Forschungsbericht I am Anna – but who am I? Die Konstruktion von

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Forschungsbericht I am Anna – but who am I? Die Konstruktion von
Humboldt-Universität zu Berlin
Philosophische Fakultät III
Institut für Asien- und Afrikawissenschaften
Wintersemester 2013/2014
Forschungsseminar: Medien und Moderne
Dozentin: Prof. Dr. Nadja-Christina Schneider
Forschungsbericht
I am Anna – but who am I?
Die Konstruktion von Öffentlichkeiten
bei den Anti-Korruptionsprotesten in Indien 2011
Anna Oechslen
MA Moderne Süd- und Südostasienstudien
Fachsemester: 1
Berlin, 04.03.2014
0
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung .................................................................................................................. 1
2
Die Anti-Korruptionsproteste in Indien als Untersuchungsgegenstand zur
Erforschung sozialen und kulturellen Wandels ................................................................ 2
3
2.1
Der Ablauf der Proteste ..................................................................................... 2
2.2
Die Proteste als Medienereignis ........................................................................ 3
2.3
Akhil Gupta: Imagination des Staates durch den Diskurs über Korruption ...... 4
2.4
Arvind Rajagopal: Die ‚Split Public Sphere‘ Indiens ........................................ 4
Analyse: ‚Indien‘ aus der Perspektive zweier unterschiedlicher Medien ................. 5
3.1
Methodische Vorbemerkungen .......................................................................... 5
3.2
Charakteristika von NDTV und Kafila .............................................................. 6
3.3
Die Proteste in der Vorstellungswelt von NDTV .............................................. 8
3.4
Die Proteste in der Vorstellungswelt von Kafila ............................................. 10
4
Fazit und Ausblick .................................................................................................. 13
5
Literaturverzeichnis ................................................................................................. 16
5.1
Primärquellen ................................................................................................... 16
5.2
Sekundärquellen ............................................................................................... 17
1
1 Einleitung
„I AM ANNA“ – dieser Satz stand 2011 auf den Hüten tausender Inder/innen. Sie demonstrierten damit ihre Solidarität mit einem Aktivisten, der in Delhi mit einem Hungerstreik gegen die Korruption protestierte – Kisan Baburao Hazare, von allen „Anna“
genannt. Wer Anna ist, war dabei relativ klar: ein zu dem Zeitpunkt 73 Jahre alter Mann
mit Brille, ein Gandhi-Anhänger, Umweltaktivist und Asket, auf einem Kreuzzug gegen
die Korruption in seinem Land (Sengupta 2012, S. 593). Weit weniger Einigkeit
herrschte bei der Frage, für wen das „I“ eigentlich stand: Handelte es sich dabei um den
ganz gewöhnlichen Bürger, der sich gegen den Staat erhebt, um den Angehörigen einer
privilegierten Mittelschicht, der sich um seine Vorrechte sorgt, oder doch um einen
Hindu-Nationalisten, der vor allem von einer gerechten Gesellschaft für die oberen Kasten träumt? Unterschiedliche Medien beantworteten diese Frage ganz unterschiedlich,
so dass es manchmal schwer fiel zu glauben, dass sie wirklich von denselben Ereignissen berichteten. Unabhängig von der Interpretation schenkten nationale und internationale Medien den Anti-Korruptionsprotesten in Indien 2011 jedoch so große Beachtung
wie bisher kaum einem anderen Ereignis. Ich vertrete hier die These, dass sich die AntiKorruptionsproteste in Indien 2011 gut zur Erforschung des soziokulturellen Wandels
eignen: Zum einen sollen die Proteste einen Wandel in der Gesellschaft hervorrufen,
hier den Kampf gegen die Korruption. Zum anderen spielt in der medialen Aufarbeitung
der Proteste die Entwicklung sozialer Spaltungslinien eine wichtige Rolle. Und schließlich sind Blogs als relativ neues Medienformat ein Aspekt des kulturellen Wandels und
verändern den Charakter eines Medienereignisses.
Hier bieten sich viele Möglichkeiten, an bestehende Forschungsarbeiten anzuschließen und diese weiterzuentwickeln. Als Leitfaden für die Analyse dienen Ansätze
von Akhil Gupta, der sich mit dem Diskurs über Korruption in Indien beschäftigt, sowie
Arvind Rajagopal, der das Konzept einer gespaltenen ‚public sphere‘ in Indien entwickelt hat. Ich möchte mich im Rahmen meiner Forschungsarbeit mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern der Fernsehsender „NDTV“ und der Blog „Kafila“ in ihrer Berichterstattung über die Anti-Korruptionsproteste in Indien 2011 unterschiedliche Bilder
der indischen Gesellschaft konstruierten. Dabei soll es nicht darum gehen, die ‚wahre‘
Version der Geschichte zu ermitteln. Vielmehr soll die Analyse dazu dienen, die jeweiligen Vorstellungswelten der Medienorgane zu umreißen und das Bild, das sie sich von
1
Indien und den Inder/innen machen, besser zu verstehen. Dazu werde ich zunächst die
Frage in relevante Diskurslinien einordnen und herausarbeiten, wie meine Analyse zur
Weiterentwicklung der bestehenden Konzepte beitragen kann. Darauf aufbauend werde
ich vergleichen, wie NDTV und Kafila über die Proteste berichtet haben und welche
Konzepte für die beiden Medienorgane dabei im Vordergrund standen. Im Fazit gehe
ich dann noch genauer darauf ein, welche Anschlussmöglichkeiten an diese Forschungsarbeit sich bieten.
2 Die Anti-Korruptionsproteste in Indien als Untersuchungsgegenstand zur Erforschung sozialen und kulturellen Wandels
2.1 Der Ablauf der Proteste
Die Anti-Korruptionsbewegung in Indien war auch schon vor 2011 aktiv, doch erst mit
Anna Hazares öffentlichem Fasten gewann sie ein großes Maß an Aufmerksamkeit. Es
ist deshalb sinnvoll, mich für die Untersuchung des Medienereignisses auf den Zeitraum
zwischen April und August 2011 zu beschränken. Anna Hazare war bei Weitem die
prominenteste Figur in den Berichten der nationalen und internationalen Medien, deshalb werde ich mich bei der Analyse auf die Berichterstattung über den Teil der Bewegung, der eng mit Anna Hazare in Verbindung gebracht wurde, konzentrieren. Um die
Berichte besser einordnen zu können, folgt zunächst ein kurzer Abriss über den Ablauf
der Proteste 2011. Am 5. April 2011 begann Anna Hazare seinen Fastenprotest auf dem
Jantar Mantar in Delhi. Damit wollte er seiner Forderung Nachdruck verleihen, Vertreter/innen der Zivilgesellschaft an der Ausarbeitung der ‚Lokpal Bill‘ zu beteiligen. Es
handelte sich dabei um ein Gesetz, das einen Ombudsmann aus dem Volk dazu befähigen sollte, Regierungs- und Verwaltungsmitglieder für Korruption zur Rechenschaft zu
ziehen. Das Gesetz wartete zu dem Zeitpunkt schon seit über 40 Jahren auf die Verabschiedung. Als Hazare sein Fasten 13 Tage später beendete, hatte die Regierung seinen
Forderungen zugestimmt, was in vielen indischen Städten auf der Straße als Erfolg gefeiert wurde. (Sitapati 2011, S. 39) Aus Protest gegen den Gesetzesentwurf, den er als
zu schwach betrachtete, wollte Anna Hazare am 16. August noch einmal in den Hungerstreik treten, wurde aber festgenommen, bevor er damit beginnen konnte. Daraufhin
protestierten Menschen in ganz Indien, und auch einige, die sich vorher kritisch zu dem
Protest geäußert hatten, bekundeten Solidarität. Hazare sollte zwar schon kurz darauf
wieder freigelassen werden, weigerte sich aber, das Gefängnis zu verlassen, bis ihm
2
erlaubt würde, im JP Park zu protestieren. Nach drei Tagen wurde er aus dem Gefängnis
entlassen und nahm einen Hungerstreik auf dem Ramlila-Gelände auf. Im Dezember
fastete er ein weiteres Mal, die Beteiligung fiel hier aber deutlich niedriger aus als noch
im August. (Sengupta 2012, S. 593 ff.) Im folgenden Abschnitt werde ich herausarbeiten, was die Anti-Korruptionsproteste als Forschungsgegenstand so interessant macht
und wie sie sich in den aktuellen Forschungskontext einfügen.
2.2 Die Proteste als Medienereignis
Die Anti-Korruptionsproteste in Indien als 2011 qualifizieren sich aus verschiedenen
Gründen als Medienereignis. Der offensichtlichste davon ist, dass sie sowohl national
als auch global große mediale Aufmerksamkeit erregt haben. Dabei setzten die Protagonist/innen die Medien strategisch ein, um Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu erregen
und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Stephan Weichert definiert ein Medienereignis als „außeralltägliche[…] Erzählung […], die von den Medien in besonderer Weise inszeniert und zelebriert wird, und die – wenn das Publikum sie als integrierendes
Sinnangebot akzeptiert – nicht nur eine Vergemeinschaftungsfunktion entfaltet, sondern
auch Rückwirkungen auf den Ereignisverlauf selbst sowie andere Ereignisse haben
kann“ (Weichert 2006, S. 139). Die Proteste und ihre mediale Verarbeitung stellten in
der indischen Öffentlichkeit eine Unterbrechung der Routine und eine Zäsur dar. In der
Forschung über Medienereignisse bilden Proteste einen relativ neuen Untersuchungsgegenstand, der noch wenig erforscht ist. Besonders im Hinblick auf die Vergemeinschaftungsfunktion haben neue Medien zu einigen neuen Entwicklungen geführt. Ingrid
Volkmer und Florian Deffner entwickeln den Medienereignis-Begriff dahingehend weiter, dass sie die „Re-Mediatisation“ (Volkmer und Deffner 2010, S. 218), etwa durch
Blogs, mit einschließen. Sie gehen davon aus, dass neue Konzepte von Medienereignissen berücksichtigen müssen, dass die Deutung von Ereignissen durch neue Medien viel
stärker kontinuierlich neu ausgehandelt wird (Volkmer und Deffner 2010). Bei dieser
Forschungsarbeit soll aber der Charakter als Medienereignis nicht im Vordergrund stehen. Stattdessen soll der Fokus darauf liegen, inwieweit aus der intensiven Beschäftigung der Medien mit den Protesten Rückschlüsse über die Wirklichkeitskonstruktionen
der Medien gezogen werden können. Den Rahmen dafür bilden zwei Theorien, die in
den nächsten Abschnitten kurz erläutert werden.
3
2.3 Akhil Gupta: Imagination des Staates durch den Diskurs über
Korruption
Die erste der Theorien, auf denen mein Forschungsprojekt basiert, stammt von Akhil
Gupta. Er geht davon aus, dass der Staat aus einer Perspektive alltäglicher Praktiken
und Repräsentationen zu verstehen ist (Gupta 2005, S. 188). Er stellt die These auf, dass
im Zuge des Diskurses über Korruption in Indien die Konzepte von Staat, Bürger/innen
und Öffentlichkeit imaginiert werden (Gupta 1995, S. 376). Die Massenmedien konstruieren dabei gleichzeitig ein Bild der Öffentlichkeit beziehungsweise ‚der Bürger/innen‘
und inszenieren sich selbst als deren Fürsprecher (Gupta 1995, S. 387 f.). Dadurch wird
deutlich, dass die Medien nicht einfach die gesellschaftliche Situation und soziokulturellen Wandel abbilden, sondern auch eine öffentliche Vorstellung davon formen und so
Tatsachen schaffen. Gupta plädiert dementsprechend dafür, Massenmedien als kulturelle Texte zu lesen (Gupta 1995, S. 386). Der Kampf darum, etwas an den Machtkonfigurationen zu ändern, beinhaltet für Gupta auch einen kulturellen Kampf: Hier geht es
darum, zu beeinflussen, nach welchen Maximen der Staat konstruiert wird (Gupta 1995,
S. 393 f.). Ich möchte mich in meinem Projekt zwar nicht mit dem Diskurs über Korruption an sich, sondern mit dem über die Anti-Korruptionsproteste beschäftigen, doch
Guptas Ansatz bietet trotzdem einige wichtige Ausgangspunkte für die vorliegende Forschungsfrage: Aus dieser Perspektive bieten Medienereignisse die Chance, Erkenntnisse
über den sozialen Wandel zu gewinnen, weil eine enge Verbindung zwischen medialen
Repräsentationen und der Imagination des Staates hergestellt wird. Darauf aufbauend
können wir davon ausgehen, dass im Zuge der medialen Darstellung eine Vorstellungswelt in Bezug auf die Gesellschaft konstruiert wird.
2.4 Arvind Rajagopal: Die ‚Split Public Sphere‘ Indiens
Arvind Rajagopal geht davon aus, dass die Medien nicht nur eine einzige, sondern mehrere verschiedene, voneinander getrennte Vorstellungswelten konstituieren. Auch er
argumentiert, dass die Medien den Kontext formen, innerhalb dessen Politik wahrgenommen, ausgeführt und verstanden wird (Rajagopal 2000, S. 1). Dabei stellt er die
These auf, dass durch elektronische Medien – dabei bezieht er sich auf das Fernsehen –
gesellschaftliche Spaltungen deutlicher hervortreten. Es gebe in Indien eine „split public
sphere“ (Rajagopal 2000, S. 25) – unterschiedliche öffentliche Sphären also, die sich
auch in ihren Grundauffassungen und Vorstellungswelten unterscheiden. Rajagopal
untersucht darauf aufbauend die Auswirkungen, die diese verschiedenen öffentlichen
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Sphären auf politische Entwicklungen hatten. Dabei zeigt er Parallelen zwischen der
zunehmenden Rolle des Fernsehens und dem Erstarken des Hindu-Nationalismus in
Indien auf. Das Ziel dieser Forschungsarbeit soll aber nur der erste Schritt in diese Richtung sein, nämlich die ‚public spheres‘ zu umreißen. Als Anschluss daran wäre es dann
möglich, den Einfluss dieser öffentlichen Räume auf die öffentliche Meinung und politische Entwicklungen genauer zu untersuchen.
Arvind Rajagopal begreift die Anti-Korruptionsproteste 2011 insofern als Zäsur,
dass die Spaltung zwischen englisch- und indischsprachiger Presse erstmals überwunden wurde (Rajagopal 2011). Meine Hypothese lautet hier, dass die Spaltung in diesem
Fall dafür an einer anderen Stelle verlief: nicht zwischen den Teilen der Presse, sondern
zwischen dem Fernsehen und der ‚Blogosphere‘. Auch hier sind unterschiedliche Vorstellungen von der Rolle der Medien, unterschiedliche Werte und Bilder von der Gesellschaft vorhanden, die zu zwei unterschiedlichen Versionen der Geschichte führen. Ich
halte es für sinnvoll, Rajagopals Ansatz durch den Einbezug eines Blogs weiterzuführen, da Blogs inzwischen einen deutlichen Einfluss auf die Bildung der öffentlichen
Meinung haben (Farrell und Drezner 2007). Sie interagieren auch mit MainstreamMedien und bilden so einen wichtigen Bestandteil des Re-Mediatisierungsprozesses
(Volkmer und Deffner 2010).
3 Analyse: ‚Indien‘ aus der Perspektive zweier unterschiedlicher
Medien
3.1 Methodische Vorbemerkungen
Um eine qualitative Medien-Inhaltsanalyse durchzuführen, habe ich englischsprachige
Beiträge des Fernsehsenders „NDTV“ und des Blogs „Kafila“ untersucht. Die Analyse
beansprucht dabei nicht, repräsentativ für indische Medien im Allgemeinen zu sein.
Vielmehr soll sie dazu dienen, einen ersten Einblick dahingehend zu gewinnen, wie die
beiden untersuchten Medien die indische Gesellschaft imaginieren und sie miteinander
in Beziehung zu setzen. NDTV bot sich zum einen aus praktischen Gründen an, weil
der Fernsehsender über ein umfangreiches Archiv mit englischsprachigen Videobeiträgen verfügt. Zum anderen war der Sender bereits Gegenstand von medienwissenschaftlichen Analysen und eignet sich gut als Beispiel für ‚Corporate Media‘.Der Blog Kafila
gehört zu den bekanntesten englischsprachigen Blogs in Indien und nimmt eine bewusst
alternative Position gegenüber den ‚Mainstream-Medien‘ ein. Die beiden Medien eig5
nen sich deshalb meiner Ansicht nach gut zu einem kontrastiven Vergleich. Um zu einigermaßen vergleichbaren Beiträgen zu gelangen, habe ich jeweils mit dem Stichwort
bzw. Tag „Anna Hazare“ gesucht. In die Untersuchung sind jeweils insgesamt zehn
Beiträge aus beiden Medien vom April 2011 sowie August 2011 eingegangen. In beiden
Monaten führte Anna Hazare Hungerstreiks durch, es ist also zu erwarten, dass hier
auch besonders intensiv berichtet wurde. Allerdings bezieht sich die Analyse nur auf die
englischsprachigen Beiträge von NDTV; die Videobeiträge auf Hindi, in denen möglicherweise ein anderes Bild gezeichnet wird, konnten im Rahmen dieser Arbeit nicht
untersucht werden. Auf der Grundlage dieser Daten habe ich dann eine Situationsanalyse (Clarke 2005) durchgeführt. Aufbauend auf der Grounded Theory (Corbin und
Strauss 2008) werden dabei zunächst Codes aus dem Material abgeleitet. Diese werden
dann mithilfe von ‚Maps‘ zueinander in Beziehung gesetzt. Zunächst habe ich dazu die
menschlichen und nicht-menschlichen Akteur/innen, auf die die Medien sich beziehen,
herausgearbeitet. In einem weiteren Schritt habe ich dann versucht, die Vorstellungswelt
zu rekonstruieren, die die Medien in ihrer Berichterstattung kreieren. Daraus lassen sich
Schlüsse darüber ziehen, wie die ‚public spheres‘ von NDTV und Kafila aussehen. Die
Interaktion der beiden Medien lässt sich einerseits direkt nachvollziehen, wenn etwa das
Fernsehen als Akteur in der Vorstellungswelt des Blogs auftaucht. Darüber hinaus werden durch den Vergleich der Medien ‚blinde Flecken‘ deutlich; auch daraus, was die
Medien als nicht erwähnenswert erachten, lassen sich Erkenntnisse über ihre jeweilige
Vorstellungswelt ableiten.
3.2 Charakteristika von NDTV und Kafila
Die Berichterstattung des Fernsehsenders NDTV und des Blogs Kafila unterscheidet
sich teilweise schon durch die verschiedenen Gegebenheiten der jeweiligen Medien.
Auch der eigene Anspruch daran, was das Medium leisten kann und möchte, ist unterschiedlich. Beides ist als Rahmen wichtig, um die Vorstellungswelten und ‚public spheres‘ einordnen zu können. Darum sollen im Folgenden NDTV und Kafila kurz charakterisiert werden, bevor näher auf ihren Umgang mit den Anti-Korruptionsprotesten 2011
eingegangen wird.
NDTV
Die Abkürzung NDTV steht für „New Delhi Television“ – das Zentrum des Senders ist
also in Neu-Delhi. NDTV sieht sich selbst aber als Fernsehsender für ganz Indien und
darüber hinaus. In der Selbstbeschreibung betont der Sender außerdem seine gesell6
schaftliche Verantwortung und zeigt durchaus Stolz, auf gesellschaftliche Prozesse einzuwirken (NDTV Convergence). Als Zielgruppe macht der Sender den „global Indian“
(ebd.) aus, sein Repertoire wird als „news that is credible, true and fast“ (ebd.) beschrieben. Der Fernsehsender stellt sich also nicht als Meinungsmedium dar, sondern eher als
ein Sprachrohr der Menschen bzw. ein Abbild der Realität. Es gibt eine große Bandbreite an Sendeformaten, in denen die Nachrichten präsentiert werden: In den analysierten
Beiträgen gab es Statements von Experten, Interviews mit Protestierenden auf der Straße, Kommentare von Nachrichtensprecher/innen und Hintergrund-Reportagen. Insgesamt verstärkt die visuelle Berichterstattung den emotionalen Charakter der Beiträge.
Die Medienforschung sieht die Rolle des Senders durchaus kritisch: So wirft etwa John
Hutnyk NDTV vor, es gehe dort mehr um das Spektakel und darum, Aufmerksamkeit
zu erregen, und weniger darum, objektiv zu informieren (Hutnyk 2011, S. 23), außerdem verfolge er ein Projekt der nationalen Einheit (Hutnyk 2011, S. 34). Naresh
Fernandes wirft den indischen Mainstream-Medien im Allgemeinen vor, die spezifischen Interessen der Mittelschicht zu vertreten (Fernandes 2011). Und auch Arvind
Rajagopal geht davon aus, dass private Medien einen „upper middle class lifestyle“
(Rajagopal 2009, S. 4) präsentieren.
Kafila
Der Blog Kafila ist ein Gemeinschaftsprojekt einiger Autor/innen, von denen ein großer
Teil in der Wissenschaft tätig ist. Nur wenige von ihnen sind hauptberuflich Journalist/innen; das macht es leichter für sie, sich von ‚den Medien‘ zu distanzieren. Außerdem veröffentlichen regelmäßig Gastautor/innen Beiträge auf dem Blog. Es handelt sich
bei den Beiträgen eindeutig um Kommentare und nicht um Berichte – die Autor/innen
machen deutlich, dass sie keine neutralen Beobachter/innen sind, sondern eine ausgeprägte eigene Meinung vertreten. Die Autor/innen nehmen in ihren Artikeln auch aufeinander Bezug und lassen so kontroverse Debatten innerhalb des Blogs entstehen. Sie
sehen sich selbst als Korrektiv gegenüber den Mainstream-Medien, als „collaborative
practice of radical political and media critique“ (Kafila). Die Motivation für die Arbeit
an Kafila ist eine Verteidigung der Meinungsvielfalt gegenüber der Vereinheitlichung
durch übermächtige Medienkonzerne (ebd.). Das spiegelt sich auch im Motto „Run
from big media” wider, das gleich neben dem Titel der Webseite steht. Das Ziel des
Blogs ist es also nicht, tagesaktuelle Berichte über Ereignisse zu veröffentlichen, sondern mit kritischer Distanz über ihre Bedeutung zu reflektieren und Debatten anzusto7
ßen. Dadurch wollen sie ihre Leser/innen dazu anregen, selbst gesellschaftliche Entwicklungen kritisch zu beleuchten und selbst aktiv zu werden (ebd.)
3.3 Die Proteste in der Vorstellungswelt von NDTV
Insgesamt ist der Fernsehsender NDTV den Protesten gegenüber positiv eingestellt. Nur
in zwei der zehn untersuchten Beiträge werden auch Aspekte davon kritisiert. Die Proteste werden als eine positive und gewichtige Entwicklung charakterisiert und mit Wörtern wie „young collective waking up“ (NDTV 2011j), „revolution“ (NDTV 2011g)
und „historic and victorious crusade“ (NDTV 2011c) belegt. Immer wieder wird dabei
ein Bezug zur indischen Unabhängigkeitsbewegung und zu Mahatma Gandhi hergestellt. Als besonders positiv stellen die Beiträge das Gemeinschaftsgefühl der Protestierenden heraus. Dieses ist eng verbunden mit einem nationalen Gemeinschaftsgefühl
und, darauf aufbauend, dem Stolz auf die eigene Nation: An verschiedenen Stellen wird
etwa betont, dass Demonstrationen in vielen verschiedenen indischen Städten stattfinden und dass die Protestierenden dabei stolz die indische Flagge schwenken. Die Nation, die hier imaginiert wird, schließt auch die Diaspora ein: in einem Nachrichtenbeitrag
heißt es, die Proteste verbänden „the entire nation and Indians abroad“ (NDTV 2011b);
in einem anderen Nachrichtenbeitrag werden Mitglieder der indischen Community in
Boston gezeigt, die ihre Solidarität mit der Anti-Korruptionsbewegung bekunden. Sie
sprechen dabei Hindi, tragen sowohl indische als auch US-amerikanische Flaggen bei
sich und sprechen von „Bharat Mata“ (Mutter Indien). Der Fernsehsender greift diese
nationale Symbolik auf und deutet sie als positives Zeichen: Das indische Volk hält
zusammen, um sich gegen Unterdrückung zu wehren.
Doch wie wird das indische Volk, das hier protestiert, in den Fernsehbeiträgen
näher charakterisiert? Insgesamt vermitteln die Ausschnitte den Eindruck, hier habe sich
wirklich ein Abriss der ganzen Gesellschaft versammelt: Die Kommentator/innen beziehen sich auf die Protestierenden als „civil society“ (NDTV 2011c) oder „ordinary
folks“ (NDTV 2011g), eine Reporterin vor Ort sagt: „These people represent the
frustrated society, which has just had enough of corruption“ (NDTV 2011g). Immer
wieder wird betont, dass es sich hier um ‚ganz normale Bürger/innen‘, wie etwa Hausfrauen, handelt. Anna Hazare spielt als zentrale Figur eine wichtige Rolle bei der Berichterstattung im Fernsehen, so wird etwa sein Gesundheitszustand nach Ende des
Hungerstreiks bis ins Detail diskutiert. Die tugendhaften Protestierenden und die korrupte Regierung werden in dieser Version klar voneinander getrennt – die Bürger/innen
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werden hier als Opfer korrupter Praktiken, nicht aber als Teil davon betrachtet. Die Rolle der Bürger/innen, die so konstruiert wird, ist auch zu einem gewissen Grad passiv.
Die Teilhabe an der Macht, die sie sich so verschaffen, beschränkt sich letztlich darauf,
Einzelforderungen durchzusetzen.
Der Begriff der Demokratie spielt eine wichtige Rolle in den Fernsehbeiträgen
zu den Anti-Korruptionsprotesten. Die Demokratie wird hier in ein enges Verhältnis zu
dem nationalen Gemeinschaftsgefühl gesetzt – das demokratische an den Protesten ist
gerade, dass die Nation zusammensteht. Indien wird als eine Einheit begriffen und Interessenkonflikte innerhalb der Bevölkerung spielen keine wichtige Rolle. In dieser Version der Geschichte arbeiten alle Inder/innen auf das gleiche Ziel hin und es wird stillschweigend angenommen, dass sie auch alle gleichermaßen davon profitieren können.
Diese Einheitlichkeit erstreckt sich sogar über Indien hinaus, wie der Beitrag von Bollywood-Schauspieler Shahrukh Khan deutlich macht: „Everyone in the world believes
in the same cause“ (NDTV 2011f), sagt er. Demokratie gewinnt hier also dadurch, dass
das indische Volk geschlossen für seine Rechte gegenüber der Regierung eintritt. Hier
ist es auch interessant zu sehen, welche Begriffe nicht verwendet werden: In den Berichten über die Proteste gehen die Reporter/innen darauf ein, dass sich junge und alte
Menschen, Männer, Frauen und Kinder versammelt haben – mögliche andere Spaltungslinien werden nicht erwähnt. So werden etwa religiöse oder Kasten-Unterschiede
an keiner Stelle thematisiert, und auch die ‚middle class‘ kommt nur in zwei Berichten
kurz vor. Auch das Thema Korruption, das ja im Zentrum der Proteste steht, bleibt relativ abstrakt – Korruption ist hier etwas, dessen sich nur die Regierung schuldig macht.
Ihre eigene Position als Akteur/innen der öffentlichen Meinungsbildung thematisieren die Journalist/innen kaum. Die Nachrichtensprecher/innen präsentieren sich als
neutrale Berichterstatter/innen, daneben kommen als ‚Experten‘ der Schauspieler
Shahrukh Khan und ein Enkel von Mahatma Gandhi zu Wort. Nur in einer kritischen
Hintergrundreportage zur Anti-Korruptionsbewegung wird näher darauf eingegangen,
wie die Protagonist/innen der Bewegung die Medien für ihre Zwecke eingesetzt haben:
„Anna Hazare’s official propaganda machinery masterfully crafted a multimedia blitzkrieg“ (NDTV 2011i), heißt es dort. Doch auch in diesem Fall wird das Fernsehen eher
als ein Sprachrohr betrachtet und nicht so sehr als eigenständiger Akteur mit einer eigenen Agenda. Auch auf andere Medien wird nur in diesem einen Bericht und in ähnlicher
Form Bezug genommen: In der gleichen Reportage geht die Journalistin darauf ein, wie
9
die Aktivist/innen das Internet und insbesondere Social Media strategisch als Plattform
genutzt haben, um ein junges Publikum anzusprechen.
3.4 Die Proteste in der Vorstellungswelt von Kafila
Die Autor/innen von Kafila betrachten die Proteste mit größerer Skepsis und Distanz,
sowohl was ihre Form, als auch was ihre Protagonist/innen und Ziele angeht. Sie ziehen
die These der Fernsehberichte in Zweifel, dass es sich hier wirklich um die Zivilgesellschaft handle, die auf die Straße geht. In dieser Konzeption sind die Protestierenden
nicht klar von der Regierung getrennt, sondern gehören einer Allianz des Establishments an, die sich über Regierung, Medienkonzerne und privilegierte Gesellschaftsschichten erstreckt. Diese Allianz charakterisiert Aditya Sarkar als „‘India‘ of the Powerful“ (Sarkar 2011). Hier wird schon ein wesentlicher Unterschied zur Vorstellungswelt von NDTV deutlich: In der Kafila-Version ist nicht ganz Indien eins, sondern es
besteht eine Spaltung zwischen den Mächtigen und den Machtlosen.
Der Begriff der „middle class“ ist in den Artikeln auf Kafila sehr präsent. Das
Thema wird ausführlich besprochen und in jedem einzelnen Artikel wird auf die Klassen-Zusammensetzung der Protestierenden eingegangen. Die Autor/innen bewerten das
unterschiedlich: Zum Teil sehen die Blogger/innen in den Protestierenden nur einen
winzigen Ausschnitt aus der Gesellschaft, der ohnehin schon privilegiert ist und seine
Vorteile jetzt noch weiter ausbauen will. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass
die Autor/innen sich alle nicht selbst als Teil dieser gesellschaftlichen Gruppe zuordnen,
obwohl sie vermutlich fast alle selbst einer urbanen Mittelschicht angehören. Offensichtlich sehen die Autor/innen keinen Widerspruch darin, wenn sie selbst für Menschen Partei ergreifen, denen gegenüber sie privilegiert sind. Das spricht dafür, dass die
Mittelschicht für sie nicht einfach aus einem bestimmten Lebensstandard besteht, sondern auch Werte beinhaltet. Die moralische Ausrichtung der Proteste wird bei Kafila
teilweise kritisiert oder lächerlich gemacht: Die Autor/innen bezeichnen die Werte als
autoritär und Shuddhabrata Sengupta charakterisiert die Protestierenden als „thousands
of pious, earnest television supported, pranayamic middle class supporters“ (Sengupta
2011). In anderen Artikeln wird aber auch angemerkt, dass das Thema Korruption für
alle Inder/innen relevant sei und die Proteste somit auch die Chance bergen, sie mit zu
gestalten und etwas damit zu erreichen. Außerdem weist Nivedita Menon in ihrem Beitrag darauf hin, dass die Bewegung zwar vielleicht von Privilegierten initiiert wurde, es
sich inzwischen aber um eine Massenbewegung handle, die auch Arbeiter/innen und
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Dalits einschließt (Menon 2014). Die Autor/innen sind sich aber einig, dass die Bewegung nicht das ganze Volk umfasst. Und auch die Verfasser/innen, die sich den Protesten gegenüber milder zeigen, betrachten sie durchweg aus einer gewissen Distanz.
Im Gegensatz zu den Fernsehberichten ist der Begriff der Korruption selbst ein
wichtiges Thema der Debatte. Die Blogger/innen diskutieren über verschiedene Formen
von Korruption, auch solche im Alltag. Außerdem wird Korruption von „Injustice“
(Kumar 2011) abgegrenzt. Sanjay Kumar kritisiert die Anti-Korruptionsbewegung dafür, dass sie ihre Anliegen so schmal auf eine legalistische Definition von Korruption
bezieht, statt sich um weiter gefasste Ungerechtigkeit in der Gesellschaft zu kümmern.
Auch hier kommt die Mittelschicht wieder ins Spiel: Kumar vertritt die These, dass dieses Framing den Bedürfnissen der urbanen Mittelschicht entspricht, weil dadurch ihre
eigentlich privilegierte Position weniger deutlich hervortritt. Durch die differenziertere
Betrachtungsweise nehmen die Bürger/innen in dieser Version der Geschichte zumindest theoretisch eine aktivere Rolle ein – auch im Negativen: Sie können sich auch
selbst der Korruption schuldig machen und von ihnen wird erwartet, sich jenseits von
Forderungen an die Regierung mit Ungleichheitsstrukturen in der Gesellschaft auseinanderzusetzen.
Der Begriff der Demokratie spielt auch in den Blog-Beiträgen eine wichtige Rolle, allerdings wird er mit Inhalten gefüllt, die sich deutlich von denen des Fernsehens
unterscheiden. Innerhalb des Blogs wird intensiv über die Definition von Demokratie
gestritten. Als eine Voraussetzung für das Funktionieren von Demokratie betrachten die
Autor/innen den Abbau sozialer Ungleichheit: Für sie stellt es einen Widerspruch dar,
dass die Proteste in erster Linie von Privilegierten ausgehen und trotzdem dem Wohl
der ganzen Gesellschaft dienen sollen. Auch die Tatsache, dass die Regierung durch den
Hungerstreik letztlich zum Einlenken gezwungen wurde, stellt in der Vorstellungswelt
von Kafila einen Widerspruch dar: Die Demokratie kann hier nur durch eine Bewegung
gestärkt werden, die sich auch in ihren Mitteln demokratischen Werten verpflichtet.
Shuddhabrata Sengupta betrachtet es als Problem, dass der Lokpal, für den sich die Protestierenden eingesetzt haben, zu viel Macht in einer Person vereint. Außerdem weist er
auf die mangelnde demokratische Legitimation des Gremiums hin, das den Lokpal
wählt. In einer Antwort auf Sengupta zieht Aditya Nigam jedoch dessen Verständnis
von Demokratie in Zweifel – er plädiert dafür, auch eine außerparlamentarische Bewegung als Element des demokratischen Prozesses zu betrachten. Die Rolle der Proteste
für die Demokratie in Indien schätzen die Autor/innen von Kafila sehr unterschiedlich
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ein: Manche sprechen der Bewegung das Potenzial zu, viele Menschen für die Teilhabe
am Entscheidungsprozess zu gewinnen und nach neuen Beteiligungsformen zu suchen.
Andere sehen in den Protesten eher eine Gefährdung der Demokratie. Die Einheit, die
im Fernsehen so intensiv beschworen wird, ziehen die Autor/innen bei Kafila zum einen
in Zweifel, weil sie den Blick auf andere Spaltungslinien richten. Zum anderen sehen
sie in der Beschwörung von Einheit und Zusammenhalt aber auch eine Gefahr für die
Demokratie: Dort muss in ihrer Wahrnehmung immer auch Platz für Dissens, Kontroversen und Zwischentöne sein. Dieser sei nicht gegeben, wenn man nur vor die Entscheidung gestellt werde, für Anna oder für Korruption zu sein. Auch das nationale
Gemeinschaftsgefühl, das im Fernsehen so positiv bewertet wird, stößt im Blog auf
große Skepsis. Bei mehreren Beiträgen werden Assoziationen mit faschistischen Bewegungen angesichts der Mobilisierung der Massen geäußert.
Die Rolle der Medien sehen die Autor/innen von Kafila in diesem Zusammenhang sehr kritisch. Sie teilen die Medien entlang verschiedener Abgrenzungen ein, etwa
in elektronische bzw. visuelle Medien gegenüber der Presse oder Medien unter der Leitung von Konzernen gegenüber unabhängigen Medien. Angesichts der Selbstbeschreibung und der Zielsetzung des Blogs ist es wenig überraschend, dass die Autor/innen
sich selbst als außerhalb dieses Medienspektrums begreifen. Sie sehen es als Aufgabe
der Medien an, eine Plattform für Debatten zu gewährleisten und verschiedenen Meinungen Raum zu geben. Die Artikel gehen nicht explizit darauf ein, doch es hat den
Anschein, dass die Autor/innen den Blog Kafila als eine solche Plattform begreifen.
Dieses Bild von der Rolle der Medien greift mit dem Demokratie-Verständnis ineinander, nach dem eine lebendige Demokratie darauf beruht, dass alle frei ihre unterschiedlichen Meinungen äußern können. Die Berichterstattung in der Presse wird in den analysierten Beiträgen nur wenig thematisiert, doch Shuddhabrata Sengupta lobt sie für ihre
verantwortungsvolle Zurückhaltung. Für die anderen Medien finden sie weniger lobende Worte: In vielen der Artikel üben die Autor/innen scharfe Kritik vor allem an der
Art, wie das Fernsehen mit den Protesten umgegangen ist. Sie vertreten die Meinung,
dass die Berichterstattung die Proteste wahlweise unterstützt, verstärkt oder heraufbeschworen hat. Vor allem die Betonung der emotionalen Komponente bezeichnen sie
abwertend als „hysterical“ (Sengupta 2011) oder „charade“ (Kunhu 2011). Daran wird
deutlich, dass die Autor/innen bei Kafila dem Fernsehen eine deutlich größere Rolle bei
der Meinungsbildung zusprechen als das Fernsehen es selbst vermittelt.
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Die Blogger/innen bei Kafila machen ihre eigene Position viel deutlicher als die
Reporter/innen bei NDTV, einige Autor/innen ordnen sich explizit dem linken Spektrum zu. Dass sie aus einer ganz bestimmten politischen Perspektive heraus agieren,
zeigt sich auch daran, dass sie sich teilweise in ihren Artikeln einer Community zuordnen, die zu den „usual suspects“ (Nigam 2011a) bei Demonstrationen gehört. Besonders
im Artikel von Nivedita Menon wird deutlich, dass die Autorin selbst ihre politische
Meinung auf Demonstrationen zum Ausdruck bringt und dass sie sich Gedanken darüber macht, wie ‚ihre Leute‘ miteinbezogen werden können. Die Dinge, die im Blog als
selbstverständlich vorausgesetzt werden, weisen darauf hin, dass das Publikum sich
wahrscheinlich in einem ähnlichen Milieu bewegt. Um darüber Aussagen treffen zu
können, wäre aber eine genauere Analyse der Leserschaft nötig. Der Blog Kafila erscheint auf der Grundlage dieser Analyse als ein Fürsprecher der ‚Anderen‘ – die Autor/innen setzen sich dafür ein, dass Angehörigen verschiedener Klassen, Kasten und
religiösen Gruppen der gleichen Zugang zum öffentlichen Diskurs ermöglicht werden
soll.
4 Fazit und Ausblick
Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Vorstellungswelten von NDTV und Kafila sich
tatsächlich stark unterscheiden. Die beiden Medien betonen unterschiedliche Aspekte
der Proteste – während bei NDTV das nationale Gemeinschaftsgefühl im Vordergrund
steht, sehen die Autor/innen von Kafila die Ereignisse eher aus einer Perspektive gesellschaftlicher Machtstrukturen. Während bei Kafila deutlich hervorgeht, aus welcher Position geschrieben wird, verschleiert der Fernsehsender NDTV seine eigene Position
und erweckt den Anschein, neutral Bericht zu erstatten. Der Vorwurf, NDTV nehme die
Position der urbanen Mittelschicht ein, konnte hier nicht eindeutig beantwortet werden.
Gerade dadurch, dass der Fernsehsender bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht erwähnt, folgt er dem dominanten Diskurs. Allerdings wurde auch deutlich, dass der Begriff der ‚middle class‘ von verschiedenen Seiten mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen in Verbindung gebracht wird. Die Blog-Autor/innen inszenieren sich als Fürsprecher/innen derer, die in den Mainstream-Medien kaum Erwähnung finden. Sie betrachten die Macht in der Gesellschaft als ungleich verteilt und wollen bewusst ein Gegengewicht zu ‚Corporate Media‘ bilden. Dabei beziehen sie sich stark auf den Mediendiskurs im Fernsehen und in der Presse: Ein großer Teil der Artikel nahm darauf Bezug.
Dass es sich hier um zwei unterschiedliche öffentliche Sphären handelt, wird auch
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dadurch deutlich, dass Begriffe wie Demokratie zwar von beiden Seiten verwendet, bei
näherer Betrachtung aber mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen angefüllt werden.
Die bisherige Analyse bietet an verschiedenen Stellen Anschlussmöglichkeiten
für aufbauende Forschungsfragen. Um ein ganzheitliches Bild von den ‚public spheres‘
zu gewinnen, wäre es interessant, die Untersuchung noch auf weitere Blogs und Fernsehsender auszuweiten. Dadurch wären weitere Erkenntnisse darüber möglich, was an
der Berichterstattung durch Kafila speziell für Blogs gilt und welche Unterschiede zur
Fernsehberichterstattung sich daraus ergeben, dass der Blog sich als links und alternativ
begreift. Auch bei anderen Fernsehsendern und der Aufteilung in verschiedene Sendeformate könnte sich ein noch differenzierteres Bild ergeben. Die Untersuchung hat deutlich gemacht, dass selbst innerhalb eines Nachrichtensenders nur manche Formate dem
Bild einer die nationale Einheit beschwörenden Fernseh-Sphäre gerecht wurden, andere
jedoch deutlich differenzierter waren. Ebenfalls interessant wäre in diesem Zusammenhang der Blick auf Fernsehsender mit einer eher regionalen oder südindischen Perspektive. Es wäre denkbar, dass hier ein anderes Bild der nationalen Einheit entsteht. Im
Anschluss an diese Arbeit wäre es außerdem sehr interessant, das Augenmerk darauf zu
richten, wie die ‚middle class‘ von verschiedenen Seiten definiert wird. Mit einer solchen Arbeitsdefinition wäre dann eine Analyse der Positionierung verschiedener Medien möglich. Des Weiteren bietet die Presse, insbesondere ihre Interaktion mit anderen
Mediensphären, interessante Anschlussmöglichkeiten. Wie bereits oben erwähnt, spielen Zeitungen eine wichtige Rolle für die öffentliche Meinungsbildung in Indien. In den
Fernsehbeiträgen spielte die Berichterstattung in der Presse keine vordergründige Rolle,
doch die Autor/innen bei Kafila griffen an verschiedenen Stellen auf Zeitungsartikel
zurück und positionierten sich dazu. Hier finden also ein Austausch und eine ReMediatisierung statt, die sicher einen genaueren Blick lohnen. Vor allem wäre hier auch
die Frage interessant, ob die Blog-Sphäre auch auf die Presse Einfluss nimmt und Beiträge aus einflussreichen Blogs dort aufgegriffen werden. Des Weiteren wäre im Anschluss noch ein Blick darauf sinnvoll, wen die verschiedenen Medien eigentlich erreichen. Eine mögliche Hypothese wäre hier, dass ein Blog wie Kafila vor allem ein intellektuelles urbanes Publikum hat, das sich Informationen sonst vielleicht eher bei einer
kritisch ausgerichteten Zeitung als beim Fernsehen beschafft. Dass die BlogAutor/innen in den analysierten Beiträgen so intensiv auf die Berichterstattung im Fernsehen eingegangen sind, zeigt aber auch, dass Rajagopals These, das Fernsehen bilde
eine Art übergeordnete ‚public sphere‘, noch immer Gültigkeit zu besitzen scheint. Auf
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der Grundlage dieser Ausweitungen könnte dann ein zweiter Schritt sein, in Anlehnung
an Arvind Rajagopal den Blick darauf zu richten, wie sich die Berichterstattung auf die
öffentliche Meinung und auf die politischen Aktionen ausgewirkt hat.
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5 Literaturverzeichnis
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