es darum ging, ob
mein Bruder mit dem Abräumen vom Tisch an der Reihe war,
oder ich. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht hatte, aber
häufig blieb die Arbeit an mir kleben. Im Prinzip war mir das
aber auch egal, denn ich hatte im Fernsehen gesehen, dass
die Leute im Gefängnis auch arbeiten mussten. Ich hatte also
dieselbe Strafe. Am schlimmsten aber war, das alltägliche
Aufstehen um sechs Uhr dreißig. Ich fühlte mich jeden Morgen
wie ein neugeborenes Kätzchen, das eine Woche brauchte,
seine verschleimten Augen zu öffnen, um zu sehen was hier
eigentlich abging. Mit Freunden hatten wir uns schon häufig
gefragt, wer eigentlich der Erfinder der Schule war. Wir waren
uns
nach
wochenlangen
Diskussionen,
mit
häufigen
Prügeleinlagen einig, dass es sich um eine Erfinderin handeln
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musste. Die Frauen hatten sich gedacht, warum diese Bälge
schon am Morgen zu Hause haben? Wir schicken sie an
einem Ort, wo frustrierte, unverheiratete Frauen und Männer
versuchen können, Ihnen Lebensweisheiten zu vermitteln, weil
sie es selber nicht geschafft hatten, ihr Leben vernünftig auf
die Reihe zu bekommen. Einige hatten diese Strafe sicherlich
verdient, aber warum zum Teufel gerade ich?
Ich hatte mich mit Oskar am Nachmittag verabredet. Oskars
Vater war ein echter Schwabe. Er sprach den schwäbischen
Dialekt so extrem, dass Oskar immer simultan übersetzen
musste, damit ich ihn überhaupt verstand. Allzu Interessantes
hatte sein Vater nie zu erzählen. Zudem war er auch noch
schwerhörig, weshalb man sich immer die Kehle aus dem Hals
schreien musste, damit man wiederum eine Antwort bekam,
die sowieso keiner verstand, geschweige denn interessierte.
Seine zwei Brüder waren, wie sollte es auch anders sein,
genauso fett wie Oskar. Also gab es doch so etwas wie eine
genetische
Veranlagung.
Wahrscheinlich
mussten
seine
Großeltern fette Schweine gewesen sein, denn seine Eltern
waren normal gebaut. Oder waren das adoptierte Kinder.
Besser ich fragte erst nicht. Oskar stand an der Tür mit seinem
breiten Grinsen:
„Hast Du die Diskette dabei?“
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„Glaubst Du etwa ich bin so dumm wie Deine Brüder?“, ich
hatte ihm ein neues Computerspiel mitgebracht.
„Ne, dümmer geht’s doch kaum. Komm rein jetzt.“
Er holte tief Luft:
„Pass mal auf, ich muss Dir etwas zeigen.“, er klang irgendwie
geheimnisvoll.
„Was heißt da etwas?“
„Pst, nicht so laut!“, er schloss die Zimmertür, begab sich an
seinen Computer und drückte auf die eine Taste. Sein Drucker
sprang an und fing sofort an zu knattern. Er hatte einen
vierundzwanzig Nadel Drucker, das war damals so ziemlich
das Beste was man bekommen konnte - sein ganzer Stolz. Wir
starrten beide wie blöde auf seinen Drucker.
„Was soll das werden, wenn es fertig ist?“
„Jetzt warte es doch mal ab. Meine Fresse, diese Jugend,
immer so ungeduldig!“, wie zwei versteinerte Statuen standen
wir gebückt vor dem Apparat. Das erste Viertel der Seite war
schon fertig, als ich langsam zu meinem Entsetzen erkannte,
was das war.
„Bist Du verrückt? Schalt die Kiste ab! Wenn Deine Mutter
reinkommt, dann sind wir dran.“
„Jetzt bleib cool Mann, wenn Du so weiter grölst, kommt sie
wirklich.“ Er stellte sich schützend vor den Drucker, für den
Fall das seine Mutter wirklich reinkam. Was da zu sehen war,
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war eine komplett nackte Frau, und wenn ich nackt sagte,
dann meinte ich auch nackt. Also nicht irgendwie mit
Wonderbra oder sonstigem Fummel, sondern einfach nur
nackt.
Die alte Drecksau. Ich fragte mich immer, wie kam er bloß an
solche Sachen ran? Mir gelang das nie, obwohl ich es mir so
oft wünschte. Gespannt beobachteten wir den weiteren Verlauf
des Ausdrucks. Fertig. Ratsch. Er zog das noch feuchte Papier
heraus und hielt es stolz in die Höhe.
„Jetzt bist Du platt, hä!“
„Boah, die ist ja echt megageil!“, eifersüchtig war ich ja schon
ein bisschen. Wenn ich einen Drucker gehabt hätte und dazu
noch einen so guten, so wäre mir das auch gelungen. Er legte
das Blatt auf den Schreibtisch, wir setzten uns beide und
betrachteten das Bild. Es herrschte minutenlange Stille. Ich
vermute mal, dass er so ziemlich das gleiche dachte wie ich.
Die Tür ging auf, panisches Gerücke der Stühle und Oskar ließ
das Blatt in Windeseile in seinen Schulranzen verschwinden.
Seine Mutter trat ein:
„Hallo Lenny, wie geht es Dir?“, sie hielt mir Ihre Hand
entgegen.
„Ja ganz gut, wir waren gerade beim Lernen.“, unsere Hände
schüttelten sich. Oskars Kopf war schon vor lauter Röte
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geschwollen, ich versuchte cool zu bleiben und konzentrierte
nun meinen Blick hypnotisierend auf meine Schuhe.
„Wollt ihr etwas zu trinken?“
„Nein, wollen wir nicht!“, er schoss die Antwort so hinaus, dass
jeder Depp erkannt haben musste, dass wir etwas zu
verbergen hatten.
„Naja, ich will euch ja nicht stören“, sie schüttelte lachend den
Kopf, drehte sich um und verließ das Zimmer. Wenn wir beim
Ausatmen das Luftvolumen gemessen hätten, so hätten wir
wahrscheinlich eine zehnköpfige U-Boot Truppe eine Woche
lang mit Sauerstoff versorgen können.
„Scheiße Du, das war echt knapp.“, flüsterte er. Ich versuchte
nur meine Kopftemperatur zu drosseln.
„Du Arsch, ich hab’s Dir doch gesagt!“
Wir dachten beide nach und versuchten uns zu beruhigen.
„Wenn wir jetzt gleich aus dem Zimmer gehen, so wäre das
wahrscheinlich auffällig, und sie würde merken, dass wir gar
keine Hausaufgaben machen.“, schlussfolgerte er.
„Also wenn Du mich fragst, dann steht sie hinter der Tür und
lauscht, was wir zu verbergen haben.“, ich bewegte mich leise
zur Tür und versuchte an der Tür zu horchen, ob da nicht
vielleicht irgendetwas Auffälliges war. Aber da war nichts. Also
warteten wir eine gute halbe Stunde.
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Das Bild übrigens wagten wir nicht mehr rauszuholen. Es war
besser zu warten, bis Gras über die Sache gewachsen war.
Ich wollte jetzt nur noch nach Hause. Er begleitete mich bis zur
Haustür und ich betete nur, dass mir nicht seine Mutter über
den Weg laufen würde. An meinem
Rad angekommen,
strampelte ich wie ein Idiot nach Hause. Ich dachte nach.
Vielleicht hatte sie schon meine Eltern angerufen, um ihnen
mitzuteilen, dass irgendetwas im Gange war. Ich fuhr
langsamer. Vielleicht warteten sie jetzt hinter der Haustür.
Vielleicht bekam ich dieses Mal richtig Ärger. Ich stellte mein
Fahrrad in die Garage. Verdammt, der Wagen von meinem
Vater stand schon da. Die Motorhaube war auch noch ganz
warm. Womöglich hatte sie meinen Vater im Büro angerufen
und er ist schnell nach Hause gefahren. Wie sollte ich ihm das
bloß erklären? An der Haustüre ließ ich die Schlüssel langsam
in das Schlüsselloch gleiten und wartete, dass die Türklinge
nach unten schnellte, die Tür aufging, meine Eltern mit
grimmiger Fresse vor mir standen. Ich wartete. Nichts. Ich
drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Keiner da. Ich
merkte schon, die wollten mich also ins Messer laufen lassen.
Ich zog meine Schuhe aus. Eintritt ins Wohnzimmer.
„Hallo.“
Meine Mutter war in der Küche und hörte nichts, mein Vater
saß wie immer auf seinem Sessel und hatte seine Kopfhörer
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auf, um in Ruhe Fußball zu schauen. Ich winkte, „Hallo“. Mein
Vater nickte mit dem Kopf und hob die Hand. Das war seine
allgemein bekannte und wohlwollende Begrüßung. Schien
wohl alles im grünen Bereich zu sein.
Ich ging sehr früh ins Bett und blieb noch lange Zeit wach,
doch es kam keiner in mein Zimmer, um mit mir über die
„Sache“ zu reden. Es gab also mehrere Möglichkeiten. Es war
ihnen peinlich darüber zu reden. Sie hatten gar keine Lust
darüber zu reden. Sie wollten bis morgen damit warten. Sie
hatten womöglich meinen Direktor angerufen, damit er mit mir
darüber redet sollte. Oder aber, Oskars Mutter hatte nicht
angerufen.
Das würde aber heißen, dass Oskar jetzt den ganzen Ärger
bekam. Naja, schließlich war es ja auch seine Idee. Was kann
ich denn dafür, wenn Oskar nackte Weiber ausdruckte. Ich
hatte doch mit der Sache nichts zu tun.
Das war das letzte Mal, dass ich zu ihm hingehen würde.
Doch das hatte ich mir schon oft geschworen.
Dann schlief ich ein.
„Lenny, aufstehen!“, ich hoffte, dass das eine Stimme aus
einem tiefen Alptraum war, der gleich zu Ende ging.
„Es ist sechs Uhr dreißig, Du kommst noch zu spät!“, meine
Mutter zog mir skrupellos meine Decke weg. Die eisige Kälte
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machte sich bis in meinen Zehen bemerkbar. Das war
verdammt unangenehm. Hätte das Fernsehen eine Rolle für
eine gnadenlose Folterin gesucht, so hätte ich als erstes
meine
Mutter
hingeschickt.
Sie
ging
gleich
ebenso
entschlossen auf das Zimmer meines Bruders zu:
„Tony, steh endlich auf.“
Sie riss die Rolläden auf und öffnete das Fenster. Mein Bruder
war etwas älter und somit wurden die Foltermethoden mit
zunehmendem Alter brutaler und hemmungsloser. Die Kälte
zog in seinem Zimmer so schnell ein, dass er wie von einer
Tarantel gestochen aufsprang, um das Fenster wieder zu
schließen. Mit dieser hinterhältigen Taktik brachte man jeden
in Sekundenschnelle zum Aufstehen. Mein Bruder war dann
meist eifersüchtig auf mich, dass sie mit mir sanfter umging,
kam in seinem Pyjama zu mir rüber und riss auch mein
Fenster auf, doch meist schaffte ich es meine Tür vorher
zuzuschließen. Wir drückten dann meist wie blöde gegen die
Tür um zu sehen, wer der Stärkere war, er wollte es einfach
nicht wahrhaben, dass ich der Stärkere war, weshalb ich es
ihm jeden Tag neu beweisen musste. Doch unser Ächzen und
Stöhnen war meist so laut, dass schon von oben die
brüllenden Schreie von meinem Vater im Haus schallten. Dann
schlich mein Bruder schnell wieder in sein Zimmer, ich machte
sanft die Türe auf, und wir zogen uns schnell an. Denn eine
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zweite Ermahnung gab es selten. Mein Vater war das
lebendige Beispiel dafür, dass die Regel, dass bellende Hunde
nicht beißen würden, nicht stimmte. Im Klartext: Er kam die
Treppen heruntergerast, und es gab eins auf die Löffel. Ich
glaubte nicht, dass irgendjemand so seinen Tag beginnen
wollte. Ich verstand dennoch nicht, worin der Sinn lag, die
Schule so früh zu beginnen, wo man sich doch noch in einem
völlig unzurechnungsfähigen Zustand befand. Aber ich merkte
schon, in diesem Leben ging es nicht darum Fragen zu stellen,
sondern Fragen zu beantworten.
Mein Bruder und ich frühstückten in der Regel zu zweit, denn
meine Mutter war eine Frühaufsteherin, und mein Vater aß
nicht am Morgen, wahrscheinlich war auch ihm von der
morgendlichen Folter meiner Mutter schlecht. Die allgemeine
Frühstücksregel lautete, wer als letzter am Tisch saß, hatte
abzuräumen. Da mein Bruder und ich zur gleichen Zeit am
Tisch saßen, musste immer so gehandelt werden, dass man
wenn es darauf ankam, blitzschnell reagieren konnte, indem
man aufstand und „Erster“ grölte. Damit war der Gegner
kampfunfähig gemacht worden und das hinterlistige Gefühl der
Schadenfreude hielt noch lange an. Beim Frühstücken trafen
sich häufig unsere Blicke, wie in einem Wildwestfilm, wo sich
zwei Cowboys gegenüber standen, um den Anderen zu
erledigen. Jeder achtete darauf, wie viel Milch und Cornflakes
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noch in seiner Schüssel waren, um so zu kombinieren, wie viel
Zeit der Andere noch in Anspruch nahm. Doch konnte auch
geblufft werden. Man konnte die Schüssel noch halbvoll
haben, aber dennoch aufstehen und den Rest im Stehen in
der Küche schlürfen. Das machte die Sache natürlich noch
spannender. Heute gewann ich und das traf sich gut, denn ich
traf mich um sieben Uhr unten an der Straße mit Oskar, um
gemeinsam mit ihm in die Schule zu fahren. Mein Bruder
nahm häufig den Bus, denn er ging auf eine andere Schule,
die etwas weiter weg lag. Oskar wartete schon ungeduldig auf
seinem Rad und hielt seine Hände zwischen die Beine.
Wahrscheinlich fror er sich gerade die Eier ab, vorausgesetzt
er hatte welche. Wir fuhren los. Keiner von uns wagte auf der
Fahrt auch nur ein Wort über das gestrige Ereignis zu
verlieren. Das war auch besser so und ich hoffte, dass er
daraus gelernt hatte. Jeder konzentrierte sich im Wesentlichen
darauf, die Kontrolle über seine Kondition zu bewahren, denn
schon früh steckte der Eroberungsgeist in uns Männern. Das
war ja schließlich auch normal, denn irgendjemand musste ja
den Mädchen zeigen wo es lang ging. Aber seltsamerweise
bekamen die Mädchen meist die besseren Noten in den
Klausuren. Vor allem von Lehrerinnen. Wahrscheinlich hielten
Frauen
zusammen
und
wollten
nicht
ihre
Schwächen
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wahrhaben. Wir zeigten uns meist kulant und gönnten ihnen
dieses kleine, wenn auch kurz anhaltende Vergnügen.
Ausgesprochen schlecht war es, wenn einer von uns nicht
mehr konnte, nur noch so auf seinem Rad röchelte, wenn es
steil bergauf ging und der Andere dann fragte, „Geht es noch,
oder soll ich warten?“, man entschlossen mit dem Kopf
schüttelte und schweren Atems stöhnte, „Es geht schon.“, man
sich aber schwer beherrschen musste, um nicht zu hecheln
wie ein in der Wüste laufender Hund mit langen, pelzigen
Haaren.
Laber, laber, laber. Glücklicherweise saßen wir in der letzten
Reihe und das betörende Gelaber von unserem Lehrer wurde
weitgehend vom Teppich gedämpft. Gerd saß neben mir, mit
verschlafenen Augen, er hatte wieder einmal die halbe Nacht
am Computer gesessen und versucht seine Bestleistung in
„Universal
Man“
zu
übertrumpfen.
Unsere
größte
Beschäftigung war es, unter den Büchern und Schulheften mit
der Zirkelspitze ein Loch in den Tisch zu bohren, ohne dass
der
oder
die
Lehrerin,
Geschlechtsunterschied,
doch
es
in
gab
ihrer
zwar
einen
verzweifelten
pädagogischen Art waren sie alle gleich, es bemerkte. Wir
nannten es Ölbohrungen und nach jeder Stunde nahm Oskar
Maß von der Tiefe der Bohrung, meist waren es nur wenige
Millimeter, doch das war eine ganz schön mühselige Arbeit.
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Wir waren uns natürlich im Klaren darüber, dass wir nie auf Öl
stoßen würden, doch unter diesem Aspekt war es viel lustiger.
Ich bemerkte die genervten Blicke unseres Mathematiklehrers,
Herr Grausam, der hieß wirklich so, ein Öko-Typ, erkennbar
an seinen Birkenstock-Latschen, auch wenn es noch so kalt
war, sie waren unentbehrlich, die auf Gerd gerichtet waren und
ich blickte unschuldig auf die Tafel, runzelte die Stirn, als
würde ich gerade nachdenken.
„Gerhard, kannst Du bitte einmal meinen letzten Satz
wiederholen?“
Wir hatten in Deutsch gelernt, dass dies eine rhetorische
Frage war. Das war eine Frage, wo man die Antwort schon
von vornherein kannte. Warum zum Teufel stellte er sie also?
Au Backe. Gerd hatte nicht einmal bemerkt, dass er
angesprochen wurde. Ich stieß ihn mit meinem Ellenbogen in
die Rippen. Er blickte verstohlen auf mich. Ich wies ihm nur mit
einem Kopfnicken nach vorne, da vorne spielte die Musik! Er
hatte es begriffen. Im Begreifen waren wir immer gut. Er
lächelte den Lehrer an.
„Ja bitte?“, fragte Gerd freundlich. Die ganze Klasse lachte, ich
auch. Herr Grausam winkte verachtend ab, kehrte uns den
Rücken zu und schrieb auf seiner geliebten Tafel weiter. Wenn
einer seit über zwanzig Jahren jedes verfluchte Jahr ein und
dasselbe an die Tafel schrieb, dann war ja wohl die logische
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Schlussfolgerung,
dass
man
früher
oder
später
kommunikationsunfähig werden musste. Das war wohl der
Preis, den man als Lehrer zu zahlen hatte. Jeder, der am
Anfang diesen Beruf ausübte, dachte wohl, soweit würde es
nicht
mit
ihm
kommen.
Doch
alle
täuschten
sich,
vorausgesetzt sie gingen in Frührente und kratzten dann doch
noch die Kurve. Das war das allgemeine Schicksal dieser
Anstalt und wer als Schüler nicht aufpasste, endete genauso.
Da hatten wir zum Beispiel einen ganz schwierigen Fall in
unserer Klasse. Birgit. Ein Mädchen. Klein, dick, hässlich,
dumm und unfruchtbar. Sie machte immer alle Hausaufgaben,
zog sich immer adrett an, widersprach nie, versuchte immer
das Leid anderer hilflosen Menschen zu verstehen, das
Synonym
von
Mutter
Theresa
schlechthin.
Mit
dem
Unterschied, dass sie nicht half, sondern schadete, denn jeder
von uns bekam Magengeschwüre mit sofortiger Wirkung,
wenn sie nur das Maul aufmachte. Sie sabbelte wie eine
Lehrerin, war aber so alt wie wir und ihre Eltern übten
seltsamerweise einen normalen Beruf aus. Vielleicht lebte sie
in der Nähe eines Atomkraftwerks. Ich hatte mal gehört, dass
das große Schäden am Menschen heraufbeschwören kann.
Nichtsdestotrotz, hatte es Gerd wieder einmal beim Grausam
verschissen. Auf Einmal mehr oder weniger kam es sowieso
nicht mehr an. Ich glaubte, die ganze hintere Reihe hatte
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verschissen. Das war unser Ruf und auf den waren wir auch
stolz. Am Ende der Stunde, als der Grausam das Zimmer
verließ,
natürlich
nicht
ohne
eine
gehörige
Portion
Hausaufgaben, alter Sadist, maß Oskar unsere Lochtiefen. Es
waren schon vier Millimeter. Die Tischplatte hatte eine Dicke
von zwei Zentimetern. Mir fehlten also nur noch eins Komma
sieben Zentimeter. Oder so. Auf jeden Fall nicht mehr viel. Ist
ja auch egal. In der nächsten Stunde hatten wir Biologie.
„Bios“ hieß so viel wie leben und „Logie“ so viel wie Logik.
Wenn Bios also logisch war, warum musste es dann noch
gesagt werden. Das war doch völlig unlogisch. Es hätte also
eher Bio-a-logis heißen müssen, weil wenn alles logisch wäre,
wozu hätten wir dann noch den ganzen Kram lernen müssen.
Aber ich merkte schon, bei besonders langweiligen Themen
versuchte man immer entweder unaussprechliche Namen zu
geben, wie zum Beispiel Wurzelfunktion, beim genaueren
Betrachten, erkannte man keine Wurzeln, sondern eher einen
Kotflügel von einem Sportwagen, oder man sagte es in einer
Fremdsprache, die schon längst ausgestorben war, lateinisch,
ora et la boa. Ora ist die Zeit und Boa die Schlange.
Sinnesgemäß ergab das: Die Stunde der Boa-Schlange hat
geschlagen. Also so viel wie: Das Spiel ist aus. Warum also
musste alles so kompliziert umschrieben werden, wo doch
alles so einfach war? Da kam auch schon unser Biologielehrer
Seite 27
rein, oder sollte ich lieber Biologe sagen, aber so wie der stank
würde Biotop besser zu ihm passen. Der rauchte so viel, dass
seine Haut wie eine mehrmals geteerte Mondlandschaft
aussah. Einmal hatten wir bei ihm die Entstehungsgeschichte
der Menschheit behandelt, also dass der Mensch vom Affen
abstammt und nicht umgekehrt und als er uns den
Australupiticus
Aferensis
Schädelmerkmale
erklärte,
Unterkiefer,
nach
die
vorstellte,
der
hinten
seine
große
typischen
vorgeschobene
fliehende
Stirn,
die
breitgeschlagene Nase eines Boxers und der krumme Gang,
mussten alle lachen. Denn im Prinzip beschrieb er sich selbst.
Er brauchte uns nicht einmal ein Dia zu zeigen. Das Lustigste
war, dass er sogar mitlachen musste. Das entschuldigte fast
alles. Er war echt in Ordnung. Fast alles, weil er mal mitten in
seinem Unterricht mit der flachen Hand auf den Tisch haute,
ich aufzuckte, ich war gerade erst so schön auf dem Tisch
eingeschlafen und er sagte:
„Wir sind nicht zum Schlafen hier!“
Mein Ohr pfiff noch den ganzen Tag, denn er hatte sehr heftig
auf den Tisch gehauen. Das war aber auch gut so, wenigstens
hörte ich dann niemanden mehr, bis auf den blöden Vogel im
Ohr natürlich. Bei ihm konnte man aber auch nur schlafen,
denn die Tische waren aus Stein, für eventuelle physikalische
Experimente,
so
dass
weder
Bohrungen,
noch
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Beschmierungen auf den Tischen möglich waren und wenn
man den Kopf auf den Tisch legte, so wurde er gut gekühlt. Ich
saß ganz hinten und alleine, denn vorne waren schon alle
Plätze belegt und schaute meist zu, wie sich die Anderen
amüsierten. Was für ein Schauspiel, ein langweiliges dazu.
Glücklicherweise hatte ich eine Nagelschere mitgenommen,
schnitt mir also sauber die Nägel und feilte sie. Ich überlegte
mir, ob ich nicht einfach die Schuhe ausziehen sollte, um mir
dann auch noch die Fußnägel zu schneiden, fand aber dann
doch auch, dass das wohl zu weit gegangen wäre. Also beließ
ich es bei den Fingernägeln, ließ mir aber viel Zeit. Was Peggy
jetzt wohl so machte? Vielleicht schlief sie auch gerade auf
dem Tisch und ihre Brustspitzen berührten sanft den Tisch,
der davon ganz geil würde, ihr Lehrer womöglich auch. Denn
jetzt konnte er endlich in ihr Dekolleté reingucken. Zuhause
bekamen die Lehrer so etwas bestimmt nicht geboten.
Deswegen brachte sie auch immer die Einsen nach Hause.
Sie hatte schon die richtige Taktik gefunden. Aber wenn ich
Shorts trug und die Lehrerinnen endlich mal Gelegenheit
hatten meine tollen Beine anzuschauen, ich weiß das, weil
mein Vater immer am Tisch sagte, „Mensch hat die Beine!“, so
bekam ich dennoch keine bessere Noten. Die Sonne lachte
von draußen und das war die Gelegenheit meine Uhr zu
testen. Ich hielt sie in der Sonne und ein Kreis erleuchtete an
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der Decke. Ich ließ den Kreis langsam bis zur vorderen Wand
gleiten, als unser Biologielehrer, Herr Knecht, sich umdrehte
um etwas an die Tafel zu schreiben, der Kreis genau um seine
Kreidespitze tanzte. Er wartete. Ich auch. Es wurde immer
stiller. Er drehte sich plötzlich um. Ich ließ auch plötzlich den
Kreis verschwinden. Aber er starrte mich an. Woher wusste er
bloß, dass ich das immer war?
„Lenny, noch einmal und Du fliegst!“
„Braucht man dafür einen Flugschein, ich bin nämlich noch
nicht Achtzehn?“
Ich stand draußen. Ich glaubte, ich war diesmal wieder zu weit
gegangen. Es blieben sowieso nur noch zehn Minuten die es
zu warten galt. Wenn ich rausflog, was das mit Fliegen zu tun
hatte, weiß ich bis heute nicht, ging ich immer den Flur rauf
und runter, versuchte mit dem Fuß mittig in die Fliese zu treten
und zählte dabei die Anzahl der Fliesen. Das war mühsam,
aber eine andere Methode die Zeit totzuschlagen fiel mir nicht
ein und ich hoffte, dass wenigstens Oskar Scheiße baute,
dass auch er rausflog, so dass mir nicht ganz so langweilig
wäre. Doch er flog natürlich nicht raus. Als die Stunde zu Ende
war und alle anderen schon das Klassenzimmer verließen,
musste ich zu einer Unterredung zum Knecht antanzen. Dann
musste ich mahnende und erzieherische Worte über mich
ergehen lassen und fertig war das Amen in der Kirche. Ich
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sollte mir für die nächste Stunde wirklich was Besseres
einfallen lassen, damit mir nicht langweilig werden sollte, denn
die alte Kollwitz war jetzt dran. Im Flur kam mir Pad entgegen.
Ein cooler Typ mit langen Haaren, wir hörten damals die
gleiche Musik, das machte ihn zu einem meiner besten
Freunden. Wir hegten auch gleich eine neue Taktik aus.
Die Stunde begann. Ich starrte auf meine Uhr. Noch fünf
Minuten. Vier Minuten. Drei ......Die Tür ging auf. Pad stand an
der Türangel und fragte ob ein gewisser Lenny in dieser
Klasse anwesend sei, er blickte unschuldig in die Runde. Frau
Kollwitz kam schon misstrauisch auf ihn zu. Jetzt musste mein
Einsatz kommen.
„Pad,
Du
altes
Haus,
mein
Cousin,
was
für
eine
Überraschung!“, ich stand auf, ging auf ihn zu und wir
umarmten uns. Er sagte:
„Mensch Lenny hast Du Dich aber verändert“
Verdammt die Kollwitz schaute immer noch so misstrauisch.
Ich blickte zu ihr und sagte:
„Das ist mein Cousin Pad, wir haben uns schon seit Jahren
nicht mehr gesehen, kann ich nicht nach Hause gehen?“
Warten. Stille. Sag doch Ja Du Alte Zicke. Ich glaubte sie hatte
den Braten gerochen. Sie lehnte diese Art von Schwindel
energisch ab, schloss die Tür vor Pads Nase und verwies mich
auf meinen Platz zurück. Blödes Rindviech. Dass sie mir aber
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auch jeden Spaß verderben musste. Immerhin, am Ende der
Stunde gab sie mir wenigstens keine Strafarbeiten. Das war
auch schon etwas wert. Hätte es geklappt, wäre Pad in seine
Klasse gegangen, hätte sich für sein Zu-Spät-Kommen
entschuldigt und wir hätten die gleiche Tour noch einmal
drehen müssen. Wer weiß, ob das geklappt hätte. Wir
zweifelten sehr daran, aber es hatte ja so oder so nicht
geklappt. Leider durfte Pad nie mit zu mir nach Hause
kommen, denn er wusch sich nicht regelmäßig, trank heimlich
Bier und hatte eine ganze Menge Ohrringe. Mein Vater hatte
ihn einmal von weitem gesehen und steckte ihn gleich in die
Schublade „Abschreckendes Beispiel.“
Seltsam, ich fand ihn ja echt in Ordnung. Eltern hatten ja
sowieso seltsame Einstellungen und Weltansichten. Das Erste
wonach sie fragten, wenn ich ihnen von einem neuen Freund
erzählte war, nicht etwa wie er so drauf wäre, oder wie er
aussähe, sondern gleich die ultimative Frage:
„ Was machen eigentlich seine Eltern?“
Sie stellten diese Frage auch immer so, als sei sie beiläufig
gestellt worden. Dies erkannte man auch an dem „eigentlich“.
Was hieß da eigentlich, wolltet ihr es nun genau wissen oder
nicht? Ich wusste es sowieso nur selten, aber schon wenige
Tage später hatten es meine Eltern irgendwie ausfindig
Seite 32
gemacht. Wurde die Frage nicht standesgemäß von mir
beantwortet, so lautete die zweite Frage:
„Was für ein Auto fährt denn sein Vater?“
Ich dachte anfangs, es sei eine gestörte Verhaltensstruktur
meiner Eltern, doch als ich bei einem Freund war und zum
zufälligen Abendbrot von dessen Eltern eingeladen wurde, so
wurde mir von fremden Eltern, ich meine natürlich noch
fremder als die Meinen, was denn Meine so beruflich machten.
Ich antwortete meist mit meiner Standartantwort:
„Meine Mutter schmeißt den Haushalt und mein Vater ist ihr
Chef.“
Dann ließen sie mich auch in Frieden, doch wurde ich dann
auch meist nicht mehr eingeladen.
Ob diese alte Labertasche Kollwitz wohl Kinder hatte? Wenn
ja, so würden die wahrscheinlich nie den Beruf ihrer Mutter
erwähnen. Ich stellte mir vor, wie ihr Sohn gerade beim
Abendessen gefragt würde:
„Was machen Deine Eltern eigentlich beruflich?“. „Ach, die ist
tot!“
Meist stellten die Mütter diese Fragen, obwohl sie von den
Vätern in die Welt gesetzt wurden. Doch aus einem weiblichen
Mund, erwartete man keine üblen Hintergedanken einer Frage.
„Also mein Vater ist abgehauen und meine Mutter ist Lehrerin.“
Seite 33
Das eine war die Konsequenz vom Anderen und umgekehrt.
Das nannte man in der Mathematik Affinität. Das hieß, dass
man aus dem Einen oder Anderen das Eine oder Andere
schlussfolgern konnte, ohne das Eine oder Andere, oder das
Andere oder Eine, zu kennen und umgekehrt. Alle ließen den
Löffel in die Suppe fallen und das einst königliche Abendmahl
wurde spontan zu einem Fast-Food umdisponiert. In Falle
eines Sohnes einer Lehrerin, vor allem aber einer solchen,
wurde
man
zum
Lügner
geboren.
Das
war
eine
lebensnotwendige Notlüge. Oder man musste die Existenz der
Eltern leugnen. Armes Schwein. Naja, vielleicht hat der Mann
aber die Kollwitz schon vorher verlassen, also ich meine bevor
sie Kinder zur Welt bringen konnte. Wenn es so war, so war
das wohl das Beste für alle. Eine Doppelstunde war vorbei,
denn die Klingel läutete. Ende der Veranstaltung. In der Regel
standen dann alle gleichzeitig auf, bis auf die dumme Birgit
natürlich, und alle hatten auch schon ihre Jacken, ihre
Handschuhe, ihre Schale an und der Schulranzen war auch
schon fertig gepackt. Dann gab es meistens das „Moment
bitte“, oder „Ich bin noch nicht fertig“, oder „Das Läuten ist ein
Zeichen für mich und nicht für Euch“. Dann mussten wir uns
zurücksetzten, die Jacken öffnen, die Schulhefte auf den Tisch
legen. Eine Minute Gelaber und Predigt der Götter und die
Aufbruchprozedur
konnte
von
Neuem
erfolgen.
Lehrer
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vergaßen oft, dass Ludwig XIV. schon lange tot war und dass
die Taktik „L´ État c´est moi“ sich nicht bewährt hat. Sollte es
also einmal eine Revolution geben, das Beil wäre schon gefeilt
und zum Fall bereit, so würden wir sagen:
„Moment, Moment. Das Beil sollte doch noch einmal geschärft
werden.“
Erst dann würden diese Säcke unser Leid verstehen. Doch
dann wäre es zu spät, denn ich glaubte nicht, dass es zu einer
Begnadigung gekommen wäre.
Und
auch
dieses
Mal
kam
es
wie
angesprochen.
„Moment.......“
Ich wartete draußen auf Oskar, doch er kam nicht. Gut, dann
fuhr ich eben alleine los. Die Wintersonne schien wunderbar
und die Heimfahrt durch die herrliche Landschaft waren immer
die schönsten Momente an den Tagen, denn das war die Zeit,
an denen ich weder mit quälenden Fragen gestört, noch mit
unerträglichen Hausaufgaben belästigt wurde. Es war einfach
nur schön. Doch diese Momente hielten in der Regel nur sehr
kurz an. Deshalb machte ich oft eine Pause, legte mein
Fahrrad auf den zerbröckelten Asphaltweg und setzte mich in
die Schneewiese um die Sonne und die Natur zu genießen. Im
Sommer war das natürlich weitaus genialer, denn da konnte
ich mich ins Gras legen, das schon meterhoch gewachsen
war, so dass mich keine vorbeigehenden Spaziergänger
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sehen
konnten.
Dann
zog
ich
mein
vom
Radfahren
verschwitztes T-Shirt aus und schaute den vorbeiziehenden
Wolken im Himmel zu. Oft träumte ich dann davon, dass ich,
wenn ich mal groß und stark würde, also ich meine natürlich
noch größer und noch stärker als ich es ohnehin war, neben
mir eine scharfe Mieze läge, die mir schöne Geschichten
erzählen würde, mich mit einem bezaubernden Lächeln
besänftigen würde, oder die einfach nur ihren Kopf auf meine
starke Brust legen würde und meinen Atem spüren würde.
Jemand, der mich verstand, jemand der so fühlte wie ich, so
dass ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen könnte, für
meinen ganz persönlichen Sonnenschein. Jemand der einfach
nur da wäre, wenn man ihn bräuchte. Doch jetzt war die Zeit
oder ich wohl nicht reif und welches Mädchen wollte schon mit
einem Chaoten wie mir ausgehen. Das war wohl der
legendäre Unterschied, zwischen dem Potentiellen und dem
Reellen, potentiell war ich ein Held, doch scheiterte ich an der
gnadenlosen Realität.
So, ich hatte nun aber auch lange genug über diese Welt
nachgedacht und es war Zeit die Heimfahrt anzutreten,
vorausgesetzt ich suchte Streit mit meinen Mitbewohnern. Ich
wünschte mir häufig, ein dickes Fell wie ein Bär zu haben, mit
einem so dicken Bauch, dass ich gemütlich in
der Schule
beim Einschlafen den Kopf auf den Bauch legen könnte. Denn
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das Phantastische an Bären war, dass sie einen Winterschlaf
halten konnten, so dass sie einfach nur die schlechteste Zeit
im Jahr überschliefen. Ich hätte das auch gekonnt, aber
wahrscheinlich hätte ich schon spätestens nach dem zweiten
Tag heiße Ohren und rote Arschbacken von meinem Vater
bekommen. Auch wäre ich dann erst mit zweiunddreißig aus
der Schule entlassen worden, dann käme wirklich jede
psychotherapeutische Hilfe zu spät. Dieser Winter hielt noch
lange an und das Einzige, dass meine Laune warm hielt, war
der Gedanke, dass ich endlich mal mit einem Mädchen
ausgehen würde. Das wäre der entscheidende Moment, an
dem sich dann auch alles ändern würde. Keine Probleme
mehr. Keine Sorgen mehr. Keine dummen Eltern, die ständig
rum nölen würden. Doch nichts dergleichen geschah und der
Kalender meldete auch schon bald den Frühling an.
Ich konnte schon die Handschuhe in den Winterschrank
wegräumen, denn meine Finger schrien förmlich nach der,
wenn auch noch frischen, aber herrlichen Frühlingsluft. Ein
Blick auf meine Stoppuhr verriet mir auch schon, dass ich
schneller mit meinem Rad zur Schule fuhr, als im Winter. Das
mussten die Hormone sein, die Glücksgefühle, dass das
Frieren nun ein vorübergehendes Ende gefunden hatte. Oskar
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fuhr immer seltener mit mir zur Schule. Er hatte sich nämlich
ein Moped gekauft und wenn er angeben wollte, so nahm er
den Radweg und überholte mich, grinste mir zu und überließ
mich mit seinem Auspuffgestank, der penetranter war als jeder
lang zurückgehaltene Furz. Die größte Sauerei zudem war,
dass er jetzt schamlos alle Mädels zu einer Spritztour einlud,
da hinten noch reichlich Platz war. Dann erklärte er ihnen,
dass sie sich dicht an ihn anschmiegen müssten, und ihre
Hände fest um seinen Körper umschlungen halten mussten,
um bei den „abartig“ hohen Geschwindigkeiten von ganzen
fünfzig Sachen nicht runter zu fallen. Das war eine wirklich
ganz blöde und billige Masche, doch zu meinen Entsetzten
ließen sich fast alle Mädels darauf ein. Das lag wohl daran,
dass Mädels dumm waren. Er erklärte mir auch, dass Frauen
zwar keine Mopeds mochten, aber Männer mit Mopeds. Aha,
das hieße, dass ich ein Moped bräuchte. Da könnte ich aber
lange bei meinen Eltern anklopfen. Demzufolge müsste ich ein
Mädel suchen, dass schon ein eigenes Moped hatte, dann
konnte ich sicher sein, das sie auf eine so blöde Tour nicht
reinfiel. Aber ich merkte schnell, dass sie sich genau aus dem
Grund kein Moped zulegten. Nun gut, fest stand jedenfalls,
dass der Frühling begann, die Röcke kürzer wurden und die
Brunftzeit nicht nur bei den Tieren ihren freien Lauf nahm. Mir
war sowieso aufgefallen, dass Peggys Titten geschwollener
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waren
als
sonst.
Entweder
lag
es
tatsächlich
am
Jahreszeitwechsel, oder sie bekam diese Schwellung nur vom
vielen Fummeln, zumindest erschien mir das als logischer. Der
Frühling war wahrscheinlich deshalb so toll, weil man schon
ahnen konnte, dass der Sommer nicht mehr fern war. Die
Sonne begann dann die Haut zu streicheln, sie wurde weicher
und schöner. Die Mädchen könnten nun endlich ihre prallen
Brüste zur Schau stellen und die Jungs versuchten verzweifelt
in
aller
Kürze
ihren
Körper
mit
Muskeln,
wie
ein
Weihnachtsbaum zu verzieren. Doch meistens war das
notwendige Training so lange, dass sich schon bald darauf
wieder der Winter meldete. Zumindest trübte das Gewissen
nicht mehr, man hätte nichts getan. Aber dieses Problem
tangierte mich reichlich wenig, denn ich fuhr ja schließlich
jeden Tag mit dem Rad in die Schule. Bei den älteren
Herrschaften war mir immer wieder aufgefallen, dass sie, da
sie keine Muskeln mehr hatten, sich meist einen richtig geilen
Schlitten zulegten. Und erstaunlicherweise saß immer, aber
auch immer wieder irgend so eine geile Tussi an deren Seite.
Ob das am Auto lag?
Ich eilte gerade über den Schulhof, um die nach Hause Fahrt
anzutreten, als mir Pad entgegen kam.
„Hey Lenny, alter Hase.“
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„Ich bin weder alt, noch ein Hase.“
„Wie geht’s wie steht’s?“
„Wie soll es mir denn schon gehen. Schließlich ist heute
Samstag. Das ganze Wochenende schlafen. Kein Wecker,
kein Stress.“
„Wie sieht’s aus? Heute Abend ist Disco angesagt. Voll Party
und echt geil.“
„Du hast gut reden. Wir kommen da bestimmt nicht rein.“
„Klar und wie wir da reinkommen. Vorher hängst Du Dir noch
ein Ohrring dran, ziehst eine schwarze Hose an und dann
kann es losgehen.“
„Meine Eltern machen das bestimmt nicht mit.“
„Ach! Scheiß auf Deine Alten. Die junge Generation regiert die
zukünftige Welt.“
„Ich weiß, aber schließlich sind wir nicht in der Zukunft,
sondern in der Gegenwart.“
„Na und eine Tracht Prügel hat noch niemandem geschadet.“
„Meinst Du vielleicht ich will mir eine Tracht Prügel verpassen
lassen?“
„Sag mal bist Du blöd? Ich meine natürlich, dass Du Deinen
Alten ordentlich eine verpasst!“
Pad hatte gut lachen, seine Eltern waren geschieden, sein
Vater war abgehauen und seine Mutter bekam ihn schon mit
siebzehn. Zudem war sie kleiner als er, womit er Zuhause die
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Regie übernahm. Im Prinzip regierte ich auch Zuhause, nur
eben nicht so offensichtlich. Sagen wir mal so, ich war mehr
die Fernbedienung, die mit magischen Frequenzen regierte
und er war mehr der Türsteher, der einem gleich eins auf die
Nase gab, wenn ihm was nicht passte. So etwas konnte ich
mir leider nicht erlauben, denn ich hatte schon ein paar Mal
eine Ohrfeige von meinem Vater bekommen. Also lief ich eine
Woche mit einer Hamsterbacke herum. Das fand ich gar nicht
lustig.
„Ich will hier nicht ewig auf eine Antwort warten.“, wenn er
nicht sofort bekam was er wollte, wurde er immer so
ungeduldig, das mochte ich und provozierte ihn.
„Ich weiß nicht so recht. Wollen wir das nicht erst einmal
gruppendynamisch ausdiskutieren.“
„Ey, Du hast wohl total den Schaden. Beim nächsten Ton
kriegst Du eine aufs Maul.“
Ich wartete. Er pfiff und wollte mir in den Magen hauen, als ich
ihm schnell in die Eier griff. Leicht vorgebeugt, vor Angst, dass
ich zukneifen würde, hatte er diesen flehenden Blick mit den
Worten auf den Lippen „Bitte nicht zudrücken“.
„Also gut um neune bei McDonalds.“
„Na also, das ist doch ein Wort. Wenn Du jetzt mein
wichtigstes Organ in Frieden lassen könntest.“
Ich ließ los.
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„Also dann bis heute Abend.“
„Ciao.“
Schon auf dem Nachhauseweg bereute ich, dass ich zugesagt
hatte, denn ich wusste nicht, wie ich meine Eltern dazu
bringen sollte, mich weggehen zu lassen.
Na bestens, da hatte ich mich ja auf eine schöne Scheiße
eingelassen.
Ich saß am Tisch und meine Mutter war gerade am Servieren
der Vorspeise. Dass es lecker aussah, interessierte mich im
Augenblick reichlich wenig. Mich beunruhigte mehr die Frage,
ob ich vor oder nach dem Essen von meinem Vorhaben
erzählen sollte. Wenn ich vor dem Essen nach der gnädigen
Erlaubnis zum Ausgehen fragte, so musste ich mir während
der ganzen Speise das betörende Gesülze meiner Eltern
anhören, würde ich nach dem Essen fragen, könnte es zu
einem spontanen Kotzanfall führen, aufgrund der Tatsache,
dass ich mir dann die Abendpredigt anhören durfte und durfte
ist noch sanft ausgedrückt. Ich konnte die Sprüche jetzt schon
hören:
„Du lebst auf ganz schön großen Füßen mein Lieber.“
„Andere lernen vor dem Schlafengehen.“
„Als ich in Deinem Alter war, gab es immer Ausgehverbot,
geschweige denn davon, dass es gar keine Diskotheken gab.“
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Das war ja auch wenig verwunderlich, denn wenn ich mir
meine Eltern so ansah, wollte ich erst gar nicht die Anderen
aus deren Generation sehen. Also beschloss ich die goldene
Mitte zu wählen, mitten beim Essen, da würde ich noch am
wenigsten riskieren. Also wartete ich ungeduldig auf die
Hauptspeise. Kartoffelknöllchen. Ich zermanschte sie mit der
Gabel. So sah es vermutlich jetzt in meinem Magen aus.
„Ich hab heute Pad getroffen.“
„Aha.“
Scheiße. Wenn „aha“ alles war dann sollte ich erst besser gar
nicht weiter reden.
„Ja und.“
Na bitte, es ging doch wenn ihr wolltet.
„Er hat in Deutsch eine zwei bekommen und hat daraufhin von
seinen Eltern zehn Mark bekommen um eine Cola in der Stadt
trinken zu gehen.“
„Seit wann kostet denn eine Cola zehn Mark?“
„Seitdem er Freunde wie mich hat, die er zum Cola trinken
einlädt.“
„Dann komme ich aber immer noch erst auf fünf Mark.“, meine
Eltern konnten ganz schön skeptisch sein.
„Wir sind zwei Jungs, das heißt, auf jeden kommt mindestens
ein Mädel, macht wenn ich den Mathematikunterricht richtig
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verfolgt haben sollte, zehn Mark, inklusive Mehrwertsteuer und
einer Menge Spaß.“
„So, dann hast Du also eine Freundin.“
„Das habe ich nicht gesagt. Das war nur eine potentielle
Behauptung.“
„Dann wird es aber Zeit, dass dein Potential real wird.“
Pause.
„Wenn wir Dich also richtig verstanden haben, so hast Du also
vor heute wegzugehen?“
„Wenn Ihr mich so direkt fragt, ja!“
„Und warum sagst Du das nicht gleich?“
„Weil wenn ich eine Suppe serviert bekomme, so esse ich sie
nicht gleich, sondern verbessere erst den Geschmack, indem
ich sie vorher noch Würze.“
Mein Vater mochte es gar nicht, wenn ich das letzte Wort
hatte, also wartete ich.
„Also gut, aber nur wenn Du Dich am Sonntag auf Deinen
Arsch setzt und für Deutsch lernst. Es wäre stets zu begrüßen
wenn wir mal einen progressiven Aufschwung in Deiner
schulischen Laufbahn erleben könnten.“, lächelte er höhnisch.
Wenn es nach mir ginge würde ich ihm jetzt antworten:
„Stets würde ich auch Deine Versetzung in einer höheren
Position in Deinem Büro herzlichst begrüßen.“
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Aber es ging nun mal nicht nach mir, sondern nur danach,
dass ich endlich raus wollte.
„Also heißt das, dass ich raus darf?“
„Wenn Du die Randbedingungen erfüllst, ja.“
Boah. Jetzt durfte ich mir nur nicht anmerken lassen, dass ich
mich enorm freute, sonst würden sie noch denken, dass ich
damit nicht gerechnet hatte. Also tat ich so, als wäre nichts
gewesen
und
aß
gemütlich
weiter.
Eltern
waren
ein
Phänomen, das äußerst kompliziert zu erklären war. Es gab
keine Logik in ihnen. Keine Gleichung wie in der Mathematik.
Mal waren sie so, mal waren sie anders. Besonders schlimm
war es, wenn sie so waren. Dann galt es stillschweigend in
seinem Zimmer zu sitzen und zu warten bis wieder bessere
Zeiten kamen. Am besten, man begegnete ihnen erst gar nicht
im Flur. Unberechenbar, genauso wie Lehrer. Ich ging auf
mein Zimmer und zog mich um. Schnell noch ins Bad, Zähne
putzen, des Mundgeruchs wegen, Gel in die Haare, Deo unter
den Achseln. Nein, das sah doch nicht so gut aus. Gel wieder
rauskämmen. Mensch so sah das noch schlimmer aus. Also
noch schnell Haare waschen. Föhnen. Kämmen. Nein, so
auch nicht. Lieber die Haare verstrubbeln. So! So und nicht
anders. Jetzt war es aber wirklich Zeit loszugehen. Auf dem
Weg zur Garage blickte ich noch einmal schnell in eine
Autoglasscheibe um mich zu sehen. Mist. Mit Gel sah ich
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irgendwie doch besser aus. Ich blickte auf die Uhr. Aber jetzt
war es wirklich zu spät, um meine Frisur noch einmal zu
ändern. Also schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr los.
Pad wartete schon ziemlich genervt. Meine Güte, ich war doch
bloß zwanzig Minuten zu spät.
„Ich wusste doch, dass Du kommst.“
„Ich
auch.“,
hoffentlich
zweifelte
er
nicht
an
meinem
Selbstbewusstsein.
Er grinste bloß. Also doch. Wir gingen zum „Nuit totale“, einer
Disco wo alle älteren Schüler hingingen. Wir standen in der
Schlange. Hinter uns stellten sich eine Brünette und eine
Blondine an. Ich glaubte sie sahen ziemlich gut aus, wagte es
aber nicht, sie anzuschauen. Ganz anders Pad. Er schaute sie
an. Oder besser gesagt, er glotzte sie an. Dann schaute er auf
ihre Titten. Mensch, ich hätte vor Scham im Boden versinken
können. Es hätte nur noch gefehlt, dass Schleim aus seinem
Mundwinkel floss. Dann drehte er sich zu mir und grinste mich
an. Das hieß in der Regel so viel wie „geiles Geschoss“. Die
Schlange vor uns wurde immer kürzer. Ich war noch nie
drinnen und ich fragte mich ernsthaft, ob ich es heute schaffen
würde rein zu kommen. Pad war an der Reihe. Der Türsteher
hielt seine offene Hand hin, was bedeutete, wie „Her mit der
Kohle.“ Pad reichte ihm den Zehnmarkschein und bekam auf
seine Hand einen Stempel aufgedrückt. Ich zog auch schon
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einen Zehnmarkschein aus der Tasche, doch zu meinem
Entsetzten hielt er mir nicht die Hand hin.
„Ausweis.“
Ausweis. Ist das alles was dieses präpubertäre Arschloch von
sich geben konnte?
„Ey, hab ich vergessen, ey.“
„Nächster.“
„Ey, was soll das?“
„Nächster.“
Scheiße. Scheiße. Absolute Megascheiße. Pad war außer
Sichtweise. Die alte stinkende Sackratte war schon drinnen.
Mein Kopf neigte sich nach vorne und langsam entfernte ich
mich von der Schlange. So eine verfluchte Scheiße. Ich setzte
mich auf eine Bank, am Straßenrand. Es fuhr kein Schwein auf
der Straße. Alles lief so gut und dann das. Scheiße. Ich hätte
mir doch Gel in die Haare schmieren müssen. Ein echter Mann
weinte nicht. Hatte ich mal im Fernsehen gesehen. Also weinte
ich nicht, sondern biss mir nur in die Lippe. Die Drecksau von
Pad kam nicht einmal raus, um mich zu trösten. Schweigen.
Absolutes Schweigen. Ich hatte das unwohle Gefühl, dass ich
alles falsch machte, egal was ich machte. Oder sollte ich jetzt
doch weinen. Nein, das wäre wirklich lächerlich gewesen. Und
wenn die alte Kollwitz mich so gesehen hätte, dann wäre mir
das wirklich außerordentlich peinlich gewesen. Ich hörte
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Schritte hinter mir. Aha, das musste Pad sein, er dachte also
doch noch an mich. Ich tat so, als würde ich ihn keineswegs
hören oder gar sehen. Er sollte ruhig spüren, wie unangenehm
das war, ein Nichts zu sein. Er setzte sich. Nichts.
„Zu dumm, wenn man zu jung ist.“, hörte ich eine Stimme
sagen. Das war gar nicht Pad. Das hatte einen so hohen Ton,
klang richtig geil. Ich drehte mich um und musste erst mal
schlucken. Ups, das war die scharfe Blondine die hinter mir
stand. Jetzt bloß nicht ausrasten. Ganz cool bleiben, ganz
cool.
„Ach ja?“, antwortete ich in einem lässigen Ton, ohne mir die
geringste Aufregung anmerken zu lassen.
„Ja, ich bin auch nicht rein gekommen.“
„Wieso nicht?“
„Weil ich auch zu jung bin.“
„Und die Brünette, ich meine Deine Freundin?“
„Die Brünette ist nicht meine Freundin, sondern meine
Schwester. Sie ist älter. Und wer war der andere Typ mit Dir?“
„Ach nur so ein blöder Kumpel von mir.“
„Blöd, aber immerhin älter als Du.“
Haha, das fand ich gar nicht komisch.
„Wie heißt Du eigentlich?“
Gut dass sie den Anfang machte.
„Lenny. Aber meine Freunde sagen auch Lenny zu mir.“
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Sie lächelte. Ihr Lächeln war wunderschön. Ich hätte ihr
Lächeln stundenlang anschauen können.
„Willst Du nicht wissen wie ich heiße?“
Ich war schon in einer anderen Welt eingetaucht.
„Do...doch, doch.“
„Ich bin Sylvia.“
„Schöner Name.“
„Deiner auch.“
„Findest Du?“
„Ja.“
Soso. Jetzt wusste ich wirklich nicht weiter. Ich konnte nicht
mal auf ihre Brüste schauen, sonst hielt sie mich womöglich
für ein perverses Schwein. Wer wusste es schon? Laut einer
Jugendzeitschrift, die ich mal bei einem Kumpel gelesen hatte,
wüsste man erst als Mann, also ich meinte ab dreißig, ob man
pervers war, oder nicht.
„Wohnst Du hier?“, was Besseres fiel mir zunächst nicht ein.
„Nein, der Freund von meiner Schwester hat uns hergefahren.
Wir wohnen in Westhausen. Kennst Du das?“
„Ja, ich fahre manchmal mit dem Fahrrad daran vorbei.“
„Und Du, woher kommst Du?“
„Aus Trozloch. Das ist, wenn Du die...“
„Ich weiß ich weiß, mein Onkel wohnt dort.“
„Ach ja, wie heißt der denn?“
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„Paul Degebert.“
„Nö. Kenn ich nicht.“
„Ist ja auch egal.“
Stimmt. Das war mir auch egal. Was mich vielmehr
interessierte, war nach wie vor ihr Lächeln. Ich lächelte sie an.
Na bitte. Sie lächelte zurück. Wauoh. Sie sah echt klasse aus.
Sie drehte ihr Gesicht weg und schaute verklemmt auf den
Boden,
dann
auf
ihre
Schuhe,
ihre
Beine
hatte
sie
ausgestreckt.. Sie hatte Turnschuhe an. Stand ihr wirklich gut.
Die knallenge Jeans übrigens auch. Und überhaupt. Ihr stand
einfach alles gut. Ich schaute auch auf den Boden. Was sie
jetzt wohl dachte? Hoffentlich dachte sie nicht von mir, dass
ich ein Idiot oder so was war, deshalb sagte sie vielleicht
nichts mehr.
„Was hast Du denn für Hobbys?“, fragte ich interessiert.
Sie schaute mich an.
„Ich lese wahnsinnig gerne, schwimme und schaue gerne
Fern.“
„Echt ich sehe gerne nah.“
Sie lachte und neigte dabei ihren Kopf leicht nach hinten.
Dabei kam ihre goldene Halskette mit einem kleinem Herz
zum Vorschein. Wahrscheinlich war das ein Geschenk von
ihrem Freund. Das war ja klar. So eine geile Schnecke hatte
natürlich schon einen Freund.
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„Hast Du eine Freundin?“
Ich zuckte kurz zusammen. Verdammt noch mal, konnte sie
Gedanken lesen, oder was?
„Ach zur Zeit genieße ich das Alleinsein. Wenn ich mir nämlich
meine Eltern so ansehe, so frage ich mich, was für eine Sinn
das macht eine Freundin zu haben.“
„Wieso, hat Dein Vater eine Freundin.“
„Nein, ich meine natürlich meine Mutter.“
„Ja klar. Blöde Frage.“
So blöd war sie gar nicht. Wer weiß, vielleicht hatte mein Vater
wirklich eine Freundin.
„Und Deine Eltern, nein, ich meine, hast Du einen Freund?“
„Nein.“
Oh Mann. Die Sache wurde jetzt richtig ernst.
„Und warum nicht, wenn man fragen darf?“
„Weil mir keiner gefällt.“
„Lenny, jetzt bist Du gefragt! Das ist Deine Chance! Jetzt aber
ran an den Speck!“. Das wären die Worte von Pad gewesen,
wäre er jetzt hinter mir.
Aber wenn ihr bis jetzt keiner gefiel, warum sollte dann
ausgerechnet ich ihr gefallen?
Ich hörte Schritte hinter mir. Sie drehte sich um. Hoffentlich
war das nicht Pad. Der würde mir sonst noch die ganze Sache
vermasseln. Es war ihre Schwester mit ihrem Freund.
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„Hallo.“
„Das ist Lenny, das ist meine Schwester Karen,... ihr Freund
Walter.“
Komisch ihre Schwester hingegen sah ganz schön beschissen
aus. Fand ich zumindest. Walter fand das anscheinend nicht.
Oder er hatte es einfach besonders nötig. Wer weiß. Besser
ich fragte ihn nicht. Das würde gleich einen schlechten
Eindruck machen.
„Sylvi, wir gehen noch ein Bierchen trinken. Kommt ihr mit?“
Sylvia drehte ihren Kopf zu mir rüber und blickte mich fragend
an.
„Ich würde ja sau gern mitkommen, aber ich warte besser
noch auf meinen Freund.“
Sie stand auf.
„Also dann. Tschüs Lenny und bis bald vielleicht.“
„Ja. Bis bald.“
Ich blieb auf der Bank sitzen und schaute ihnen zu, wie sie
langsam sie Straße hinuntergingen, bis sie im schwarzen
Nichts verschwanden. Ich musste ständig an ihr Lächeln
denken.
Wie
hieß
sie
doch
gleich?
Sylvia.
Sylvia.
Syyyyyyylvia. Den Namen musste man sich förmlich auf der
Zunge zergehen lassen. Moment mal. Hatte ich das richtig
verstanden? Sie wollte, dass ich mit zum Biertrinken komme?
Und was hatte ich daraufhin gesagt? Nein! War ich eigentlich
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total blöd, oder was!? Ich hatte nein gesagt! Nur wegen des
Depps Pad, der sich da drinnen amüsierte, während ich wie
ein dummer Köter draußen auf ihn wartete. Das gab es doch
nicht! Also manchmal fehlte es mir wirklich im Hirn. Das war
doch einfach nicht zu fassen. Aber nun war es zu spät und ich
konnte es auch nicht mehr ändern. Ich hatte weder nach ihrem
Nachnamen, noch nach ihrer Telefonnummer gefragt. Na toll.
Wie sollte ich sie jemals wiedersehen? Dabei hatte sie doch
ausdrücklich „Bis bald“ gesagt? Oder träumte ich einfach nur?
Ich hatte nun die Schnauze voll, alles nur wegen Pad. Ich ging
zu meinem Rad, warf einen letzten Blick auf den Eingang von
der Nuit totale und fuhr allein nach Hause. Komisch sonst
fühlte ich mich selten einsam. Aber jetzt hatte ich das Gefühl,
dass mir dieses bezaubernde Lächeln von Sylvia fehlte. Ihre
Zähne funkelten noch in meinen Augen. Sie hatte eine exakte
Zahnreihe, wie die Frauen im Fernsehen, wenn sie für
irgendwelche Schönheitsprodukte warben. Ich schlich leise in
mein Zimmer, legte mich hin und versuchte zu schlafen. Doch
mir fiel das außerordentlich schwer. Ich hatte das Gefühl, als
wäre ich besoffen, obwohl ich nichts getrunken hatte. Ich
schwebte noch lange in meinem Bett, bevor ich einschlief.
Ich träumte.
Ich war mitten im törenden Lärm von Schüssen, Bomben und
Granaten. Um mich herum war es dunkel, obwohl es oft grell
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aufblitzte, gefolgt von unglaublich lauten Knallen. Um mich
herum fielen lauter Schreie. Ab und zu standen Leute auf,
rannten und schmissen sich wieder auf den Boden. Der Boden
war nass. Schlamm, in dem ich getränkt lag. Ich hatte große
Angst und versuchte mir meine Ohren zuzuhalten. Der Lärm
war unerträglich. Auf einmal sah ich Sylvia. Sie stand aufrecht
und kehrte mir den Rücken zu. Anscheinend hatte sie keine
Angst, denn sie ging ganz langsam über das Feld, indem die
Geschosse nur so fetzten. Ich stand auf und schrie, bis mich
ein Kugelhagel von hinten zerfetzte.
„Wollen wir etwa weg?“, hörte ich meinen Vater vom
Wohnzimmer aus sagen. Ich stand schon fertig bereit um nach
Westhausen zu fahren, in der Hoffnung zufällig Sylvia an zu
treffen. Ich drehte mich um, zog meine Schuhe aus, denn
wenn
etwas
im
Paragraph
Nummer
eins
in
puncto
Hausordnung bei meinen Eltern stand, dann war es:
„Betrete nie das Haus mit Straßenschuhen“, ging ins
Wohnzimmer und sagte:
„Naja, nicht so richtig, nur eine kleine Runde drehen.“
„Gut,“, entgegnete mir mein Vater, “in einer halben Stunde bist
Du wieder zurück und dann wirst Du Dich gefälligst an unsere
Vereinbarung halten. Du weißt ja, ein Mann ein Wort.“
Seite 54
„Ich weiß, aber ich bin noch kein Mann.“
Er zückte seinen Zeigefinger nach oben, das machten
Erwachsene besonders gerne, wenn sie keine Lust hatten,
über etwas zu diskutieren. Diese Diskussion hätte sowieso zu
nichts geführt, da ich so oder so den Kürzeren gezogen hätte.
Also räumte ich meine Schuhe weg, setzte mich an meinen
Schreibtisch und begann zu lernen. Was für ein Unfug. Da
musste ich doch tatsächlich Deutsch lernen, wo ich doch alles
verstand. Also ob man nun Scheiße mit zwei „s“ oder mit „ß“
schrieb war doch nun wirklich scheißegal. Es kam doch, so
jedenfalls war ich der Ansicht nur auf den Inhalt an. Aber
Rebellion war zwecklos und endete nur mit Hausarrest. Also
verbrachte
ich
das
geliebte
Wochenende
auf
meine
Arschbacken, die wahrscheinlich, wenn ich noch weitere Jahre
auf die Schule ging und das stand mir leider noch bevor,
schließlich wollten meine Eltern, dass ich das Abitur machte,
nur damit man sagen konnte „Abi hab´i“, eines Tages so
plattgedrückt sein würde, das ich meine Jeans mit Watte füllen
müsste, um zu einem gut geformten Hintern zu kommen.
Montag. Der Alltag ging seinen gewohnten Trott weiter und ich
konnte beim besten Willen nicht begreifen, warum die ältere
Generation immer wieder sagte:
„Ach die Jugend ist doch die schönste Zeit im Leben.“
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Dabei hatten es doch die Lehrer, oder in der Fachsprache
ausgedrückt
Pädagogen,
tausendmal
besser
als
wir
Jugendlichen. Sie verbrachten weniger Zeit als wir in der
Schule, sie durften schwätzen so viel und wann sie wollten, sie
durften ihren sadistischen Adern freien Lauf lassen, sie
mussten nicht für die Klausuren lernen und standen somit
nicht unter Prüfungsstress und das Beste kam erst noch: Sie
wurden auch noch dafür bezahlt! Ich wollte erst gar nicht
wissen wie viel, aber bestimmt mehr als mein klägliches
Taschengeld, dass ich mir jeden Monat hart und bitter, meist
mit Verspätung und etlichen Kompromissen, ergattern musste.
Gerd saß neben mir und seine Backen wurden von seinen
Fäusten, auf das sein Gesicht gestützt war, bis über beide
Ohren gezogen. Das war ein Merkmal dafür, dass ich nicht der
Einzige war, dem totlangweilig war. Also hegten wir einen Plan
aus. In der Pause wurde das Klassenzimmer immer
abgeschlossen, damit keiner auf die stupide Idee kam, dem
Einen oder Anderen etwas zu klauen, doch vorher hatten wir
ein Fenster unbemerkt aufgelassen. Es regnete. Die ganze
Klasse blieb also in der großen Pause drinnen. Das war auch
gut so, denn wir brauchten jetzt niemanden, der uns
beobachten würde. Wir gingen um den Schulhof herum, bis wir
vor den Fenstern von unserem Klassenzimmer standen.
Unsere Turnschuhe waren schon voller Dreck, da vor den
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Fenstern nur Grün war. Das Klassenzimmer war vielleicht nur
einen Meter über dem Boden, also kletterten wir durch das
Fenster, über einen Schultisch und standen nun drin. Gerd war
am Fenster und stand Schmiere. Ich ging zur Wand, an denen
immer irgendwelche tollen Nachrichten hingen, zum Beispiel
wer heute Tafeldienst hatte und so Zeugs und sammelte so
viele Reißzwecken, wie ich nur finden konnte. Ich blickte zu
Gerd. Er nickte sanft mit dem Kopf. Alles in Ordnung. Ich ging
nun von Stuhl zu Stuhl und legte schön ordentlich eine
Reißzwecke nach der Anderen mittig, mit der Nadelspitze
nach oben und schob dann jeweils den Stuhl zurück unter den
Tisch. Nach wenigen Minuten war ich fertig.
„Und was ist mit dem Herr Grausam, willst Du ihn etwa
verschonen?“, flüsterte er mir zu. Ich legte auch ihm eine
Reißzwecke auf den Stuhl. Dann überlegte ich kurz und legte
ihm eine zweite dazu. „Altersbonus“, dachte ich mir. Wir
sprangen auf den Tisch, durchs Fenster und nichts wie zurück
zum Eingang des Klassenzimmers. Wir warteten ungeduldig
mit unseren Mitschülern und sprachen über dies und das. Herr
Grausam kam und öffnete die Tür und wir lachten uns jetzt
schon ins Fäustchen. Alle setzten sich hin und er begann wie
gewohnt seinen Unterricht. Ich hörte gar nicht worum es heute
ging, sondern rückte nur ungeduldig ständig auf meinem Stuhl
herum. Ich konnte es kaum erwarten, bis endlich jemand
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aufschreien würde. Doch nichts dergleichen geschah. Hatte da
etwa schon jemand unsere Reißzwecken entfernt? Fragend
blickte ich zu Gerd. Er zuckte unschuldig mit den Achseln.
Komisch.
„Herr Grausam, Herr Grausam!“, Birgit hob ihren Finger und
schnalzte mit dem Finger, dass machten alle Streber, wenn sie
zeigen wollten wie schlau sie doch waren. Er schrieb seine
Gleichung an der Tafel zu Ende, bevor er sich ruhig umdrehte.
„Ja Birgit, was ist denn?“, fragte er sanft.
„Jemand hat mir eine Reißzwecke auf den Stuhl gelegt!“, sie
konnte vor lauter Aufregung gar nicht mehr richtig schlucken.
Ich
hätte
ihr
auch
zwei
davon
hinlegen
sollen.
„Dummheitsbonus“ sozusagen. Viele standen nun auch auf
und wir konnten ständig hören sagen:
„Bei mir auch, bei mir auch Herr Grausam.“
Ach gottchen Herr Grausam, so tun sie doch etwas. Wir waren
ja so hilflos. Herr Grausam wusste gar nicht mehr wie ihm
geschah, er stand dieser Situation völlig machtlos entgegen.
Solchen Situationen war er einfach nicht gewachsen. Ihn
verließ irgendwie der Mut seinen Unterricht fortzusetzen, denn
jeder plapperte wie wild und war zutiefst über diese Tat, ich
wollte fast sagen Schandtat, entsetzt. Ich auch übrigens. Also
setzte er sich hin, als er plötzlich aufzuckte, aufstand und von
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seiner Jeans zwei Reißzwecken, die seinen Hintern piksten,
riss.
Hoffnungslos resignierte er:
„Bei mir auch.“
Komisch keiner lachte hier. Denn wir hatten niemanden
ausgelassen. Ich reichte unter dem Tisch Gerd eine
Reißzwecke rüber. Er stand auf.
„Bei mir auch Herr Grausam.“
Das machte er wirklich toll. Daraufhin stand auch ich auf und
meinte empört:
„Das ist eine Unverschämtheit und ich finde, wir sollten den
Schuldigen bestrafen.“, ich dachte, dass mich das somit aus
der
Verdächtigen-Liste
strich.
Vereinzelt
konnte
man
Zustimmungen hören, doch war die ganze Klasse in Auffuhr
und es herrschte gnadenloses Chaos. Das gefiel mir.
„Ruhe. Ruhe bitte.“, flehte Herr Grausam. Er holte tief Luft.
„Ruhe!“, brüllte er. Nun war es still. Na bitte, ich wusste doch,
dass er Mann genug war, um zu schreien.
„So, jetzt beruhigen wir uns erst einmal.“, er war schon recht
fertig mit den Nerven und es war fraglich, ob er uns oder ihn
damit meinte.
„Wir werden jetzt erst einmal nach Spuren suchen.“
Aha, Eigeninitiative hatte er also auch. Heute überraschte er
mich wirklich. Hätte ich nicht von ihm gedacht. Er stand auf
Seite 59
und ging durch die Bänke, bis zur hinteren Reihe. In der
allerletzten Reihe saß niemand und er zeigte triumphierend mit
seinem Zeigefinger auf dem Tisch neben dem Fenster, durch
das wir gestiegen waren.
„Hier haben wir Abdrücke von zwei verschiedenen Paar
Schuhen, das müssten dann wohl die Schuhe der Täter sein.“
Alles stand auf und stand um das Indiz herum. Ich fand diesen
Umschwung der Situation nun nicht mehr so lustig. Wenn er
jetzt jeden einzelnen Schuh verlangte, so waren wir äußerst
schlecht dran. Ich schaute nicht mehr zu Gerd, dieser Blick
hätte uns vielleicht nur verraten.
„Also, wer zugibt, es getan zu haben, bekommt mildernde
Umstände. Wenn diejenigen es nicht zugeben, dann werde ich
mir Schuh für Schuh anschauen und den Tätern droht der
sofortige Schulverweis. Also, ich höre.“
Alle waren still. Er blickte langsam aber sicher in die Runde.
Ich stand weiter hinten und konnte so seinen Blicken leicht
entgehen. Minutenlanges Schweigen. Hoffentlich hält Gerd
sein Maul, dachte ich bloß, sonst wäre ich auch dran.
Schließlich stand er ja nur Schmiere. Ich warf unbemerkt einen
Blick auf meine Uhr. Ich glaubte, dass das meine Rettung war.
Noch wenige Minuten, bis zum Läuten der elementaren
Erlösung.
Seite 60
„Das ist nun wirklich die letzte Chance die ich den Tätern
gebe. Ich zähle bis zehn und dann beginne ich mit der Suche.
Eins...Zwei......Drei...“
Ach was sollte es, ob ich nun flog oder nicht war mir jetzt auch
egal, da ich sowieso ahnte, dass er nur bluffte. Er war doch
viel zu gutmütig, als das man seine Drohungen ernst nehmen
konnte. Er war nun bei Zehn angelangt.
Er stand hilfloser denn je in dem Kreis, den wir um ihn gebildet
hatten. Jeder spürte auch, dass er aufgeschmissen war und
dass man ihn nicht mehr ernst nehmen konnte. Er blickte auf
seine Uhr. Maßlose Enttäuschung stand in seinem Gesicht
geschrieben.
„Na gut. Sollten diejenigen unter euch sein, so sehe ich das
als einen sehr schlechten Scherz an und bitte euch inständig,
dass es dabei bleibt und so etwas nicht mehr vorkommt.“, es
war mehr ein Flehen als ein Bitten. Ich hatte so viel Mitleid mit
ihm, denn nun buhten ihn einige aus, dass ich mir schwor, das
nie wieder zu machen, zumindest nicht mehr mit ihm. Einige
gingen an ihren Platz zurück und packten schon ihre Sachen
zusammen, bis die Klingel läutete.
„In der Hoffnung, dass es bei diesem einmaligen Scherz bleibt,
möchte ich noch einmal darüber lachen. Und bis zum
nächsten Mal schaut ihr euch bitte die Wurzelfunktionen an,
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nehmt sie euch zu Herzen, denn die nächste Klausur wird
nicht ganz einfach.“
„Ist die schwierige Klausur Ihre Antwort auf den Scherz?“,
hörte ich Oskar frech kontern.
„Ach Kinder, jetzt hört doch bitte auf.“ Ich glaubte, mit dem war
es nun aus. Der war reif für die Anstalt. Er packte seine
Sachen zusammen und verließ langsamen Schrittes wortlos
das Klassenzimmer. Er schlurfte wie der Glöckner von Notre
Dame über den Flur. Wir hatten eine kleine Pause. Ich eilte zur
Toilette und pisste erst einmal eine Runde. Als ich aus der
Kabine kam, wartete auch schon Gerd auf mich. Er lachte und
hielt mir seine flache Hand hin.
„Komm schlag´ ein Mann.“, sagte er.
Ich zog ihn in die Kabine und meinte:
„Hör zu, ich glaube diesmal sind wir mit ihm zu weit gegangen.
Der ist hinüber.“
„Ach das ist doch egal. Wenn er fertig mit den Nerven ist, so
kommt er in Frührente und bekommt reichlich Kohle vom
Staat. Also was sollen wir uns sorgen?“
„Sag mal, woher weißt Du denn so was?“
„Das habe ich mal beim Abendessen von meinen Eltern
gehört. Wir haben eine Nachbarin, die einmal als Lehrerin
gearbeitet hat, die voll durchgeknallt ist, sich aber alle paar
Monate einen neuen Wagen leistet.“
Seite 62
„Was? So viele Kröten bekommen die. Also wenn das so ist,
dann kann er uns noch dankbar sein!“
Ich hielt ihm die Hand hin.
„Give me five.“
Er schlug ein. Im Prinzip hatten wir für die Menschenrechte
gekämpft. Ein Lehrer weniger. Hoffentlich wurden wir nun von
weiteren unfähigen Pädagogen verschont. Andererseits hatte
man mit denen eine Menge Spaß, vor allem wenn sie nicht
durchgreifen konnten. Und wer konnte das schon. Unser Netz
hielt so dicht zusammen wie die italienische Mafia. Mit dem
Unterschied, dass wir weitaus subtiler arbeiteten, ohne Waffen
und Gewalt und so. So weit wäre wahrscheinlich keiner von
uns gegangen. Wir verließen die Toilette und gingen zurück
zum Klassenzimmer, als mir Birgit über den Weg lief und mir
bitter zurief:
„Lenny, ich bin mir sicher, dass Du und Dein toller Freund
Oskar oder Gerd dahinterstecken.“
Ihre Stimme war perfekt für die Synchronisation des Filmes
„Hilfe, ich bin ja so dumm“. Sie stand wie eine alte, gebückte
Rentnerin im Flur, völlig hilflos und armselig. Ich ging auf sie
zu, ganz dicht und flüsterte ihr ganz leise ins Ohr:
„Halt doch einfach das Maul.“
Sie öffnete vor bloßer Empörung den Mund. Wir gingen weiter
und lachten stolz.
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Herr Grausam beschäftigte mich noch eine gute Weile. Beim
Mittagessen fragte ich meinen Vater:
„Sag mal, angenommen ein Lehrer knallt durch und muss in
die Anstalt oder so, stimmt das, dass er dann in Frührente
geht und Geld vom Staat bekommt?“
Er blickte mich fragend an.
„Hast Du etwa was angestellt?“, fragte er streng.
„Also in diesem Haus kann man aber auch gar nichts fragen.“,
schoss ich hinaus.
„Ist ja gut reg´ Dich doch nicht gleich auf. Ja, das stimmt.“
„Was muss man eigentlich tun, um Lehrer zu werden?“
„Als erstes muss man sein Abi machen. Und daran scheitern
schon einige, deren Namen ich nicht in aller Öffentlichkeit
nennen möchte.“
Dabei schaute er ununterbrochen auf mich, so als könnte man
glauben, dass er mich meinen würde. Ich tat so, als fühlte ich
mich keineswegs angesprochen und aß weiter, schaute ihn
aber gezielt an, bis er seine Zeitung erhob, um den
Blickkontakt abzubrechen.
Am nächsten Tag kam schon in der ersten Stunde unser
Direktor, Herr Auer. Er hatte mittlerweile ein klein wenig seinen
Bart gestutzt und hielt nun seine Rede, über die Gemeinheit,
die wir mit Herrn Grausam getrieben hätten, dass er für die
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nächsten Tagen krankgeschrieben wäre. Warum sagte er nicht
gleich, dass er in eine Anstalt war? Er ermahnte uns, dass
wenn so etwas in der Art noch einmal passieren würde, er uns
allen eine ordentliche Strafe in Form von satten Hausaufgaben
verpassen würde. Aus meiner Sicht schnitt er sich nur ins
eigene Fleisch, denn wenn er uns Hausaufgaben machen
ließe, so müsste einer von denen es ja auch korrigieren. Aber
es handelte sich ja schließlich nur um eine Mahnung. Und
Mahnungen wurden nie verwirklicht. Also beeindruckte mich
das reichlich wenig. Ab und zu warf er mir einen drohenden
Blick zu, ich dachte, er wusste genau wer es getan hatte und
so laberte er noch etliche Minuten weiter. Mir war das gerade
recht, denn diese Zeit wurde letztendlich vom Unterricht der
alten Kollwitz abgezogen, die wie ein kleiner Arschkriecher
neben ihm stand und hin und wieder mit dem Kopf, wie ein
Kakadu, zustimmend nickte. Als er mit seiner Rede fertig war,
nickte sie noch mit dem Kopf weiter. So eine Art Trott.
Vermutlich hatte sie nicht einmal zugehört. Er schaute sie an,
sie zuckte kurz auf und gab ihm die Hand, womit er sich auch
schon wieder verabschiedete.
„Lenny und Gerd, ihr beide setzt euch in Zukunft nach vorne
und zwar getrennt, wenn ich bitten darf.“
„Aber sicher doch Madame.“, antwortete ich.
„Yes Mam.“, sagte Gerd.
Seite 65
Stille.
„Worauf wartet ihr noch?“, ihre Augen wurden größer als sie
es ohnehin schon waren.
„Ach so, jetzt gleich oder was?“, fragte Gerd.
„Wenn ich bitten darf.“
Wir brummelten beide vor uns hin, packten unsere Sachen
zusammen und setzten uns nach vorne. Na bestens, jetzt saß
ich genau vor ihr. Ich hatte nun das theatralische Privileg den
breiten Arsch der alten Henne beim Tafelschreiben in
Großaufnahme zu sehen. Das sollte sie mir noch büßen.
Während sie mit ihrem Unterricht begann, heckte ich schon
neue Pläne aus. Ich saß nun also zwischen Florian, einem
Klugscheißer, der aber dennoch für jeden Spaß zu haben war
und Andreas. Andreas hatte dunkles Haar und einen perfekt
mit Gel überzogenen Seitenscheitel. Seine Ohren waren so
frei geschnitten und standen zudem so weit ab, dass er
womöglich beim Windsurfen gar kein Segel brauchte. Der war
so pingelig, so stubenrein, dass er sogar in der Pause mit dem
Radiergummi seinen Tisch säuberte, wenn jemand mit dem
Bleistift etwas darauf geschrieben hatte. Ich ahnte, dass wenn
er etwas nicht leiden konnte, dann war es, wenn sein Tisch
nicht exakt bündig in der Reihe stand. Alles musste bündig
sein. Demzufolge konnte ich mich prächtig amüsieren, denn
ich fing an, meinen Tisch zu verrücken, so dass eine
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Zentimeterfuge unsere Tische trennten. Nach nicht mal einer
Minute fiel ihm das schon auf und er rückte die Tische wieder
kräftig zusammen. Das Lehrerpult war genau vor uns und
darauf lagen geöffnet die Unterlagen von der alten Kollwitz. Ich
rückte wieder die Tische ein klein wenig auseinander. Andreas
starrte mich schon ganz genervt an und rückte die Tische
wieder zusammen, diesmal aber kräftiger. Ich spielte das
Spielchen noch ein paar Mal. Das Erstaunliche aber war, dass
er sie immer wieder zusammenrückte, ein Perfektionist eben.
Jetzt war es an der Zeit meinen Plan zum Einsatz zu bringen.
Ich nahm eine kleine Füllerpatrone aus meiner Truhe und stieß
das Kügelchen, das die Tinte in der Patrone zurückhielt mit
meinem Zirkel durch und klebte es vorsichtig mit einem Stück
Tesafilm an die Kante meines Tisches in einem Winkel in
Richtung Lehrerpult. Ich hob meine Hand und schnalzte mit
dem Finger. Sie drehte sich um.
„Was ist denn, Lenny.“
„Ich muss mal.“, ich blickte winselnd.
Sie winkte mit der Hand zur Tür, woraufhin ich recht schnell
das Zimmer verließ. Ich stand draußen und presste mein Ohr
auf die Tür. Wenn alles nach Plan lief, dann würde Andreas
wieder
die
Fuge
bemerken
und
die
Tische
kräftig
zusammenrücken. Daraufhin würde durch den anfallenden
Druck die Patrone platzen, die Tinte herausspritzen und wenn
Seite 67
ich es richtig eingeschätzt hatte, so würde die Tinte genau auf
die Unterlagen der Kollwitz landen.
„Sag mal Andreas bist Du total übergeschnappt?“, hörte ich sie
auch schon brüllen. Die ganze Klasse lachte laut. Ich vermute
mal, bis auf Andreas. Und feige wie der war, würde er es nicht
mal wagen mich zu erwähnen.
„Ich glaube das einfach nicht!“, tobte sie weiter. Die Klasse
tobte mit. Einfach göttlich. Es hatte geklappt.
„Wir sprechen uns nachher beim Direktor, Andreas. Das ist
doch wirklich das allerletzte.“
Nach einer Weile setzte sie ihren Unterricht fort und dann
betrat ich auch schon wieder das Zimmer. Keiner ahnte, dass
ich etwas damit zu tun hatte, bis auf Florian, aber der fand das
auch recht lustig. Als ich mich hinsetzte, stellte ich fest, dass
doch nicht alles nach Plan lief, denn als sie sich gerade von
der Tafel abwandte, sah ich, wie ein langgezogener
Tintenstreifen ihre knallrote Bluse dekorierte. Schade das man
nicht
immer
dann
lachen
konnte
wann
man
wollte.
Nichtsdestotrotz, fand ich es nun an der Zeit mit dem Scheiße
bauen ein klein wenig kürzer zu treten, sonst würde sie
merken, dass meistens ich dahinter steckte. Und um Andreas
machte ich mir keineswegs Sorgen, der hatte doch sowieso
nicht den Mumm sich zu rächen oder auch nur aufzumucken.
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Ich dachte in letzter Zeit immer häufiger an Sylvia. Ich
erinnerte mich überhaupt nicht mehr wie sie aussah. Doch an
das Lächeln konnte ich mich nach wie vor gut erinnern. Ich
fragte mich bloß, wie ich es anstellen sollte, sie jemals
wiederzusehen. Westhausen war ungefähr fünf Kilometer
entfernt. Mit meinem Rad war das schon eine weite Distanz.
Was sie wohl jetzt im Augenblick machte? Vielleicht hatte sie
inzwischen einen gefunden, der ihr gefiel. Das war sogar
ziemlich wahrscheinlich. Ich hatte die ganze Woche nicht mehr
Pad gesehen und das war auch besser so, denn ich war
immer noch sehr beleidigt, weil er mich hatte sitzen lassen.
Ich hatte den ganzen Nachmittag frei. Weder Schule, noch
Hausaufgaben. Ich wäre heute gerne nach Westhausen
gefahren, alleine um ihre Nähe zu spüren, doch regnete es in
Strömen und ich glaubte nicht, dass sie an einem verregneten
Tag wie diesen außer Haus gehen würde. Also lag ich fast den
ganzen Tag im Bett und träumte davon, dass hoffentlich bald
wieder die Sonne schien. Ich wurde keineswegs religiös
erzogen, auch wenn meine Eltern gläubig waren. Sie ließen
mir und meinem Bruder die Wahl, irgendwann einmal unseren
eigenen Glauben zu finden. Doch wenn die Sonne schien und
die Farben sich prächtig dem blauen Himmel präsentierten,
stellte ich mir vor, dass eine höhere Macht am Werk war. Mit
den Computerspielen, mit dem Fernsehen, mit der Technik
Seite 69
und mit den schönen Ferraris, die die alten Säcke fuhren oder
den geilen Motorrädern, die coole Rocker fuhren, konnte man
sehr viel erreichen, doch einen strahlender Sonnenschein, mit
einem abschließenden feurigen Sonnenuntergang konnte man
künstlich nicht erzeugen. Mich faszinierte das jedes Mal aufs
Neue, doch kam es leider zu selten vor, denn meist war der
Himmel grau und bedeckt und im schlimmsten Falle wie heute,
regnete es dann sogar. Immer wenn ich auf meine Alten oder
auf die Schule keinen Bock hatte, nährte mich der Gedanke an
meine alltägliche Heimfahrt durch das Grüne, im Rasen zu
liegen und den Lauf der Wolken zu betrachten, in denen ich oft
Zeichen sah, Gesichter oder Autos, oder Symbole. Sie waren
immer wieder anders und das machte die Sache so
interessant. Es läutete. Ich ging zur Tür und hoffte auf ein
Wunder, welches es auch immer sein mochte. Ich öffnete die
Tür.
„Sag mal, geht das nicht ein bisschen schneller?“, fragte
kläffend mein Bruder.
Ich war wirklich nicht in der Laune ihm zu antworten.
„Hey Kleiner, ich habe Dich was gefragt!“
„Wenn es Dir nicht passt, dann vergiss doch einfach nicht
mehr Deine Schlüssel, hä!“
Er zog seine Schuhe aus, auch er gab immer fein acht auf
Paragraph Nummer eins in der Hausordnung, kam auf mich zu
Seite 70
und nahm mich plötzlich in den Schwitzkasten. Das war richtig
fies. Man konnte sich in dieser gebückten Haltung nicht
wehren und da einem die Kehle zugedrückt wurde konnte man
nicht mal schreien, denn Luft war in diesen Augenblicken
äußerst knapp. Ich versuchte ihm in die Eier zu treten, doch
dadurch, dass er mindestens einen Kopf größer als ich war,
kam ich nicht an sie ran. Er ließ ein bisschen locker und die
Prügelei ging richtig los. Das waren immer die schönsten
Momente mit meinem Bruder. Sich mit ihm zu schlagen
machte großen Spaß und ihm vielleicht auch. Schließlich
hätten wir uns so schlagen können, bis der andere
kampfunfähig
gemacht
wurde,
doch
respektierten
wir
einander. Leider hörten die Kämpfe meistens blöd auf, denn
entweder hatte er oder ich Nasenbluten. Das war ganz
schlimm, denn wenn ein Tropfen auf den Teppich fiel, knieten
wir beide auf den Teppich und versuchten wie besessen mit
allen möglichen Waschmitteln und Chemikalien den Fleck
wieder raus zu bekommen. Keiner von uns hatte Lust auf
Ärger beim Abendessen. So auch diesmal. Ich hatte
Nasenbluten. Er hatte mir dann wohl doch zu feste aufs Maul
gehauen. Aber wir standen noch am Eingang und dort lagen
glücklicherweise Fliesen. Tony nahm seine Tasche und ging
auf sein Zimmer. Er tat neuerdings so seriös, denn er wurde
bald achtzehn und bereitete sich auf seinen Führerschein vor.
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Gut, dass ich nicht sein Vater war. Ihm hätte ich bestimmt
keinen Führerschein bezahlt. Das wäre doch eine unnötige
und potentielle Gefahr für das Volk gewesen. Und überhaupt,
ich hatte das Gefühl, dass mein Bruder mehr Afrikaner war, als
Europäer. Der Europäer nämlich schrie erst dann, wenn er
Schmerzen hatte. Der Afrikaner schrie schon vorher, wenn er
den Schmerz vorausahnte. Immer kurz bevor ein Unglück
geschah, schrie er auf. Das war unheimlich lustig, denn er war
der Einzige, der so war. Aber seine lauten Schreie würden
dann lauter Unfälle provozieren.
Nach einigen Tagen traf ich im Schulhof Pad. Ich erkannte ihn
von weitem, obwohl er mir den Rücken kehrte, wie er sich
gerade mit einem Mädel unterhielt, die mir unbekannt war. Ich
schlich langsam an ihn heran und schubste ihn mit einem
kräftigen Ruck. Er stürzte auf das Mädchen und beide fielen zu
Boden, wobei er auf ihr lag. Ich lachte laut auf. Obwohl Pad
zunächst erschrocken war, genoss er förmlich die Situation
und ließ sich viel Zeit mit dem Aufstehen. Das Mädel war
hingegen schon ganz rot vor Scham. Pad gab ihr die Hand
und half ihr auf die Beine. Sie war sehr beschämt.
„Darf ich vorstellen. Das ist Lenny, ein klasse Kumpel. Und
das ist Susie meine baldige neue Freundin.“
Wir gaben uns schüchtern die Hand.
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„So und warum ist sie erst Deine baldige Freundin?“
„Weil sie sich noch nicht so sicher ist, ob wir nun miteinander
gehen sollen oder nicht.“
Er grinste ihr zu, sie kniff ihre Augen zu und streckte ihm die
Zunge raus.
„Du weißt ja, wie Mädels so sind.“
„Und ich weiß ja wie kleine Jungs so sind.“, kläffte sie bissig
zurück.
Ich versuchte das Thema zu wechseln.
„Vielen Dank, dass Du mich hast draußen sitzen lassen.“
„Du meinst neulich im Nuit totale?“
Ich zog die Augenbrauen hoch.
„Hey, jetzt sieh Dir mal Susie an, sieht sie nicht total süß aus?
Hätte ich so eine Mieze alleine tanzen lassen dürfen.... Du
verstehst?“
Er blinzelte mir zu. Sie blickte geschmeichelt auf den Boden,
während er ihre Hand nahm. Gar nichts verstand ich, denn so
toll sah sie nicht aus. Den Arsch fand ich zu breit. Und diese
spitze Nase, also nein, die wäre nichts für mich gewesen.
„Da hättest Du mal sehen sollen welche geile Schnecke ich
erst kennengelernt habe.“
„Du?
Dich
haben
sie
doch
nicht
einmal
durch
die
Gesichtskontrolle durchgelassen.“
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„Stell Dir mal vor, er gibt auch noch andere Orte, wo man
Mädchen ankert.“
„Mister Casanova klärt uns auf. Gebt fein Acht. Wie heißt die
Olle denn?“
„Sylvia.“
„Sylvia. Und wie weiter?“
„Weiß ich nicht. Ich weiß lediglich das sie aus Westhausen
kommt.“
„Ach die kenne ich.“, sagte Susie gelangweilt.
„Sylvia Binder. Eine blöde eingebildete Kuh. Die findet alle
Jungs blöd, behauptet sie, aber ich bin mir sicher, dass sie
einfach nur eine Lesbe ist. Deshalb hat sie keinen.“
„Ach ja? Wenn sie eine blöde Kuh ist, dann bist Du eine
dumme Schlampe.“
Pad fand, dass ich zu weit ging. Sie wollte mir gerade eine
auswischen, als ich kurz vor meinem Gesicht ihre Hand ergriff.
„Du überlegst zu lange.“, belehrte ich sie.
Auf einmal bekam ich eine kräftige Ohrfeige von der anderen
Seite. Diesmal war es Pad.
„Du überlegst auch zu lange.“, sagte er. Ich war ganz schön
beleidigt, strich mir mit der Hand über meine rote Backe,
drehte mich um und verließ die Beiden, die nicht einmal
wussten, ob sie nun zusammen waren oder nicht, mit den
Worten:
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„Ach ihr könnt mich doch alle mal!“
Zumindest hatte ich nun herausgefunden wie Sylvia mit
Nachnamen hieß. Das war mir eine Menge wert. Ich überlegte
also den ganzen Morgen in der Schule, wie ich das Gespräch
am Telefon anfangen sollte.
„Hallo hier ist Lenny. Wie sieht’s aus, gehen wir zusammen
aus?“
Nein, das war zu direkt.
„Kommst Du heute Abend mit ins Kino?“
Das war irgendwie zu langweilig.
„Hast Du inzwischen einen Freund? Es geht nämlich das
Gerücht umher, Du seist lesbisch.“
Das war zu unverschämt. Am Nachmittag suchte ich im
Telefonbuch nach Binder. Es gab drei Binder in Westhausen.
Ich schrieb mir alle drei Nummern auf, kramte alle zehn
Pfennigstücke auf, die ich nur finden konnte und machte mich
auf den Weg zur nächsten Telefonzelle, denn ich hatte keine
Lust, dass auf einmal einer aus meiner Wohngemeinschaft
aufkreuzte. Wenn es mein Bruder gewesen wäre, so hätte er
mich ständig genervt. Wären meine Eltern gekommen, so
hätte ich mir im Hintergrund lauter Schreie zu Ohren
bekommen lassen, mit Inhalten wie:
„Denk an die Telefonrechnung.“, oder „Das zieh ich Dir von
Deinem Taschengeld ab.“
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Ich stand vor der Telefonzelle und fragte mich, ob das eine
gute Idee war Sylvia anzurufen. Damit wäre ihr sofort klar
geworden, dass ich sie mochte und das war generell nicht gut,
Mädchen zu zeigen, was man für sie empfand. Denn dann
fingen sie an Dich auszunützen. Mach dies, mach das, kauf
mir dies, kauf mir das, lade mich hier ein, lade mich dort ein.
Ich konnte ihr natürlich auch sagen, dass ich nur rein zufällig
anrufe. Nein, das wäre auch blöd gewesen. Ich stand schon in
der Telefonzelle, das Geld hatte ich schon eingeschmissen,
doch
zögerte
ich
lange,
ihre
Nummer
zu
wählen,
beziehungsweise eine von den Dreien. Wenn ich aber nicht
anrufen würde, so hätte ich nie herausfinden können, wie viel
sie von mir hielt. Andererseits hatte ich keine Lust mir einen
Korb zu geben. Das war äußerst schlecht für mein
Selbstbewusstsein. Hypnotisiert wählte ich die erste Nummer
auf meiner Liste. Es tutete. Das war wahrscheinlich sowieso
die falsche Nummer.
„Ja hallo.“
Ich erkannte sofort ihre Stimme und stellte mir dabei vor, wie
sie lächelte. Ich träumte davon sie wiederzusehen und war
schon in einer anderen Welt. Ich konnte keinen Ton von mir
geben.
„Hallo, wer ist denn da?“
So ein Mist, ich wusste nicht, was ich nun sagen sollte.
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„Ich finde das gar nicht komisch.“, fluchte sie in das Telefon.
Ich legte auf. Ich fand das auch nicht gerade komisch, aber ich
war nun mal viel zu aufgeregt, um auch nur irgendetwas zu
sagen, geschweige denn etwas Vernünftiges. Ich hätte mich
ohrfeigen können. Ich Idiot! Warum hatte ich nichts gesagt. Ein
zweites Mal konnte ich sie nicht anrufen, zumindest was den
heutigen Tag anging. Sonst würde sie ahnen, dass ich vorhin
angerufen hatte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als einen
Tag zu warten, um meine Haut auf ein weiteres zu riskieren.
Ich fuhr durch den Wald, stieg spontan von meinem Rad und
brüllte so laut wie ich nur konnte, in den Wald hinein. Ich
ärgerte mich schwarz und brüllte weiter. Vorher hatte ich
natürlich geschaut, dass niemand in der näheren Umgebung
war. Nicht das mich jemand sonst für verrückt erklärt hätte
oder so was. Morgen würde ich sie noch einmal anrufen. Auf
jeden Fall hatte ich nun die richtige Nummer von ihr. Das war
zumindest ein Anfang.
Da stand ich nun wieder, einen Tag später, in der Telefonzelle
und es fiel mir wieder schwer, ihre Nummer zu wählen. Es war
sechzehn Uhr und ich konnte davon ausgehen, dass sie zu
Hause war. Es läutete lange. Eine Frau ging an das Telefon.
„Ja bitte.“ Sie war außer Atem.
„Hallo. Ich würde gerne mit Sylvia sprechen.“
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„Wer ist denn dran bitte?“
„Lenny.“
„Moment bitte, sie ist draußen im Garten, ich werde sie ans
Telefon holen.“
Ich wartete ungeduldig und hüpfte dabei von einem Bein auf
das Andere, ich merkte, dass ich auf einmal ganz dringend
pissen musste. Ein Rückzug war nun nicht mehr möglich, denn
ich hatte ihrer Mutter meinen Namen gesagt. Hätte ich mich
doch bloß mit Hans oder so gemeldet.
„Ja hallo.“, das war Sylvia. Mein Körper war wie gelähmt.
Jetzt war ich gezwungen zu antworten.
„Hallo.“
„Mit wem spreche ich denn?“
Oh je, na die musste ja viele Anrufe bekommen.
„Mit Lenny, den Du letzte Woche in....“
„Ich weiß wer Du bist. Ich kann mich genau an Dich erinnern.“
Na bitte.
„Das ist ja ein Ding, dass Du mich anrufst. Woher hast Du
denn meine Nummer.“
„Ach man kennt halt so seine Leute. Ich hoffe, ich störe Dich
nicht.“
„Nein, überhaupt nicht, obwohl meine Mutter schon im
Hintergrund
faucht,
ich
soll
doch
bitte
im
Garten
weitermachen.“
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„Aha. Was machst Du denn im Garten?“
„Rasen mähen. Der letzte Mist sag´ ich Dir.“
„Aha.“
„Wie geht’s Dir eigentlich?“
„Ach mir, ganz gut und Dir?“
„Mir geht’s auch gut. Warum rufst Du an?“
Tja, warum rief ich an? Was sollte ich ihr jetzt sagen? Wenn
sie es bis jetzt nicht gecheckt hatte, warum ich wohl anrief.
„Also ich wollte halt mal so wissen wie es Dir geht. Nein,
stimmt nicht. Doch, also auch. Aber ich wollte Dich fragen, ob
Du nicht Lust hättest, dass wir uns wiedersehen?“
Schweigen am Apparat.
„Du hast angerufen um mir zu sagen, dass Du mich
wiedersehen willst?“, sie klang richtig gerührt.
„Ja. Ich mag Dein Lächeln.“
Ich hörte ihr zartes Atmen.
„Das ist aber sehr lieb von Dir. Natürlich habe ich große Lust,
Dich wiederzusehen, Lenny, ich bin halt nur so überrascht,
dass Du mich wiedersehen willst, schließlich kennen wir uns
doch nicht.“
„Na eben, deswegen will ich Dich ja kennenlernen, damit mich
Du das, das nächste Mal nicht fragst.“
Sie lachte schüchtern. Ich lachte mit.
„Und wann und wo sollen wir uns wiedersehen?“
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„Also vor dem Wochenende kann ich wahrscheinlich nicht,
denn ich muss für meine Klausuren lernen. Wir schreiben
diese Woche gleich zwei Stück und meine Alten machen mir
voll Stress.“
„Ach das kommt mir irgendwie bekannt vor.“
„Wieso, schriebt ihr auch zwei Klausuren?“
„Nein, ich meinte, dass mit den Alten.“
Sie lachte wieder.
„Klar, lass uns doch einfach am Wochenende treffen. Wann
und wo?“
„Am Samstag um acht am Anfang der Fußgängerzone in der
Stadt.“
„Alles klar.“
„Lenny, nimm es mir bitte nicht übel, aber meine Mutter gibt
mir wieder Zeichen. Aber wir sehen uns dann.“
„Sicher?“
„Warum sollte ich denn nicht kommen?“
„Ich weiß auch nicht.“
„Ich werde kommen.“
„Mach’s gut. Tschüs.“
Ich wartete ab, bis das Besetztzeichen kam, dann legte ich
langsam auf. Jetzt musste ich nicht mehr pissen. Es hätte
nicht mehr besser laufen können!
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Ich öffnete meinen Kleiderschrank. Ich fand, dass ich viel zu
wenig Kleider hatte, viel zu einheitlich alles. Wie sollte ich mich
für den Samstag Abend vorbereiten? Wenn ich wieder mit dem
Rad fahren würde, so könnte es sein, dass es regnen würde.
Dann würde ich ein äußerst übles Bild von mir geben. Also
müsste ich wohl oder übel den Bus nehmen müssen. Das hieß
im Klartext, auf den Bus warten. Ich konnte das Warten
grundsätzlich nicht ausstehen, aber in einem Notfall wie
diesem, blieb mir wohl oder übel nichts Anderes übrig. Aber
vielleicht saß ja irgendein Junge aus der Nachbarschaft im
Bus, den ich während dessen verprügeln konnte, als
Zeitvertreib sozusagen. Ich gab die ganze Woche nicht einen
Pfennig beim Bäcker im Schulhof aus, um mein Taschengeld
für das Wochenende zu sparen. Schließlich musste ich Sylvia
ja auf einen Drink einladen. Im Fernsehen zeigten sie immer,
wie Gentlemans das machten und so einer war ich doch! Ich
wollte niemanden um Rat fragen, wie man sich bei einem Date
zu verhalten hatte, denn ich wollte mich nicht outen, indem ich
sagen musste, dass dies mein allererstes Date mit einem
Mädchen war. Der Samstag Abend nahte und ich bereitete
mich schon mal mental darauf vor.
Samstag Abend: Ich stand wieder verzweifelt vor meinem
Kleiderschrank. Wie sollte ich mich zeigen? Klassisch in
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Jeans, rebellisch in Army-Hosen, sportlich in Jogging-Hose,
grufti in Schwarz?
Letztendlich entschied ich mich so zu zeigen, wie ich mich am
besten fühlte. Klassisch in Jeans mit Turnschuhen und T-Shirt.
Ich wartete mindestens fünf Minuten auf den Bus und als er
endlich kam, hätte ich am liebsten den Busfahrer sein Lenkrad
fressen lassen. Wahnsinn - die konnten einfach nie pünktlich
sein. Wenn ich mal fünf Minuten später käme, so würde keiner
auf mich warten. Ich setzte mich ganz hinten und zu meiner
Enttäuschung saß niemand drinnen, den ich kannte. Der Bus
fuhr los und als er bei jeder Roten Ampel anhielt, hätte ich
kotzen können, denn mit dem Rad gab es keine rote Ampeln,
oder überhaupt Ampeln. Man fuhr einfach weiter und da ich
kein Nummernschild hatte, konnte mich demzufolge keiner
bestrafen. Bis auf einmal. Da hatte mich so ein blöder Bulle
erwischt
und
eine
satte
halbe
Stunde
über
die
Straßenverkehrsordnung referiert. Hätte er doch lieber zehn
Mark verlangt. Dann hätte ich mir nicht sein theoretisches
Gelaber
reinziehen
müssen.
Ich
nickte
immer
schön
freundlich, bis er sich endlich verabschiedete. Bullen halt.
Mindestens so langweilig wie Eltern oder Lehrer. Der Bus
erreichte die Fußgängerzone und ich konnte Sylvia schon
sichten. Sie saß auf der Bank der Bushaltestelle und blickte
wie betäubt in die Landschaft. Ich fing an am ganzen Leib zu
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zittern. Ich war so aufgeregt, dass ich am liebsten erst gar
nicht ausgestiegen wäre. Ich wollte schnell wieder nach Hause
in mein Bett. Ich stieg aus. Ich ging auf sie zu. Sie erkannte
mich. Sie stand auf..... und lächelte. Ich ging weiter auf sie zu.
Sie fiel mir um den Hals. Ein unvergesslicher Moment des
Glücks. Ich hatte das Gefühl die ganze Welt zu umarmen. In
mir tobte der Bär. Ich schlang auch meine Arme kurz um sie.
Nicht zu kräftig, sonst hätte ich sie womöglich noch erdrückt.
„Hallo Lenny.“
„Hallo Sylvia. Schön Dich wieder zu sehen.“
„Schön Dich wieder zu sehen!“
Es war nicht zu übersehen, dass wir uns gleichermaßen über
unser Treffen freuten. Wir gingen gemeinsam in ein Café ihrer
Wahl, ich lud sie natürlich ein und wir unterhielten uns
mindestens zwei Stunden über alles Mögliche. Und das
Erstaunliche war, dass wir gar nicht mal so verschieden
waren. Ich dachte immer, dass ich der Einzige wäre, der so
dachte und dass mich niemand auf dieser Welt oder auch nur
im geringsten meine ganz persönlichen Probleme verstand.
Doch als sie ihre Ansichten und ihre Probleme erläuterte, hatte
ich das Gefühl, dass sich mir eine neue Welt aufmachte, die
mir gar nicht fremd war. Diese Welt war wunderbar, auch
wenn sie mit den gleichen Problemen wie den Meinen
bestückt war. Darin standen an erster Stelle die Eltern, an
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zweiter die Lehrer und an dritter zusammenfassender Stelle:
wie kam man aus dieser Scheiße raus? Normalerweise schrie
der Hauptdarsteller in den amerikanischen Filmen, mit
erhoben Armen, die in den Himmel ragten, wenn er in einer
glimpflichen Situation war:
„Verdammt noch mal, wie komme ich bloß aus dieser Scheiße
wieder raus!“
Im Hintergrund natürlich eine klassische Musik, die ein
schweres, wenn nicht gar mystisches Ambiente wiedergab.
Doch in unserem Fall konnte man ja nicht „wieder“ sagen,
denn wir kannten schließlich nichts Anderes und wir waren vor
allem
nichts
Besseres
gewohnt.
Auch
sie
hatte
sich
erstaunlicherweise zum Ziel erklärt vieles, wenn nicht gar alles
zu ändern, sobald sie groß und reich werden würde. Am
liebsten hätte ich ihr gesagt:
„Bitte nimm mich mit!“
Aber womöglich hätte ich mich ihr gegenüber lediglich geoutet,
sie hätte denken können, ich sei zu schwach, um diesen Weg
alleine zu gehen. Doch in diesem Augenblick als ich ihr
gegenüber saß und sie so sanft auf mich einredete, war ich
auch wirklich schwach. So schwach wie ein Reptil, der sich mit
nur zwei Beinen um die Erde zieht. Nach einer ganzen Weile
schaute sie auf ihre Uhr und kündigte leider ihren Abgang an.
Ich war darüber sehr traurig, doch musste ich wieder zur
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Besinnung kommen, denn sonst würden meine Eltern mich mit
dem Baseballschläger bei meiner Ankunft begrüßen und
darauf wollte auch ich es nicht unbedingt ankommen lassen.
Ich begleitete sie also zur Bushaltestelle und so warteten wir
gemeinsam auf ihren Bus. Wir wechselten die letzten Minuten
kein Wort. Jeder hockte stillschweigend auf seinem Platz und
regte sich nicht. Ich fragte mich, ob das eine gute Idee wäre,
jetzt ihre Hand zu ergreifen, doch ich hielt es dann doch für
angemessen, noch ein wenig Zeit verstreichen zu lassen.
Beim nächsten Mal. Diese Minuten waren eine halbe Ewigkeit.
Ihr Bus kam. Ich hätte weinen können. Ich hatte sie in der
kurzen Zeit so lieb gewonnen!
Wir standen beide auf und wieder nahm sie mich in den Arm,
wir standen ein paar Sekunden eng umschlungen, bis der
Busfahrer hupte. Ich schwor mir, dass wenn mir der Typ mal
über den Weg laufen sollte, ich ihn standesgemäß und
skrupellos kastrieren würde. Ich starrte ihn bissig an, während
sie einstieg. Er fuhr gleich los und wir winkten uns zu. Das war
ein Abend, den ich nie vergessen würde und ich hoffte, dass
wir noch viele gemeinsame Abende verbringen würden. Ich
hätte große Angst haben können, denn es hätte ja sein
können, dass sie mich nicht mehr sehen wollte oder dass sie
vielleicht in der Zwischenzeit einen Anderen kennenlernen
würde. Aber zum Ersten Mal spürte ich so etwas wie eine
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innere Wahrheit. Eine Stimme, die mir sagte: sie würde mich
nie anlügen, ich also erst gar nicht zu zweifeln bräuchte. Dann
fuhr auch ich nach Hause.
Am Wochenende durfte jeder aufstehen, wann er wollte, aber
das Limit war um zwölf Uhr gesetzt, ansonsten gab es gleich
wieder Geschrei in der Baracke und das Wochenende wäre
wieder versaut gewesen. Auf einmal mehr oder weniger käme
es eigentlich nicht mehr an. Aber meistens stand ich dennoch
um fünf vor zwölf auf, wusch mein Gesicht und wenn ich mir
die Zähne putzte, verteilte ich die schaumig, verschleimte
Zahnpasta aus dem Mund über meine Backen und mein Kinn.
Dann zog ich die schon leicht angetrocknete Paste mit der
Zahnbürste sorgfältig ab, spülte sie hin und wieder aus und
wiederholte diese Prozedur solange, bis alles abgespült war.
Ich übte nämlich schon mal das Rasieren des Bartes, so dass
wenn ich mal einen haben würde, mir die Umstellung nicht
allzu schwer fallen würde. Und überhaupt, das machte mich
männlich - fand ich. Beim Mittagessen stritten sich wieder
einmal meine Eltern. Heutiges Streitthema war:
Die Großeltern wollten zu Besuch kommen. Wenn die kamen,
war immer morz die Party im Gange. Dann hieß es:
„Ach bist Du aber gewachsen, Lenny.“
„Nein, ich bin Tony, der Kleine hier ist Lenny.“
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„Ach, das ist ja auch egal, es ist wieder mal herrlich bei euch
zu sein. Habt ihr schon was zu essen vorbereitet?“
Und dann pflanzten sie sich meist vor die Glotze und blieben
dort auch meist bis zum Ende ihres Aufenthaltes sitzen. Dort
schauten sie sich den größten Mist aller Zeiten an. Manchmal
setzte ich mich dann dazu und schon nach nicht einmal fünf
Minuten fand ich, dass das was da über den Bildschirm
flimmerte so schwachsinnig war, dass mir schon vor lauter
Fremdschämen der Sabber aus dem offenen Mundwinkel
triefte. Und trotzdem, ich blieb immer bis zum Ende der
jeweiligen Sendung sitzen, denn ich konnte einfach nicht
glauben, dass es so einen Mist gab und vor allem, dass sich
jemand diesen Scheiß reinzog. Man schaute weiter, weil man
dachte, naja, die Pointe wird schon kommen. Aber nein! Die
monotone Scheiße zog sich über Stunden hinweg. So
ungefähr stellte ich mir das Leben eines Rentners vor. Ich
hoffte, dass ich dieses Alter niemals erreichen würde, denn
wenn ich mir meine Großeltern beim Fernsehgucken so
anschaute, eine Hand hielt immer leblos die Fernbedienung,
es hätte ja sein können, dass in einem anderen Sender noch
ein größerer Scheiß lief, so stellte ich mir den Tod als eine
Erlösung vor. Man konnte sie auch nichts fragen, denn die
Antwort kam meistens etliche Minuten später.
„Häää? Hast Du was gesagt Tony?“
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„Nein, ich bin Lenny.“
Dann gab ich es auf. Allerdings durften sie nur bis um zwanzig
Uhr das Programm wählen, denn dann war Schichtwechsel.
Mein Vater schaute nämlich täglich und megapünktlich seine
heißgeliebte Serie:
Die Tagesschau. Ein paar Jahre lang hatte ich mir sie mit
angeschaut, nicht etwa weil mich die Nachrichten aus aller
Welt interessierte, oder so. Nein, ich blickte immer auf die Uhr
und war jedes Mal über die gleiche Tatsache erstaunt:
Die Ereignisse dieser Welt waren so konstant, so regelmäßig,
so im Gleichgewicht, dass die Sendezeit jeden Tag exakt
fünfzehn Minuten betrug. Ich hatte noch nie erlebt, dass sie
mal länger oder mal kürzer dauerten. Wahnsinn! Heute
allerdings wusste ich, dass die Nachrichten so zusammen
geschnitten wurden, dass sie exakt die fünfzehn Minuten
erreichten.
Am
Ende
gab
es
dann
immer
noch
die
Wettervorhersage. Das wiederum hatte ich bis heute nicht
verstanden. Denn egal was für ein Wetter angekündigt wurde,
ob es nun schneien, oder regnen, oder die Sonne scheinen
würde, es änderte nichts an der Tatsache, dass ich entweder
in die Schule, oder aber Hausaufgaben machen musste. Was
für einen Sinn ergab also die Wettervorhersage?
Meine Mutter, auf jeden Fall, war jetzt schon ziemlich gereizt,
denn mein Vater konnte ihre Eltern nicht ausstehen. Ich auch
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nicht, nebenbei bemerkt, denn sie gaben mir nur selten
Taschengeld. Also versuchte meine Mutter raffiniert das
Thema zu wechseln.
„Wie war Dein Abend, gestern, Lenny?“
Ich hatte gerade eine Fuhre Reis ins Maul geschoben und
meinte.
„Mmmmhhhmm.“
Mein Vater daraufhin:
„Und, was machen die Frauen?“
„Keine Ahnung, diese Spezies ist mir nicht bekannt.“
Mein Bruder lachte nur und sagte:
„Der kriegt ja doch keine ab!“
Ich gab ihm einen Tritt in das Schienbein. Mein Vater legte die
Gabel in den Teller und fing an, folgendes zu referieren:
„Das mit den Frauen ist so:
Wenn sie ja sagen, dann heißt das nein.
Wenn sie nein sagen, dann heißt das vielleicht.
Und wenn sie auf gar keinen Fall sagen, dann heißt das so viel
wie ja. Ich weiß das aus eigener langjähriger Erfahrung.“,
dabei schaute er meine Mutter an und blinzelte ihr zu. Bei
einer Skala von null bis zehn hätte ich für die Bewertung eines
Machos meinem Vater elf gegeben. Die Reinkarnation des
Casanovas, mit dem Unterschied, dass er erfolglos blieb.
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Den Rest des Wochenendes verbrachte ich wieder einmal im
Bett und hörte laute Musik, die ab und zu von meinem Vater
leiser gedreht wurde, nachdem er immer wieder etwas vor sich
her brummelte wie, „Geht das nicht ein wenig leiser?“,
während ich weiter von ihr träumte. Schule? Ach das war mir
doch völlig scheiss-egal. Warum sollte ich weiter lernen, wenn
ich das gefunden hatte, wonach ich suchte? Was nützte mir all
das Wissen, wenn ich jetzt mehr Wissen genoss, als vorher.
Kein Buch, keine Erörterung, keine Gleichung und auch kein
Geld dieser Welt konnten mir diese schönen Momente
ersetzen. Doch der Alltag nahm seinen gewöhnlichen Trott ein
und die schönen Momente mit Sylvia wurden von der Schule
und von dem kläglichen Zuhause, oder sollte ich besser
Wohngemeinschaft sagen, überschattet. Mir wurde langsam
klar, warum diese Erde so langweilig war. Die schönen
Momente, wie Freundschaft, Liebe und Urlaub, waren so kurz,
dass der Alltag das mürbe Hirn abstumpfte und der Körper nur
noch aus Reflex handelte.
Das Wochenende ging vorbei und ich war auch recht froh
darüber, denn meine Gedanken quälten mich ununterbrochen
mit Fragen über Fragen. Wann würde ich Sylvia wiedersehen?
Liebte sie mich? Liebte ich sie? Sollte ich sie anrufen? Wenn
ja, warum? Wenn nein, warum nicht? Mit wem konnte ich
darüber reden, ohne nicht gleich ausgelacht zu werden?
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Warum rief sie mich nicht an? Hatte sie keine Zeit? Wollte sie
nicht? Wollten ihre Eltern nicht? Fragen über Fragen, die ich
mit Aspirintabletten zu unterdrücken versuchte. Ich fand
irgendwie, dass das Alleinsein einfacher war. Man hatte zwar
weniger Spaß, aber dafür musste man sich nicht ständig
irgendwelchen Fragen stellen. Ich lebte einfach nur für mich,
mein Rad und den restlichen Problemen dieser Welt,
abgesehen von den Nachrichten der Tagesschau und der
Wettervorhersage natürlich. Vielleicht hatten die Erwachsenen
deswegen die Arbeit erfunden. Wahrscheinlich hatten alle
gerade eine Frau oder so kennengelernt und wurden auch von
ihrem Unterbewusstsein mit betörenden Fragen belästigt.
Darum arbeiteten sie so viel, um ihre Ängste, Sorgen, und
Probleme zu unterdrücken. Ja, das musste es sein. Also nahm
ich den Schulweg heute leichter als sonst in meinem
alltäglichen
Ritual
auf.
Das
gehörte
vielleicht
zum
Erwachsenwerden dazu? Aber wenn Erwachsenwerden hieß,
so zu enden wie meine Lehrer und meine Eltern, dann wollte
ich doch lieber in meinem aktuellen Stadium bleiben, ohne
Schule versteht sich. Ich dachte fortwährend nach und nahm
die Unterrichtsstunden gar nicht richtig wahr. Oskar musste
wohl bemerkt haben, dass ich nicht bei der Sache war. Also
bot er mir nach dem Unterricht an:
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„Wer als erstes an der Hauptstraße in Trozloch ankommt hat
gewonnen und bekommt vom Anderen eine Cola bezahlt. Na,
was ist?“
Das machte mich spontan hellwach. Das war gut. Das gefiel
mir. Eine leicht verdiente Cola.
„Du willst wohl verlieren, oder bist Du mit dem Moped da?“
„Nee, heute bin ich mit dem Rad da, mein Moped muss ich
gerade reparieren.“
Von wegen, dachte ich mir. So wie er sich in der letzten Zeit
angefressen hatte, musste er Sport treiben, um sein
Übergewicht zu drosseln. Naja, ich wollte ihn jetzt damit nicht
belästigen, denn ich wollte mir ja schließlich die Cola nicht
entgehen lassen. Als Zustimmung unserer Wette gaben wir
uns kräftig die Hand, wie es sich eben für echte Kerle gehörte.
Ich konzentrierte meinen Atem auf die Extremsituation. Er
blickte mich an.
„Kann es losgehen?“
„Los!“
Wie zwei mutierte Affen rannten wir zu den Rädern. Ich öffnete
mein Schloss, zwischendurch warf ich einen Blick auf Oskar,
um zu sehen wie weit er schon war. Er fuhr schon los. Ich
stieg auf und tritt in die Pedale, was das Zeugs hielt. Das Rad
blieb spontan stehen, wie ein Pferd, das nicht mehr weiter
wollte. So spontan, dass ich mich überschlug und mein
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Ellenbogen am Boden aufgeschürfte. Ich lag auf den Boden
und verstand gar nichts mehr. Ich blickte auf den Boden,
konnte aber keine Ursache erkennen, die mir meinen Weg
versperrt hätte. Ich stand stöhnend auf und hob mein Rad auf.
Ich schob es ein klein wenig vor mir her, bis ich erkannte, dass
noch ein Schloss, dass nicht meins war, an meinem Vorderrad
gekettet war. Das war Oskar! Die Drecksau! Das miese
Schwein! Er hatte mich ausgetrickst und ich konnte nichts
machen. Das sollte er mir büßen. Ich ließ das Fahrrad stehen
und besorgte mir vom Hausmeister einen Bolzenschneider.
Das war echt ein geniales Ding. Damit konnte ich das Schloss
wie Butter durchschneiden. So ein Ding bräuchte ich im
Unterricht. Ich müsste es einfach auf den Tisch legen und vor
lauter Angst würde mich kein Lehrer mehr belästigen. Als
Zeichen der Ermahnung würde ich so wie die Erwachsenen
den Zeigefinger erheben. Halt! Bis hierher und nicht weiter.
Und am besten dabei süffisant lächeln. Fest stand nun aber,
dass ich Oskar eine Cola schuldig war. Ich fuhr langsamer als
sonst nach Hause, denn ich überlegte mir schon einmal
meinen gnadenlosen Racheakt aus. Und ich hatte da auch
schon eine Idee. Am Nachmittag fuhr ich in die Stadt, in eine
Apotheke.
„Was wünscht der junge Mann?“
„Ich bräuchte so etwas wie ein Abführmittel.“
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„Ist das für Dich oder für Deine Eltern.“
„Nein, für mich natürlich.“
„Wie lange hattest Du denn schon keinen Stuhl.“
„Keinen was?“
„Ich meine, seit wann warst Du nicht mehr auf Toilette?“
„Sie meinen, wann ich zuletzt ein Fax aus Darmstadt erhalten
habe?“
Der Apotheker verdrehte die Augen.
„Ach seit ungefähr eine Woche.“
„Das ist schlimm!“
Der Apotheker verschwand hinter den Regalen und kam mit
einer durchsichtigen Tube mit einem langen Schlauch wieder.
„Ich empfehle Dir dieses hier.“
Ich glotzte auf den langen Schlauch und wollte mir erst gar
nicht ausmalen, wo genau der hin sollte. Ich zog meine
Augenbrauen erschrocken hoch und fragte:
„Geht das nicht ein bisschen menschlicher?“
„Wir haben auch Zäpfchen, oder Pulver. Aber das Pulver ist
sehr aggressiv und reagiert schon nach zwanzig Minuten.“
Ausgezeichnet. Zwanzig Minuten, genau richtig für mich.
„Zwanzig Minuten. Die nehme ich.“
„Das ist aber auch teurer. Das macht neun Mark fünfzig.“
Mir egal, das würde mir aber auch der Spaß wert sein. Ich
kaufte sein teures Präparat und begab mich gleich nach
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Hause. Dort rief ich dann Gerd an um ihn als Komplize
anzuheuern.
Am nächsten Tag grinste Oskar mich an.
„Hast wohl verloren. Wie kommt das wohl?“
„Ach ich war einfach nicht in Form.“
„Sicher?“
„Warum sollte ich mir nicht sicher sein?“
„Naja, dann können wir ja in der Pause die abgemachte Cola
trinken.“
„Ach, lieber nach der Schule.“
„Wie Du willst, schließlich zahlst Du ja.“, er lächelte wie ein
notgeiler Arsch mit Ohren. Warte nur ab, dachte ich mir. Nach
der Schule sagte ich zu Gerd.
„Komm Gerd, ich lade Dich auch ein. Ich will heute mal ein
guter Verlierer sein. Hier. Zehn Mark. Besorg uns doch bitte
drei Colas.“
Er nickte, nahm das Geld und ging los. Dabei zwinkerte er mir
mit einem Auge zu. Oskar ahnte noch nichts. Er fragte mich:
„Sag mal, gestern, war da nichts?“
„Was soll da gewesen sein?“, ich tat so, als würde ich nicht
verstehen, was er meinte. Gerd kam wieder, mit drei
Colaflaschen bestückt. Er grinste ein klein wenig. Wenn er sich
jetzt mal bloß nichts anmerken lassen würde.
„Also, auf Dein Wohl Oskar.“
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„Ex oder Arschloch.“, sagte Gerd nüchtern.
Wir stießen an und tranken auf Ex. Ah, das tat gut. Es ging
doch nichts über eine kühle Cola aus der Flasche. Vor allem
aber, wenn man wusste, was in Oskars Cola war. Wir redeten
und lachten noch eine Weile. Dabei machte Oskar hin und
wieder ein verstörtes Gesicht und fuhr sich fragend mit seiner
Hand über seinen Bauch. Ich blickte auf die Uhr. Zehn
Minuten. Es konnte losgehen.
„Also Oskar, ich fahr dann mal los.“
„Ich auch.“, sagte Gerd.
„Dann können wir ja gemeinsam fahren, Lenny?“, Oskar fragte
das mehr höhnisch, als freundschaftlich.
„Nein, das geht leider nicht, weil ich heute bei Gerd zum Essen
eingeladen bin.“, Gerd wohnte nämlich in einer anderen
Richtung.
„Dann halt nicht. Also dann bis morgen. Ciao.“
Wir gingen schnell zu unseren Rädern und fuhren rasant los.
Als wir den Wald erreicht hatten, versteckten wir uns im
Gebüsch und warteten. Es würde nicht lange dauern, bis
Oskar an uns vorbeifahren würde. Gerd holte sein Fernglas
raus. Er drückte es an seine Augen. Er suchte eine Weile in
der Landschaft, dann nickte er und hielt seinen Daumen hoch.
„Gib her, lass mich mal schauen.“
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„Warte, warte, ich glaube es geht ihm nicht sonderlich gut.
Warte. Er steigt ab. In einer gebückten Haltung.“
„Das sehe ich auch, Du Idiot. Ich will aber seinen
Gesichtsausdruck sehen.“
Er war ungefähr zweihundert Meter von uns entfernt. Nun
verschwand er von der Straße und ging in den Wald. Wir
schlichen uns in seine Richtung. Wir konnten ihn sehen. Er
hatte schon seine Hosen heruntergelassen und stand in einer
gebückten Haltung da. Ich nahm Gerd das Fernglas ab und
schaute. Das war echt zum Totlachen. Sein Gesichtsausdruck
war perfekt für den Film:
„Ich gebäre ein Balg.“
Dabei versuchte er sich mit einer Hand an einem Ast
festzuhalten, um nicht hinzufallen. Nun kam es zu Plan
Nummer zwei. Gerd zückte einen Fotoapparat aus seinem
Ranzen, den er sich von seinem Vater ausgeliehen hatte. Das
sah aus, wie eine Panzerkanone aus den James Bond Filmen,
ein morz Gerät, mit einem riesigen Objektiv. Damit konnte man
das Bild näher holen, hatte mir Gerd erklärt. Das war auch gut
so, denn ich brauchte ihn schließlich in groß. Gerd schoss nun
die
ersten
Fotos.
Dabei
flüsterte
er
immer
wieder
schmunzelnd:
„Oskar, Du bist einfach spitze.“
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„Wir sollten ihm eine Rolle als Fotostar anbieten, in Cannes
oder so.“
„Und in welcher Rolle soll er spielen.“
„Ist doch klar, oder? Wie nehme ich in zwanzig Minuten
hundert Kilo ab.“
Wir lachten uns kaputt und er hielt sich wieder seinen Apparat
vor die Augen und ich das Fernglas. Wir hätten ihn
stundenlang beobachten können. Ich wusste gar nicht, was
Jäger am Beobachten von Kaninchen und Rehen so toll
fanden. Das hier war weitaus lustiger. Als Oskar fertig war, mit
der ersten Fuhre, denn in der Gebrauchsanweisung stand,
dass man mehrmals scheißen müsste und dass das am Arsch
brennen würde und da Oskar kein Klopapier bei sich hatte,
könnte das hoffentlich ganz schön brennen, ging er zu seinem
Rad und fuhr weiter. Nicht besonders weit. Vielleicht hundert
Meter, als er plötzlich wieder vom Rad stürmte und die
Scheißerei von Neuem losging. Ach, ich hätte ihm stundenlang
zuschauen können. Diese neun Mark fünfzig hatten sich jetzt
schon gelohnt, zumal sich Gerd an fünfzig Prozent beteiligte.
Ich stieß Gerd an.
„Kommen wir nun zu Plan Nummer drei.“
Er nickte und holte aus seinem Rucksack ein altes
Zahlenschloss hervor. Er hielt es mir vor mein Gesicht und
schaukelte es in der Luft. Ich lächelte schadenfroh und riss es
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ihm aus der Hand. Er legte sich schnell das Fernglas an die
Augen, während ich mich zu Oskars Rad auf dem Waldweg
schlich. Oskar war offensichtlich noch beim Scheißen und ich
kettete ihm sein Rad an einen schmalen Baum an. Jetzt wurde
mir klar, wozu Bäume gut waren. Ich schlich mich wieder
zurück und wir warteten bis Oskar zu seinem Rad zurückging.
Fünf Meter vor seinem Rad blieb er stehen und hielt eine
Weile inne. Er überlegte wohl.
„Na, ob es wohl bald bei ihm klingelt?“, fragte mich Gerd.
„Warten wir es mal ab.“
Dann brüllte er mit aller Kraft in eine beliebige Richtung:
„Ihr verdammten Arschlöcher. Ihr Schweine. Ihr blöden
Wichser! Scheiße, ich hätte es wissen müssen, dass ihr
dahinter steckt. Das werdet ihr mir...“, aber seine Gedärme
kniffen offensichtlich wieder, er musste sich bücken und hatte
nicht einmal die Zeit sich im Gebüsch zu verstecken. Also
schiss er mitten auf den Waldweg. Wir kicherten leise, klopften
uns auf die Schulter und beobachteten ihn noch eine Weile,
wie junge Kinder in einem Zoo, die noch nie eine fliegende
Kuh gesehen hatten, bis wir uns verabschiedeten.
„Bis Morgen Gerd. Und denk an Plan Nummer vier.“
Ich fuhr nun endlich nach Hause und überlegte mir, was ich
nun an Oskars Stelle tun würde. Außer fluchen und zu Fuß
nach Hause gehen, waren da wohl nicht viele Möglichkeiten.
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Das geschah ihm ganz recht. Das nächste Mal würde er sich
vielleicht überlegen, wem er in Zukunft ein Schloss an das Rad
ketten würde.
Am nächsten Tag traf ich mich mit Gerd ein bisschen früher.
Um genau zu sein, sehr früh, früher als die Schule begann.
„Und wie sind sie geworden?“, fragte ich.
„Schau selbst.“
Ich schaute mir die Fotos an und ab und zu konnte ich mir ein
lautes schadenfrohes Lachen nicht verkneifen. Ich zeigte auf
ein Foto, welches mir besonders gut gefiel. Man konnte sehr
gut erkennen, wie Oskar gerade die Zähne zusammenbiss, die
Augen dabei vor Anstrengung kniff und hinter ihm ein flüssiger,
braun gefärbter Streifen den Wald bereicherte.
„Dieses hier nehmen wir.“
„Jo!“
Ich zog aus meinem Rucksack Klebstoff und einen bedruckten
Zettel heraus und klebte es hinter das grandios, auserwählte
Foto. Dann gingen wir zum Klassenraum. Als wir im Unterricht
saßen, mussten wir leider feststellen, dass Oskar heute nicht
anwesend war. Was ihm wohl widerfahren war?
„Dann müssen wir wohl oder übel bis morgen warten.“, meinte
ich enttäuscht.
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Am darauf folgenden Morgen erschien nun endlich unser
kleiner, verfressener Oskar. Er tat so, als wäre nichts
gewesen. Ich ging auf ihn zu. Er schwenkte seinen Blick ins
Leere.
„Und willst Du Dich jetzt bei mir entschuldigen?“
Er staunte und bellte:
„Das werdet ihr beiden mir noch bitter zurückzahlen.“, dabei
hob er drohend seine Faust vor mein Gesicht.
„Also geh ich richtig davon aus, dass Du Dich nicht bei mir
entschuldigen willst?“, fragte ich seelenruhig.
Er antwortete nicht, doch ich konnte das Brodeln seiner
Magensäure hören. Dass er nicht sehr erfreut war, konnte
sogar ein Blinder mit Krückstock erkennen.
„Also gut, Du hast es ja nicht anders gewollt.“ und ging von
ihm. Die alte Kollwitz öffnete den Raum und begann mit ihrem
Unterricht. Ich hatte vorher das Foto unter einem Tisch der
vorletzten Reihe gelegt. Nach etwa einer halben Stunde
konnte man das erste Gelächter in den letzteren Reihen
hören. Das Gelächter breitete sich allmählich im ganzen Raum
aus.
„Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte die Alte energisch.
Es kicherte aus allen Ecken und Enden. Bis auf Oskar. Der
hatte noch gar nichts gerafft. Sie beobachtete die Klasse, bis
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sie auf einen Schüler zuging und ihm das Foto aus der Hand
riss.
„Ich werde laut vorlesen, wenn Du nichts dagegen hast.“
Das war eine rhetorische Frage, denn sie las gleich vor.
„Greenpeace fordert mehr Gerechtigkeit für unsere Wälder.
Die Verschmutzung auf dieser Welt muss ein Ende finden.
Menschen wie diese müssen rigoros mit Prügeleinheiten
bestraft werden. Bitte weitergeben.“, dann drehte sie das Foto
um. Ihr Mund stand vor Empörung so weit auf, dass man darin
die
Titanic
hätte
verschwinden
lassen
können.
„Also.......das.....also....Unverschämtheit.....“, sie ging sofort
zum Mülleimer und zerriss es wie eine Gestörte aggressiv und
verzweifelt zugleich in kleine Stücke, konnte sich aber
zwischendurch einen Blick auf Oskar, der dumm in die
Landschaft stutzte, nicht verwehren. Sie war so rot vor Scham,
wie ein Baby im Backofen, dass bei 180 Grad schmorte und
verzweifelt an die Scheibe klopfte. Oskar hingegen brummelte
nur vor sich hin:
„Um was geht’s hier eigentlich? Warum schauen mich alle an?
Stimmt was nicht?“
Früher oder später würde es ihm schon einer sagen. Ich hatte
ihn ja gewarnt, aber er wollte ja nicht auf mich hören. Ja, ja, so
konnte es eben kommen, wenn man sich unkooperativ zeigte.
Wenige Tage später hatte dann wohl doch Oskar Wind von
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der Sache bekommen, denn er warf mir gelegentlich teuflische
Blicke zu und wenn Blicke hätten töten können, dann wäre ich
schon lange tot. Wir sprachen seit dem kein Wort mehr
miteinander und was mich wunderte, er nahm nicht einmal
Rache.
Es klopfte an meiner Tür.
„Herein!“
Mein Vater öffnete die Tür einen Spalt und schob seinen Kopf
in mein Zimmer.
„Ein Mädchen möchte Dich gerne sprechen.“
Ich wunderte mich. Wer könnte das sein.
„Lass sie doch rein.“
Die Tür ging wieder auf.
„Am Telefon meine ich natürlich.“
Ich stand auf und ging in das Wohnzimmer zum Telefon. Mein
Vater glotzte wieder Fern und meine Mutter hing über der
Fernsehzeitung und machte ihre Kreuzworträtsel. Was für ein
Schwachsinn, fand ich. Adjektiv für Schule in acht Buchstaben.
Das hätte ich zur Not noch gewusst. Aber ansonsten konnte
ich darin keinen Sinn erkennen. Ich merkte, wie mein Vater
den Kopfhörer ein klein wenig von den Ohren schob und
meine Mutter die Ohren spitzte, so als ob ich nichts bemerken
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würde. Mein Bruder kam gerade aus der Küche. Also wenn
das mal kein Zufall war. Na toll, dann rief einmal ein Mädchen
bei mir an und die ganze Mannschaft war schon am Telefon
versammelt. Ich nahm den Hörer ab.
„Ja bitte.“
„Lenny, bist Du das?“
Hey, das war Sylvia. Das wunderschöne, lächelnde Geschöpf
des Jahrtausends.
„Hi, wie geht es Dir.“
„Ach ja. Ganz gut.“
„Warum rufst Du an?“
„Du hast mir gefehlt und da dachte ich mir, dass ich Dich mal
zur Abwechslung anrufe.“
Ich stockte. Mein Atem wurde schneller. Was sollte ich denn
nun antworten? Ich blickte eine Runde in das Wohnzimmer.
Alle lauschten mit einem Ohr.
„Moment bitte.“
Ich hielt mit einer Hand den Hörer zu und brüllte:
„Sagt mal, kann man hier nicht in Ruhe telefonieren?“
„Hör mal Junge, das hier ist unser Wohnzimmer nicht nur
Deins, also bitte.“, hieß es.
Das war ja nicht zum Aushalten. Wie sollte ich das jetzt bloß
machen, zum Einen etwas Nettes zu ihr zu sagen und zum
Anderen so, dass meine Eltern oder mein Bruder nicht auf
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dumme Gedanken kommen konnten, damit sie mich damit
noch jahrelang hätten ärgern können.
„Um was geht es denn bitte?“, oh scheiße, das klang jetzt aber
ziemlich geschäftlich.
„Ich wollte Dich halt nur fragen, ob und vor allem wann wir uns
wiedersehen.“, sie klang auf einmal erschüttert und hilflos. Wie
sollte sie auch, nach so einer bescheuerten Antwort.
„Ja....geht in Ordnung.“, antwortete ich ihr. Oh Mann, sie tat
mir richtig leid. Was hockte auch diese elende Bande hier im
Wohnzimmer rum. Und vor allem, warum hatten meine Eltern
kein drahtloses Telefon. Sie sagte nichts mehr, ich konnte
aber ihr Atem hören. Ich antwortete:
„Okay, wir sehen uns dann in der Schule, ich bringe Dir dann
die Hausaufgaben vorbei. Ciao.“
Ich legte schweren Gemüts auf.
„Wer war denn dran?“, mein Vater hatte also tatsächlich das
Gespräch mitverfolgt, wie der klägliche Rest des blöden
Packs.
„Ach nur so ein Mädel aus meiner Klasse, die die
Hausaufgaben wollte.“, winkte ich ab.
Mein Vater schob auch schon seine Kopfhörer zurück, meine
Mutter konzentrierte sich wieder auf ihr Kreuzworträtsel und
mein Bruder ging zurück in die Küche. Wie ein Haufen
Ameisen, die sich schlagartig splitteten, sobald es nichts mehr
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zu fressen gab. Ich ging auf mein Zimmer und suchte schnell
Zehnpfennigstücke zusammen und verließ das Haus durch
den unteren Eingang. Ich fuhr zur Telefonzelle und wählte
Sylvia an.
„Hallo?“
„Sylvia, ich bin es Lenny.“
„Was sollte das denn?“
„Ach, meine Eltern lauschen immer mit, das mag ich nicht,
deshalb war ich auch so abweisend zu Dir. Glaub mir, es hat
nichts mit Dir zu tun! Jetzt bin ich in einer Telefonzelle und da
können wir ungestört solange reden wie Du nur willst.“
„Naja, das hatte ich mir ja schon fast gedacht. Mit meinen
Eltern ist das genauso. Nur mit dem Unterschied, dass wir drei
Telefone im Haus haben und wenn ich telefoniere und jemand
irgendwo anders den Hörer abnimmt, so kann man das
Gespräch
mitverfolgen.
Das
kann
manchmal
recht
unangenehm werden.“
„Wem sagst Du das. Vor allem wenn man über seine Alten
lästert.“
„Also, wann sehen wir uns wieder? Diesmal erwarte ich aber
eine korrekte Antwort.“
„Wann immer Du begehrst, meine Dame.“
„Wie wäre es mit Donnerstag?“
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„Da habe ich leider Schule, aber am Nachmittag ist dies
durchaus im Bereich des Möglichen.“
„Hör doch auf Lenny. Du weißt, dass ich den Nachmittag
meinte. Und rede jetzt bitte wieder normal mit mir.“
„Okay. Um fünfzehn Uhr in der Stadt?“
„Nein, von der Stadt habe ich genug. Ich möchte mit Dir alleine
sein.“
Aha, was hatte das zu bedeuten?
„Verstehst Du? Nur wir beide.“, hauchte sie weiter.
Hey und wie ich das verstand! Deutlicher ging es ja wohl nicht
mehr. Sie und ich. Ich und sie. Also wenn mir mal da das
Glück nicht zulächelte.
„Gut, kennst Du die blaue Wiese?“, das war voll in der Pampa
zwischen Trozloch und Westhausen.
„Ja. Das ist eine gute Idee, lass uns dort treffen.“
„Ich freue mich jetzt schon riesig.“
„Ich mich auch. Bis bald.“
„Tschüs.“
So ließ es sich doch viel leichter und angenehmer telefonieren,
als wenn die ganze Bande mitlauschte. Ich fuhr nach Hause
und freute mich riesig auf den Mittwoch Nachmittag.
„Ich freue mich, dass Du gekommen bist.“
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Sie lag neben mir auf der blauen Wiese und drehte ihren Kopf
zu mir. Ihre Hand hielt sie über die Stirn, um nicht von der
Sonne geblendet zu werden.
„Ich bin auch sehr froh.“
Wir schauten beide wieder in den strahlend blauen Himmel.
Ich hätte jetzt gerne mein T-Shirt ausgezogen, nicht etwa um
sie anzumachen, sondern weil mir zu heiß war. Aber das hätte
sie eventuell missverstanden.
„Glaubst Du an Gott?“
Sie überlegte eine gute Weile.
„Und Du?“
„Nein. Also nicht direkt.“
„Na was denn nun?“
„Ich denke schon, dass es etwas gibt, etwas, das wir nicht
verstehen können. Wenn wir auf diese Welt kommen, haben
wir so etwas wie eine Seele, oder so, in einem fremden
Körper. Wir brauchen viele Jahre, um mit diesem Körper
zurechtzukommen. Wir machen mit dem was wir haben das
Beste daraus. Zum Beispiel haben wir zwei Arme und
dementsprechend
passen
wir
all
unsere
Gebrauchsgegenstände unseren zwei Armen an, wie mein
Rad zum Beispiel. Wie hätte das Lenkrad ausgesehen wenn
ich siebzehn Arme hätte?“
Sie lachte.
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„Wir fühlen also auch nur mit zwei Armen. Wären wir mit
siebzehn Armen auf diese Welt gekommen, so hätten wir gar
keinen Unterschied bemerkt, da wir ja nichts Anderes kennen.
Und genauso ist es auch mit den Augen. Wir nehmen es als
selbstverständlich an, was wir sehen. Wenn ich aber in eine
Steckdose schaue, so sehe ich nichts, obwohl da Strom ist.
Wir hätten doch genauso gut Strom sehen können und wir
würden dann diese Welt ganz anders sehen. Wenn es also
regnen
würde,
so
würden
wir,
geblendet
durch
das
Blitzlichtgewitter durch das Aufprallen von Wasser auf Strom,
Sonnenschein sehen und umgekehrt. Vielleicht. Vielleicht aber
auch nicht. Also insofern glaube ich schon, dass es etwas gibt,
was auch immer es sein mag.“
Ich starrte in den Himmel und hoffte, dass es etwas gab.
„Komisch, so habe ich die Sache noch nie betrachtet.“
„Jetzt bist Du aber dran.“
„Ich glaube nicht, dass ich mir so viele Gedanken über Gott
und die Welt mache wie Du. Aber zumindest beachte ich die
zehn Gebote, denn die Angst, dass ich in der Hölle enden
müsste, wäre zu groß für mich.“
„Also glaubst Du an Gott?“
„Ja, sonst würde ich jetzt nicht hier mit Dir liegen.“
Sie rückte näher, zog mich sanft an sich und küsste mich
genau auf den Mund.
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„Ich denke, dass das überzeugend klingt.“, mein Mund stand
vor Überraschung offen. Ich küsste sie auch auf den Mund. Als
Antwort sozusagen. Das war so wunderschön. Ich hatte ja
schon oft an meinen Arm probiert, wie das so wäre, mit dem
Küssen, aber dass das so schön sein würde, hätte ich mir
nicht im Geringsten erträumt.
„Das gefällt mir.“, gestand ich ihr.
„Das trifft sich gut, mir nämlich auch.“, dabei lächelte sie
wieder einmal. Ich legte behutsam meinen Arm um ihren Kopf.
Ihr blondes langes Haar streichelte dabei meinen Arm.
„Ist Dir mein Kopf nicht zu schwer?“
„Du wirst mir nie zur Last fallen.“, gab ich zur Antwort. Wir
lagen noch lange in der Wiese, aber keiner von uns getraute
sich noch einmal den Anderen zu küssen. Als wir uns auf den
nach-Hause-Weg machten und sich leider unsere Wege
trennten, kniete ich vor ihr auf den Boden und fragte sie:
„Sylvia, möchtest Du mit mir ausgehen?“
Ein klein wenig verdutzt war sie schon.
„Kommt darauf an, was Du darunter verstehst. Meinst Du
einfach nur zusammen gehen, oder zusammen sein.“
Das war doch wohl klar, oder?
„Beides.“
Sie zog mich hoch, umarmte mich und flüsterte mir dabei ins
Ohr:
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„Ich bin ja so froh, dass Du mir das sagst.“
Ich drückte sie fest an mich.
„Also jetzt muss ich aber wirklich nach Hause.“
Dabei blickte sie mir tief in die Augen und gab mir mit ihren
feuchten Lippen einen zarten Abschiedskuss.
„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte ich sie vorsichtig.
„Spätestens im Himmel. Aber ich verspreche Dir, dass wir uns
bald wiedersehen.“
Dabei setzte sie sich auf ihr Rad und fuhr los. Ich wartete kurz,
fuhr ihr hinterher und schrie:
„Warte, Du hast etwas vergessen!“
Sie hielt an und drehte sich um.
„Was denn?“
Ich rannte auf sie zu und küsste sie noch einmal auf den
Mund. Sie erwiderte den Kuss und es dauerte noch
mindestens zehn Minuten bevor wir uns endgültig trennten. Ich
fuhr strahlend wie ein Atomreaktor und völlig benebelt nach
Hause.
Zuhause hingegen war die Stimmung nicht sehr rosig, denn
beim Abendbrot fragten mich meine Eltern:
„Sag mal, wo treibst Du Dich den ganzen Tag rum?“
„Wieso, habt ihr ein Problem?“
Mein Vater ließ den Löffel in die Suppe fallen und brüllte:
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„Erstens stelle ich hier die Fragen und zweitens verbitte ich mir
diesen Ton. Ich bin immer noch Dein Vater und nicht Dein
Freund!“
„Hast Du wieder Ärger im Büro, oder was?“, schrie ich zurück.
Ich stieß den Stuhl zurück, stand energisch auf und ging auf
mein Zimmer. Meine Mutter folgte mir mit den Worten:
„Lenny, ach Lenny, so warte doch.“
Das machten Mütter unheimlich gerne. Hinterherrennen, wenn
der Dialog schon zu Ende war. Wenn man überhaupt von
einem Dialog ausgehen konnte, meist war es ein homogener
Monolog, ohne Witz und Pointe. Punkt.
Ich schloss meine Tür, drehte den Schlüssel um. Ich schmiss
mich auf mein Bett und weinte. Warum konnte nicht alles so
einfach sein, wie mit Sylvia. Mein Vater klopfte an die Tür.
„Also gut. Mir ist es völlig egal wo und mit wem Du Dich
rumtreibst, Hauptsache Du bleibst nicht sitzen. Haben wir uns
verstanden?“
„Laut und deutlich“, brüllte ich weinend zurück und zog mir die
Decke über den Kopf. Ich hörte meine Mutter zu meinem Vater
sagen:
„Ich finde, dass Du zu streng zu ihm bist.“
Meine Eltern waren vielleicht lustig, jetzt wo das Schuljahr sein
Ende nahm, wollten sie, dass ich nicht sitzen blieb. Ob es
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dafür nicht ein bisschen zu spät war? Was sollte es, ich lag auf
den Rücken und starrte auf die Decke, bis ich einschlief.
In dieser Nacht träumte ich wieder von Sylvia.
Wir lagen gemeinsam am Strand, auf so feinem Sand, dass
man
glauben
könnte,
es
sei
mit
kleingeschnittenen
Seidestücken übersäht. Der Himmel war strahlend blau und
wolkenlos, das Wasser Türkis wie in den Reiseprospekten und
über uns hingen die Kokosnüsse an den Palmen, die sich vom
Wind streicheln ließen. Sie hatte ihren Kopf auf meine starke
Brust gelegt, als eine Kokosnuss genau neben mich fiel. Ich
fragte sie:
„Baby, hast Du Durst?“
Sie blinzelte, was so viel wie „Ja“ hieß. Ich erhob meine Hand
und zerschlug die Kokosnuss entzwei. Eine Hälfte reichte ich
ihr rüber.
„Trink!“
Sie setzte sich auf und schlürfte die Kokosnussmilch gierig
hinunter. Sie stand auf und holte ein Palmenblatt, dass sie auf
meinen Körper legte.
„Vorsicht, sonst bekommst Du noch einen Sonnenbrand.“
Ach war das schön! Auf einmal riss mir irgendein Vollidiot
brutal das Palmenblatt von meinem Körper. Ich versuchte
meine Augen zu öffnen. Tony stand vor mir.
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„Aufstehen, Du faule Ratte.“
Er wollte gerade aus dem Zimmer gehen, als er mich ansah
und lachte:
„Sehe ich richtig, oder täusche ich mich bloß. Hat unser kleiner
Bruder etwa das Stadium der Pubertät erreicht?“
Dabei starrte er auf meine Genitalien. Ich blickte nach unten
und schämte mich.
„Hau bloß ab, Du Arschloch.“, brüllte ich.
Er grinste mich an.
„Raus jetzt und zwar sofort!“
Ich schmiss ihm mein Kopfkissen ins Gesicht. Er lachte nur.
„Lenny wird zum Maaaann, Lenny wird zum Maaaann.“, sang
er schadenfroh.
Na, der Morgen fing ja ausgezeichnet für mich an. Ich durfte
während des ganzen Frühstücks sein dummes Grinsen über
mich ergehen lassen. In der Küche gab ich ihm dann einen
Tritt in den Arsch. Er drehte sich langsam um und sang
melodisch:
„Lenny wird zum Maaaann, Lenny wird zum Maaaann.“
Ich machte mich auf die Socken, früher als gewöhnlich, denn
sein albernes Getue ging mir echt auf den Sack. Diese Woche
schrieben wir auch noch einen Englischtest und außer „Fuck
you“ und „Shit“ beherrschte ich nicht sonderlich gut diese
ausländische Sprache. Ich konzentrierte mich dennoch darauf
Seite 114
und versuchte die Vokabeln in mein Hirn einzutrichtern. Am
Tag der Prüfung fragte mich Oskar vor dem Klassenzimmer:
„Und? Gelernt?“
„Sehe ich vielleicht wie ein Loser aus?“
„Ja, denn es geht das Gerücht rum, dass Du in diesem Jahr
sitzen bleibst.“
Ich packte ihn am Kragen und konterte:
„Ich wette, dass ich eine bessere Note absahne als Du.“
„Ist ja gut, hab Dich doch nicht gleich so.“
Ich war recht stinkig, ließ ihn los und schubste ihn dabei von
mir. Na toll. Ich hatte nicht einmal einen Spickzettel
vorbereitet. Das konnte ja heiter werden. Frau Müller, unsere
Englischlehrerin, in Fachkreisen, die letzte Reihe, wurde sie
auch das „aufrechtgehende Hamster“ genannt. Ihre vordere
Zahnreihe stand so weit vor, dass selbst wenn sie den Mund
geschlossen
hatte,
mindestens
zwei
bis
drei
Zähne
hervorschauten, was zur Folge hatte, dass immer ein bisschen
Mundschleim am Mundwinkel hinunterfloss und sie verzweifelt
versuchte beim Einatmen den Schleim wieder hochzuziehen.
Das klang immer unheimlich appetitlich. Sie öffnete uns die
Tür. Alle setzten sich in Windeseile an ihren Platz und packten
ihre Mäppchen aus. Ich ließ mir Zeit. Sie begann mit dem
Verteilen der Blätter, legte sie dabei immer umgekehrt auf den
Tisch. Es gab A- und B-Blätter, so dass keiner erst auf die
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Idee kam, abzuschreiben. Man durfte das Blatt erst umdrehen
wenn sie ein Zeichen gab. Das war ja schlimmer als bei der
Bundeswehr. Außer gehorchen durfte man gar nichts. Sie
begann bei uns, der letzten Reihe. Sie kehrte uns den Rücken
und teilte die Blätter in den vorderen Reihen aus. Ich sah
keinen Ausweg mehr und mir war auch schon ganz schwarz
vor Augen. Ich zückte schnell mein Englischheft hervor,
öffnete es auf der richtigen Seite und legte es unter meine
Oberschenkel, so dass ich darauf saß. Gerd blickte mich
fragend an. Ich zog den Mundwinkel hoch, er lächelte
verständnisvoll.
„So ihr könnt jetzt die Blätter umdrehen. Ich wünsche euch viel
Erfolg.“
Alle drehten zeitgleich ihre Blätter um. Dieses ultimative
Kommandieren hatte ich satt. Gut, es konnte also losgehen.
Ich schaute auf das Blatt. Ich wusste maximal ein Viertel, nicht
mehr. Ich übersetzte zunächst das, was mir bekannt war und
dann schaukelte ich ganz langsam mit dem Stuhl nach hinten,
spreizte ein wenig meine Beine und blickte in mein Heft. Aha.
Wieder ein Wort mehr. Ich spielte dieses Spiel eine ganze
Weile, als langsamen Schrittes Frau Müller nach hinten kam.
Langsam wippte ich meinen Stuhl wieder zurück, schob
meinen Hintern so auf den Rand, dass man die Kante meines
Heftes nicht mehr erkennen konnte. Sie setzte sich auf den
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Tisch schräg hinter mir. Verdammt noch mal, was starrte mich
diese blöde Kuh so an?
„Na, Lenny, wie sitzt man so auf einem Englischheft?“
Scheiße, das war es dann wohl! Zumindest sollte ich ihr eine
Antwort geben.
„Ach ja, recht gut.“
Sie ging an mir vorbei.
„Wir sprechen uns nachher.“
Ich legte meinen Füller behutsam auf das Blatt. Für mich war
das Spiel aus. Wie sollte ich das bloß meinen Eltern erklären?
Wie sollte ich das bloß Sylvia erklären? Wie sollte ich es nun
schaffen nicht sitzen zu bleiben? Und wie sollte ich die Wette
mit Oskar gewinnen? Ach das Leben kam mir in diesem
Augenblick so sinnlos vor, so nüchtern, so entmutigend. Ich
beobachtete die Anderen. Wie angekettete Sklaven schwitzten
sie über ihre Aufgabenblätter, als würde es um ihr Leben
gehen. Mich wunderte, was alle so sehr bewegte, so viel zu
büffeln. Das war doch kein Leben mehr. Das war doch
schlimmer als ein Schwein in dem Käfig, das darauf wartete
endlich geschlachtet zu werden, aber versuchte seine Sorgen
zu vergessen indem es fraß. Wahrscheinlich hieß es auch
deshalb „fressen wie ein Schwein“. Wozu war ich auf diese
Welt gekommen? Um mir diesen Stress anzutun? Dieses
Gerödel? Diese Folter? Eine Welt in der man weder lachen
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durfte, noch sagen was man dachte. Wie in den Erörterungen.
Da hieß es immer, dass jeder eine freie Meinung haben durfte.
Das stimmte, doch immer nur zu einem vorgeschriebenen
Thema, das kein Schwanz interessierte. Wo blieb also da noch
die versprochene Freiheit?
„So Kinder, die Zeit ist abgelaufen. Legt bitte die Füller ab, ich
sammle jetzt ein.“
Einige schrieben noch schnell die letzten Wörter, wie so
Gestörte in der Anstalt. Bis auf Birgit natürlich, sie war ja so
schlau, so toll, so umwerfend. Sie saß schon seit einer Weile
steif auf ihrem Stuhl, so als hätte man ihr einen Stahlträger in
den Rücken geschoben und lächelte stolz in die Runde, denn
sie war schon fertig. Hoffentlich gab es einen Himmel, denn
sollte sie es schaffen dorthin zu kommen, so würde ihr ganz
schön langweilig werden, denn dort würde es keine Schule
geben, keine Klausuren, kein lernen, kein büffeln und
hoffentlich auch keine Birgits, keine Frau Müller, keine alte
Zicken und keinen Auer. Jeder wäre vermutlich auch sein
eigener Herr, also auch keine Eltern. Aber jetzt war ich nun
mal hier und versuchte das Beste daraus zu machen. Mir blieb
jetzt wirklich nur eine, aber wirklich auch nur eine, die letzte
Chance die Sache zu bereinigen und die galt es hier und jetzt
zu versuchen. Ich hatte mir das mal ausgedacht, für den Fall,
dass alles schiefgehen würde. Das Dumme war nur, dass ich
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diese Taktik nur einmal anwenden könnte. Ich wartete also, bis
alle, bis auf Frau Müller natürlich, das Zimmer verließen. Als
Gerd ging, klopfte er mir noch vorher auf die Schulter und
sagte mit einem Hauch von Mitleid und Schadenfreude:
„Viel Spaß.“
„Lenny, komm vor bitte.“
Ich hatte meine Sachen schon gepackt, nahm meinen Ranzen
und schob den Stuhl vorsichtig zurück. Ich ging vor und
humpelte mit dem rechten Bein. Sie starrte mich an und neigte
ihren Kopf zu meinem rechten Bein. Dabei runzelte sie fragend
die Stirn.
„Hast Du Schmerzen am Bein?“
„Ach nein,“, ächzte ich stöhnend, hielt mir die Hand an das
Bein, „es geht schon.“
„Hast Du Dir wehgetan?“
„Nein Frau Müller, es ist alles in bester Ordnung.“
Sie änderte ihren Ton.
„Also gut, jetzt zu uns beiden. Du weißt, dass Dein Notenpegel
äußerst niedrig liegt. Die Gefahr, dass Du sitzenbleibst ist sehr
groß. Und das was Du uns heute hier gezeigt hast, erschwert
Deine Schullaufbahn, zumindest für dieses Jahr, erheblich. Du
weißt auch, dass ich Dir dieses Mal eine glatte sechs gebe
und Du somit beim nächsten Mal mindestens eine zwei, wenn
nicht eine eins benötigst. Nicht, dass ich Dich entmutigen will,
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aber so wie ich Dich kenne, wird das unter den Fünfern und
jetzt Sechsern ein echtes Problem.“
Ich nickte fortwährend, schaute dabei aber auf den Boden.
„Schau mich an, wenn ich mit Dir rede.“
Ich erhob meinen Kopf und blickte sie betrübt an. Tränen
standen in meinen Augen.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich so dumm war, ich wollte
einfach nicht meine Eltern enttäuschen. Sie legen so viel Wert
darauf, wissen Sie.“
Ihr Ton wurde sanfter.
„Deinen Eltern werde ich übrigens einen Brief schicken.“
Meine Augenbrauen zuckten, meine Hände ergriffen ihre
Hand. Ich heulte schluchzend. Hoffentlich sah mich jetzt
keiner.
„Bitte nicht! Alles bloß das nicht!“, winselte ich verzweifelnd.
„Aber Lenny, hör auf, ich muss das machen, das ist meine
Pflicht als Lehrerin.“
„Ich schwöre, dass ich so etwas nie, nie wieder machen
werde,“ zumindest nicht bei Dir, dachte ich mir, „ich habe
einen großen Fehler getan, aber bitte keinen Brief an meine
Eltern.“, winselte ich, wie ein Köter an der Gasse.
Meine Stimme wurde leiser.
„Keinen Brief an meine Eltern.“
Meine Stimme wurde noch leiser.
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„Keinen Brief an meine Eltern.“
Sie wartete und beobachtete mich. Ich strich mir mit der Hand
über das Bein.
„Keinen Brief an meine Eltern.“
Sie hob mein Kinn mit ihrer flachen Hand und schaute tief in
meine wässrigen Augen, dabei floss eine Träne die Backe
herunter. An der Kinnlade angekommen bewegte sie sich
langsamer, zögerte - und fiel letztlich zu Boden. Doch konnte
man sie nicht hören, denn der Teppich saugte die salzige
Träne gierig auf.
„Aber Lenny, warum sollte ich ihnen denn keinen Brief
schreiben.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Mir kannst Du es sagen, ich bin Deine Vertrauenslehrerin.“
Ich schüttelte den Kopf. Sie zögerte eine Weile, bis sie mich
fragte und den Ton anhob:
„Lenny....... schlagen Dich Deine Eltern?“
Na, das hatte aber lange gedauert, bis sie das raffte! Ich blieb
starr.
„Lenny, antworte mir bitte.“
Ich flüsterte schluchzend.
„Aber nur wenn sie es keinem weitersagen.“
„Ja natürlich, aber nun sag es mir, schlagen Dich Deine
Eltern?“
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„Nur wenn sie es schwören, es keinem weiterzusagen.“
Sie schwörte.
„Also, ich höre.“
Ich nickte.
„Also Deine Eltern schlagen Dich?“
Ich nickte und rieb mir mein rechtes Bein.
„Und das mit dem Bein....“
Ich nickte.
„Aber nur wenn ich schlecht in der Schule war.“
„Und das bist Du ja zur Zeit.“, gab sie von sich und atmete
dabei tief aus.
Sie wartete, während sich am Teppich eine feuchte Stelle
ausbreitete, die gierig weitere herunterfallende Tränen saugte.
„Also hör zu........ Nein schau.“
Sie nahm meinen Prüfungsbogen und zerriss ihn eigenhändig.
Ich konnte recht stolz auf mich sein, fand ich.
„Dieses letzte Mal möchte ich ein Auge zudrücken, wenn Du
mir versprichst, das nächste Mal zu lernen. Versprich es mir.“
Ich nickte mehrmals schluchzend.
„Und jetzt geh und mach Dir mal keine Sorgen, solange Du
lernst, wird Dir ja wohl nichts geschehen.“
Es war mehr eine Frage als eine Aussage.
Ich flüsterte leise:
„Danke, Frau Müller.“
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„Schon gut. Und jetzt geh!“
Ich humpelte inzwischen schon so sehr, dass ich mein Bein
hinter mir herziehen musste. Das sah echt behindert aus und
allem Anschein nach war ich nun dazu verpflichtet das
mindestens eine Woche zu machen, als Alibi sozusagen. Naja,
zumindest war ich dem Fiasko noch einmal aus dem Weg
gegangen und ich schwor mir, bis zum nächsten Mal viel, viel
zu lernen. Also verbrachte ich die ganze Woche damit zum
Einen zu humpeln, das war unheimlich schwierig, da ich
ständig dummen Kommentare ausgesetzt war, zum Anderen
jeden Mittag schnell den Briefkasten zu lehren, ob nicht
vielleicht doch ein Brief von Frau Müller an meine Eltern
gerichtet war. Aber sie hatte Glück. Sie hatte ihnen nicht
geschrieben.
Ich saß also wieder einmal bei der alten Kollwitz im Unterricht,
als ob das nie ein Ende nehmen würde, zwischen Andreas
und Florian und ich hatte irgendwie das dumpfe Gefühl, dass
da irgendetwas im Gange war. Beide grinsten so dumm in der
Gegend, das war nicht mehr normal. Jedes Mal wenn ich
entweder zu Florian oder Andreas schaute, schauten sie
schnell weg. Schaute ich wieder nach vorne, schauten sie
mich an. Das nervte ganz schön. Also haute ich auf den Tisch
und sagte ihnen:
„Jetzt hört aber mal auf.“
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Na, bestens, schon drehte sich die Alte um.
„Lenny, ist bei Dir alles in Ordnung, ich meine sonst geht es
Dir noch gut?“
„Die beiden hier nerven mich die ganze Zeit.“
„Das unschuldige Schäfchen hat gesprochen. Jetzt weißt Du
ja, wie ich mich manchmal mit Dir fühle.“
Sie grinste und setzte ihren Unterricht fort. So eine blöde Kuh.
Das war die Wahrheit verdammt noch mal. Ich schenkte
meinen Nebensitzer keine Aufmerksamkeit mehr und so
spielten sie das Spielchen weiter. Ich hob meinen Finger. Die
Alte schielte mich an.
„Die beiden hier nerven mich ständig.“
„Jetzt ist aber wirklich Schluss, Lenny.“
Beide lachten sich ins Fäustchen. Ha, ha, ha. Wenn ich bloß
wüsste was hier im Gange war. Es verstrich eine Weile, bis es
auf einmal abartig nach Scheiße stank. Nein, nach faulen
Eiern. Nein, nach den Toiletten, nachdem Herr Auer das Klo
benutzt hatte. Abartig. Völlig kranke scheiße. Mir wurde ganz
schlecht. Ich hielt mir die Nase zu. Doch der Gestank war so
unerträglich, dass ich aufstand, um mich ihm zu entfernen.
Frau Kollwitz blickte mich fragend an. Bis sie auch plötzlich
das Husten anfing und sich spontan die Nase zuhielt.
Innerhalb kürzester Zeit erreichte der Gestank die ganze
Klasse und alles quetschte sich in Richtung Fenster, die
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mittlerweile weit aufgemacht waren, mit zugehaltener Nase
und Tränen in den Augen. Drei vollgepackte Mannschaften an
drei geöffneten Fenstern, das war ein vielleicht ein Getümmel.
Man hätte glauben können, dass drei Rugby-Bälle an Fenstern
geschraubt wären und sich alle nun darauf türmten, um die
Bälle nicht entkommen zu lassen. Frau Kollwitz stand noch als
Einzige in dem leeren Raum, hielt sich aber auch die Nase zu.
„Lenny, es reicht mir jetzt definitiv mit Dir!“, sie versuchte zu
schreien, aber mit zugehaltener Nase fiel ihr das ziemlich
schwer und zudem lachte die ganze Klasse, denn sie klang
nicht gerade wie eine autoritäre Person, sondern eher wie
Kermit der Frosch.
Ich versuchte in dem Getümmel eine Antwort in ihre Richtung
zu geben, auch im „Kermit der Frosch“ Stil:
„Aber Frau Kollwitz! Das war ich nicht. Ich bin mir sicher, dass
das Andreas und Florian waren. Die versuchen mich ja nur
auszutricksen.“
Die ganze Klasse lachte. Offensichtlich nahm mir das keiner
ab. Also bewährte sich doch das Sprichwort:
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die
Wahrheit spricht.
„Erstens mal liegt die Stinkbombe genau unter Deinem Tisch, “
sie wies mit ihrem Zeigefinger auf das geöffnete Alibi,
„Zweitens siehst Du an der Reaktion Deiner Mitschüler, dass
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Dir keiner glaubt. Selbst ich nicht. Ich gehe jetzt zur
Schulleitung und besorge uns erst einmal ein anderes
Klassenzimmer, bis der Gestank fort ist.“
Daraufhin verließ sie ebenfalls stinkig wie der Gestank das
Zimmer. Alle redeten ununterbrochen wie scheußlich der
Gestank war. Vereinzelt waren sogar Stimmen wie:
„Coole Aktion, Lenny.“, zu hören.
Na toll. Diesmal war ich doch wirklich restlos unschuldig. Es
verstrichen wenige Minuten, als sie auch schon mit dem Herr
Auer wiederkam. Er hielt sich ein nasses Taschentusch vor die
Nase.
„Kinder ihr geht bitte in den Raum nebenan und wartet artig
auf mich. Birgit, ich übergebe Dir die Verantwortung. Und Du
Lenny, kommst bitte mal mit uns.“
Der Rektor verließ ebenso schnell den Raum, er hatte einfach
kein Durchhaltevermögen. Alle packten ihre Sachen in
Windeseile, einhändig versteht sich, die andere Hand war ja
für den Schutz des Geruchs zuständig, dass sah unheimlich
lustig aus, zumal es nicht meine Schuld war. Ich ging gegen
meinen Willen zur Schulleitung. Herr Auer hustete noch und
holte erst einmal tief Luft, bevor er seine Rede abhalten
konnte.
„Diesmal Freundchen blüht Dir Bitteres.“
Er packte mich bei meinem Ohr und zog es nach oben.
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„Ich war das nicht, wirklich Herr Direktor.“, winselte ich um
Vergebung.
Die Alte stand neben ihm und schüttelte den Kopf. Er zog
kräftiger.
„Ich brauche nur einen Blick in das Tagebuch zu werfen um zu
erkennen, dass unter den Ermahnungen Du am häufigsten
vorkommst. Ergo bist Du der Schuldige und das wird bitter
bestraft.“
Was war das denn bitte für eine Logik? Das wäre genau
dasselbe, wie wenn ich sagen würde, dass alle Lehrer doof
waren, bloß weil alle die ich kannte auch doof waren. Aber
nach der Logik begriff ich nun, dass alle Lehrer nicht doof
waren, sondern einfach nur saudoof.
Er zückte ein recht dickes Taschenbuch hervor und hielt es mir
unter die Nase, während er immer noch an meinem Ohr zog.
Möchte mal wissen wie er sich gefühlt hätte, wenn ich ihm am
Schwanz gezogen hätte.
„Dieses Buch wirst Du lesen und ein mindestens zehnseitiges
Resümee schreiben. Dabei lässt Du mir oben und unten zwei
Zentimeter
Zentimeter.
Platz,
Name
rechts
links
und
links
oben,
eins
Datum
Komma
rechts
fünf
oben,
Seitenzahlen mittig unten.“
„Das ging mir jetzt ein klein wenig zu schnell, können sie mir
das bitte schriftlich geben?“, gab ich frech zur Antwort.
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Er zog noch einmal kräftig an meinem Ohr, ließ es los und
brüllte:
„Mach, dass Du raus kommst, Du Lümmel!“
„Bin ja schon fort.“, rieb mir mein Ohr, es hing schon zwei
Zentimeter tiefer und eins Komma fünf Zentimeter abstehend
vom Kopf und schloss sanft seine Tür. Lümmel. Was Besseres
fiel ihm wohl nicht ein. Gut, dass ich nicht sein Zeugnis
schreiben musste. Sonst hätte ich über ihn geschrieben:
Ihrem Sohn fehlt es an kreativer Phantasie im Umgang mit der
Rhetorik unserer Sprache. Auch muss er ständig ermahnt
werden, seine Aggressionen nicht in Handgreiflichkeiten
übergehen zu lassen. Große Sorge bereitet uns aber nach wie
vor sein Outfit. Wir raten ihm dazu,
sich zu rasieren,
regelmäßig, mindestens einmal die Woche zu waschen und
vor
allem
eine
neue
Hose
zu
kaufen,
denn
seine
Gegenwärtige ist am Arsch so ausgebeult, dass man hätte
meinen könnte, geprüft hat es allerdings bisher noch keiner aus hygienischen Gründen versteht sich - also bleibt es nach
wie vor bei einer Vermutung, er in seine Hosen geschissen hat
und das nicht zu dürftig.
Lümmel, wie langweilig. Lehrer und Eltern konnten einfach
nicht aussprechen, was sie dachten. Arschloch, kleiner
Scheißer, Dumpfbacke, kleinkarierter Hosenpisser, Wichser,
das war es doch was sie von mir dachten. Aber Lümmel, das
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hielt ich eher für ein Lob. Trotzdem, da konnten sie lange
warten, dass ich ein Buch lesen, geschweige, dass ich eine
Zusammenfassung schreiben würde. Nicht mal ein leeres Blatt
würden die zu Gesicht bekommen. Die Tür ging hinter mir auf
und die Alte schrie mir hinterher:
„Lenny, Du hast das Buch vergessen!“
„Ach ja richtig. Meine spirituelle Fundgrube. Meine Existenz,
meine Daseinsberechtigung.“
Ich schüttelte nur zynisch mit dem Kopf und nahm es ihr aus
der Hand. Ich schaute auf das Buch.
„Kleider machen Leute“, von Gottfried Keller. Na der kannte
wohl nicht den FKK-Strand. Und offensichtlich hatte es mein
Rektor auch nicht gelesen. Ich beschloss es in die Bibliothek
meines Vaters zu stellen. Da würde sich das Buch bestimmt
ausgezeichnet machen. Gratis und völlig unverbindlich dazu.
Ich ging in unseren „neuen“ Klassenraum und verborg meine
Wut gegenüber Andreas und Florian, um mir nicht noch ein
tolles Buch schenken zu lassen. Andreas hielt mir grinsend die
Hand hin.
„Jetzt sind wir quitt.“
Ich überlegte. Auch wenn ich ein äußerst schlechter Verlierer
war, nickte ich und schlug ein.
„Okay“. Ich war froh, dass die beiden wenigstens etwas von
mir gelernt hatten. Sich nicht alles gefallen zu lassen.
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Die letzten Schulwochen waren weniger lustig. Ich sah Sylvia
immer seltener, nicht weil ich sie nicht sehen wollte, oder etwa
umgekehrt, sondern weil ich die meiste Zeit damit verbrachte
noch zu retten, was hoffentlich noch zu retten war:
Nicht sitzenzubleiben. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass
man dafür so ausgiebig lernen musste. Soviel arbeiteten ja
nicht einmal meine Eltern. Denn zuerst musste ich jeden
Morgen zur Schule gehen und kam erst immer zwischen
dreizehn und vierzehn Uhr wieder nach Hause. Nach einem
kurzen,
schnellen
Mittagessen,
ging
es
dann
weiter,
beziehungsweise erst richtig los, denn dann musste gebüffelt
werden, dass die Kühe flogen. Nicht einfach so über den
Büchern hocken und dabei mit der rechten Gehirnhälfte an
Sylvia denken. Nein. Ich meinte so richtig pauken. Das war die
schlimmste
Zeit
in
meinem
Leben.
Auch
wenn
ich
sitzenbleiben würde, wusste ich, dass jenes zwar meinen
Eltern nicht gefallen würde, aber geschlagen hätten sie mich
bestimmt nicht, abgesehen von ein oder zwei satten Ohrfeigen
von meinem Vater, die mittlerweile gar nicht mehr so weh
taten, denn ich hatte mittlerweile ein System gefunden, wie ich
den Schmerzen aus dem Weg ging. Bücken. Kurz bevor die
Hand meine Backe treffen konnte, musste man sich einfach
nur bücken. Das tat dann überhaupt nicht weh. Dennoch hatte
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ich keineswegs Lust sitzen zu bleiben, denn das hieße im
Klartext:
Ein Jahr länger im Gefängnis sein.
Ich hatte mal gehört, dass Afrikaner zum Beispiel nicht einen
Tag lang im Gefängnis sitzen könnten, weil sie nicht
verstanden, dass es so etwas wie eine Zukunft gab. Das
bedeutete, der Afrikaner glaubte in der Zelle, dass nur die
Gegenwart zähle, er also immer in der Gegenwart eingesperrt
sein würde, er also lebenslänglich dazu verdammt wäre im
Gefängnis zu bleiben. Deshalb starben sie.
Und im Falle eines Sitzenbleibens müsste ich nicht in der
Gegenwart im Gefängnis sitzen, oder sollte ich lieber diese
Anstalt hier Kerker nennen, oder beides, schließlich gab es ja
auch zwei Varianten simultan, zum Einen das Zuhause, zum
Anderen
die
Schule,
sondern
ein
ganzes
Jahr
lang.
Zweiundfünfzig Wochen. Dreihundertfünfundsechszig Tage.
Achttausendsiebenhundertsechszig
Stunden.
hundertfünfundzwanzigtausendsechshundert
FünfMi-nuten.
Einunddreißigmillionenfünfhundertsechs-unddreißigtausend
Sekunden, um exakt zu sein. Und das hing auch noch davon
ab, ob nun ein Schaltjahr war, oder nicht. Das konnte eine
verdammt lange Zeit werden. Und ich konnte lange warten, bis
mich jemand aus dieser verfluchten Scheiße raus holen
würde. Hätte Sylvia das gekonnt, so wäre sie der einzige
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Mensch gewesen, der das für mich getan hätte. Doch wie
sollte sie? Wir steckten in der gleichen Scheiße. Wir hockten
im gleichen U-Boot. Und es gab nur zwei Möglichkeiten.
Entweder sinken oder weiterfahren, bis endlich Land in Sicht
wäre. Ja, diese Zeit war so bitter wie das Kauen einer
unreifen, grünen, harten Bananenschale, die es galt wider
Willen und auf größtem Verderb hinunterzuschlucken. So
gnadenlos, dass die Gladiatoren aus Rom den nächsten
Flieger genommen hätten und sich dankbar an ihre Galeeren
zurück hätten anketten lassen. So schwer wie die Steine, die
die Sklaven der Pharaonen mühsam in der glühend heißen
Sonne
die
Pyramiden
hoch
schleppten
und
die
Peitscheinheiten der Kommandierenden auf deren Rücken
eine zarte Streicheleinheit war, im Gegensatz zu dem was ich
hier
durchmachen
musste.
Manchmal
nahm
ich
ein
Taschentuch aus meinem Kleiderschrank und biss so kräftig
hinein,
dass
wenn
mein
Mundwinkel
nicht
so
sehr
eingeschränkt wäre, ich einen Goldbarren hätte durchbeißen
können. Ach was, eine ganze Goldbarrenkolonne hätte ich
zermantschen können. Aber da wir Zuhause kein Gold hatten,
kam ich auch nie in Versuchung es auszuprobieren. Ich lernte
so viel wie ich in mir eintrichtern konnte und hoffte lediglich
darauf, die letzte Chance nicht ganz zu verbocken. Ich hatte
einfach schon zu viel verschissen. Die Tage vergingen immer
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schneller und es huschte eine Klausur nach der Anderen an
mir vorbei. Es war ein ständiger Wechsel zwischen Klausur
und Lernen und der Wechsel wurde gegen Ende immer
heftiger. Der Tag der Abrechnung näherte und näherte sich.
„Judgement day“ war so dicht, dass ich nur meine Hand hätte
ausstrecken müssen, um diesen Tag zu fühlen.
Das Dröhnen meines Weckers riss mich aus meinem
unendlichen sanften Schlaf. Es war neun Uhr. Heute war der
letzte Schultag, der Tag der Abrechnung, denn es gab
Zeugnisse,
darunter,
wenn
auch
nicht
besonders
erwähnenswert, meines. Ich konnte jetzt schon den makabren
Streit mit meinen Erziehungsberechtigten ahnen.
„Ich hab’s ja gewusst.“
„Den schlechten Teil hat er von Dir geerbt.“
„Ich habe Dir ja gesagt Du gehst zu sanft mit ihm um.“
„Ihm nächsten Jahr wirst Du Blut schwitzen.“
Dies waren allgemeine Antworten nach dem Blick auf mein
Zeugnis. Ich wusste allerdings nicht, welche Aussage es bei
einem Sitzenbleiben gab.
Nun eilte die Stunde der Wahrheit. Ich dachte nicht an mich,
sondern nur an meinen Hintern, der mir mindestens so viel
Wert war, wie mein Taschengeld eines Monats, der nun
todsicher von meinem Vater versohlt werden würde.
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„So meine Lieben“, fing die alte Kollwitz an, als ob sie meine
Geliebte
wäre,
„ich
möchte
mich
herzlich
für
eure
Zusammenarbeit, sowohl mündlicher als auch schriftlicher Art,
bedanken.“
Einige fingen schon an zu schmunzeln, denn ihnen blühte
besseres als mir. Wer aber am meisten schmunzelte war
natürlich Birgit, die dumme Gans, außer streben wie eine
Blöde konnte sie ja doch nichts. Kein Wunder, dass es so viele
Scheidungen und Morde gab. Wer mal so eine heiraten würde,
wüsste, dass er verloren hätte. Und ausgerechnet solche
bekamen auch noch in der Schule, bei den Verwandten und
bei den Bekannten Anerkennung. Verkehrte Welt!
Aber nun zurück zu den Zeugnissen, schließlich war das im
Augenblick ein recht ernst zu nehmendes Thema, nicht nur für
meinen Hintern, sondern auch für mein Ego. Komisch, dass
man immer abhängig von den Leuten war, die man am
wenigsten leiden konnte. Doch die alte Zicke fuhr fort.
„Ihr seid wirklich ein erfolgreicher Jahrgang....“, mensch Alte,
das ist doch wirklich jedes Mal dieselbe verkratzte Platte. Das
trieb einem echt die Gehirnmasse aus den Ohren. Aha jetzt
ging es mit dem Verteilen los. Viele Augen schauten auch
schon gieriger als beim Verteilen vom Taschengeld.
„Ach bevor ich es vergesse“, bitte vergiss es, ich dachte schon
das Gelaber hätte sein Ende gefunden, „ein großes Lob muss
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ich der Birgit aussprechen. Sie ist die beste Schülerin in eurem
Jahrgang, wenn nicht sogar in dieser Schule“, sie zwinkerte ihr
zu, na wenn ihr mal bloß nicht das Auge raus fiel.
„Herzlichen Glückwunsch Birgit“, jaja herzlichen Glückwunsch
auch meinerseits. So Baby und jetzt komm bitte zur Sache,
dachte ich nur. Sie verteilte also nun endlich die Zeugnisse,
eines nach dem Anderen, meist mit total überflüssige
Kommentaren bestückt.
„Das hast Du wirklich gut gemacht.“, oder
„Ich weiß, dass Du mehr kannst, wenn Du nur willst.“, oder
„Deine Eltern können stolz auf Dich sein.“, das alljährliche
Repertoire, dass Pädagogen im ersten Semester lernten. Das
kam mir genauso dumm vor, wie wenn der Kellner den Tisch
abräumen würde, mit einem Kommentar wie:
„Das habt ihr aber fein aufgegessen“ oder „Morgen scheint für
Dich die Sonne“.
Mit dem Unterschied, dass Kellner den Gästen hinterher
rennen mussten und nicht wie der Schüler hinter den Lehrern.
Ich versuchte in aller Schnelle eine Logik in der Reihenfolge
der Verteilung zu finden. War es nach Noten oder nach
Namen geordnet? Doch schon bald stellte ich fest, dass es gar
keine Logik gab. Mein Magen begann sich langsam aber
sicher zuzuschnüren und ich riss mich schwer zusammen, um
nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen, den Kopf im
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Dreivierteltakt auf den Tisch zu hauen, bis mein schallendes
Lachen zum quälenden Geschrei mutieren würde. Verdammt
noch mal. Nun waren doch wirklich schon alle dran! Was
wurde hier eigentlich gespielt? Sie kam auch schon auf mich
zu, mit nur einem Zeugnis in der Hand, ich dachte mir schon,
dass es sich hierbei um das Meine handeln würde. Ihr
Gesichtsausdruck wurde in Abhängigkeit der abnehmenden
Distanz
zwischen uns immer unfreundlicher und mir war
klar, dass das kein gutes Ende nehmen würde. Im
Klassenraum war es laut, jeder fragte seine Nebensitzer, was
er denn für Noten hätte. Ich hatte große Lust „Haltet endlich
das Maul!“ zu schreien. Das war doch wirklich ein Scheißleben
und in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlichster,
als mein Leben mit dem eines Hundes einzutauschen. Hunde
hatten es gut. Sie bekamen immer pünktlich zweimal am Tag
essen, wurden dreimal am Tag zum Gassi gehen ausgeführt,
wurden von jedem grundlos gestreichelt. Ihnen nahm es
zudem auch keiner Übel, wenn sie auf Muttis neuen Teppich
sabbelten oder auf Papis Tageszeitung kotzten oder einfach
nur in Opas Auto schissen. Ich wusste einfach nicht, warum es
ihnen keiner übelnahm. Sie bekamen ständig Lob, obwohl sie
weder zur Schule gingen, noch brachten sie Geld nach Hause,
über das meine Eltern ständig fluchten und sich beklagten,
sobald ich eine Taschengelderhöhung forderte, sobald ich im
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Fernsehen gesehen hatte, dass das Geld, so wie ich es
zumindest verstand, weniger wert war, als gestern und
deshalb die Arbeiter jetzt mehr Geld wollten. Aber ich war nun
mal kein Hund und ich konnte auch dieser äußerst
unangenehmen Situation nicht aus dem Wege gehen. Das
pralle Leben eben.
„Lenny, Dir kann ich leider Dein Zeugnis nicht übergeben,“
meine Kehle war total zugeschnürt und mein Mund war
plötzlich ausgetrocknet. Wäre sie ein Mann gewesen, so hätte
ich ihr zu meiner Verteidigung wenigstens in die Eier treten
können, doch nichts dergleichen war möglich. Sie schaute
mich an. Ich schaute sie an. Ich fand, dass sie auf einmal gar
nicht mehr so sehr schielte, ich konnte sehr deutlich erkennen,
dass sie mich anschaute. Und während ich sie genauer
betrachtete fand ich, dass sie gar nicht mal so hässlich
aussah. Genau genommen sah sie sogar gut aus. Ich wusste
gar nicht mehr warum ich sie immer „alte Zicke“ nannte.
„Wieso nicht?“, ich merkte gar nicht mehr wie ich das sagte.
„Lenny, Lenny“, der Ton missfiel mir spontan, er hatte so
etwas pädagogisches,
„Deine letzte schriftliche Strafarbeit, die nebenbei bemerkt
ziemlich
umfangreich
war,
hast
Du
weder
vollzogen,
geschweige denn abgegeben. Ich hoffe, Du erinnerst Dich
überhaupt: Kleider machen Leute!“
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Ich schluckte. Na wenn das alles war. Das Buch stand
übrigens inzwischen seelenruhig in der Bibliothek meines
Vaters und ergötzte sich womöglich an der Wärme seiner
Nachbarbücher, die weitaus dicker und schöner waren.
„Ohne Strafarbeit, kein Zeugnis.“
Oh, oh. Kein Zeugnis, kein Taschengeld. Kein Taschengeld,
kein Spaß. Kein Spaß, kein Leben. Kein Leben, keine Sylvia.
„Wann bekomme ich die Arbeit zu Gesicht, wenn Du
überhaupt beabsichtigst sie zu tun?“
Jetzt hieß es handeln Lenny, denk nach!
„Aber Frau“, fast wollte ich schon Doktor sagen, da mir mein
Vater immer gepredigt hatte, willst Du jemanden Honig um den
Mund schmieren, so Rede ihn beim Titel an, aber sie hatte ja
gar keinen, „.. Kollwitz, ich habe die Strafarbeit schon längst
gemacht, fand aber bisher keine Gelegenheit dazu sie Ihnen
zu übergeben, und so dachte ich mir, dass wir uns vielleicht
nicht wiedersehen.“
„Das mag ja sein, aber...“
„Also bin ich extra heute Morgen bei Ihnen zu Hause
vorbeigefahren
und
habe
es
in
ihren
Briefkasten
geschmissen.“
Sie zog ihre Augenbrauen hoch.
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„Mensch Lenny, Du überrascht mich jetzt wirklich.“, ihr Blick
wurde ein klein wenig wehleidig. Ich denke sie war ein klein
wenig geschmeichelt.
„Das tut mir jetzt wirklich leid, dass ich Dir meine böse
Behauptung unterstellt habe, ohne dies vorher zu prüfen.“
Wenn sie mich jetzt fragte, wo sie denn überhaupt wohnte,
dann war alles aus. Wenn es einen Gott gab, so sollte er bitte
jetzt handeln und ihre blöde Birne abschalten.
„Hier Dein Zeugnis. Wir haben beschlossen, Dich dieses Jahr
nicht sitzen bleiben zu lassen und, dass Du die Strafarbeit
vollzogen hast, bestätigt mir, dass Du den Willen hast, Dich
zu bessern.“
Daraufhin legte sie mir mein Zeugnis auf den Tisch. Es strahlte
vor Glück, als ich es öffnete. Ich wusste nicht mehr worüber
ich mich nun mehr freuen sollte. Darüber, dass ich nicht sitzen
geblieben war, oder darüber, dass die alte Zicke so dumm
war, oder, dass es einen Gott gab, zumindest in diesem
kleinen Augenblick. Ich eilte zu meinem Fahrrad, fuhr nach
Hause, aber zwischendurch legte ich mich wie gewöhnlich in
die Wiese.
Die Sonne lachte mir zu, ich dachte an Sylvia - dieser Sommer
würde ein ganz Besonderer werden.
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