Diesen Artikel als PDF runterladen
Transcription
Diesen Artikel als PDF runterladen
Lutz Wohlrab und Birger Jesch Feinde gibt es überall... Stasi und Mail Art in Dresden Die Diplomarbeit, die uns Anlaß gibt, diesen Beitrag zu verfassen, wurde in den Stasi-Akten von Peter Eisenfeld gefunden und Jürgen Gottschalk durch Rolf Schälike zugänglich gemacht. Sie wurde 1988 von Hauptmann Manfred Rudolph an der Hochschule des MfS in Potsdam vorgelegt und trägt den Titel: »Erfahrungen bei der Realisierung von Maßnahmen der Zersetzung zur wirksamen Bekämpfung/Zurückdrängung politischer Untergrundtätigkeit unter Einbeziehung von IM sowie staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte (dargestellt am Operativvorgang ‘Feind’ der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Abteilung XX)«. Erst nachdem wir unser Buch »Mail Art Szene DDR 1975 - 1990«1 abgeschlossen haben, sind wir auf diese geheime Diplomarbeit gestoßen. Im Buch kann man über den OV »Feind« nachlesen, in welchem die Dresdener Mail Art Gruppe mit Martina und Steffen Giersch, Joachim Stange, Jürgen Gottschalk und Birger Jesch operativ bearbeitet wurde. Daß sich aber auch Stasi-Leute anhand der Aktenlage ein zusammenfassendes Bild gemacht haben, überraschte uns zunächst. Der Text der »wissenschaftlichen Arbeit« ist jedoch im Ganzen eher phrasen-haft und langweilig. Dabei hat es uns immer viel Spaß gemacht über Mail Art zu reden und zu schreiben2. Postkarten, die von anderen versandt werden sollen, sondern visuelle Kommunikation mit vergleichsweise einfachen Mitteln, neuerdings auch per Fax und Internet. Mail Art bezog einen wesentlichen Teil seiner Spannung aus der Ost-West-Grenze. Alle Stil-, Sprach-, Kul-turund Staatsgrenzen zu überwinden, war Hoffnung und Ziel vieler Mailartisten. Es war ein schöner Gedanke, hin-ter jeder Adresse einen potentiellen Freund anzunehmen. Aber gerade das war im kontrollierten und kontrollie-renden System DDR suspekt. Die Staatssicherheit machte sich so ihre »Feinde«. Wie die Stasi die Dresdner Mail Art Gruppe »zersetzte« Der OV »Feind« der Stasi-Bezirksverwaltung Dresden wurde im Oktober 1981 eröffnet, zunächst trug der OV den Decknamen »Postkunst«. Im Februar 1981 stellte Birger Jesch sein pazifistisches Schießscheiben-Projekt »International Contact with Mail Art in the Spirit of Peaceful Coexistence« in der Dresdner Weinbergskirche aus. Jürgen Gottschalk verschickte Einladungen zu seinem Projekt »Visuelle Erotik« per Einschreiben und erhielt alle 267 Sendungen entwertet vom Postzollamt zurück. Während der 3. Dresdner Grafik-werkstatt Was ist Mail Art? Ray Johnson (1926 - 1995) gründete 1962 die New York Correspondance School of Art3 und gilt als Vater der Mail Art. Seine Schule stellte keinen wirklichen Ort dar, sondern Johnson verschickte Post mit der Aufforderung, diese zu ergänzen und dann weiter- oder zurückzuschicken. »Add and return«4 - ist noch heute ein beliebtes Kolloborationsspiel unter Mailartisten. Durch solche Kettenbriefe entstanden die ersten kleinen Networks, die beteiligten Künstler korrespondierten auch untereinander. Mail Art war wie Fluxus von Anfang an international orientiert. Es gibt einige gemeinsame und heute weltberühmte Protagonisten. Während in der Fluxus-Gruppe strenge Ausschlußkriterien galten, blieb Mail Art für jedermann offen. Robert Rehfeldt (1931 - 1993) war der erste und bekannteste Mailartist in der DDR. Hier hatte Mail Art einen besonderen Stellenwert. Sie war ein Tor zur Welt, für viele von uns das einzige. Das Medium Post ermöglichte grenzüberschreitenden Kunstverkehr und internationale Kommunikation. Mail Art kommt seit Jahren ohne feste Organisationsstrukturen aus. Ihr wesentliches Element sind die »Projekte«, d.h. die Ausschreibung verschiedener Themen im Netzwerk und die juryfreie Ausstellung (in der DDR oft in Kirchen oder in privaten Räumen) aller eingesandten Beiträge. Die meist sichtbaren Absender laden den Besucher zum Mitmachen ein. Jeder Teilnehmer erhält eine Dokumentation, mindestens die Adreßliste aller Beteiligten, was wiederum Ausgangspunkt für neue Ausschreibungen sein kann und den direkten Kontakt untereinander ermöglicht. Mail Art ist also nicht das Gestalten und Verkaufen von Jürgen Gottschalk: The German Dilemma, 1980, Siebdruck Themen 58 HORCH UND GUCK, Heft 19 (2/96) hing er ein Solidarnosc-Plakat in seiner Werkstatt auf. Das war den Funktionären zuviel. Beide waren die einzigen DDRKünstler, die sich an dem Projekt »So-lidarität mit Solidarnosc« des in die BRD übergesiedelten Ostberliner Galeristen Schweinebraden beteiligten. Im Abschlußbericht vom 1. Oktober 1984, aus dem hier zunächst zitiert werden soll, findet sich eine Zusammenfassung aller Vorgänge. Auch dieser wurde vom späteren Diplomanden Manfred Rudolph verfaßt: »Der im OV bearbeitete Gottschalk befaßte sich im Rahmen seiner Tätigkeit als Grafikdrucker überwiegend mit der Herstellung und Verbreitung von Erzeugnissen der sogenannten Mail Art (Postkunst). Die Zielstellung dieser Aktivitäten bestand nach eigenen Angaben des Gottschalk darin, mit ‘künstlerischen’ Mitteln auf bestehende Mängel und Fehler in der DDR aufmerksam zu machen, um damit eine Veränderung herbeizuführen. Seit 1979 besaß Gottschalk die Zulassung als selbständiger Grafikdrucker. Er nutzte seit diesem Zeitpunkt seine beruflichen Möglichkeiten zu einer Vielzahl von Initiativen und Aktivitäten der politischen Untergrundtätigkeit aus, die jedoch unter der Schwelle der strafrechtlichen Relevanz blieben. Gottschalk bevorzugte dabei solche Probleme wie den Pazifismus und die Ökologie. Die von ihm gefertigten Mail Art Erzeugnisse richteten sich gegen die sozialistischen Verhältnisse in der DDR, gegen die SU [Sowjetunion] und drückten Sympathien für die konterrevolutionären Ereignisse in der VR Polen aus. Auf Grund der Nichteinhaltung erteilter staatlicher Auflagen wurde ihm nach mehrfach vorangegangenen Belehrungen durch die Zentrale Gutachterkommission beim Ministerium für Kultur Ende 1983 die Zulassung als Grafikdrucker entzogen. Durch diesen selbstverschuldeten Entzug seiner Genehmigung als Grafikdrucker entzog sich Gottschalk seine materielle Existenzgrundlage. Am 2.2.1984 stellte er demonstrativ den Antrag auf Übersiedlung in die BRD. Im Zeitraum von Ende 1983 bis März 1984 stellte Gottschalk eine die staatliche Ordnung der DDR herabwürdigende Bandaufzeichnung her, in der er den staatlichen Organen der DDR unterstellte, Repressalien ausgesetzt sowie politisch und persönlich unter Druck gesetzt worden zu sein... Der Text wurde durch unser Organ bei einem Drucker5 sichergestellt. Auf Grund vorhandener und erarbeiteter Beweismittel erfolgte am 20. 3. 1984 die Inhaftierung des Gottschalk durch das MfS und die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gem. 220 StGB [Öffentliche Herabwürdigung]. Am 23. 7. 1984 wurde das Strafverfahren gegen Gottschalk abgeschlossen und eine Freiheitsstrafe von ‘ 2 Jahren und 2 Monaten’ ausgesprochen. Gottschalk hat sich erwiesenermaßen zum Initiator der Mail Art in Dresden entwickelt, und durch seine umfangreichen Aktivitäten eine hohe Anzahl von Personen mit ähnlichen politischen Interessen und Motiven zur Herstellung von Mail Art inspiriert. Neben seinen umfangreichen Kontakten innerhalb der DDR gelang es Gottschalk, Kontakte größeren Umfangs in zahlreiche NSW-Staaten [Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet] aufzubauen.... Es gelang unserem Organ in klarer und eindeutiger Weise, den zuständigen staatlichen Organen darzulegen, daß es sich bei Gottschalk um eine Person handelt, die nicht bereit ist, sich an staatliche Weisungen und Gesetze zu halten, um ausschließlich eigene Interessen durchzusetzen... Seit Inhaftierung des Gottschalk ist innerhalb seines ehemaligen Freundes- und Bekanntenkreises eine spürbare Zurückhaltung, Verunsicherung und Zersetzung feststellbar. Gleichzeitig wurde damit auch die Wohnung bzw. Werkstatt des Gottschalk6 als Treffpunkt oppositioneller und negativer Personen des politischen Untergrundes im Bereich Kunst und Kultur liquidiert. Durch eine kluge Kombination und den zielgerichteten Einsatz des IMB ‘Antonio’ gelang es unserem Organ den Gottschalk im Freundeskreis des Rolf Schälike als ‘Verräter’ darzustellen, aufgrund dessen Aussage die Inhaftierung des Schälike7 erfolgte... Die OV-Personen Stange, Jesch, Giersch und Gottschalk fielen seit 1981 zunehmend als Hersteller und Verbreiter von Mail Art Erzeugnissen mit antisozialistischer, oppositioneller und pazifistischer Aussage operativ an. Gleichzeitig trat der Giersch aktiv als Initiator und Organisator von Fahrradaktionen unter dem Thema ‘Mobil ohne Auto’ sowie sogenannten ‘Drachenfesten’ in Erscheinung. Mit derartigen Aktionen wollte Giersch seinen Protest gegen die Umweltverschmutzung in der DDR und angeblich fehlende wirksame Maßnahmen der staatlichen Organe zum Schutz der Umwelt zum Ausdruck bringen... Durch seine arrogante und sich über alles hinwegsetzende Art provozierte Giersch Zusammenstöße mit der Volkspolizei. So waren im engen Zusammenwirken mit dem MfS jeweils mehrere Einsatzfahrzeuge der DVP erforderlich, um die Teilnehmer der durch Giersch organisierten Aktionen zu zerstreuen und die Treffen aufzulösen. Um einem weiteren Vorgehen gegen seine Person durch staatliche Organe vorzubeugen, nutzte Giersch zunehmend legale Möglichkeiten der Kirche. Er stellte seine Mail Art in kirchlichen Räumen aus und verkaufte selbstgefertigte Postkarten mit pazifistischer Aussage. Eine öffentlichkeitswirksame Aktion des Giersch sowie der OV-Personen Jesch und Stange anläßlich des Kirchen-tages 1983 in Dresden wurde durch das MfS unterbunden. Durch das Vorlegen entsprechender Beweise wurde die verantwortliche Kirchenleitung gezwungen, den aufgebauten Mail Art Stand noch vor seiner Eröffnung schließen zu lassen... Obwohl es unserem Organ nicht gelang, den Giersch und dessen Ehefrau strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, ist das Ergebnis der operativen Bearbeitung, Verunsicherung und Zersetzung des Giersch sowie seines Freundeskreises, positiv zu bewerten... Abschließend ist einzuschätzen, daß die Zielstellung des Operativvorganges ‘Feind’, Schaffen von Beweisen für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit, bei der OV-Person Gottschalk realisiert werden konnte. Gleichzeitig ist es ... gelungen, die OV-Personen Giersch, Jesch und Stange anhaltend zu verunsichern und in ihrer Wirksamkeit weitestgehend zurückzudrängen. Durch geeignete operative Maßnahmen konnten eine Vielzahl von Kontakten innerhalb der DDR sowie in das NSW unterbunden werden. Durch ein gleichlaufendes Vorgehen Themen HORCH UND GUCK, Heft 19 (2/96) 59 Ein Beitrag zur weiteren Qualifizierung der operativen Arbeit In der o.g. Diplomarbeit werden die »verallgemeinerungswürdigen Erfahrungen bei der Vorbereitung und Realisierung von Maßnahmen der Zersetzung zur wirksamen Bekämpfung/Zurückdrängung politischer Untergrundtätigkeit« dargelegt. Die Einleitung unterstellt, daß »die Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus zwingen den Imperialismus, sich ... den neuen Bedingungen des Klassenkampfes anzupassen ... Er greift zu vielfältigsten subversiven Mitteln und Methoden mit dem Ziel der Aufweichung, Zersetzung und Destabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und schließlich der Beseitigung des Sozialismus in der DDR ... Der imperialistische Gegner ... konzentriert sich nach vorliegenden operativen Erkenntnissen zunehmend auf die Inspiration und Organisierung politischer Untergrundtätigkeit«. Aus diesem ideologischen Geschwafel wird wenigstens deutlich, daß die Stasi oppositionelle Kräfte im eigenen Land für westgesteuert und existenzbedrohend hielt. Interessant ist die zweifache Verwendung des Wortes »Zersetzung«, einmal als Befürchtung, das andere Mal als Ausdruck für eine Gegenwehr. Einsatz inoffizieller Kräfte Birger Jesch: KARL-MAY-STADT, überarbeitete Postkarte, 1983 Rückseite) Die Zersetzungsmaßnahmen gegen die (Vorder- und »Mitglieder des feindlich-negativen Personenzusammenschlusses« werden im ersten Kapitel der nur 37-seitigen Arbeit beschrieben. Nach eher diffusem Vorgehen wie »Einsichten wecken« und »Interessenlosig-keit hervorrufen« war der nächste Schritt schon deutlicher. Dabei kam es darauf an, »Zweifel bei den operativ in Erscheinung tretenden Personen zu schüren und hervorzurufen, ob ihre Mitwirkung ... an Aktivitäten ... die möglichen persönlichen Nachteile im Hinblick auf ihre berufliche, wissenschaftliche, familiäre Entwicklung aufwiegen«. Weiter ging es darum, »Angst bei Personen auszulösen vor ... strafrechtlichen Konsequenzen« oder »Enttäuschung zu schüren über ... den Geltungsdrang einzelner Mitglieder des Personenzusammenschlusses«. Inoffizielle Mitarbeiter waren besonders gut geeignet, diese psychologischen Grundkenntnisse in die Praxis umzusetzen. »Bei der Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen (stehen) die IM als die wichtigsten Hauptkräfte der tschekistischen Tätigkeit im Mittelpunkt.« Für den OV »Feind« wurde der IMB »Antonio«8 ausgewählt, weil er sich bereits bei der Bearbeitung von Sympathisanten der polnischen Gewerkschaftsbewegung »Solidarnosc« nützlich gemacht hatte, und die »bearbeiteten Personen sich zu diesem Zeit- Birger Jesch: Fotopostkarte, 1980 Themen 60 HORCH UND GUCK, Heft 19 (2/96) punkt ebenfalls intensiv mit der politischen Entwicklung in der Volksrepublik Polen befaßten«. »Es wurde der Umstand genutzt, daß der IM zwei Jahre zuvor bereits zufällig mit einem Mitglied des bearbeiteten Personenzusammenschlusses zusammengetroffen war... Die bearbeitete Person zeigte erwartungsgemäß großes Interesse... Der IM ... gewann allmählich das Vertrauen ... indem er ... seine angeblich verfestigte politische Einstellung gegen den real existierenden Sozialismus ... vortäuschte. Der IM wurde nach relativ kurzer Zeit zu einem unentbehrlichen ‘Partner’ für die bearbeitete Person ... und so lernte er ... nach und nach die anderen Gruppenmitglieder sowie deren operativ interessantes Umfeld kennen.« So erfuhr der IMB »Antonio« von einer weiteren Initiative aus der Dresdner Weinbergsgemeinde, die bereits wegen ihres Aufrufes für einen »Sozialen Friedensdienst«9 aufgefallen war. Im April 1982 sollte eine Kunstversteigerung zugunsten der nikaraguanischen Befreiungsbewegung veranstaltet werden. Die »durch den IMB erarbeitete Information (wurde) als Grundlage für die Einleitung bzw. Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen verwendet«. Pfarrer Wonneberger wurde zur Abteilung Kultur beim Rat der Stadt Dresden bestellt, ihm wurde die Ablehnung der Veranstaltung mitgeteilt, »da sie keinen rein religiösen Charakter trug«. Die SEDBezirksleitung sollte eine eigene »Solidaritätsauktion für Nikaragua durchführen, um die Initiative nicht der Kirche zu überlassen«. Der Landesbischof wurde zu einer Aussprache beim stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Bezirkes über »ungesetzliche Aktivitäten von Kirchen seines Verantwortungsbereiches« geladen. Den Veranstaltern wurden Ordnungsstrafverfahren durch den Rat der Stadt angedroht. Alle bildenden Künstler des Be- Plakat, 1983 zirkes Dresden wurden durch IM in Schlüsselpositionen informiert, »daß Arbeiten für Auktionen in kirchlichen Einrichtungen nur nach Vorliegen staatlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt werden dürfen«. In der Auktionsliste findet sich dann auch keiner der angeschriebenen bildenden Künstler (VBK) des Großraumes Dresden. Dieses Vorgehen wird in der Diplomarbeit als erfolgreich eingeschätzt, da »Überlegungen hinsichtlich der Eignung derartiger Veranstaltungsformen zur ... Verbreitung ‘staatlich unabhängiger Friedensinitiativen’ angestellt wurden und andererseits eine Verunsicherung eintrat, da es sich bei der Quelle höchstwahrscheinlich nur um eine gut informierte Person aus dem eigenen Verbin-dungskreis handeln könnte«. Die geplante Solidaritäts-Kunstauktion fand dennoch im April 1982 in einer überfüllten Weinbergskirche statt, auch wenn eine Veranstaltungsanzeige nicht in der Tageszeitung erscheinen durfte. »Die Notwendigkeit der Einführung eines weiteren IM ... ergab sich daraus, daß die bearbeiteten Personen verstärkt dazu übergingen, ... gleichgesinnte Personen aus anderen Bezirken der DDR ... einzubeziehen. Es wurde der IMB «Werner«10 ... ausgewählt, welcher mittels Kombination legendiert an den Pfarrer Wonneberger angeschleust werden konnte. Die Kombination basierte auf der Kenntnis dessen, daß der IM zurückliegend persönliche Beziehungen zur späteren Ehefrau des Pfarrers unterhielt und als Arzt praktizierte. Durch operative Maßnahmen war bekannt geworden, daß die Großmutter des Pfarrers infolge Krankheit daniederlag und ein Zimmer in der Wohnung des Pfarrers bewohnte.« Der IMB »Werner« bot sich als Hausarzt an, erhielt das Vertrauen Wonnebergers, ging bei ihm ein und aus. »Es gelang dem IM, operativ bedeutsame Informationen und interne Materialien zu beschaffen, auf deren Grundlage wirksame politisch-opera- Themen HORCH UND GUCK, Heft 19 (2/96) 61 den zusammen im Juli 1983 in der Wohnung dieses IM’s ausgestellt. Die zahlreich besuchte Eröffnungsveranstaltung wurde von ihm genau beschrieben. Einsatz staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte 3 Fotos aus der Dokumentation zu »Mobil ohne Auto« von Martina und Steffen Giersch, 1982 tive Zersetzungsmaßnahmen gegen den Pfarrer Wonneber-ger sowie seinen Umkreis durchgeführt werden konnten.« Der IM bot auch eigene Räumlichkeiten für Zusammenkünfte an, zu denen er sogar Einladungen drucken ließ, »wodurch gewährleistet werden konnte, daß nur ein ausgewählter Personenkreis Zutritt erhielt. Mit den vom IM dem MfS zur Verfügung gestellten Einladungen wurden geeignete inoffizielle und operative Kräfte ausgestattet.« Neben der »Einführung weiterer IM in die Bearbeitung des Operativvorganges (war auch die) konspirative Anfertigung fototechnischer sowie Tonaufnahmen feindlich-negativer Pläne und Absichten« leicht möglich. Erstaunlicherweise wird ein dritter IMB »Michael Müller«11 in der Diplomarbeit nicht erwähnt, obwohl es im OV »Feind« eine Reihe von Berichten gibt. Die Mail Art Projekte »Live without Force - Hommage á Wilhelm Reich« von Birger Jesch, »Wartekritzeleien« von Jürgen Gottschalk und »Urdeutsche Gemütlichkeit« von Joachim Stange wur- Im zweiten Kapitel der Diplomarbeit wird festgestellt, daß die geplanten Zersetzungsmaßnahmen ohne die staatlichen und gesellschaftlichen »Partner« nicht realisierbar gewesen wären. »Problemlos konnte das Zusammenwirken mit dem Erlaubniswesen der Deutschen Volkspolizei durchgeführt werden.« Als Beispiel wird das Verbot eines »Drachenfestes« auf den Dresdner Elbwiesen genannt. Auch die Fahrradaktion »Mobil ohne Auto« zum Weltumwelttag im Juni 1982 wurde behindert, aber nicht verhindert. Raffinierter war die Zusammenarbeit mit der Zollverwaltung. Weil die Mailartisten »selbstgefertigte künstlerische Arbeiten mit feindlich-negativem, pazifistischem oder die DDR diskriminierendem Inhalt an NSW-Bürger verschickten ... wurde gegen diese Personen ein Verfahren zur Verfolgung von Zoll- und Devisenvergehen eingeleitet, in deren Ergebnis für das gleiche Zollvergehen unterschiedliche Strafmaße (300,- bzw. 500,- Mark) ausgesprochen wurden. Inoffiziell konnte festgestellt werden, daß der ‘innere’ Zusammenhalt sichtlich gestört wurde«. Wie die Kooperation der Deutschen Post mit der Stasi ablief, wird in der Arbeit nicht erwähnt. Der hier abgebildete Brief des Hauptpostamtes Dresden liest sich so, als ob die Post von sich aus Sendungen, die »wegen ihrer äußeren Beschaffenheit den Grundsätzen der sozialistischen Moral zuwiderlaufen« an die Stasi weiterleitete. Der Stasi gelang es nach eigener Darstellung, Einfluß auf die Kirchenleitung in Dresden zu nehmen. »Als hoher politisch-operativer Erfolg im Rahmen der Sicherung der Dialogpolitik zwischen Partei- und Staatsführung der DDR und Evangelischen-lutherischen Landeskirche Sachsen war das Vorgehen kirchlicher Kräfte gegen einen Aktionsstand der im Operativvorgang ‘Feind’ bearbeiteten Personen in Dresden zu bewerten.« Denn das »hatte für einen längeren Zeitraum eine lähmende Wirkung auf die beteiligten Personen und führte dazu, daß zukünftige Aktivitäten kaum noch Öffentlichkeitswirksamkeit erreichten und sich ein allgemeines Mißtrauen innerhalb der bearbeiteten Personen ausbreitete.« Steffen Giersch: MOBIL OHNE AUTO. Stempel auf Fotopostkarte, 1982 Themen 62 HORCH UND GUCK, Heft 19 (2/96) Erfolgreiche Liquidierung des Operativvorganges »Feind« Antwort auf Nachforschungsauftrag, 19.8.1983 Die Stasi-Erfolgsberichte bei der »Feind«-Berührung waren genauso geschönt wie die Bilanzen der Volkswirtschaft. Der Mail Art Stand zum Kirchentag 1983 auf dem Dresdner Martin-Luther-Platz wurde keinesfalls geschlossen. Ein kirchlicher Mitarbeiter untersagte lediglich das nicht abgesprochene Anbringen von Material an die Kirchentür und den Verkauf einiger anstößiger Postkartenmotive, um das Projekt Kirchentag nicht insgesamt zu gefährden. Karim Saab, ein Mitglied der Leipziger Initiative »Hoffnung Nicaragua«, ließ sich dort von den Möglichkeiten des Mail Art Netzwerkes inspirieren, und schrieb bald darauf ein Projekt aus, dessen in den Jahren 1984 - 86 veranstaltete Wanderausstellung durch die größten Kirchen der DDR die publikumswirksamste Vorstellung von Mail Art in der DDR überhaupt gab. Tausende Besucher sahen insgesamt die Show in der Dresdner Kreuzkirche, der Leipziger Nikolaikirche, der Marienkir-che auf dem Berliner Alexanderplatz oder in Magdeburg, Schwerin, Erfurt, Halle, Leuna und Potsdam. Am Schluß der Diplomarbeit werden noch einmal die Erfolge der »Bearbeitung« zusammengefaßt. Es war gelungen, »- Verunsicherung, Mißtrauen und gegenseitige Verdächtigungen innerhalb des Personenzusammenschlusses zu erzeugen; - systematisch berufliche Mißerfolge zu organisieren; - durch Entzug staatlicherseits erteilter Genehmigungen die materielle und finanzielle Grundlage für Aktivitäten zu entziehen; - NSW-Kontakte durch Einreisesperren und Beschlagnahme von Postsendungen zu unterbinden; - solche beruflichen Bedingungen zu schaffen, die kaum Zeit für anderweitige Aktivitäten im Sinne der politischen Untergrundtätigkeit zuließen.« Die Zersetzungsmaßnahmen führten ferner dazu, »daß Mitglieder des Personenzusammenschlusses ihren Wohnsitz in anderen Bezirken der DDR nahmen, was zur örtlichen Unterbindung bzw. Einschränkung gegenseitiger Kontakte und Beziehungen beitrug«. Es wurde festgestellt, daß auch die Inhaftierung von Jürgen Gottschalk auf den Freundeskreis zersetzend wirkte. »Das politische Ansehen der DDR (wurde) nicht geschädigt, weil zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Zersetzungsmaßnahmen gegnerische Kräfte ... kaum noch Interesse an den bearbeiteten Personen erkennen ließen und ... sich distanzierten.« So treffend manche Behauptung auch sein mag, es ist nicht die ganze Geschichte. Berufliche Benachteiligungen machten mehr Zeit frei für Mail Art, und diese schon aus psychisch stabilisierenden Gründen notwendiger. Zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Übersiedlung in die BRD war Jürgen Gottschalk für uns »abgeschrieben«, denn er war nur noch auf Zeit da und trennte sich von unseren DDRBiografien. Insgesamt kam es nur zu einigen gemeinsamen Aktionen, jedoch zu einer ganzen Reihe Einzelinitiativen. Joachim Stange rief 1984 zum Projekt »Nie wieder Dresden und Hiroshima 1945« und 1986 zu »Tolerance« auf. Er wurde bis 1989 weiter operativ bearbeitet, bei ihm fanden zwei konspirative Haus-durchsuchungen statt. 1985 wurde ge- Themen HORCH UND GUCK, Heft 19 (2/96) 63 gen ihn eine Geldstrafe in Höhe eines Monatsgehaltes verhängt, weil er auf einer Postkarte das Genfer Gipfeltreffen mit »In Genf nur Senf« ironisierte. Daß daraus auch ein Strafverfahren werden konnte, erschreckt im Nachhinein. Wie er schreibt, leidet er bis heute an den Folgen der Zersetzungsmaßnahmen. Birger Jesch, dessen Umzug nach Thüringen rein private Gründe hatte, setzte sein Stempel-Projekt »Please stamp for me« fort, er initiierte »The Darkside of Your Moonfaces« 1984 und »Your favorite Pornography« 1989. Er zeigte Mail Art 1986 zur Friedensdekade in der Leipziger Lukaskirche. Eine der letzten DDR Mail Art Ausstellungen »Revolution by Demonstration in Eastern Europe« stammt von Steffen Giersch und wurde im Oktober 1990 in der Dresdner Versöhnungskirche gezeigt. In den 80er Jahren wurde die Mail Art Bewegung international und auch in der DDR immer breiter. Hier hatten sich ihr ungefähr 80 Aktive verschrieben. Die Staatssicherheit konnte abgesehen von einzelnen Ermittlungsverfahren oder »operati-ven Maßnahmen« das Phänomen Mail Art nicht mehr eindämmen. Auch in Berlin, Cottbus, Magdeburg, Greifswald, Rostock und auf Rügen fanden Mail Art Ausstellungen statt. Das Staatliche Museum Schwerin zeigt bis zum 15. September 1996 die große Ausstellung »Mail Art - Osteuropa im internationalen Netzwerk«12 und bietet erstmals eine museale Retrospektive einer Gegenkul-tur, die in Polen, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, in der Tschechoslowakei und zuletzt auch in der Sowjetunion nicht nur eine fast unübersehbare Materialfülle, sondern hervorragende (Post-)Kunst entstehen ließ. In der DDRAbteilung findet sich u.a. eine Auswahl aus dem pazifistischen Schieß-scheiben-Projekt und der »Visuellen Erotik«. Außerdem wird in Schwerin das aktuelle Mail Art Projekt »Gazetta« (204 Teilnehmer aus 40 Ländern) von Birger Jesch gezeigt. Joachim Stange am Mail Art Stand, Kirchentag 1983, Dresden 1 124 Seiten, ca. 350 Abb., Haude & Spener Berlin, 1994 - Inzwischen in Modernen Antiquariaten für 19,80 DM zu beziehen - oder direkt bei »Horch und Guck« mit Verrechnungsscheck zu bestellen. 2 Vgl.u.a. neue bildende kunst, Berlin 4/1994. 3 Die von der Orthografie-Regel abweichende Schreibweise wählte er bewußt. 4 Füge etwas hinzu und sende es zurück. 5 Lutz Wagner als IM »Walter Steinborn« drängte Jürgen Gottschalk, ihm das Manuskript des »Selbstinterviews« zu übergeben, um es an die Stasi weiterzuleiten. Er ist damit di- Birger Jesch: Collage mit Ersttagsbrief, 1983 (Vorder- und Rückseite) rekt für die nachfolgende Verhaftung Gottschalks verantwortlich zu machen. Lutz Wohlrab, Dr. med., geboren 1959 in Greifswald, Psy6 Der die Werkstatt übernehmende Roland Sowa er chotherapeut, Mail Art seit 1984, lebt in Berlin. kaufte sich als IM »Ulli« den Segen der Stasi. Birger Jesch, geboren 1953 in Dresden, Bauhandwerker, 7 Im OV »Vermittler« bearbeitet und wegen angeblicher Anstiftung zur Ausreise aus der DDR verurteilt. Mail Art seit 1979, lebt in Blankenhain. 8 Dr. Nicolaos Simundt 9 Vgl. Roland Brauckmann, Der Friede muß nicht bewaffnet sein, Horch und Guck, Heft 15, Berlin 1995, S. 27ff. 1 0 Dipl.Med. Peter Hünlich 1 1 Sören Naumann, genannt »Egon«, vgl. Anmerkung 9 1 2 Katalog, 320 Seiten, 37,- DM, Buchshop, Alter Garten 3, 19055 Schwerin Themen 64 HORCH UND GUCK, Heft 19 (2/96)