Meisterwerke aus dem Musée d`Orsay

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Meisterwerke aus dem Musée d`Orsay
Archiv
der Träume
Meisterwerke aus dem Musée d’Orsay
Ausgewählt von und interpretiert für
Werner Spies
Inhalt
6
Vorwort
GUY COGEVAL UND KLAUS ALBRECHT SCHRÖDER
9
Im Archiv der Träume
WERNER SPIES
23
Der süße Tod
LEÏLA JARBOUAI
29
Traumarchiv – Zeichnungen aus dem Musée d’Orsay:
Carte blanche für Werner Spies
31
Der Blick nach innen
61
Arbeit und zum Stillstand gekommene Zeit
75
Kunst und Literatur
105
Odilon Redon
123
Venus oder Melancholie?
137
Edgar Degas
163
Monster und Chimären
169
Gustave Moreau und Félicien Rops
189
Geschichte
215
Tod und Melancholie
235
Georges Seurat
253
Paul Cézanne
267
Die Einsamkeit und das Nichts
315
Architektenträume
327
Verzeichnis der mitwirkenden Künstler und Autoren
331
Verzeichnis der ausgestellten Werke
340
Ausgewählte Literatur
David Hockney zu Millet
Brushes Painting a Self-Portrait [Pinsel beim Malen eines Selbstporträts], 2013
36
Jean-François Millet
Jean-François Millet, Selbstbildnis, 1845/46
37
Thomas Ruff zu Corinth
neg#Lovis Corinth Selbstbildnis, 1923, 2014
54
Lovis Corinth
Lovis Corinth, Selbstbildnis, 1923
55
Martin Walser zu Segantini
Giovanni Segantini
Der Künstler als Verführer
Reisigbündelträger in einer Landschaft mit Schafen und zwei Häusern. 1891. Also ein paar
Jahre vor seinem frühen Tod. Da war er auf dem Schafberg (2700 m. ü. M.), arbeitete an
seinem Alpentriptychon. Bauchfellentzündung. Die, die ihn ins Tal bringen sollten, kamen
zu spät. Er stirbt droben.
Als ich seine Reisigbündelträger sah, wurde ich sofort zu dem Gedanken verführt: Wenn
ich ein Maler wäre, würde ich mich weigern, Bilder mit Farben zu malen. Nur was ich mit
dem Bleistift oder mit Kohle malen könnte, würde ich malen. Die Reisigbündelträger
soufflierten mir: Farben sind Betrug. Kontur ist alles. Und nichts ist reicher als das Grau.
Grau ist ansteckend. Augen öffnend. Seelennah. Grau ist eben keine Farbe, sondern ein
Zustand. Grau ist Weltgenauigkeit. Grau ist die Kündigung aller Illusionen der Farben! Es
gibt doch keinen Unterschied zwischen Rot und Blau und Gelb. Mit Recht sind die Farben
von der Werbung erobert. Die Farben sind nicht zu retten. Sobald du Farben anrührst,
aufträgst, lügst du. Malst die Schreie der Gefolterten zu. Die Reisigbündelträger zeigen,
dass die Welt eine Folter ist: Die Reisigbündelträger sind nur in Grau darstellbar. Jeder
Farbversuch wäre Schönfärberei. Wäre peinlich. Segantini hat, vielleicht wie kein anderer,
die Menschen, die er auf seine Bilder brachte, ernst genommen. Er hat sich nicht bedient
am schweren Schicksal der Gebirgsmenschen. Die Reisigbündelträger zeigen es. Sie
schleppen seine Last. Und diese Last heißt Leben. Und ich bildete mir ein: Solange er
dieses Bild schuf, hat er allen Bildern, die er je gemalt hatte, gekündigt. Es gab nur noch
die Reisigbündelschlepper. Die nicht davonkommen. Außer Schafen und niederen Behausungen ist nichts. Und dass es einen hellen Hintergrund gibt, dient nur dazu, die unter
ihrer Last Gebeugten als Gekrümmte, Sich-nie-mehr-aufrichten-Könnende zu zeigen. Die
Reisigbündelträger wurden mir zur Versuchung. Es kommt vielleicht doch darauf an, wie
dich ein Bild antrifft, in welcher Lage du selber bist. Die Reisigbündelträger entsprachen
mir sofort total. Ich wehrte mich nicht. Und diese im Augenblick der peinlichsten Krümmung festgehaltene Bewegung ist die Verführung. Der Schmerzaugenblick wird verewigt.
In Schönheit gestoppt. Ich gebe zu, der irre Blick, den Segantini in seinem Selbstbildnis
1882 gemalt hat, ging mir noch nach. Vielleicht war ich überhaupt gestimmt von der feierlichen Wucht seiner graubündischen Bauernkarren und Kühe, die immer bewacht sind von
der genau gemalten Ewigkeit der Berge. Er hat das Licht gemalt. Das Licht in großer Höhe.
Natürlich hat er, was er gemacht hat, schön gemacht. Das ist ja die Verführung, dass er das
Schwerste gezwungen hat, schön zu sein. Das ist ein Ausdruck seiner Teilnahme. Nur
dadurch wird das Schmerzliche, das ihn malen lässt, schön. Man schaue Millets Holzhackerinnen mit Reisigbündeln auf dem Heimweg an, um 1870, Öl auf Leinwand. Und es sind
Frauen, die unter Lasten gekrümmt auf uns zukommen. Ein ehrwürdiges Bild. Wer hatte
je Arbeitende gemalt! Und dann auch noch Frauen! Nichts davon bei Segantini. Zwei unter
Lasten Gekrümmte stemmen sich auf dem Abwärtshang gegen die Last, die sie, wenn sie
sich nicht dagegenstemmen würden, jetzt vornüberstürzen würde. Diesen Augenblick hat
Giovanni Segantini, Am Ende des Tagwerks, 1891
62
63
Michael Krüger zu Millet
Jean-François Millet
Kennt Ihr alle die Geschichte der Rut, aus der Zeit, als die Richter richteten? Eine bittere
Hungersnot herrschte in Bethlehem, und ein Mann, der sich Elimelech nannte, sah sich
gezwungen, mit seiner Frau Noomi und seinen beiden Söhnen, Machlon und Kiljon, in das
Land Moab zu gehen, wo sie ihr Auskommen fanden. Die Söhne heirateten Moabiterinnen,
Orpa und Rut. Als aber Elimelech und seine beiden Söhne starben, machte sich die Witwe
Noomi auf, nach Bethlehem im Lande Juda zurückzukehren. Orpa blieb, aber Rut wollte
Noomi nicht allein lassen und sprach die folgenden Sätze, die sich jedem, der einmal die
Bibel durchflogen hat, ins Herz gebrannt haben: »Wohin du gehst, dahin will auch ich
gehen, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist
mein Gott. Wo du stirbst, da will auch ich sterben, und dort will ich begraben werden. Nur
der Tod soll mich und dich scheiden.«
So kamen Noomi und Rut zurück nach Bethlehem, und es war gerade Erntezeit, die Gerste
wurde geschnitten. Rut, die Fremde, ging hinter den Schnittern her und sammelte auf,
was jenen entging. Der Besitzer des Feldes, der wohlhabende Boas, beobachtete die fleißige
Rut, wie sie Halm um Halm aufnahm und bündelte. Und Boas sagte: »Höre mir zu, meine
Tochter. Geh nicht zum Auflesen auf ein anderes Feld, geh auch nicht von hier fort. Hast
du Durst, dann geh zu den Gefäßen und trink von dem, was die Knechte schöpfen. Iss von
dem Brot und tunke deinen Bissen in den Essig.« Boas fühlte sich so angezogen von der
Moabiterin, dass er sie zur Frau nahm, und sie zeugten zusammen ein Kind, das den
Namen Obed erhielt, der wiederum der Vater des Isais wurde und der Großvater Davids.
Die Geschichte der Moabiterin Rut, die in Bethlehem Aufnahme findet und durch die
Heirat mit Boas in der Geschlechterfolge im Hause Israels einen prominenten Platz einnimmt, ist oft beschrieben und gemalt worden. Es ist eine Geschichte der selbstverständlichen Gastfreundschaft, der Achtung gegenüber dem Fremden. Die Geste des Boas auf
dem Bild von Jean-François Millet ist von überwältigender Klarheit: Setz dich zu uns, iss
und trink mit uns, es ist genug da für alle.
Man kann, mit heutigen Augen, diese Idylle der Selbstverständlichkeit nur mit innerer
Bewegung anschauen. Es muss – jenseits von Macht, Grenzen, Hautfarbe, Sprache,
Geschlecht – eine Ordnung geben, die diese Geste der Einladung möglich macht. Rut,
die Fremde, wird sich bald in den Kreis der Schnitter und Schnitterinnen setzen und ein
Teil von ihnen werden, und ihre Geschichten aus dem fernen Land Moab werden sich mit
den Geschichten aus dem Land Juda mischen zu der großen Geschichte der Menschheit.
Jean-François Millet, Erntearbeiter bei der Rast oder Rut und Boas,
Skizze zum gleichnamigen Gemälde, 1850–1853
68
69
Neo Rauch zu Schwabe
Frau am Ufer, 2013
92
Carlos Schwabe
Carlos Schwabe, Sich nach vorne neigende geflügelte Frau,
Illustrationsentwurf zu Le Rêve von Émile Zola, 1891
93
Botho Strauß zu Redon
Odilon Redon
Plötzlich war der ganze Mann verschwunden durch sein eigenes Ohr, als hätte er sich nach
innen gestülpt, und übrig von ihm blieb nur die Muschel mit haarigem Eingang und einem
fleischlich prallen Läppchen dran. Ohr nur noch der ganze Mann, und fortwährend zu
Boden gerichtet, menschtümelnd noch, das einsame Teil, und schamrot, wie es da über die
Erdkruste huschte und horchte, immer nur horchte wie eine Sonde, die den Boden nach
Münzen absucht.
Kuss der Passionierten, die den Kopf des Mannes, der ihr seit Langem vorschwebte, aus
der Luft greift und mit beiden Händen festhält: Endlich! Seit Langem mir vor Augen: du.
Aus Furcht vor dem Jähen hielt er seit je die Hände vors Gesicht. Im Akt des Entsetzens
werden die Hände ein Gesicht aus Stein bedecken.
Was bringt das Jenseits Neues? Für alle Ewigkeit das Grauen, lebendig begraben zu sein.
Denn vorbehalten für danach haben uns die Götter das unvorstellbare Entsetzen.
Bilder der Biester, Ausgeburten, Abfall verfehlter Genmontagen! Es kreischt und schabt so
schrill im weißen Kasten. Odilon-Redon-Schlangenhaupt. Gerundete Fläche, die nur aus
abgeknickten menschlichen Fingerknöcheln besteht. Im plärrenden Dialog mit einem
Armstumpf ohne Hand, über und über mit Beulen besetzt, doch die Beulen sind in Wahrheit vorgewölbte Basedowaugen, sie gehen auf und zu, ungleichzeitig, im Rhythmus der
geschrienen, gekreischten Laute.
Martine im Lande der Verwachsenen!
Was von fern wie Masken schien, waren aus der Nähe verbildete, überstrapazierte Gesichter,
schnabelhafte Oberlippen, gusseisern verschlossene Lider, aber ein zum Jubelgesang weit
aufgerissener Mund. Schöne Masken, seid erfinderisch! Werdet wieder schöne sprechende
Gesichter! Aber welche Hände sollen zu diesen überformten, vollgepackten Ausdrucksflächen gehören? Was wird aus den schweren Gesichtern, wenn ihre Träger stehen? Wie
Möbelpacker werden sie sich krümmen unter ihrer Ausdruckslast!
Ein anderer kommt, aus feinen Ritzen im Mauerwerk zieht er meterlange Damenstrümpfe.
Alle Schlafenden liegen im Gewölbe der monumentalen Riesenschläferin. Innen tief im
Mauerwerk liegt sie und streckt sich über die Etage hin, den rechten Arm im Winkel angehoben, und die schrankbreite Hand fasst sich an die Tonnenstirn. Eine Infrarotaufnahme
zeigt den Umriss ihres warmen dunstigen Körpers. Da liegt üppig die Übergroße, in Fesseln
eines Traums, Gulliver im Lande der Lilliputfrauen. Die gewaltige, uns alle schlafende Frau,
die sich am Morgen lautlos erhebt. Wie ein weiblicher Atlas trägt sie das Haus mit vielen
erleuchteten Fenstern, schleppt auf den Schultern, im Nacken die Zimmer mit Kartenspielern, schüchternen Reportern und Jünglingen, denen sie einst das Fersengeld gab.
Ein zerbrechliches Männlein, mordlüstern, ein Verwachsener auch er und dennoch erwählt unter den Steinalten zu töten, wie’s ihm gefällt. Umhergehend mit zitterndem
Dolch, zustechend in jedem Menschenauflauf, keiner wird’s ihm verwehren, tut er seine
das Gedränge lichtende Pflicht, wie es der Staat der von allen Staaten verlassenen Greise
heimlich verlangt und billigt.
Odilon Redon, Caliban auf einem Ast, 1881
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Anish Kapoor zu Redon
Ohne Titel, 2012
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Odilon Redon
Odilon Redon, Teufel, einen Kopf durch die Lüfte tragend, 1876
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Jeff Koons zu Manet
Édouard Manet
Der Badezuber war immer schon eines meiner Lieblingswerke Manets: ein Pastell, das
die Zerbrechlichkeit des Lebens einfängt, die zeitliche Bedingtheit unserer Begierden und
Ängste und das Konzept unserer Sterblichkeit. Aufgrund seiner sinnlichen Beobachtungsgabe war Manet in der Lage, ein Werk zu schaffen, das einen andauernden zeitlichen
Moment festhält. Die Badende scheint sich unaufhörlich zu waschen, einige Aspekte ihrer
Geschichte tilgend. Dies wird durch Manets dunkle Umrisslinie im Kontrast zu den
fleischfarbenen Flächen ihrer Haut, die rein und unverzagt bleiben, betont. Das Werk
arbeitet mit Polaritäten wie innen vs. außen, hier durch den Voyeurismus und das starre
Blicken symbolisiert. Die Hinwendung nach außen manifestiert sich bei der Badenden
darin, dass sie uns aus ihrer isolierten Position in der Wanne mit einem strengen Blick
zurück fixiert. Ihr Ausdruck wirkt unbeteiligt und einladend zugleich. Sie ist bereit, sich
darzubieten, wie ihr Lippenrot verrät, und ihr Armreif macht sie noch verfügbarer; in ihrer
Nacktheit hat sie zugleich etwas Verletzliches. Das Werk schärft die Sinne des Betrachters –
seine taktilen wie auditiven. All dies lässt sich allein schon dadurch erfahren, wie das
Wasser aus dem Schwamm in die Wanne tropft. Wenn wir ihre Gestalt anschauen, ist sie
anfällig für den Blick des Betrachters. In psychologischer Hinsicht durchdringen wir die
Badende vermittels des Wassers, das von ihrem Körper widerscheint, zugleich aber von den
Poren ihrer Haut absorbiert wird. Wir bekommen ein Gespür für die innere Festigkeit ihres
Leibs; sie ist eine Frau mit Erfahrung. Äußerlich gesehen, ist sie von fülligem Fleisch, und
es sieht so aus, als sei sie schon einmal niedergekommen. Ihr Körper ist sinnlich und voller
Möglichkeiten. Sie ist ein Symbol der anhaltenden Kraft der Lebensenergie. Die Umgebung
der Badenden lässt weibliche Attribute erkennen, sowohl was Kleidung als auch Gegenstände betrifft. Das Interieur einer Privatwohnung vermittelt Wärme und ein Gefühl von
Entspannung und Verheißung. Ihre Position als sich Waschende in der Wanne hat fast
etwas Sakramentales an sich, wenn man an die Form der Taufe denkt, zugleich aber auch
etwas von Selbstvergessenheit. Die Figur sucht ständig nach Erlösung, sowohl durch Reinheit als auch durch Erfahrung.
Édouard Manet, Der Badezuber, 1878/79
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Andreas Gursky zu Degas
Lehmbruck, 2013
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Edgar Degas
Edgar Degas, Drei tanzende Aktfiguren, 1895–1900
141
Luc Bondy zu Degas
Edgar Degas
Wie findet man Worte für ein geheimnisvolles Bild? Sie sitzt aufrecht am Boden und
bürstet sich das ganze volle Haar über ihren Kopf nach vorne. Man hört die Bürste oder
den Kamm in ihren Schopf gepflanzt, vielleicht in einer Haarsträhne verhakt. Man hört
es in sich drinnen wie ein Geräusch hinter einem Filmstreifen. Das ganze Wesen dieses
Mädchens ist Haar, als wäre sie auch so geboren. Fest zugehängt, als besäße sie kein
Gesicht: Die Fülle ihres Haars ist ihr eigentliches Gesicht, und die Anmut ihrer Gestalt ist verbunden mit Schmerz. Die ganze Energie der Zeichnung ist das fließende Haar
wie ein braun-rötlicher Wasserfall, der vor der linken Brust vorbeizieht und zwischen
ihre Schenkel mündet. Die Erotik des Bildes ist die Menge an Haar, das sie mit dem
linken Arm am Kopf hält, als würde sie vermeiden wollen, dass ihr ganzer Schopf abreißt.
Die Zeichnung erinnert mich an eine Erzählung von Scott Fitzgerald, in der ein Schulmädchen darunter leidet und nicht mehr schlafen kann, weil ihre Kameradin unendlich
viele und schöne Haare besitzt, während sie struppige und kurze trägt. Eines Nachts
schleicht sie sich ins Zimmer der begnadeten Lockenfreundin und schneidet ihr,
während diese schläft, alle Haare ab. Das ist so schmerzhaft wie das sich kämmende
Mädchen von Degas.
Edgar Degas, Am Boden sitzende Frau, sich kämmend, um 1896
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Peter Lindbergh zu Gauguin
Everywhere at Once [Überall gleichzeitig], 2008
220
Paul Gauguin
Paul Gauguin, Gespenstische Gestalt, Madame la Mort, 1890/91
221
Herta Müller zu Sunyer
Ohne Titel, 9. Mai 2013
230
Siri Hustvedt zu Cézanne
Bathing [Beim Baden], 2013
258
Paul Cézanne
Paul Cézanne, Grüner Krug, 1885–1887
259
David Lynch zu Degouve de Nuncques
Ohne Titel, 2013
302
William Degouve de Nuncques
William Degouve de Nuncques, Nachtstimmung im königlichen Park
von Brüssel, Alleenkreuzung, 1897
303