Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich (W. Eckel) Vorlesung im WS 2011/12 Neue Kunstformen .................................................................................................................... 3 Die Absage an die Kunst der Werke und die hergebrachte Idee des Ästhetischen ................... 4 Zur Idee der Kunst im Dienste des Lebens ............................................................................... 5 Die Avantgarden als Antwort auf den Ästhetizismus ............................................................... 6 Der erweiterte Kunst- und Poesiebegriff ................................................................................... 7 Die Idee der Verschmelzung der Kunstgattungen ..................................................................... 8 Zur Begriffsgeschichte des Terminus „Avantgarde“ ................................................................ 9 Avantgarde als Terror und Krieg ............................................................................................ 10 Wichtige Vertreter des Futurismus ......................................................................................... 11 Der Angriff auf die Institutionen der Kunst ............................................................................ 12 Die Idee der ständigen Selbstüberholung ................................................................................ 13 Die Apotheose der Technik im Futurismus............................................................................. 14 Das futuristische Ideal des Menschen: Der Mensch als Maschine ......................................... 15 Die Animierung und Erotisierung der Maschine im Futurismus ............................................ 16 Die futuristische Sensibilität (I) .............................................................................................. 17 Die futuristische Sensibilität (II) ............................................................................................. 18 Der bildnerische Dynamismus der Futuristen ......................................................................... 19 Die futuristische Idee einer Kunst der Geräusche ................................................................... 20 Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (I) ......................................................................... 21 Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (II) ....................................................................... 22 Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (III) ...................................................................... 23 Die futuristische Idee des Theaters (I) .................................................................................... 24 Die futuristische Idee des Theaters (II) ................................................................................... 25 Wichtige Vertreter des Dadaismus .......................................................................................... 26 Der chaotisch-anarchische Geist von Dada ............................................................................. 27 Die Aufwertung des Augenblicks im Dadaismus ................................................................... 28 Die Aufwertung des Zufalls im Dadaismus ............................................................................ 29 Das Wort „DADA“ ................................................................................................................. 30 Der latente Nihilismus Dadas .................................................................................................. 31 Der ,demokratische‘ Charakter Dadas: Die Integration verschiedener Stilrichtungen ........... 32 Dada als Geisteszustand .......................................................................................................... 33 Simultangedicht, Bruitistisches Gedicht ................................................................................. 34 Die Emergenz einer neuen Gattung: Die dadaistische Lautpoesie.......................................... 35 Die dadaistische Lautpoesie und die Kritik an der konventionellen Sprache ......................... 36 Die Konzeption des Lautgedichts bei Raoul Hausmann ......................................................... 37 Kurt Schwitters, ursonate (1922-32) ....................................................................................... 38 Der romantische Traum von der Musikalisierung der Sprache als Antizipation des dadaistischen Lautgedichts .................................................................................................. 39 MERZ-Dada: Kurt Schwitters ................................................................................................. 40 Kurt Schwitters. Lyrik unter dem Einfluß August Stramms ................................................... 41 Kurt Schwitters. Die Merz-Dichtung ...................................................................................... 42 Kurt Schwitters. Die Dichtung der konstruktivistischen Phase .............................................. 43 Die surrealistische Gruppe ...................................................................................................... 44 Die surrealistische Absage an Dada ........................................................................................ 45 Die Idee der praktisch werdenden Poesie im Surrealismus .................................................... 46 Die surrealistische Diagnose der Gegenwart .......................................................................... 47 Die Rolle der Imagination im Surrealismus ............................................................................ 48 Die Polemik gegen den Realismus und den (realistischen) Roman ........................................ 49 Der Begriff der „surréalité“ ..................................................................................................... 50 Der Begriff „Surrealismus“ ..................................................................................................... 51 Die automatische Schreibweise als Grenzwert ....................................................................... 52 Ein Beispiel eines automatischen Textes (Auszug) ................................................................ 53 Die surrealistische Idee des Bildes .......................................................................................... 54 Surrealismus als unkontrollierte Bildproduktion .................................................................... 55 Die surrealistische Collage und die Ästhetik des Décousu ..................................................... 56 Der surrealistische Begriff des Wunderbaren ......................................................................... 57 „Le merveilleux quotidien“: Die Idee einer modernen Mythologie........................................ 58 „Le merveilleux quotidien“: Die Nähe des Geheimnisses und das Begehren ........................ 59 Das Meer in der Großstadt ...................................................................................................... 60 Der Einbruch des Wunderbaren .............................................................................................. 61 Übergänge ins Imaginäre: Die Einheit von Realität und Fiktion ............................................ 62 Die Passage als Aufenthaltsort und Ort der Befreiuung.......................................................... 63 Der Zufall als Lebensprinzip ................................................................................................... 64 Die ,halbautomatische‘ Schreibweise von Nadja .................................................................... 65 Nadjas Selbstrepräsentation als Sirene oder Melusine ............................................................ 66 Nadja als Luftgeist .................................................................................................................. 67 Nadjas Wahnsinn..................................................................................................................... 68 2 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Neue Kunstformen Buchstabengedicht (z.B. bei Raoul Hausmann) „objet trouvé“, „ready made“ (Marcel Duchamps) „poème simultan“ „arte dei rumori“ (Luigi Russolo) Traumprotokoll „écriture automatique“ Collage, Montage (z.T. unter Verwendung von Rohmaterial aus dem Alltag wie Zeitungsschnipseln oder Abfälle) „parole in libertà“ (F.T. Marinetti) Lautgedicht (z.B. „Verse ohne Worte“ von Hugo Ball) Manifest „Aktion“: Performances, happeningartige Soiréen und Straßenaktionen mit dem Hang zum Skandal 3 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Absage an die Kunst der Werke und die hergebrachte Idee des Ästhetischen „Man muß jeden Tag den Altar der Kunst anspeien!“ (F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912) „Der Dadaismus steht zum erstenmal dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber […].“ (Dadaistisches Manifest von 1918) „Dada will gelebt sein. […] Dada ist keine Kunstrichtung.“ (Theo van Doesburg, Was ist Dada?, 1923) „Uns liegt kaum daran, Werke zu schaffen.“ (Offener Brief der Surrealisten an Paul Claudel, Zit. bei Nadeau, 94) „Ich bin kein Berufsschriftsteller und bin ohne jegliche literarische Ambitionen.“ (Tristan Tzara, Zit. bei Breton, Gespräche, 63) 4 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Zur Idee der Kunst im Dienste des Lebens Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, postum 1927: „Sich nicht in die Ästhetik abdrängen lassen. Um den Menschen geht es, nicht um die Kunst. Wenigstens nicht in erster Linie um die Kunst.“ (5. März 1916) „Man kann wohl sagen, daß uns die Kunst nicht Selbstzweck ist – dazu bedürfte es einer mehr ungebrochenen Naivität –, aber sie ist uns eine Gelegenheit zur Zeitkritik und zum wahrhaften Zeitempfinden […] So sind unsere Debatten ein brennendes, täglich flagranteres Suchen nach dem spezifischen Rhythmus, nach dem vergrabenen Gesicht dieser Zeit. Nach ihrem Grund und Wesen; nach der Möglichkeit ihres Ergriffenseins, ihrer Erweckung. Die Kunst ist dazu nur ein Anlaß, eine Methode.“ (5. April 1916) „Wir neigen dazu, das Gewissen nur noch für die Leistung, für das Werk zu haben, das Leben aber und die Person als inkurabel auf sich beruhen zu lassen. Das aber hieße den Künstler selbst zur Dekoration, zum Ornament erniedrigen. Die Menschen dürfen nicht weniger wert sein als ihre Werke.“ (19. Mai 1917) „Der kürzeste Weg zur Selbsthilfe: auf Werke zu verzichten und das eigene Dasein zum Gegenstande energischer Wiederbelebungsversuche zu machen.“ (10. November 1915) F.T. Marinetti, Al di là del comunismo/ Jenseits des Kommunismus, 1919: „Die Kunst darf kein Balsam, sie muß Alkohol sein. Kein Alkohol, der Vergessen bringt, sondern ein Alkohol, der zum Optimismus anregt, der die Jugend vergöttlicht, die Jahre der Reife verhundertfacht und das Alter wieder jung werden läßt. […] Unser Verdienst ist es, daß die Zeit kommen wird, in der das Leben nicht mehr einfach ein Leben des Brotes und der Mühe sein wird, auch kein Leben des Müßigganges, sondern in der das Leben Kunstwerk-Leben sein wird. [Grazie a noi il tempo verrà in cui la vita non sarà più semplicemente una vita di pane e di fatica, né una vita d’ozio, ma in cui la vita sarà vita-opera d’arte] / Jeder Mensch wird seinen bestmöglichen Roman leben. Die genialeren Geister werden ihr bestmögliches Gedicht leben. Es wird kein Wettlaufen mehr nach Besitz und Prestige geben. Die Menschen werden in lyrischer Inspiration, Originalität, musikalischer Eleganz, Überraschung, Fröhlichkeit und geistiger Elastizität wetteifern.“ André Breton, Manifeste du Surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924 „La poésie […] porte en elle la compensation parfaite des misères que nous endurons. Elle peut être une ordonnatrice, aussi, pour peu que sous le coup d’une déception moins intime on s’avise de la prendre au tragique. Le temps vienne où elle décrète la fin de l’argent et rompe seule le pain du ciel pour la terre! Il y aura encore des assemblées sur les places publiques, et des mouvements auxquels vous n’avez pas espéré prendre part. […] Qu’on se donne seulement la peine de pratiquer la poésie. N’est-ce pas à nous, qui déjà en vivons, de chercher à faire prévaloir ce que nous tenons pour notre plus ample informé?“ „Die Poesie […] trägt in sich den vollkommenen Ausgleich für das Elend, das wir ertragen. Sie vermag auch eine ordnende Kraft zu sein, wenn es einem, unter dem Eindruck einer weniger persönlichen Enttäuschung, einfallen sollte, sie tragisch zu nehmen. Die Zeit komme, da sie das Ende des Geldes dekretiert und allein das Brot des Himmels für die Erde bricht! Es wird noch Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen geben und Bewegungen, an denen teilzunehmen ihr nicht zu hoffen gewagt habt. […] Man gebe sich doch nur die Mühe, die Poesie zu praktizieren. Ist es nicht an uns, die wir bereits davon leben, zu versuchen, dem größere Geltung zu verschaffen, was am meisten von uns zeugt?“ 5 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Avantgarden als Antwort auf den Ästhetizismus Ästhetizismus Avantgarde L’art pour l’art. Trennung von Kunst und Leben. Die Kunst als Gegenwelt. Der Künstler als Aristokrat. Esoterik: Die Kunst als „Stimulanz des Lebens“ (Nietzsche): Mallarmé: Hérésies artistiques: L’art pour tous (1862): „L’homme peut-être démocrate, l’artiste se dédouble et doit rester aristocrate. […] Que les masses lisent la morale, mais de grâce ne leur donnez pas notre poésie à gâter.“ George, Aus den Blättern für die Kunst (1892): „Der name dieser veröffentlichung sagt schon zum teil was sie soll: der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend. Sie will die GEISTIGE KUNST auf grund der neuen fühlweise und mache – eine kunst für die kunst – und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang, sie kann sich auch nicht beschäftigen mit weltverbesserungen und allbeglückungsträumen in denen man gegenwärtig bei uns den keim zu allem neuen sieht, die ja sehr schön sein mögen aber in ein anderes gebiet gehören als das der dichtung.“ „Einfach liegt was wir teils erstrebten teils verewigten: eine kunst frei von jedem dienst: über dem leben nachdem sie das leben durchdrungen hat: die nach dem Zarathustraweisen zur höchsten aufgabe des lebens werden kann […].“ Hofmannsthal, Poesie und Leben (1896): „Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens. Kein äußerliches Gesetz verbannt aus der Kunst alles Vernünfteln, alles Hadern mit dem Leben, jeden unmittelbaren Bezug auf das Leben und jede direkte Nachahmung des Lebens, sondern die einfache Unmöglichkeit: diese schweren Dinge können dort ebenso wenig leben als eine Kuh in den Wipfeln der Bäume.“ Marinetti, Al di là del comunismo (1919): „Die Kunst darf kein Balsam, sie muß Alkohol sein. Kein Alkohol, der Vergessen bringt, sondern ein Alkohol, der zum Optimismus anregt, der die Jugend vergöttlicht, die Jahre der Reife verhundertfacht und das Alter wieder jung werden läßt.“ Die Kunst ins Leben bringen: Raoul Hausmann, Dada empört sich, im Rückblick 1970: „Aktion, Aktion, vorbei die Zeit der Dichtung auf geschwärztem Papier, diese individuelle Eitelkeit. […] Der Ober-DADA [Johannes Baader] und ich tragen die Literatur und die Poesie auf die Straße, im wahren Sinne des Wortes.“ (DB 5f.) Das Leben in die Kunst bringen: F.T. Marinetti: „Der Futurismus will auf brutale Weise das Leben in die Kunst einführen.“ (Zit. nach SB 58) Das Dadaistische Manifest von 1918 fordert eine „Kunst […], die uns die Essenz des Lebens ins Fleisch brennt“ (RH 31). „Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt […] in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. […] Der Dadaismus steht zum erstenmal [?] dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber“ (RH 32). Die Entdeckung der Poesie im Leben: Tzara, Essai sur la situation de la poésie (1931) „Es gilt das Mißverständnis aufzudecken, das glaubt, die Poesie in der Rubrik der Ausdrucksmittel klassifizieren zu können. […] Es besteht Anlaß, dieser veralteten Konzeption die PoesieAktivität des Geistes gegenüberzustellen. […] Heute wird zugestanden, daß einer Dichter sein kann, ohne je einen Vers geschrieben zu haben, daß eine poetische Qualität auf der Straße, in einem Spektakel, egal wo existiert. Die Verwirrung selbst wird ,poetisch‘ genannt, und Proust kam auf die geniale Idee, sie sogar in den Pißbuden zu finden.“ 6 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der erweiterte Kunst- und Poesiebegriff Raoul Hausmann, Dada empört sich, regt sich und stirbt in Berlin, Rückblick 1970: „Aktion, Aktion, vorbei die Zeit der Dichtung auf geschwärztem Papier, diese individuelle Eitelkeit. Und die Kunst in alledem? Achtung, auch sie wird aktiv. Vorbei mit der Ästhetik; ich kenne keine Regeln mehr, weder des ,Wahren‘ noch des ,Schönen‘ […] Der Ober-DADA [Johannes Baader] und ich tragen die Literatur und die Poesie auf die Straße, im wahren Sinne des Wortes.“ Tristan Tzara, Essai sur la situation de la poésie/ Versuch über die Lage der Poesie, 1931: „Il s’agit de dénoncer le malentendu qui prétendait classer la poésie sous la rubrique des moyens d’expression. La production poétique qui ne se distingue des romans et des autres genres littéraires que par sa forme extérieure, la poésie qui exprime uniquement soit des idées soit des sentiments, ne saurait plus définir la poésie à son stade actuel. A cette conception périmée il y a lieu d’opposer la poésie-activité de l’esprit. […] Il est parfaitement admis aujourd’hui qu’on peut être poète sans jamais avoir écrit un vers, qu’il existe une qualité de poésie dans la rue, dans un spectacle, n’importe où. La confusion elle-même est appelée ,poétique‘ et Proust s’était ingénié à la trouver jusque dans les pissotières.“ „Es gilt das Mißverständnis aufzudecken, das glaubt, die Poesie in der Rubrik der Ausdrucksmittel klassifizieren zu können. Die poetische Produktion, die sich nur durch ihre äußere Form von den Romanen und anderen literarischen Gattungen unterscheidet, die Poesie, die allein entweder Ideen oder Gefühle ausdrückt, vermag die Poesie auf ihrem aktuellen Entwicklungsstand nicht mehr zu definieren. Es besteht Anlaß, dieser veralteten Konzeption die PoesieAktivität des Geistes gegenüberzustellen. […] Heute wird zugestanden, daß einer Dichter sein kann, ohne je einen Vers geschrieben zu haben, daß eine poetische Qualität auf der Straße, in einem Spektakel, egal wo existiert. Die Verwirrung selbst wird ,poetisch‘ genannt, und Proust kam auf die geniale Idee, sie sogar in den Pißbuden zu finden.“ Dadaistisches Manifest, 1918: „Dada ist eine Geistesart […]. Dadaist sein kann unter Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein – nur zufällig Künstler sein“ 7 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Idee der Verschmelzung der Kunstgattungen Umberto Boccioni, Die futuristische Bildhauerkunst, 1912: „Keine Angst ist dümmer als die, die uns fürchten läßt, die Kunstgattungen, die wir ausüben, zu überschreiten. Es gibt nicht Malerei, Plastik, Musik, Dichtung. Es gibt nur Schöpfung! […] Wir behaupten, daß auch zwanzig verschiedene Materialien in einem einzigen Werk zur Erreichung der bildnerischen Emotionen verwendet werden können. Wir zählen nur einige davon auf: Glas, Holz, Pappe, Eisen, Zement, Roßhaar, Leder, Stoff, Spiegel, elektrisches Licht usw. usw.“ ne […]. Die Merzbühne kennt nur die Verschmelzung aller Faktoren zum Gesamtwerk.“ (5, 79). Kurt Schwitters, 1920/21 „Die Merz-Bühne strebt fort von der Kunstgattung zur Verschmelzung im Gesamtkunstwerk. Mein letztes Streben ist die Vereinigung von Kunst und Nichtkunst zum MerzGesamtweltbilde.“ (5, 84) Kurt Schwitters, Merz, 1920 „Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunst, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen. Das Merzgesamtkunstwerk aber ist die Merzbüh- Kurt Schwitters, Merzbau, 1933 8 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Zur Begriffsgeschichte des Terminus „Avantgarde“ Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 1832: „Jede Truppe, welche nicht vollkommen schlachtfertig ist, bedarf einer Vorhut, um des Feindes Anrücken zu erfahren und zu erforschen, bevor sie ihn selbst ansichtig wird, denn der Gesichtskreis reicht in der Regel nicht viel weiter als der Wirkungskreis der Waffen. Was aber wäre ein Mensch, dessen Augen nicht weiter reichten als seine Arme? Die Vorposten sind die Augen des Heeres […]. Ist die Truppe in Bewegung, so bildet ein mehr oder weniger starker Haufe ihre […] Avantgarde, welche, im Fall die Bewegung rückwärts geschieht, zur Arrièregarde wird.“ Olinde Rodrigues, L’artiste, le savant et l’industriel, 1825: „C’est nous, artistes, qui vous servirons d’avant-garde; la puissance des arts est en effet la plus immédiate et la plus rapide. Nous avons des armes de toute espèce: quand nous voulons répandre des idées neuves parmi les hommes, nous les inscrivons sur le marbre ou sur la toile; nous les popularisons par la poésie et le chant; nous employons tour à tour la lyre ou le galoubet, l’ode ou la chanson, l’histoire ou le roman; la scène dramatique nous est ouverte, et c’est là surtout que nous exerçons une influence électrique et victorieuse. Nous nous adressons à l’imagination et aux sentiments de l’homme […].“ „Wir sind es, die Künstler, die euch als Avantgarde diesen werden. Die Gewalt der Künste ist tatsächlich am unmittelbarsten und schnellsten. Wir haben Waffen aller Art. Wenn wir neue Ideen unter den Menschen verbreiten wollen, schreiben wir sie auf Marmor oder auf Leinwand. Wir bringen sie unter das Volk durch Poesie und Gesang. Wir greifen zur Leier oder zur Flöte, zur Ode oder zum Lied, zur Geschichte oder zum Roman. Die dramatische Szene steht uns offen, und gerade dort üben wir einen zündenden und erfolgreichen Einfluß aus. Wir sprechen die Einbildungskraft und die Gefühle des Menschen an […].“ F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo/ Gründung und Manifest des Futurismus, 1909: „Avevamo vegliato tutta la notte – i miei amici ed io – […]. Un immenso orgoglio gonfiava i nostri petti, poiché ci sentivamo soli, in quell’ora, ad esser desti e ritti, come fari superbi o come sentinelle avanzate, di fronte all’esercito delle stelle nemiche, occhieggianti dai loro celesti accampamenti.“ „Wir haben die ganze Nacht gewacht – meine Freunde und ich – […]. Ein ungeheurer Stolz schwellte unsere Brust, denn wir fühlten, in dieser Stunde die einzigen Wachen und Aufrechten zu sein, wie stolze Leuchttürme oder vorgeschobene Wachtposten vor dem Heer der feindlichen Sterne, die aus ihren himmlischen Feldlagern herunterblickten.“ Theo van Doesburg schreibt 1921 in einer Heerschau der Ismen, daß „Avant-garde de collectieve benaming voor alle revolutionaire kunstenaarsgroepen“ sei. 9 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Avantgarde als Terror und Krieg F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo/ Gründung und Manifest des Futurismus, 1909: „Non v’è più bellezza, se non nella lotta. Nessuna opera che non abbia un carattere aggressivo può essere un capolavoro.“ „Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein.“ (7. These) „Noi vogliamo glorificare la guerra – sola igiene del mondo – il militarismo, il patriottismo, il gesto distruttore dei libertarî, le belle idee per cui si muore e il disprezzo della donna.“ „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ (9. These) F.T. Marinetti, Uccidiamo il Chiaro di Luna!/ Tod dem Mondenschein!, 1909: „La guerra?… Ebbene, sì: essa è la nostra unica speranza, la nostra ragione di vivere, la nostra sola volontà!… Sì, la guerra! Contro di voi, che morite troppo lentamente, e contro tutti i morti che ingombrano le nostre strade!…“ „Krieg? Gewiß!… Unsere einzige Hoffnung, unsere Existenzberechtigung und unser Wille… Ja, der Krieg! Gegen euch, die ihr zu langsam sterbt, und gegen alle Toten, die unseren Weg versperren!…“ Raoul Hausmann, Dada ist mehr als Dada, 1921 „Dada ist die Faust aufs Auge und der Tritt in den verlängerten Rücken […].“ André Breton, Second manifeste du surréalisme/ Zweites Manifest des Surrealismus, 1930: Es gelte zu begreifen, „que le surréalisme n’ait pas craint de se faire un dogme de la révolte absolue, de l’insoumission totale, du sabotage en règle, et qu’il n’attende encore rien que de la violence. L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“ „[…], daß der Surrealismus vor einem Dogma der absoluten Revolte, der totalen Unbotmäßigkeit, der obligatorischen Sabotage nicht zurückgeschreckt ist und daß er sich einzig von der Gewalt etwas verspricht. Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings solange wie möglich in die Menge zu schießen.“ 10 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Wichtige Vertreter des Futurismus Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), Dichter und Theoretiker Umberto Boccioni (1882-1916), Maler, Bildhauer und Theoretiker Antonio Sant’Elia (1888-1916), Architekt Paolo Buzzi (1874-1956), Dichter Libero Altomare (1883-1962), Dichter Luciano Folgore (1888-1966), Dichter Giacomo Balla (1871-1958), Maler Enrico Prampolini (1894-1956), Maler Gino Severini (1883-1966), Maler Carlo Carrà (1881-1966), Maler und Theoretiker Fortunato Depèro (1892-1960), Maler, Bühnenbildner, Kostümzeichner Luigi Russolo (1885-1947), Komponist und Maler, Erfinder der Geräuschkunst Francesco Pratella (1880-1955), Musiker Anton Giulio Bragaglia (1890-1960), Erfinder des Fotodynamismus Russolo, Carra, Marinetti, Boccioni, Severini 1910 11 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der Angriff auf die Institutionen der Kunst führt. Warum will man sich vergiften? Warum will man verfaulen? Und was kann man auf einem alten Bilde schon anderes sehen als die mühseligen Verrenkungen des Künstlers, der sich abmühte, die unüberwindbaren Schranken zu durchbrechen, die sich seinem Wunsch entgegenstellen, seinen Traum voll und ganz zu verwirklichen?… Ein altes Bild bewundern, heißt unsere Sensibilität in eine Aschenurne schütten, anstatt sie weit und kräftig ausstrahlen zu lassen in Schöpfung und Tat. Tato, Futuristisches Porträt Marinettis, 1930 F.T. Marinetti, Gründung und Manifest des Futurismus (1909): „Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den ,Futurismus‘ gründen, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien. Schon zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe über und über bedecken. Museen: Friedhöfe!… Wahrlich identisch in dem unheilvollen Durcheinander von vielen Körpern, die einander nicht kennen. Museen: öffentliche Schlafsäle, in denen man für immer neben verhaßten oder unbekannten Wesen schläft! Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und Bildhauer, die sich gegenseitig wild mit Farben und Linien entlang der umkämpften Ausstellungswände abschlachten! Einmal im Jahr mögt ihr dahin pilgern, wie man zu Allerseelen auf den Friedhof geht… das gestatte ich euch. Einmal im Jahr mögt ihr einen Blumenstrauß vor der Mona Lisa niederlegen, …das gestatte ich euch… Aber ich lasse nicht zu, daß man täglich in den Museen unser kümmerliches Dasein, unseren gebrechlichen Mut und unsere krankhafte Unruhe spazieren- Wollt ihr denn eure besten Kräfte in dieser ewigen und unnützen Bewunderung der Vergangenheit vergeuden, aus der ihr schließlich erschöpft, ärmer und geschlagen hervorgehen werdet? Wahrlich, ich erkläre euch, daß der tägliche Besuch von Museen, Bibliotheken und Akademien (diesen Friedhöfen vergeblicher Anstrengungen, diesen Kalvarienbergen gekreuzigter Träume, diesen Registern gebrochenen Schwunges) für die Künstler ebenso schädlich ist wie eine zu lange Vormundschaft für manche Jünglinge, die ihr Genie und ihr ehrgeiziger Wille trunken machen. Für die Sterbenden, für die Kranken, für die Gefangenen mag das angehen: – die bewunderungswürdige Vergangenheit ist vielleicht ein Balsam für ihre Leiden, da ihnen die Zukunft versperrt ist… Aber wir wollen von der Vergangenheit nichts wissen, wir jungen und starken Futuristen! Mögen also die lustigen Brandstifter mit ihren verkohlten Fingern kommen! Hier! Da sind sie!… Drauf! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken!… Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen!… Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen!… Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!“ (Übersetzung: Jean-Jacques = Hans Jakob, erster deutscher Marinetti-Übersetzer) 12 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Idee der ständigen Selbstüberholung F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo/ Gründung und Manifest des Futurismus, 1909: „I più anziani fra noi, hanno trent’anni: ci rimane dunque almeno un decennio, per compier l’opera nostra. Quando avremo quarant’anni, altri uomini più giovani e più validi di noi, ci gettino pure nel cestino, come manoscritti inutili. – Noi lo desideriamo! Verranno contro di noi, i nostri successori; verranno di lontano, da ogni parte, danzando su la cadenza alata dei loro primi canti, protendendo dita adunche de predatori, il buon odore delle nostre menti in putrefazione, già promesse alle catacombe delle biblioteche. Ma noi non saremo là… Essi ci troveranno alfine – una notte d’inverno – in aperta campagna, sotto una triste tettoia tamburellata da una pioggia monotona, e ci vedranno accoccolati accanto ai nostri aeroplani trepidanti e nell’atto di scaldarci le mani al fuocherello meschino che daranno i nostri libri d’oggi fiammeggiando sotto il volo delle nostre immagini.“ „Die Ältesten von uns sind jetzt dreißig Jahre alt: es bleibt uns also mindestens ein Jahrzehnt, um unser Werk zu vollbringen. Wenn wir vierzig sind, mögen andere, jüngere und tüchtigere Männer uns ruhig wie nutzlose Manuskripte in den Papierkorb werfen. Wir wünschen es so! Unsere Nachfolger werden uns entgegentreten; von weither werden sie kommen, von allen Seiten, sie werden auf dem beflügelten Rhythmus ihrer ersten Gesänge tanzen, ihre gebogenen Raubtierkrallen werden sie ausstrecken und an den Türen der Akademien werden sie wie Hunde den guten Geruch unseres verwesenden Geistes wittern, der bereits den Katakomben der Bibliotheken geweiht ist. Aber wir werden nicht da sein!… Sie werden uns schließlich finden – in einer Winternacht – auf offenem Feld, unter einem traurigen Hangar, auf den ein eintöniger Regen trommelt, sie werden uns neben unseren Flugzeugen hocken sehen, zitternd und bemüht, uns an dem kümmerlichen kleinen Feuer zu wärmen, das unsere Bücher von heute geben, die unter dem Flug unserer Bilder auflodern.“ (Übersetzung: Jean-Jacques) Walter Conrad Arensberg, DADA is American, 1920: „A true work of DADA shouldn’t live more than six hours.“ Vgl. dagegen Ovid am Ende seiner Metamorphosen, ca. 8 n. Chr.: „Habe vollbracht nun ein Werk, das nicht Juppiters Zorn, das nicht Schwert noch / Feuer wird können zerstören und nicht das gefräßige Alter. / Setze der Tag, dem nur ein Recht auf den Leib hier gegeben, / Wann er nur mag ein Ziel meinem flüchtigen Dasein: ich werde / Doch mit dem besseren Teil meines Selbst mich über die Sterne / Heben auf ewig und unzerstörbar wird bleiben mein Name.“ (Übersetzung: Erich Rösch) 13 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Apotheose der Technik im Futurismus F.T. Marinetti, Das futuristische Italien: „Oh! wie beneide ich die Menschen, die in hundert Jahren auf meiner schönen Halbinsel geboren werden, die durch die neuen elektrischen Kräfte völlig neubelebt, in Bewegung versetzt und aufgezäumt ist!… Da, entlang der ganzen Küste erscheint uns das grüne Meer, das nichts mehr von der Muße und Trägheit einer bewunderten, verzehrenden und treulosen Kurtisane hat und endlich gezähmt, tätig und produktiv ist. Das weite grüne Meer, das die Dichter so törichterweise angebetet haben, arbeitet überall, mit all seinen flinken und wütenden Stürmen, im emsigen Reigen zahlloser Eisenflöße, die zwei Millionen von Dynamos betreiben, die auf dem Strand und in den tausend arbeitsamen Golfen aufgestellt sind. Durch ein Netz von Metallkabeln steigt die vereinte Kraft des Mittelmeeres und der Adria bis zu den Gipfeln des Apennin empor, um sich in großen Käfigen aus Eisen und Kristall zu konzentrieren, furchtbare Akkumulatoren, enorme Kraftzentren, die in Abständen auf dem gebirgigen Rückgrat Italiens aufgestellt sind. Durch die Muskeln, Arterien und Nerven der Halbinsel verbreiten sich die Energien ferner Winde und die Revolten des Meeres, die das Genie des Menschen in mehrere Millionen Kilowatt verwandelt hat, überall hin, ohne Leitungen, mit einer befruchtenden Fülle, die die von Ingenieuren bedienten Tastaturen regulieren. Diese Ingenieure leben in Hochspannungskammern, in denen 100 000 Volt zwischen den großen Glastüren vibrieren. Sie sitzen vor Verteilertischen, rechts und links Zähler, Steuer- und Schaltapparate, und überall der mächtige Blitz glänzender Kurbeln. […] Von der Höhe ihrer Eindecker lenken sie durch drahtlose Telephone den blitzschnellen Lauf der Saat-Züge, die zwei- oder dreimal im Jahr die Ebenen zum frenetischen Säen durchque- ren. Jeder Waggon trägt auf seinem Dach einen riesigen Eisenarm, der sich horizontal dreht und dabei rundherum Saatkorn ausstreut. Und die Elektrizität sorgt auch für ein beschleunigtes Aufgehen der Saat. Die gesamte in der Luft enthaltene Elektrizität, die gesamte unberechenbare Elektrizität des Erdinnern wird endlich nutzbar gemacht. Die unzähligen Blitzableiter und Dynamo-Fang-Masten, die in endloser Reihe in Gemüsekulturen und Gärten stehen, kitzeln mit ihren Spitzen den aufgeblähten und stürmischen Bauch der Wolken, damit sie ihre stimulierenden Kräfte bis zu den Wurzeln der Pflanzen fließen lassen können… Die Erde gibt endlich ihren ganzen Ertrag. […] Hunger und Armut verschwinden. Die bittere soziale Frage ist abgeschafft.“ Altomare, Boccioni, Bonzagni u.a., Manifest gegen das passatistische Venedig, 1910: „Wir lehnen das alte, von jahrhundertelanger Wollust erschöpfte und verblühte Venedig ab, obwohl auch wir es einst in einem nostalgischen Traum liebten und besaßen. […] / Wir wollen die Geburt eines industriellen und militärischen Venedig vorbereiten, das in der Lage ist, die Adria, das kleine italienische Binnenmeer, zu beherrschen. / Beeilen wir uns, die kleinen stinkenden Kanäle mit dem Schutt der alten fallenden Paläste zuzuschütten. / Verbrennen wir die Gondeln, Schaukelstühle für Dummköpfe, und errichten wir bis zum Himmel die imposante Geometrie der Metallbrücken und der rauchgekrönten Fabriken, um die erschlafften Kurven der alten Bauten abzuschaffen. / Es komme endlich das Reich des göttlichen elektrischen Lichtes, um Venedig von seinem käuflichen Mondschein der möblierten Zimmer zu befreien.“ 14 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Das futuristische Ideal des Menschen: Der Mensch als Maschine F.T. Marinetti, Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine: „Es gilt daher, die unmittelbar bevorstehende Identifikation des Menschen mit der Maschine vorzubereiten, indem man einen ununterbrochenen Austausch von Intuition, Rhythmus, Instinkt und metallischer Disziplin erleichtert und vollendet, wovon die Mehrheit noch keinerlei Begriff hat und nur die erleuchtetsten Köpfe etwas ahnen. / Akzeptiert man Lamarcks transformistische Hypothese, so wird man sicher anerkennen, daß wir die Schaffung eines ahumanen Typus anstreben. Gewissenspein, Güte, Gefühl und Liebe stellen nichts als zerfressende Gifte der unerschöpflichen vitalen Energie dar, bloße Barrieren für den Fluß unserer mächtigen physiologischen Elektrizität. Sie werden eliminiert werden. / Wir glauben an die Möglichkeit einer unabsehbaren Zahl menschlicher Verwandlungen und erklären in vollem Ernst, daß im Fleisch des Menschen Flügel schlafen. / Wenn es dem Menschen möglich sein wird, seinen Willen in der Weise Gestalt annehmen zu lassen, daß er sich außerhalb seiner wie zu einem immensen, unsichtbaren Arm verlängere, werden Traum und Begehren, heute nichts als leere Worte, souverän über den gebändigten Raum und die gezähmte Zeit herrschen. / Der für eine allgegenwärtige Geschwindigkeit geschaffene a-humane und mechanische Typus wird natürlich grausam, allgegenwärtig und kampfbereit sein. / Er wird mit Organen ausgestattet sein, angepaßt an die Erfordernisse seiner Umwelt voller unablässiger Erschütterungen. […] Wie ihr des weiteren mit Leichtigkeit feststellen könnt, stößt man heute ohne Zweifel immer häufiger auf einfache Leute aus dem Volk, die zwar über keinerlei Kultur verfügen, denen aber dessen ungeachtet das gegeben ist, was ich die große mechanische Vergöttlichung oder den metallischen Sinn nenne. / Und zwar deshalb, weil diesen Arbeitern ihre Erziehung bereits durch die Maschine zuteil wird und sie sich auf irgend eine Weise den Motoren anverwandeln. / Obschon das Bedürfnis nach Gefühl in den Adern des Menschen noch nicht zerstörbar ist, muß man es unbedingt verringern, will man die Bildung des a-humanen, mechanischen, durch die Veräußerlichung seines Willens potenzierten Menschen vorbereiten. […] Man begegnet heute Menschen, die in schöner, stahlfarbener Stimmung beinahe ohne Liebe durchs Leben schreiten. Sorgen wir dafür, daß die Zahl dieser exemplarischen Menschen stetig zunehme. Anstatt abends eine süße Geliebte aufzusuchen, lieben es diese energischen Wesen, morgens mit liebender Sorgfalt dem perfekten Betriebsbeginn in ihrer Werkstatt beizuwohnen.“ F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912: „Wir werden die scheinbar unbeugsame Feindschaft besiegen, die unser menschliches Fleisch vom Metall der Motoren trennt. / Nach dem Reich der Lebewesen beginnt das Reich der Maschinen. Durch Kenntnis und Freundschaft der Materie, von der die Naturwissenschaftler nur die physikalisch-chemischen Reaktionen kennen können, bereiten wir die Schöpfung des MECHANISCHEN MENSCHEN MIT ERSATZTEILEN vor. Wir werden ihn vom Todesgedanken befreien, und folglich auch vom Tode, dieser höchsten Definition logischer Intelligenz.“ Enrico Prampolini, Ivo Pannaggi, Vinicio Paladini, Die mechanische Kunst, 1922: „WIR FÜHLEN WIE MASCHINEN, WIR FÜHLEN UNS AUS STAHL ERBAUT, AUCH WIR MASCHINEN, AUCH WIR MECHANISIERT!“ 15 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Animierung und Erotisierung der Maschine im Futurismus F.T. Marinetti, Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine: „Deshalb entwickeln und verkünden wir eine neue große Idee aus dem zeitgenössischen Leben: die Idee der mechanischen Schönheit; und daher preisen wir die Liebe zur Maschine, wie wir sie auf den versengten und rußgeschwärzten Wangen der Mechaniker aufflammen sahen. Habt ihr nie einen Lokomotivführer beobachtet, wie er liebevoll den großen und mächtigen Körper seiner Lokomotive wäscht? Es sind die präzisen und wissenden Zärtlichkeiten eines Liebhabers, der die angebetete Frau liebkost. / Beim großen Streik der französischen Bahnarbeiter war festzustellen, daß die Organisatoren dieser Sabotage sich vergeblich mühten, auch nur einen Lokomotivführer zur Beschädigung seiner Lokomotive zu bewegen. / Mir scheint dies absolut natürlich. Wie hätte einer dieser Männer seine treue und ergebene Freundin mit ihrem glühenden und hingebungsvollen Herzen verletzen können? Seine schöne, stählerne Maschine, die so oft vor Wonne unter seiner einölenden Zärtlichkeit glänzte? / […] Ihr werdet sicher schon Betrachtungen der Art vernommen haben, in denen sich für gewöhnlich Besitzer von Automobilen und Leiter von Werkstätten zu ergehen pflegen: ,Die Motoren‘, sagen sie, ,sind wirklich geheimnisvoll… Sie haben ihre Launen, unerwartete Grillen. Es scheint so, als hätten sie eine Persönlichkeit, eine Seele, einen Willen. Man muß sie streicheln und mit Respekt behandeln, niemals schlecht; und nie darf man sie zu sehr ermüden. Wenn ihr es so macht, wird diese Maschine aus Gußeisen und Stahl, wird diese nach präzisen Angaben konstruierte Motor euch nicht nur seine ganze Leistung schenken, sondern die doppelte und dreifache, viel mehr und viel besser als nach den Berechnungen des Konstrukteurs – seines Vaters! – zu erwarten stand.‘ Nun – für mich bergen diese Sätze eine tiefe, offenbarende Bedeutung. Sie kündigen mir die baldige Entdeckung der Gesetze einer wirklichen Sensibilität der Maschinen an!“ 16 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die futuristische Sensibilität (I) F.T. Marinetti, Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte, 1913: „Der Futurismus beruht auf einer vollständigen Erneuerung der menschlichen Sensibilität, die eine Folge der großen wissenschaftlichen Entdeckungen ist. Wer heute den Fernschreiber, das Telephon, das Grammophon, den Zug, das Fahrrad, das Motorrad, das Auto, den Überseedampfer, den Zeppelin, das Flugzeug, das Kino, die große Tageszeitung (Synthese eines Tages der Welt) benutzt, denkt nicht daran, daß diese verschiedenen Arten der Kommunikation, des Transportes und der Information auf seine Psyche einen entscheidenden Einfluß ausüben. / Jeder Mensch kann sich mit einer vierundzwanzigstündigen Fahrt im Zug von einer kleinen, toten Stadt mit verlassenen Plätzen, auf denen sich die Sonne, der Staub und der Wind still vergnügen, in eine große Metropole versetzen, die vor Licht, Gebärden und Geschrei starrt… Der Bewohner eines Alpendorfes kann durch eine Zeitung jeden Tag angsterfüllt um die Aufständischen in China, die Suffragetten in London und in New York, um Dr. Carrel und die heroischen Schlitten der Polarforscher bangen. Der ängstliche und unbewegliche Einwohner jeder beliebigen Provinzstadt kann sich den Rausch der Gefahr leisten, wenn er im Kino einer Großwildjagd im Kongo beiwohnt. Er kann japanische Athleten, schwarze Boxer, Amerikaner von unerschöpflicher Exzentrik und hochelegante Pariserinnen bewundern, wenn er eine Mark für das Varieté ausgibt. Wenn er dann zu Hause in seinem Bett liegt, kann er die ferne und teure Stimme eines Caruso oder einer Burzio genießen. / Diese heute allen zugänglichen technischen Mittel erwekken in oberflächlichen Gehirnen keinerlei Neugierde […]. Diese technischen Errungenschaften bedeuten hingegen für den aufmerksamen Beobachter ebenso viele Verände- rungsmöglichkeiten unserer Sensibilität, denn sie haben die folgenden bedeutenden Phänomene geschaffen. 1. Beschleunigung des Lebens, das heute einen raschen Rhythmus hat. […] Vielseitige und gleichzeitige Bewußtseinslagen in ein und derselben Person. / 2. Abscheu vor allem Alten und Bekannten. Liebe zum Neuen, zum Unvorhergesehenen. / 3. Abscheu vor dem ruhigen Leben, Liebe zur Gefahr und Heroismus im täglichen Leben. […] / 12. Der von der Maschine vervielfältigte Mensch. Neuer mechanischer Sinn, Verschmelzung des Instinktes mit der Leistungsfähigkeit des Motors und den geschulten Kräften. / 13. Leidenschaft, Kunst und Idealismus des Sports. Begriff des ,Rekords‘ und Liebe zu ihm. / 14. Neues Gefühl für den Reiseverkehr, die Überseedampfer und die großen Hotels (jährliche Synthese der verschiedenen Völker). Begeisterung für die Stadt. Überwindung der Entfernungen und der sehnsüchtigen Einsamkeit. Verspottung der himmlischen Ruhe im Grünen und der unantastbaren Landschaft. / 15. Die Welt schrumpft durch Geschwindigkeit zusammen. Neues Weltgefühl […]. Daraus ergibt sich für den einzelnen die Notwendigkeit, mit allen Völkern der Welt in Verbindung zu treten. Deshalb muß sich jeder als Mittelpunkt fühlen […]. Das menschliche Gefühl nimmt gigantische Ausmaße an […]. / 16. Ekel vor der gekrümmten Linie, der Spirale und dem Tourniquet. Liebe zur Gerade und zum Tunnel. Gewöhnung an die verkürzten Ansichten und optischen Synthesen, die von der Geschwindigkeit der Züge und Autos erzeugt werden, die sich Städte und Landschaften von oben ansehen. Abscheu vor der Langsamkeit, der Pedanterie, den Analysen und den detaillierten Erklärungen. Liebe zur Geschwindigkeit, zur Abkürzung und zum Resümee. ,Erzähl mir schnell alles, in zwei Worten.‘“ 17 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die futuristische Sensibilität (II) F.T. Marinetti, Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà, 1913: „Il Futurismo si fonda sul completo rinnovamento della sensibilità umana avvenuto per effetto delle grandi scoperte scientifiche.“ „Ecco alcuni degli elementi della nuova sensibilità futurista che hanno generato il nostro dinamismo pittorico, la nostra musica antigraziosa senza quadratura ritmica, la nostra Arte dei rumori e le nostre parole in libertà.“ Wiss.-techn. Neuerungen → (Telefon, Fernschreiber usw. Auto, Zug, Flugzeug usw.) Wiss.-techn. Neuerungen ← Futurist. Sensibilität → (Gefühl der geschrumpften Welt Liebe zur Geschwindigkeit Abscheu vor dem ruhigen Leben Horror vor dem Alten Liebe zum Neuen, zur Gefahr Leidenschaft für den Sport Begeisterung für die Stadt Simultanperzeption Bedürfnis nach Schocks usw.) Futurist. Sensibilität ← Futurist. Kunst (bildn. Dynamismus Geräuschkunst Worte in Freiheit) Futurist. Kunst Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1936: „Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt. […] Und wenn Veränderungen im Medium der Wahrnehmung, deren Zeitgenossen wir sind, sich als Verfall der Aura begreifen lassen, so kann man dessen gesellschaftliche Bedingungen aufzeigen.“ „Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren.“ 18 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der bildnerische Dynamismus der Futuristen Boccioni, Carrà, Russolo, Balla, Severini, Die futuristische Malerei – Technisches Manifest, 1910: „Alles bewegt sich, alles fließt, alles vollzieht sich mit größter Geschwindigkeit. Eine Figur steht niemals unbeweglich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet unaufhörlich. Durch das Beharren des Bildes auf der Netzhaut vervielfältigen sich die in Bewegung befindlichen Dinge, ändern ihre Form und folgen aufeinander wie Schwingungen im Raum. So hat ein galoppierendes Pferd nicht vier, sondern zwanzig Beine, und ihre Bewegungen sind dreieckig. / In der Kunst ist alles Konvention, und die Wahrheiten von gestern sind für uns heute lauter Lügen.“ Boccioni, Carrà, Russolo, Balla, Severini, Futuristen. Die Aussteller an das Publikum, 1912: „Der Wunsch, den ästhetischen Eindruck zu verstärken, der gleichsam das Bild mit der Seele des Betrachters in eines zusammenschweißt, hat uns bewogen zu erklären, ,daß der Beschauer von nun an in der Mitte des Bildes stehen solle.‘ / Er wird dem Vorgange nicht nur beiwohnen, sondern auch teil an ihm haben. Wenn wir malen, so übersetzen sich die Phasen eines Aufstandes, die sich mit Faustschlägen bedeckende Menge und der Angriff der Kavallerie auf der Leinwand durch Linienbündel, die allen in Konflikt geratenen Kräften entsprechen, indem sie dem Gesetz der allgemeinen Gewalttätigkeit des Bildes folgen. – Diese ,Linienkräfte‘ müssen den Betrachter einhüllen und mit sich fortreißen; er muß gleichsam mit den Persönlichkeiten des Bildes kämpfen müssen.“ Giacomo Balla, Fahrendes Auto, 1913 19 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die futuristische Idee einer Kunst der Geräusche Tones als eine selbständige Sache, die sich vom Leben unterscheidet und von ihm unabhängig ist. Daraus ging die Musik als eine phantastische, unverletzliche und heilige Welt hervor, die über der wirklichen Welt liegt.“ Luigi Russolo, Die Geräuschkunst, 1913: „Das Leben der Vergangenheit war Stille. Mit der Erfindung der Maschine im 19. Jahrhundert entstand das Geräusch. Heute triumphiert und herrscht das Geräusch souverän über die Sensibilität der Menschen. Viele Jahrhunderte lang hat sich das Leben still oder wenigstens in gedämpften Tönen abgespielt. Die stärksten Geräusche, die diese Stille durchbrachen, waren weder intensiv noch andauernd, noch abwechslungsreich. Denn sieht man von den seltenen Erdbeben, den Orkanen, Stürmen, Lawinen und Wasserfällen ab, ist die Natur still. / Bei diesem Mangel an Geräuschen setzten die ersten Töne, die der Mensch aus einem durchbohrten Rohr oder einem gespannten Seil herauszuholen verstand, als etwas Neues und Bewunderungswürdiges in Erstaunen. Die primitiven Völker führten den Ton auf die Götter zurück, er galt als heilig und war den Priestern vorbehalten, die sich seiner bedienten, um die Riten mit mehr Geheimnis zu umgeben. / So entstand der Begriff des „WIR MÜSSEN ÜBER DIESEN ENGEN KREIS DER REINEN TÖNE HINAUSGEHEN UND DIE UNENDLICHE VIELFALT DER ,GERÄUSCH-TÖNE‘ HINNEHMEN. […] Wenn wir eine moderne Großstadt mit aufmerksameren Ohren als Augen durchqueren, dann werden wir das Glück haben, den Sog des Wassers, der Luft oder des Gases in den Metallröhren, das Brummen der Motoren, die zweifellos wie Tiere atmen und beben, das Klopfen der Ventile, das Auf und Ab der Kolben, das Kreischen der Sägewerke, die Sprünge der Straßenbahn auf den Schienen, das Knallen der Peitschen und das Rauschen von Vorhängen und Jalousien zu unterscheiden. Wir haben Spaß daran, den Krach der Jalousien der Geschäfte, der zugeworfenen Türen, den Lärm und das Scharren der Menge, die verschiedenen Geräusche der Bahnhöfe, der Spinnereien, der Druckereien, der Elektrizitätswerke und der Untergrundbahnen im Geiste zu orchestrieren. / WIR WOLLEN DIESE SO VERSCHIEDENEN GERÄUSCHE AUFEINANDER ABSTIMMEN UND HARMONISCH ANORDNEN.“ „Hier die 6 Geräuschfamilien des futuristischen Orchesters, die wir bald mechanisch verwirklichen werden: 1. Brummen, Donnern, Bersten, Prasseln, Plumpsen, Dröhnen; 2. Pfeifen, Zischen, Pusten; 3. Flüstern, Murmeln, Brummeln, Surren, Brodeln; 4. Knirschen, Knacken, Knistern, Summen, Knattern, Reiben; 5. Geräusche, die durch Schlagen auf Metal, Holz, Leder, Steine, Terrakotta usw. entstehen; 6. Tier- und Menschenstimmen: Rufe, Schreie, Stöhnen, Gebrüll, Geheul, Gelächter, Röcheln, Schluchzen. / In dieser Aufstellung sind die charakteristischen Grundgeräusche enthalten; alle anderen sind nur Verbindungen und Kombinationen von ihnen.“ 20 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (I) F.T. Marinetti, Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte,1913: „Stellt euch vor, ein Freund von euch, der über diese lyrische Fähigkeit verfügt, befindet sich in einer Zone intensiven Lebens (Revolution, Krieg, Schiffbruch, Erdbeben usw.) und kommt gleich darauf, um euch seine Eindrücke zu erzählen. Wißt ihr, was euer lyrischer und erregter Freund instinktiv machen wird?… / Er wird zunächst beim Sprechen brutal die Syntax zerstören. Er wird keine Zeit mit dem Bau von Sätzen verlieren. Er wird auf Interpunktion und das Setzen von Adjektiven pfeifen. Er wird nicht darauf achten, seine Rede auszufeilen und zu nuancieren, sondern er wird ganz außer Atem in Eile seine Seh-, Gehörund Geruchsempfindungen in eure Nerven werfen, so wie sie sich ihm aufdrängen. Das Ungestüm seiner Dampf-Emotion wird das Rohr des Satzes zersprengen, die Ventile der Zeichensetzung und die Regulierbolzen der Adjektive. Viele Handvoll von essentiellen Worten ohne irgendeine konventionelle Ordnung. Einzige Sorge des Erzählers: alle Vibrationen seines Ichs wiederzugeben.“ 21 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (II) 2. MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV GEBRAUCHEN, damit es sich elastisch dem Substantiv anpaßt, und es nicht dem Ich des Schriftstellers unterordnen, der beobachtet oder erfindet. Nur das Verb im Infinitiv kann das Gefühl für die Fortdauer des Lebens und die Elastizität der Intuition, durch die sie wahrgenommen wird, vermitteln. 3. MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN, damit das Substantiv seine wesenhafte Färbung beibehält. Da das Adjektiv seinem Wesen nach nuancierend ist, ist es mit unserer dynamischen Vision unvereinbar, denn es setzt einen Stillstand, eine Überlegung voraus. 4. MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN, diese alte Schnalle, die ein Wort an das andere bindet. Das Adverb gibt dem Satz einen lästigen einheitlichen Ton. F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912: „Ich saß im Flugzeug auf dem Benzintank und wärmte meinen Bauch am Kopf des Fliegers, da fühlte ich die lächerliche Leere der alten, von HOMER ererbten Syntax. Stürmisches Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu ziehen! Dieser hat natürlich, wie alle Dummköpfe, einen vorausschauenden Kopf, einen Bauch, zwei Beine und zwei Plattfüße, aber er wird niemals zwei Flügel haben. Es reicht gerade, um zu gehen, einen Augenblick zu laufen und fast sofort wieder anzuhalten! Das hat mir der surrende Propeller gesagt, während ich in einer Höhe von zweihundert Metern über die mächtigen Schlote von Mailand flog. Und er fügte hinzu: 1. MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS GERATEWOHL ANORDNET, SO WIE SIE ENTSTEHEN. 5. JEDES SUBSTANTIV MUSS SEIN DOPPEL HABEN, d.h. jedem Substantiv muß ohne Bindewort das Substantiv folgen, dem es durch Analogie verbunden ist. Beispiel: Mann– Torpedoboot, Frau–Meerbusen, Menge– Brandung, Platz–Trichter, Tür–Wasserhahn. Da die Fluggeschwindigkeit unsere Kenntnis der Welt vervielfacht hat, wird die Wahrnehmung durch Analogien immer natürlicher für den Menschen. Man muß folglich die Redewendungen wie, gleich, so wie, ähnlich unterdrücken. Besser noch sollte man direkt den Gegenstand mit dem von ihm heraufbeschworenen Bild verschmelzen und so das Bild mit einem einzigen, essentiellen Wort in Verkürzung wiedergeben. 6. AUCH DIE ZEICHENSETZUNG MUSS ABGESCHAFFT WERDEN. Sind Adjektive, Adverbien und Konjunktionen erst beseitigt, dann ist die Zeichensetzung natürlich aufgehoben in der wechselnden Dauer eines lebendigen, durch sich selbst geschaffenen Stils, ohne die absurden Unterbrechungen durch Kommata und Punkte. Um gewisse Bewegungen hervorzuheben und ihre Richtung anzugeben, wird man die mathematischen Zeichen: + – × : = > < und die musikalischen Zeichen verwenden.“ 22 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (III) F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912: Marinetti, Schlacht. Gewicht + Geruch, 1911, Auszüge: „11. MAN MUSS DAS ,ICH‘ IN DER LITERATUR ZERSTÖREN […]. An seine Stelle muß endlich die Materie treten, deren Wesen schlagartig durch Intuition erfaßt werden muß […]. An die Stelle der längst erschöpften Psychologie des Menschen muß DIE LYRISCHE BESESSENHEIT DER MATERIE treten. […] Nur der asyntaktische Dichter, der sich der losgelösten Worte bedient, wird in das Wesen der Materie eindringen und die dumpfe Feindschaft, die sie von uns trennt, zerstören können.“ „Mittag ¾ flöten gestöhn gluthitze bumbum alarm Gargaresch krachen knattern marsch Geklirr tornister gewehre hufe nägel kanonen mähnen räder kisten juden schmalzgebäck ölkuchen kantilene kramläden dunstwolken schillern augenbutter gestank zimt“ „Man ruft uns zu: ,Eure Literatur wird nicht schön sein! Wir werden keine Wortsymphonie mit harmonischen Schwankungen und beruhigenden Kadenzen mehr haben!‘ Richtig! Ein Glück! Wir werden im Gegenteil alle brutalen Töne gebrauchen, alle ausdrucksvollen Schreie des heftigen Lebens, das uns umgibt. FÜHREN WIR MUTIG DAS ,HÄSSLICHE‘ IN DIE LITERATUR EIN, UND TÖTEN WIR DIE FEIERLICHKEIT, WO IMMER WIR SIE FINDEN. Los! nehmt nicht die Allüren von Hohenpriestern an, wenn ihr mir zuhört! Man muß jeden Tag den Altar der Kunst anspeien! Wir betreten das grenzenlose Reich der freien Intuition. Nach dem freien Vers, nun endlich DIE BEFREITEN WORTE!“ „Vorhut: 20 meter bataillone-ameisen reitereispinnen straßen-furten general-inselchen meldereiter-heuschrecken sand-revolution haubitzen-volksredner wolken-gitter gewehremärtyrer schrapnells-heiligenscheine multiplikation addition division haubitzen-abziehen granate-tilgung triefen fließen erdrutsch blöcke lawine“ 23 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die futuristische Idee des Theaters (I) präsentiert, ohne Apparat und ohne Zerknirschtheit, wie eine x-beliebige Attraktion. So billigen wir bedingungslos die Aufführung des Parsifal in 40 Minuten, die in einem großen Varieté in London vorbereitet wird.“ Boccioni, Futuristische Soiree in Mailand, 1911 F.T. Marinetti, Il Teatro di Varietà/ Das Varieté, 1913: „DER FUTURISMUS VERHERRLICHT DAS VARIETÉ, denn: / 1. Das Varieté, das gleichzeitig mit der Elektrizität entstanden ist, hat zum Glück weder Tradition noch Meister noch Dogmen, sondern lebt von Aktualität. / 2. Das Varieté dient rein praktischen Zwecken, denn es sieht seine Aufgabe darin, das Publikum durch Komik, erotischen Reiz oder geistreiches Schockieren zu zerstreuen und zu unterhalten. / 3. Die Autoren, die Schauspieler und die Techniker des Varietés haben eine einzige Daseinsberechtigung und Erfolgschance: ständig neue Möglichkeiten zu ersinnen, um die Zuschauer zu schockieren. Auf diese Weise sind Stagnation und Wiederholung völlig unmöglich, und die Folge ist ein Wetteifer der Gehirne und Muskeln, um die verschiedenen Rekorde an Geschicklichkeit, Geschwindigkeit, Kraft, Komplikationen und Eleganz zu überbieten.“ „15. Das Varieté zerstört das Feierliche, das Heilige, das Ernste und das Erhabene in der Kunst. Es hilft bei der futuristischen Vernichtung der unsterblichen Meisterwerke mit, weil es sie plagiiert, parodiert, auf zwanglose Art „Das Varieté ist das einzige Theater, das sich die Mitarbeit des Publikums zunutze macht. Dieses bleibt nicht unbeweglich wie ein dummer Gaffer, sondern nimmt lärmend an der Handlung teil, singt mit, begleitet das Orchester und stellt durch improvisierte und wunderliche Dialoge eine Verbindung zu den Schauspielern her. […] Das Varieté nützt auch den Rauch der Zigarren und Zigaretten aus, um die Atmosphäre des Publikums mit der der Bühne zu verschmelzen. Und weil das Publikum auf diese Weise mit der Phantasie der Schauspieler zusammenarbeitet, spielt sich die Handlung gleichzeitig auf der Bühne, in den Logen und im Parkett ab. Sie setzt sich nach Schluß der Aufführung zwischen den Bataillonen der Bewunderer in Smoking mit Monokel fort, die sich am Ausgang drängen, um sich den Star streitig zu machen.“ „Man muß die Überraschung und die Notwendigkeit zu handeln unter die Zuschauer des Parketts, der Logen und der Galerie tragen. Hier nur ein paar Vorschläge: auf ein paar Sessel wird Leim geschmiert, damit die Zuschauer – Herr oder Dame – kleben bleiben und so die allgemeine Heiterkeit erregen (der Frack oder das beschädigte Kleid werden selbstverständlich am Ausgang ersetzt). – Ein und derselbe Platz wird an zehn Personen verkauft, was Gedrängel, Gezänk und Streit zur Folge hat. – Herren und Damen, von denen man weiß, daß sie leicht verrückt, reizbar oder exzentrisch sind, erhalten kostenlose Plätze, damit sie mit obszönen Gesten, Kneifen der Damen oder anderem Unfug Durcheinander verursachen. – Die Sessel werden mit Juck-, Niespulver usw. bestreut.“ 24 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die futuristische Idee des Theaters (II) F.T. Marinetti, E. Settimelli, B. Corra, Das futuristische synthetische Theater, 1915: „Wir schaffen das futuristische Theater: SYNTHETISCH also sehr kurz. In wenigen Minuten, in wenige Worte und in wenige Gesten wird eine Unzahl von Situationen, Empfindungen, Ideen, Sinneswahrnehmungen, Ereignissen und Symbolen zusammengedrängt. Wir sind überzeugt, daß man durch die Kürze auf mechanischem Wege zu einem völlig neuen Theater gelangen kann, das in vollkommenem Einklang mit unserer sehr raschen und lakonischen futuristischen Sensibilität steht. Bei uns kann ein Akt ein Augenblick sein, also nur wenige Sekunden dauern. […] ATECHNISCH […] Mit unserem Streben nach einem synthetischen Theater wollen wir den technischen Aufbau zerstören, der, anstatt sich zu vereinfachen, von den Griechen bis heute immer dogmatischer, töricht logisch, peinlich genau und pedantisch geworden ist und alles erstickt. […] AUTONOM, ALOGISCH, IRREAL Die futuristische Theater-Synthese wird nicht der Logik unterworfen sein, sie wird nichts Photographisches enthalten, sie wird autonom sein, nur sich selbst gleichen, obwohl sie die Elemente, die sie nach ihrer Laune kombiniert, aus der Wirklichkeit zieht.“ 25 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Wichtige Vertreter des Dadaismus Dada Zürich Hugo Ball (1886-1927) Richard Huelsenbeck (1892-1974) Hans Arp (1887-1966) Tristan Tzara (1896-1963) Marcel Janco (1895-1963) Emmy Hennings (1885-1948) Hans Richter (1888-1976) Dada Berlin Richard Huelsenbeck (1892-1974) Raoul Hausmann (1886-1971) Hanna Höch (1889-1978) Johannes Baader (1875-1955) George Grosz (1893-1959) Hans Richter (1888-1976) John Heartfield (1891-1968) Wieland Herzfelde (1896-1988) Jefim Golyscheff (1897-1971) MERZ-Dada Hannover Kurt Schwitters (1887-1948) Dada Holland Theo van Doesburg (1883-1931) Kurt Schwitters (1887-1948) Dada Paris Tristan Tzara (1896-1963) André Breton (1896-1966) Louis Aragon (1897-1982) Paul Eluard (1895-1952) Philippe Soupault (1897-1990) Francis Picabia (1879-1953) Georges Ribemont-Dessaignes (1884-1974) Dada New York Marcel Duchamp (1887-1968) Man Ray (1890-1976) Walter Conrad Arensberg (1878-1954) Arthur Cravan (1887-1920) E.E. Cummings (1894-1962) 26 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der chaotisch-anarchische Geist von Dada Hugo Ball (1886-1927) Raoul Hausmann (1886-1971) Tristan Tzara (1896-1963) Ball im Zürcher Tagebuch, 24. 5. 1916: Hausmann, Dada empört sich, regt sich und stirbt in Berlin, 1970: Tzara, Vortrag auf dem Dada-Kongress 1924: „Wir sind fünf Freunde, und das Merkwürdige ist, daß wir eigentlich nie gleichzeitig und völlig übereinstimmen, obgleich uns in der Hauptsache dieselbe Überzeugung verbindet. Die Konstellationen wechseln. Bald verstehen sich Arp und Huelsenbeck und scheinen unzertrennlich, dann verbinden sich Arp und Janco gegen H., dann H. und Tzara gegen Arp usw. Es ist eine ununterbrochen wechselnde Anziehung und Abneigung. Ein Einfall, eine Geste, eine Nervosität genügt, und die Konstellation ändert sich, ohne den kleinen Kreis indessen ernstlich zu stören.“ (FZ 96) „Die Mitglieder des Club DADA waren eifersüchtig und lieferten sich oftmals recht kleinliche Angriffe und Kämpfe. / Die Heartfield-Herzfelde und Mehring beteten George Grosz, diesen Pseudorevolutionär, an, Huelsenbeck betete nur Huelsenbeck an; obgleich er mit mir die meisten unserer 12 Manifestationen gemacht hatte, war er immer bereits, zu den Groszisten zu neigen. / Auf der anderen Seite sonderte ich mich mit Baader ab, der unglücklicherweise zu oft von seinen religiös-paranoischen Ideen besessen war.“ (DB 8) „Ein weiteres Charakteristikum Dadas ist die ständige Trennung unserer Freunde. Man trennt sich und man kündigt. Der erste, der der Dada-Bewegung aufgekündigt hat, bin ich. […] Im Grunde waren die echten Dadaisten immer von Dada getrennt.“ (RH 58f.) 27 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Aufwertung des Augenblicks im Dadaismus Raoul Hausmann, Am Anfang war Dada, 1972: „DADA suchte nichts als den PREsenten Augenblick herbeizuführen.“ Tristan Tzara, Dada-Manifest, 1918: „Abschaffung des Gedächtnisses: DADA – Abschaffung der Archäologie: DADA – Abschaffung der Propheten: DADA – Abschaffung des Künftigen: DADA“. Francis Picabia, Dadaisme, Instantanéisme 391, 1924: „L’INSTANTANEISME: ne veut pas d’hier. L’INSTANTANEISME: ne veut pas de demain […] L’INSTANTANEISME: ne croit qu’à aujourd’hui. […] L’INSTANTANEISME: ne croit qu’au mouvement perpétuel.“ 28 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Aufwertung des Zufalls im Dadaismus Hans Richter, DADA – Kunst und Antikunst, 1964: „Arp hatte lange in seinem Atelier am Zeltweg an einer Zeichnung gearbeitet. Unbefriedigt zerriß er schließlich das Blatt und ließ die Fetzen auf den Boden flattern. Als sein Blick nach einiger Zeit zufällig wieder auf diese auf dem Boden liegenden Fetzen fiel, überraschte ihn ihre Anordnung. Sie besaß einen Ausdruck, den er die ganze Zeit vorher vergebens gesucht hatte. Wie sinnvoll sie dort lagen, wie ausdrucksvoll! Was ihm mit aller Anstrengung vorher nicht gelungen war, hatte der Zu-Fall, die Bewegung der Hand und die Bewegung der flatternden Fetzen, bewirkt, nämlich Ausdruck. Er nahm diese Herausforderung des Zufalls als ,Fügung‘ an und klebte sorgfältig die Fetzen in der vom ,Zu-Fall‘ bestimmten Ordnung auf. […] Die Schlußfolgerung, die Dada daraus zog, war, den Zufall als ein neues Stimulans des künstlerischen Schaffens anzuerkennen. Dieses Erlebnis war so erschütternd, daß man es sehr wohl als das eigentliche Zentral-Erlebnis von Dada bezeichnen kann, welches Dada von allen vorhergehenden Kunst-Richtungen unterscheidet.“ Tristan Tzara, Um ein dadaistisches Gedicht zu machen, 1920: „Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus. Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt gewissenhaft ab in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht wird Euch ähneln. Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität.“ 29 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Das Wort „DADA“ Richard Huelsenbeck, Einleitung zur Dokumentation DADA, 1964: „Ich habe oft erzählt, daß das Cabaret Voltaire, kurz ehe die Dadaperiode begann, dem Bankrott nahe war und daß Ball, dem Rat des Besitzers, des Herrn Ephraim folgend, Cabaretschauspieler und Sänger interviewte. Wir hatten eine Sängerin befragt, deren Name mir aus dem Gedächtnis geschwunden ist, aber es war ein Name, der für das Auftreten im Cabaret ungeeignet war. So saßen Ball und ich eines Nachmittags in seinem Zimmer zusammen und überlegten. Der Larousse lag auf dem Tisch, hinter dem ich saß. Wir blätterten und stießen dabei auf das Wort Dada, das in diesem Lexikon als Kinderwort gleichbedeutend mit Hottehotte oder Holzpferdchen erklärt wurde. Mein Finger blieb bei dem Wort stehen und ich sagte DADA. […].“ Hugo Ball, 1916: Tagebuch, 18. April: „Tzara quält wegen der Zeitschrift. Mein Vorschlag, sie Dada zu nennen, wird angenommen. […] Dada heißt im Rumänischen Ja Ja, im Französischen Hottound Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen.“ Manifest zum 1. Dada-Abend im Zürcher „Zunfthaus Waag“, 14. Juli: „Dada ist eine neue Kunstrichtung. Das kann man daran erkennen, dass bisher niemand davon wusste und morgen ganz Zürich davon reden wird. Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach. Im Französischen bedeutets Steckenpferd. Im Deutschen: Addio, steigt mir bitte den Rücken runter, auf Wiedersehen ein ander Mal! Im Rumänischen: ,Ja wahrhaftig, Sie haben Recht, so ist es. Jawohl, wirklich. Machen wir‘. Und so weiter. / Ein internationales Wort. […] Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.“ Tristan Tzara, Dada-Manifest, 1918: „Den Zeitungen entnimmt man, daß die Kru-Neger den Schwanz einer heiligen Kuh DADA nennen. ,Würfel‘ und ,Mutter‘ heißen in einer bestimmten Gegend Italiens DADA. ,Holzpferd‘, ,Amme‘, die zweifache Bejahung auf russisch und auf rumänisch heißen DADA.“ Hugo Ball, Tagebuch 1921: „Als mir das Wort ,Dada‘ begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysos [Dionysos Areopagita]. D.A. – D.A. (über diese mystische Geburt schrieb H…k [Huelsenbeck]; auch ich selbst in früheren Notizen. Damals betrieb ich Buchstaben- und Wort-Alchimie).“ Johannes Baader, Wer ist Dadaist?, 1918: „Ein Dadaist ist ein Mensch, der das Leben in allen seinen unübersehbaren Gestalten liebt und der weiß und sagt: Nicht allein hier, sondern auch da, da, da ist das Leben!“ 30 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der latente Nihilismus Dadas Richard Huelsenbeck, 1916: „Wir haben beschlossen unsere mannigfaltigen Aktivitäten unter dem Namen Dada zusammenzufassen. Wir fanden Dada, wir sind Dada, und wir haben Dada. Dada wurde in einem Lexikon gefunden, es bedeutet nichts.“ Tristan Tzara, Dada-Manifest, 1918: „DADA BEDEUTET NICHTS“. Hugo Ball, Tagebuch, 1916/1915: „Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind“ „Bei genauerem Hinsehen lösen sich die Dinge in Phantasmata auf. Das ganze Arrangement erscheint als ein verhängnisvoller Ablauf optischer Täuschungen, worin der bewußte Irrtum und die gefaßte Lüge am ehesten noch eine Art von Sinn und Halt, eine Perspektive aufrechterhalten. Was man gemeinhin Wirklichkeit nennt, ist, exakt gesprochen, ein aufgebauschtes Nichts.“ Francis Picabia, Manifest Cannibale Dada, 1920: „Was Dada angeht: es riecht nicht, es bedeutet ja nichts, gar nichts. Dada ist wie Euere Hoffnungen: nichts wie Euer Paradies: nichts wie Euere Idole: nichts wie Euere politischen Führer: nichts wie Euere Helden: nichts wie Euere Künstler: nichts wie Euere Religionen: nichts.“ Theo van Doesburg, Was ist Dada?, 1923: „Dada ist die Verneinung des allgemeinen, gängigen Lebenssinns. […] Dada sieht in allen Einbildungen, die uns von der Wirklichkeit abgelenkt haben – mögen wir sie Tao, Om, Brahma, Jahwe, Gott, Zahl, Geist usw. nennen – lediglich verschiedene Etiketten für den gleichen Artikel, der, ,aus einem Nichts sich entwickelnd‘, mit viel Trara den Menschen aufgeschwatzt wird. / Dada spricht dem Leben, der Kunst, der Religion, der Philosophie oder der Politik jeden höheren geistigen Inhalt ab.“ 31 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der ,demokratische‘ Charakter Dadas: Die Integration verschiedener Stilrichtungen Hugo Ball, Tagebucheintrag, 5. Februar 1916: Plakat von Marcel Slodki Pressenotiz in der Zürcher Post vom 5. Feb. 1916: „Cabaret Voltaire. Unter diesem Namen hat sich eine Gesellschaft junger Künstler und Literaten etabliert, deren Ziel es ist, einen Mittelpunkt für die künstlerische Unterhaltung zu schaffen. Das Prinzip des Kabaretts soll sein, daß bei den täglichen Zusammenkünften musikalische und rezitatorische Vorträge der als Gäste verkehrenden Künstler stattfinden, und es ergeht an die junge Künstlerschaft Zürichs die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden.“ „Das Lokal war überfüllt; viele konnten keinen Platz mehr finden. Gegen sechs Uhr abends, als man noch fleißig hämmerte und futuristische Plakate anbrachte, erschien eine orientalisch aussehende Deputation von vier Männlein, Mappen und Bilder unterm Arm; vielmals diskret sich verbeugend. Es stellten sich vor: Marcel Janco der Maler, Tristan Tzara, Georges Janco und ein vierter Herr, dessen Name mir entging. Arp war zufällig auch da und man verständigte sich ohne viel Worte. Bald hingen Jancos generöse ,Erzengel‘ bei den übrigen schönen Sachen, und Tzara las noch am selben Abend Verse älteren Stiles, die er in einer nicht unsympathischen Weise aus den Rocktaschen zusammensuchte.“ Hugo Ball über die von ihm herausgegebene Anthologie Cabaret Voltaire, 4. Juli 1916: „,Cabaret Voltaire‘ enthält Beiträge von Apollinaire, Arp, Ball, Cangiullo, Cendrars, Hennings, Hoddis, Huelsenbeck, Janco, Kandinsky, Marinetti, Modigliani, Oppenheimer, Picasso, van Rees, Slodki und Tzara. Es ist auf zwei Bogen die erste Synthese der modernen Kunst- und Literaturrichtungen. Die Gründer des Expressionisme, Futurisme und Kubisme sind mit Beiträgen darin vertreten.“ 32 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Dada als Geisteszustand Theo van Doesburg, Was ist Dada?, 1923: „Dada will gelebt sein.“ „Es ist ein Irrtum, zu glauben, Dada gehöre zur Kategorie neuer Kunstformen wie Impressionismus, Futurismus, Kubismus, Expressionismus. / Dada ist keine Kunstrichtung.“ Tristan Tzara, Vortrag auf dem Dada-Kongress 1924: „Dada ist ein Geisteszustand. Sie können vergnügt, traurig, bedrückt, fröhlich, schwermütig oder dada sein.“ Richard Huelsenbeck, Dadaistisches Manifest, 1918: „Dada ist eine Geistesart, die sich in einem Gespräch offenbaren kann, so daß man sagen muß: dieser ist ein DADAIST – jener nicht; der Club Dada hat deshalb Mitglieder in allen Teilen der Erde, in Honolulu so gut wie in New-Orleans und Meseritz. Dadaist sein kann unter Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein – nur zufällig Künstler sein“ 33 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Simultangedicht, Bruitistisches Gedicht Richard Huelsenbeck, En avant dada, 1920: „Wir fanden Marinettis Weltauffassung realistisch und liebten sie nicht, obwohl wir den von ihm oft verwendeten Begriff von Simultaneität gern übernahmen. […] Von Marinetti übernahmen wir auch den Bruitismus […]. Bruitismus ist das Leben selbst, das man nicht beurteilen kann wie ein Buch, das vielmehr ein [sic] Teil unserer Persönlichkeit darstellt, uns angreift, verfolgt und zerfetzt. […] Simultaneität (von Marinetti in diesem Literatur-Sinne zuerst gebraucht) ist eine Abstraktion, ein Begriff für die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschehnisse. […] Simultaneität ist direkter Hinweis aufs Leben und sehr eng mit dem Problem des Bruitismus verwandt.“ Dadaistisches Manifest, 1918: „Das BRUITISTISCHE GEDICHT / schildert eine Trambahn wie sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers Schulze und dem Schrei der Bremsen. / Das SIMULANISTISCHE GEDICHT / lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des Schlächters Nuttke.“ Tristan Tzara, Anmerkung zu: L’amiral cherche une maison à louer, 1916: „Les poèmes de Mrs Barzun et Divoire sont purement formels. Ils cherchent un effort musical, qu’on peut imaginer en faisant les mêmes abstractions que sur une partiture [sic] d’orchestre. / Je voulais réaliser un poème basé sur d’autres principes. Qui consistent dans la possibilité que je donne à chaque écoutant de lier les associations convenables. Il retient les éléments caractéristiques pour sa personalité [sic], les entremêle, les fragmente etc., restant tout-de-même dans la direction que l’auteur a canalisé [sic].“ Hugo Ball, Tagebuch, 30. März 1916: „Huelsenbeck, Tzara und Janco traten mit einem ,Poème simultan‘[sic] auf. Das ist ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen, so zwar, daß ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizarren Gehalt der Sache ausmachen. Der Eigensinn eines Organons kommt in solchem Simultangedichte drastisch zum Ausdruck, und ebenso seine Bedingtheit durch die Begleitung. Die Geräusche (ein minutenlang gezogenes rrrrr, oder Polterstöße oder Sirenengeheul und dergleichen), haben eine der Menschenstimme an Energie überlegene Existenz. / Das ,Poème simultan‘ handelt vom Wert der Stimme. Das menschliche Organ vertritt die Seele, die Individualität in ihrer Irrfahrt zwischen dämonischen Begleitern. Die Geräusche stellen den Hintergrund dar; das Unartikulierte, Fatale, Bestimmende. Das Gedicht will die Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozeß verdeutlichen. In typischer Verkürzung zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind.“ 34 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Emergenz einer neuen Gattung: Die dadaistische Lautpoesie Hugo Ball, Tagebuch, 23. Juni 1916: „Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ,Verse ohne Worte‘ oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird.“ Raoul Hausmann, Introduction à une histoire du poème phonétique (1910-1939), 1965: „Si l’on veut arriver à une histoire véritable du poème phonétique, on doit distinguer trois tendances: / La première concerne une trouvaille due au hasard, qui n’aboutit pas à un exercice continuel; / La deuxième représente la création d’un genre nouveau de poésie, basée sur une conviction ou sur une théorie; / La troisième comprend l’application des créations de la deuxième catégorie dans un sens conventionnel.“ 35 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die dadaistische Lautpoesie und die Kritik an der konventionellen Sprache Hugo Ball, Eröffnungs-Manifest zum 1. Dada-Abend im Zürcher „Zunfthaus Waag“, am 14. Juli 1916: „Ich lese Verse, die nichts weniger vorhaben als: auf die konventionelle Sprache zu verzichten, ad acta zu legen […]. Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andre erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, meinen eigenen Rhythmus und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen, die von mir selbst sind. […] Da kann man nun so recht sehen, wie die artikulierte Sprache entsteht. Ich lasse die Vokale kobolzen. Ich lasse die Laute ganz einfach fallen, etwa wie eine Katze miaut… Worte tauchen auf, Schultern von Worten; Beine, Arme, Hände von Worten. Au, oi, uh. Man soll nicht zu viel Worte aufkommen lassen. Ein Vers ist die Gelegenheit, allen Schmutz abzutun. Ich wollte die Sprache hier selber fallen lassen. Diese vermaledeite Sprache, an der der Schmutz klebt, wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. Dada ist das Herz der Worte.“ Hugo Ball, Tagebuch, 24. Juni 1916: „Vor den Versen hatte ich einige programmatische Worte verlesen. Man verzichte mit dieser Art Klanggedichte in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk. Man verzichte darauf, aus zweiter Hand zu dichten: nämlich Worte zu übernehmen (von Sätzen ganz zu schweigen), die man nicht funkelnagelneu für den eigenen Gebrauch erfunden habe.“ Raoul Hausmann, Courrier Dada (Kapitel: „Poème phonétique“), 1958: „Le langage, si on le pétrifie dans les académies, s’enfuit chez les enfants et les poètes fous.“ „C’est la langue qui se venge des poètes! Et le phonétisme pur a pris forme, non parce que quelqu’un le VOULAIT, mais parce que c’était là le chemin vers la purification, que le langage complexe, concert atonal de quatre, cinq, littératures européennes s’est vu forcé de réaliser contre l’aboiement lamentable de ce qu’on appelle communément Littérature mondiale (Weltliteratur de Gœthe). Le langage indo-européen a un esprit vengeur, et c’est lui qui revient à ses sources, là où il n’y avait pas encore de pluriel, ni encore de pronom et où le penser (c’est-à-dire voir-ouïr-parler) était catégorisant surindividuel. C’est le langage, ce parler, qui cherche un sens nouveau, pour un usage nouveau. Et ce ne sont pas (comme les soi-disant grand poètes d’aujourd’hui le prétendent) les rénovateurs dadaïstes ou surréalistes qu’il faut blâmer pour cela! La langue veut créer inlassablement des formes, elle veut élargir, rénover son esprit, qui, lui, est canalisé par les fonctionnaires des pompes funèbres nationales, les poètes reconnus comme tels!“ 36 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Konzeption des Lautgedichts bei Raoul Hausmann simultanément, optiquement et phonétiquement. Le poème est la fusion de la dissonance et de l’onomatopée. Le poème jaillit du regard et de l’ouïe intérieurs du poète par le pouvoir matériel des sons, des bruits et de la forme tonale, ancrée dans le geste même de la langue.“ „C’est en quoi je me distingue de Ball. Ses poèmes créaient des mots nouveaux, des sons, surtout des onomatopées musicalement arrangées; les miens sont fondés sur la lettre, là où il n’y a plus la moindre possibilité de créer un langage offrant un sens, des déroulements coordonnés.“ Raoul Hausmann, Cauchemar, entstanden während des zweiten Weltkriegs: „bbg bbg bgg jjj ji jj zzzuuuu oooooo O! / uuuachtachtj hhh hzz hhzzz ggggzzzggg zgg z’ – / kkk i i u kkiuu kki […]“ Raoul Hausmann, Courrier Dada (Kapitel: „Poème phonétique“), 1958: „Je me croyais, comme de juste, le premier inventeur. Je dois dire que c’était Ball. Mais les phonétismes de Ball étaient formés de ,mots inconnus‘, cependant que mes poèmes se basaient directement et exclusivement sur les lettres, ils étaient ,lettristes‘. Le poème phonétique, purification de la poésie ,poétique‘ était tellement nécessaire, que je le créais encore une fois.“ „Je pensais que le poème est le rythme des sons. Pourquoi des mots? De la suite rythmique des consonnes, diphtongues et comme contre-mouvement de leur complément de voyelles, résulte le poème, qui doit être orienté „Ich hielt mich, vermeintlich zu Recht, für den ersten Erfinder. Ich muß indes sagen, daß es Ball war. Aber die Phonetismen Balls waren aus ,unbekannten Wörtern‘ gebildet, während meine Gedichte direkt und ausschließlich auf Buchstaben gründeten, sie waren ,lettristisch‘. Das phonetische Gedicht, Reinigung der ,poetischen‘ Poesie, war dermaßen notwendig, daß ich es noch einmal erfand.“ „Ich dachte, daß das Gedicht der Rhythmus der Klänge ist. Warum Wörter? Aus der rhythmischen Folge der Konsonanten, Diphthonge und aus ihrer Vokalergänzung als Gegen-Bewegung resultiert das Gedicht, das gleichzeitig optisch und phonetisch ausgerichtet sein muß. Das Gedicht ist die Verschmelzung der Dissonanz und der Lautmalerei. Das Gedicht entspringt dem inneren Blick und Gehör des Dichters durch die materielle Gewalt der Töne, der Geräusche und der in der Geste der Sprache verankerten tonalen Form.“ „Das ist der Punkt, an dem ich mich von Ball unterscheide. Seine Gedichte schufen neue Wörter, Klänge, vor allem musikalisch arrangierte Lautmalereien; die meinen sind auf dem Buchstaben begründet, dort, wo es nicht die geringste Möglichkeit mehr gibt, eine einen Sinn anbietende Sprache zu schaffen, koordinierte Abläufe.“ 37 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Kurt Schwitters, ursonate (1922-32) Der ersten vollständigen Veröffentlichung der ursonate 1932 in Merz 24 geht die folgende Erläuterung zum Aufbau voran: „die sonate besteht aus vier sätzen, einer einleitung, einem schluß, und einer kadenz im vierten satz. der erste satz ist ein rondo mit vier hauptthemen, die in diesem text der sonate besonders bezeichnet sind. es ist rhythmus in stark und schwach, laut und leise, gedrängt und weit usw. die feinen abwandlungen und kompositionen der themen will ich nicht erklären. ich mache nur beim ersten satz aufmerksam auf die wörtlichen wiederholungen der schon variierten themen vor jeder neuen variation, auf den explosiven anfang des ersten themas, auf die reine lyrik des gesungenen Jüü-Kaa, auf den streng militärischen rhythmus des dritten themas, das gegenüber dem zitternden, lammhaft zarten vierten thema ganz männlich klingt, und endlich auf den anklagenden schluß des ersten satzes in dem gefragten tää? der zweite teil ist auf mitte komponiert. daß er gesungen wird, sehen sie aus den anmerkungen im text. das largo ist metallisch und unbestechlich, es fehlt sentiment und alles sensible. beachten sie bei Rinn zekete bee bee und ennze die erinnerung an den ersten satz. beachten sie auch in der einleitung das lange Oo als profezeihung zu dem langen largo. der dritte satz ist ein echtes scherzo. beachten sie das schnelle aufeinanderfolgen der drei themen: lanke trr gll, pe pe pe pe pe und Ooka, die voneinander sehr verschieden sind, wodurch der charakter scherzo entsteht, die bizarre form. lanke trr gll ist unwandelbar und kehrt eigensinnig taktmäßig wieder. in rrmmmp und rrrnnff ist eine erinnerung an das rummpff tillff too vom ersten satz. doch klingt es jetzt nicht mehr lammhaft zart, kurz und befehlend, durchaus männlich. das Rrumpftillftoo im dritten satz klingt dort auch nicht mehr so zart. die ziiuu lenn trll und lümpff tümpff trill sind klanglich dem hauptthema lanke trr gll nachgebildet. das ziiuu iiuu im trio erinnert sehr an das ziiuu ennze in teil 1, nur ist es hier sehr getragen und feierlich. das scherzo unterscheidet sich wesentlich von allen drei anderen sätzen, in denen das lange bee außerordentlich wichtig ist. im scherzo kommt kein bee vor. der vierte satz ist der strengste und dabei reich im aufbau. die vier themen sind wieder im text genau bezeichnet. […]“ 38 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der romantische Traum von der Musikalisierung der Sprache als Antizipation des dadaistischen Lautgedichts Novalis, Fragmente und Notizen, Ende der 1790er Jahre: „Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Association, wie Träume. Gedichte – blos wohlklingend und voll schöner Worte – aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang – höchstens einzelne Strofen verständlich – sie müssen, wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen [seyn]. Höchstens kann wahre Poësie einen allegorischen Sinn im Großen haben und eine indirecte Wirckung wie Musik etc. thun –“ „Unsre Sprache – sie war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach gerade so prosaisirt – so enttönt. Es ist jezt mehr Schallen geworden – Laut, wenn man dieses schöne Wort so erniedrigen will. Sie muß wieder Gesang werden. Die Consonanten verwandeln den Ton in Schall.“ „Man muß schriftstellen, wie Componiren.“ Friedrich Schlegel, Notizen: „Die Methode des Romans ist die der Instrumentalmusik.“ „Jede K[unst] hat mus[ikalische] Princ[ipien] und wird vollendet selbst Musik.“ „Ist Musik die tellurische Grundkunst, so muß alle Sprache sich wieder in Musik auflösen.“ Wilhelm Heinrich Wackenroder, Phantasien über die Kunst, 1799: „Aber was streb ich Törichter, die Worte zu Tönen zu zerschmelzen? Es ist immer nicht, wie ich’s fühle.“ 39 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich MERZ-Dada: Kurt Schwitters sonstwie. Ich nannte nun alle meine Bilder als Gattung nach dem charakteristischsten Bild MERZbilder. Später erweiterte ich die Bezeichnung MERZ erst auf meine Dichtung, denn seit 1917 dichte ich, und endlich auf all meine entsprechende Tätigkeit. Jetzt nenne ich mich selbst MERZ.“ (V, 252f.) Kurt Schwitters, 1923: Kurt Schwitters, Merz 20, 1927: „MERZ. Das ist die 2te Silbe von Kommerz. Es entstand beim Merzbilde, einem Bilde, auf dem unter abstrakten Formen das Wort MERZ, aufgeklebt und ausgeschnitten aus einer Anzeige der KOMMERZ- UND PRIVATBANK, zu lesen war. Dieses Wort MERZ war durch Abstimmen gegen die anderen Bildteile selbst Bildteil geworden, und so mußte es dort stehen. Sie können verstehen, daß ich ein Bild mit dem Worte MERZ das MERZbild nannte, wie ich ein Bild mit ,und‘ das und-Bild und ein Bild mit ,Arbeiter‘ das Arbeiterbild nannte. Nun suchte ich, als ich zum ersten Male diese geklebten und genagelten Bilder im Sturm in Berlin ausstellte, einen Sammelnamen für diese neue Gattung, da ich meine Bilder nicht einreihen konnte in alte Begriffe wie Expressionismus, Kubismus, Futurismus oder „Es ist im Kunstwerk nur wichtig, daß sich alle Teile aufeinander beziehen, gegeneinander gewertet werden. […] Was das verwendete Material vor seiner Verwendung im Kunstwerk bedeutet hat, ist gleichgültig, wenn es nur im Kunstwerk seine künstlerische Bedeutung durch Wertung empfangen hat. / So habe ich zunächst Bilder aus dem Material konstruiert, das ich gerade bequem zur Hand hatte, wie Straßenbahnfahrscheine, Garderobemarken, Holzstückchen, Draht, Bindfaden, verbogene Räder, Seidenpapier, Blechdosen, Glassplitter usw. Diese Gegenstände werden, wie sie sind, oder auch verändert in das Bild eingefügt, je nachdem es das Bild verlangt. Sie verlieren durch Wertung gegeneinander ihren individuellen Charakter, ihr Eigengift, werden entmaterialisiert und sind Material für das Bild. Das Bild ist ein in sich ruhendes Kunstwerk. Es bezieht sich nicht nach außen hin. Nie kann sich ein konsequentes Kunstwerk außer sich beziehen, ohne seine Beziehung zur Kunst zu verlieren.“ (V, 133f.) Kurt Schwitters, 1920/21: „Ende 1918 erkannte ich, daß alle Werte nur durch Beziehungen untereinander bestehen, und daß Beschränkung auf ein Material einseitig und kleinlich sei. Aus dieser Erkenntnis formte ich Merz […].“ (V, 84) 40 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Kurt Schwitters. Lyrik unter dem Einfluß August Stramms Erhabenheit Kirchen türmen ein Mensch Lastet Sonne Hochgebirge Steil durchbrechen Glut verrinnt umragen Zacken Leiberheiß – seelennah, Wärme umglutet Gluten! ––– Klein ich? Groß! Arm ich? Reich! Wuchtet Riesen Hochgebirge, Wuchtet Riesen ich! Kirchen türmen, lastet steil! Gluten Mensch wuchtet lasten Sonne. Ich? Umglute Steil! ! 41 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Kurt Schwitters. Die Merz-Dichtung An Anna Blume Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir! Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, – – – – wir? Das gehört (beiläufig) nicht hierher! Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist, bist Du? Die Leute sagen, Du wärest. Laß sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht. Du trägst den Hut auf Deinen Füßen und wanderst auf die Hände, Auf den Händen wanderst Du. Halloh, Deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt, Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir. Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, – – – – wir? Das gehört beiläufig in die kalte Glut! Anna Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute? Preisfrage: 1.) Anna Blume hat ein Vogel, 2.) Anna Blume ist rot. 3.) Welche Farbe hat der Vogel. Blau ist die Farbe Deines gelben Haares, Rot ist die Farbe Deines grünen Vogels. Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, Du liebes grünes Tier, ich liebe Dir! Du Deiner Dich Dir, ich Dir, Du mir, – – – – wir? Das gehört beiläufig in die – – – Glutenkiste. Anna Blume, Anna, A – – – – N – – – – N – – – – A! Ich träufle Deinen Namen. Dein Name tropft wie weiches Rindertalg. Weißt Du es Anna, weißt Du es schon, Man kann Dich auch von hinten lesen. Und Du, Du Herrlichste von allen, Du bist von hinten wie von vorne: A – – – – – N – – – – – N – – – – – A. Rindertalg träufelt STREICHELN über meinen Rücken. Anna Blume, Du tropfes Tier, Ich – – – – – – – liebe – – – – – – – Dir! 42 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Kurt Schwitters. Die Dichtung der konstruktivistischen Phase Cigarren [elementar] Cigarren Ci garr ren Ce i ge a err err e en Ce CeI CeIGe CeIGeA CeIGeAErr CeIGeAErrEr CeIGeAErrErr CeIGeAErrErr ErrEEn EEn En Ce i ge a err err e en Ci garr ren Cigarren (Der letzte Vers wird gesungen). 43 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die surrealistische Gruppe Max Ernst, Au rendez-vous des amis (1922), Wallraf-Richartz-Museum, Köln 1 René Crevel, 2 Philippe Soupault, 3 Hans Arp, 4 Max Ernst, 5 Max Morise, 6 Dostojewski, 7 Raffael, 8 Théodore Fraenkel, 9 Paul Éluard, 10 Jean Paulhan, 11 Benjamin Péret, 12 Louis Aragon, 13 André Breton, 14 Johannes Theodor Baargeld, 15 Giorgio de Chirico, 16 Gala Éluard, 17 Robert Desnos 44 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die surrealistische Absage an Dada André Breton, Entretiens – Gespräche (Radiointerviews aus den 50er Jahren) „Das Manifest Dada 1918 schien die Türen weit zu öffnen, doch entdeckten wir, daß diese Türen auf einen Gang führen, der im Kreis verläuft.“ (72) „Ich beschränke mich darauf zu sagen, daß die von Tzara inspirierten Dada-Zeitschriften und Veranstaltungen auf der Stelle traten. […] Von innen wie von außen betrachtet, wurden sie stereotyp und verkalkt.“ (78) „Es reicht nicht, aus Veranstaltungsräumen an die frische Luft umzuziehen, um mit dem platten Schema ,Dada‘ Schluß zu machen.“ (80) Bruch zwischen Tzara und Breton 1922/23 nach Tzaras Weigerung, an einem von Breton geplanten „Kongreß zur Festlegung der Richtlinien und zur Verteidigung des modernen Geistes“ teilzunehmen. 45 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Idee der praktisch werdenden Poesie im Surrealismus André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924: „La poésie […] porte en elle la compensation parfaite des misères que nous endurons. Elle peut être une ordonnatrice, aussi, pour peu que sous le coup d’une déception moins intime on s’avise de la prendre au tragique. Le temps vienne où elle décrète la fin de l’argent et rompe seule le pain du ciel pour la terre! Il y aura encore des assemblées sur les places publiques, et des mouvements auxquels vous n’avez pas espéré prendre part. […] Qu’on se donne seulement la peine de pratiquer la poésie. N’est-ce pas à nous, qui déjà en vivons, de chercher à faire prévaloir ce que nous tenons pour notre plus ample informé?“ „Die Poesie […] trägt in sich den vollkommenen Ausgleich für das Elend, das wir ertragen. Sie vermag auch eine ordnende Kraft zu sein, wenn es einem, unter dem Eindruck einer weniger persönlichen Enttäuschung, einfallen sollte, sie tragisch zu nehmen. Die Zeit komme, da sie das Ende des Geldes dekretiert und allein das Brot des Himmels für die Erde bricht! Es wird noch Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen geben und Bewegungen, den denen teilzunehmen ihr nicht zu hoffen gewagt habt. […] Man gebe sich doch nur die Mühe, die Poesie zu praktizieren. Ist es nicht an uns, die wir bereits davon leben, zu versuchen, dem größere Geltung zu verschaffen, was am meisten von uns zeugt?“ 46 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die surrealistische Diagnose der Gegenwart André Breton (1896-1966) André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924: „So lange wendet sich der Glaube dem Leben zu, dem Zerbrechlichsten im Leben, im realen Leben, versteht sich, bis dieser Glaube am Ende verlorengeht. Der Mensch, dieser entschiedene Träumer, von Tag zu Tag unzufriedener mit seinem Los, vermag kaum alle die Dinge ganz zu begreifen, die er zu gebrauchen gelernt hat und die ihn zu seiner Gleichgültigkeit geführt haben oder zu seiner Anstrengung, fast immer zu seiner Anstrengung, denn er hat eingewilligt zu arbeiten, zumindest hat er sich nicht gesträubt, sein Glück zu versuchen (das, was er sein Glück nennt!). Eine große Bescheidenheit ist nun sein Teil: er weiß, welche Frauen er gehabt hat, auf welche lächerlichen Abenteuer er sich eingelassen hat; sein Reichtum oder seine Armut helfen ihm nichts, in dieser Hinsicht bleibt er ein neugeborenes Kind, und was die Stimme seines Gewissens angeht, so muß ich gestehen, daß er sehr gut ohne sie auskommt. Wenn er sich einige Hellsichtigkeit bewahrt hat, dann kann er nicht anders, als sich nun wieder seiner Kindheit zuzuwenden, die ihm, sosehr sie auch durch die Bemühungen seiner Dresseure verpfuscht sein mag, dennoch als von Zauber erfüllt scheint. Das Fehlen jeglichen sonst üblichen Zwangs läßt ihm dort die Hoffnung auf mehrere, zu gleicher Zeit geführte Leben; an diese Illusion klammert er sich; nur noch von der augenblicklichen, extremen Leichtigkeit aller Dinge will er wissen. Jeden Morgen brechen Kinder ohne Bangen auf. Alles ist nahe, die schlimmsten materiellen Bedingungen sind großartig. Die Wälder sind weiß oder schwarz, man muß niemals schlafen gehen. Indessen, nie könnte man so weit gehen, es handelt sich nicht nur um die Entfernung. Die Bedrohungen häufen sich, man gibt nach, man gibt einen Teil des zu erobernden Landes auf. Und jener Phantasie, die keine Grenzen kannte, erlaubt man nur noch, sich nach den Gesetzen einer willkürlichen Nützlichkeit zu betätigen; diese untergeordnete Rolle durchzuhalten, ist sie nicht lange fähig, und um das zwanzigste Lebensjahr zieht sie es im allgemeinen vor, den Menschen seinem lichtlosen Schicksal zu überlassen. Selbst wenn er später ab und zu versucht, sich auf sich zu besinnen, weil er gespürt hat, daß er allmählich immer weniger Sinn im Leben findet, da er unfähig geworden ist, eine außerordentliche Situation, die Liebe etwa, zu erleben – es wird ihm kaum gelingen. Denn er ist nun mit Leib und Seele einer gebieterischen, praktischen Notwendigkeit unterworfen, die es nicht duldet, daß man sie unbeachtet läßt.“ 47 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Rolle der Imagination im Surrealismus André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924: „La seule imagination me rend compte de ce qui peut être, et c’est assez pour lever un peu le terrible interdit; assez aussi pour que je m’abandonne à elle sans crainte de me tromper (comme si l’on pouvait se tromper davantage). Où commence-t-elle à devenir mauvaise et où s’arrête la sécurité de l’esprit? Pour l’esprit, la possibilité d’errer n’est-elle pas plutôt la contingence du bien?“ „Einzig die Imagination zeigt mir, was sein kann, und das genügt, den furchtbaren Bann ein wenig zu lösen; genügt auch, mich ihr ohne Furcht, mich zu täuschen, zu ergeben (als wenn man sich noch mehr täuschen könnte). Wo beginnt sie, Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit umherzuschweifen, nicht vielmehr die Zufälligkeit des Guten? [vgl. die dt. Übers. von Ruth Henry: „Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken“]“ „Qu’ils [les fous] soient, dans une mesure quelconque, victimes de leur imagination, je suis prêt à l’accorder, en ce sens qu’elle les pousse à l’inobservance de certaines règles, hors desquelles le genre se sent visé, ce que tout homme est payé pour savoir. Mais le profond détachement dont ils témoignent à l’égard de la critique que nous portons sur eux, voire des corrections diverses qui leur sont infligées, permet de supposer qu’ils puisent un grand réconfort dans leur imagination, qu’ils goûtent assez leur délire pour supporter qu’il ne soit valable que pour eux. Et, de fait, les hallucinations, les illusions, etc., ne sont pas une source de jouissance négligeable. […] Les confidences des fous, je passerais ma vie à les provoquer. Ce sont gens d’une honnêteté scrupuleuse, et dont l’innocence n’a d’égale que la mienne. Il fallut que Colomb partît avec des fous pour découvrir l’Amérique. Et voyez comme cette folie a pris corps, et duré.“ „Daß sie [die Wahnsinnigen] gewissermaßen Opfer ihrer Einbildungskraft sind, will ich durchaus zugestehen, insofern als diese sie zur Nichtbeachtung gewisser Konventionen treibt, ohne welche die Gattung Mensch sich sogleich getroffen fühlt; wird doch jeder dafür bezahlt, daß er es weiß. Aber die tiefe Gleichgültigkeit, die sie unserer Kritik gegenüber zeigen, und selbst gegenüber den verschiedenen Strafen, die man über sie verhängt – sie läßt die Vermutung zu, daß sie aus ihrer Imagination einen großen Trost schöpfen und ihr Delirium hinreichend auskosten, um zu ertragen, daß es nur für sie selbst Gültigkeit besitzt. Und tatsächlich sind Halluzinationen, Illusionen usw. keine geringzuachtende Quelle des Genusses. […] Ich könnte mein Leben damit verbringen, die Wahnsinnigen zu ihren Bekenntnissen zu provozieren. Sie sind Menschen von peinlicher Ehrlichkeit und von einer Unschuld, die sich nur mit der meinen vergleichen läßt. Kolumbus mußte mit Verrückten ausfahren, um Amerika zu entdecken. Und seht nur, wie diese Verrücktheit Gestalt gewonnen hat – und Dauer.“ 48 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Polemik gegen den Realismus und den (realistischen) Roman „Le procès de l’attitude réaliste demande à être instruit, après le procès de l’attitude matérialiste. Celle-ci, plus poétique, d’ailleurs, que la précédente, implique de la part de l’homme un orgueil, certes, monstrueux, mais non une nouvelle et plus complète déchéance. […] Par contre, l’attitude réaliste, inspirée du positivisme, de saint Thomas à Anatole France, m’a bien l’air hostile à tout essor intellectuel et moral. Je l’ai en horreur, car elle est faite de médiocrité, de haine et de plate suffisance. […] Elle se fortifie sans cesse dans les journaux et fait échec à la science, à l’art, en s’appliquant à flatter l’opinion dans ses goûts les plus bas; la clarté confinant à la sottise, la vie des chiens. […] Une conséquence plaisante de cet état de choses, en littérature par exemple, est l’abondance des romans. Chacun y va de sa petite ,observation‘. […] On ne m’épargne aucune des hésitations du personnage: sera-t-il blond, comment s’appellera-t-il, irons-nous le prendre en été? Autant de questions résolues une fois pour toutes, au petit bonheur; il ne m’est laissé d’autre pouvoir discrétionnaire que de fermer le livre, ce dont je ne me fais pas faute aux environs de la première page. Et les descriptions! Rien n’est comparable au néant de celles-ci; ce n’est que superpositions d’images de catalogue, l’auteur en prend de plus en plus à son aise, il saisit l’occasion de me glisser ses cartes postales, il cherche à me faire tomber d’accord avec lui sur des lieux communs.“ „Nach dem Prozeß gegen die materialistische Haltung muß der gegen die realistische eingeleitet werden. Erstere, die übrigens poetischer ist als die folgende, birgt, was den Menschen angeht, einen zweifellos ungeheuren Stolz in sich, nicht aber eine neue, letzte Erniedrigung. […] Dagegen erscheint mir die realistische Haltung, seit Thomas von Aquin bis zu Anatole France vom Positivismus inspiriert, als jedem intellektuellen und moralischen Aufschwung absolut feindlich. Sie ist mir ein Greuel, denn sie ist aus Mittelmäßigkeit gemacht, aus Haß und platter Selbstgefälligkeit. […] Ständig holt sie sich Rückhalt in der Tagespresse und bringt Wissenschaft und Kunst in Verlegenheit, indem sie sich bemüht, dem niedrigsten Geschmack als allgemeinen Meinung zu schmeicheln: an Dummheit grenzende Klarheit, das Leben von Hunden. […] Eine belustigende Folge dieses Tatbestands ist in der Literatur zum Beispiel die Überfülle von Romanen. Jeder steuert da seine kleine ,Beobachtung‘ bei. […] Kein Zögern des Helden wird mir erspart: ist er blond, wie heißt er, treffen wir ihn im Sommer? Lauter Fragen, die aufs Geratewohl – und ein für allemal – beantwortet werden; die einzige Entscheidungsfreiheit, die mir noch bleibt, ist die, das Buch zu schließen, was ich, bei der ersten Seite etwa, zu tun denn auch nicht verfehle. Und die Beschreibungen erst! Nichts kann nichtssagender sein als sie; übereinandergeschichtete Katalogbilder sind das, der Verfasser macht es sich immer leichter, er ergreift die Gelegenheit, mir seine Ansichtskarten zuzuschieben, versucht mein Einverständnis zu gewinnen mit seinen Gemeinplätzen.“ 49 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der Begriff der „surréalité“ André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924: „Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi dire. C’est à sa conquête que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supporter un peu les joies d’une telle possession.“ „Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen.“ Max Bucaille (1906-1992), Ohne Titel 50 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der Begriff „Surrealismus“ André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924: „SURREALISME, n. m. Automatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement de la pensée. Dictée de la pensée, en l’absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale. ENCYCL. Philos. Le surréalisme repose sur la croyance à la réalité supérieure de certaines formes d’associations négligées jusqu’à lui, à la toute-puissance du rêve, au jeu désintéressé de la pensée. Il tend à ruiner définitivement tous les autres mécanismes psychiques et à se substituer à eux dans la résolution des principaux problèmes de la vie. Ont fait acte de SURREALISME ABSOLU MM. Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac.“ (36f.) „SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung. ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen. Zum ABSOLUTEN SURREALISMUS haben sich bekannt: Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac.“ (26f.) 51 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die automatische Schreibweise als Grenzwert André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924: „Eines Abend also, vor dem Einschlafen, vernahm ich, so deutlich ausgesprochen, daß es mir unmöglich war, ein Wort daran zu ändern, abgetrennt jedoch vom Klang irgendeiner Stimme, einen recht merkwürdigen Satz; er hatte keinen Bezug zu irgendwelchen Geschehnissen, in die ich nach bestem Gewissen zu diesem Zeitpunkt verwickelt war, es war ein Satz, der mir eindringlich erschien, ein Satz, möchte ich sagen, der ans Fenster klopfte. Rasch nahm ich davon Kenntnis und wollte es dabei belassen, als mich sein organischer Aufbau stutzig machte. Dieser Satz setzte mich wirklich in Erstaunen; ich habe ihn leider nicht bis heute behalten könnten; er lautete etwa so: ,Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird‘, doch war das durchaus eindeutig gemeint, da er von der schwachen bildhaften Vorstellung eines gehenden Mannes begleitet war, der in der Mitte senkrecht zu seiner Körperachse von einem Fenster durchschnitten wurde. Ohne Zweifel handelte es sich einfach um die aufrechte Stellung eines Mannes, der sich aus dem Fenster gelehnt hat. Da aber dieses Fenster die räumliche Veränderung des Mannes mitgemacht hatte, wurde mir klar, daß ich es hier mit einem Bild ziemlich seltener Art zu tun hatte, und sogleich hatte ich keinen anderen Gedanken, als es meinen poetischen Baumaterialien einzuverleiben. Kaum hatte ich es derart aufgezeichnet, als es auch schon von einer fast ununterbrochenen Reihe von Sätzen abgelöst wurde, die mich kaum weniger überraschten und mir den Eindruck einer solchen Willkürlichkeit vermittelten, daß die Selbstkontrolle, mit der ich bis zu diesem Tag gelebt hatte, mir illusorisch erschien und ich nur noch daran dachte, dem endlosen Streit in meinem Innern ein Ende zu bereiten. / Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Krieg gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können, und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit wie nur möglich gesprochener Gedanke wäre.“ (23f.) „[…] un monologue de débit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse aucun jugement, qui ne s’embarrasse, par suite, d’aucune réticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensée parlée.“ (33) „Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es stimmt wirklich, daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. Ziemlich schwierig ist es, etwas darüber zu sagen, wie es mit dem folgenden Satz geht; ohne Zweifel gehört er unserer bewußten Tätigkeit und zugleich der anderen an – wenn man annimmt, daß die Tatsache, einen ersten Satz geschrieben zu haben, ein Minimum an Wahrnehmung mit sich bringt.“ (30) 52 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Ein Beispiel eines automatischen Textes (Auszug) André Breton, Philippe Soupault, Gants blancs/ Weiße Handschuhe, erster Abschnitt, aus: Les champs magnétiques/ Die magnetischen Felder, 1919: „Les couloirs des grands hôtels sont désert et la fumée des cigares se cache. Un homme descend les marches du sommeil et s’aperçoit qu’il pleut: les vitres sont blanches. On sait que près de lui repose un chien. Tous les obstacles sont présents. Il y a une tasse rose, un ordre donné et sans hâte les serviteurs tournent. Les grands rideaux du ciel s’ouvrent. Un bourdonnement accuse ce départ précipité. Qui peut courir aussi doucement? Les noms perdent leurs visages. La rue n’est qu’une voie déserte. Vers quatre heures ce jour-là un homme très grand passait sur le pont qui unit les différentes îles. Les cloches ou les arbres sonnaient. Il croyait entendre les voix de ses amis: ,Le bureau des excursions paresseuses est à droite, lui criait-on, et samedi le peintre t’écrira.‘ Les voisins des solitudes se penchaient et toute la nuit on entendit les sifflements des réverbères. La maison capricieuse perd son sang. Nous aimons tous les incendies; quand le couleur du ciel change c’est un mort qui passe. Que peut-on espérer de mieux? […]“ „Die Gänge der großen Hotels sind verlassen, und der Rauch der Zigarren versteckt sich. Ein Mensch steigt die Stufen des Schlafes herab und bemerkt, daß es regnet: die Scheiben sind weiß. Man weiß, daß neben ihm ein Hund ruht. Alle Hindernisse sind gegenwärtig. Es gibt eine rosafarbene Tasse, einen gegebenen Befehl, und ohne Eile drehen sich die Kellner. Die großen Vorhänge des Himmels öffnen sich. Ein Summen unterstreicht diese überstürzte Abreise. Wer kann so leise laufen? Die Namen verlieren ihre Gesichter. Die Straße ist nur ein verlassener Weg. Gegen vier Uhr an diesem Tag überquerte ein sehr großer Mann die Brücke, die die verschiedenen Inseln verbindet. Die Glocken oder die Bäume läuteten. Er glaubte die Stimmen seiner Freunde zu hören: ,Das Büro der faulen Exkursionen liegt rechts, schrie man ihm zu, und Samstag wird der Maler dir schreiben.‘ Die Nachbarn der Einsamkeit neigten sich, und die ganze Nacht hörte man das Pfeifen der Straßenlaternen. Das launische Haus verliert sein Blut. Wir lieben alle die Brandkatastrophen; wenn der Himmel sich verfärbt, geht ein Toter vorbei. Was kann man Besseres hoffen? […]“ 53 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die surrealistische Idee des Bildes Pierre Reverdy, 1918, zitiert von Breton im Manifest des Surrealismus von 1924: „L’image est une création pure de l’esprit. / Elle ne peut naître d’une comparaison mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. / Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance émotive et de réalité poétique…“ (31) „Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes. / Es kann nicht aus dem Vergleich entstehen, vielmehr aus der Annäherung von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten. / Je entfernter und je genauer die Beziehungen der einander angenäherten Wirklichkeiten sind, um so stärker ist das Bild – um so mehr emotionale Wirkung und poetische Realität besitzt es…“ (23) Vgl. Lautréamont, Les chants de Maldoror: „[…] beau comme la rencontre fortuite sur une table des dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie“. „[…] schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ Vgl. die Umschlagabbildung von Max Ernst zu Paul Éluard, Répétitions, 1922 André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924: „Meines Erachtens ist es verkehrt, zu behaupten, daß von den zwei gegebenen Wirklichkeiten ,der Geist die Beziehungen erfaßt habe‘. Zuerst einmal hat er überhaupt nichts bewußt erfaßt. An der sozusagen zufälligen Annäherung der beiden Ausdrücke hat sich ein besonderes Licht entzündet, ein Licht des Bildes, für das wir unendlich empfänglich sind. Der Wert des Bildes hängt ganz von der Schönheit des erzielten Funkens ab; ist also folglich die Funktion des Spannungsunterschiedes zwischen den beiden Leitern. Wenn dieser Unterschied nur schwach ist, wie im Vergleich, kommt es zu keinem Funken. Nun ist aber nach meinem Dafürhalten der Mensch nicht befähigt, die Annäherung zweier so weit voneinander entfernter Wirklichkeiten zu bewerkstelligen. Das Prinzip der Ideenassoziation, wie wir es kennen, stellt sich dem entgegen. […] Man muß also wohl oder übel zugeben, daß die beiden Begriffe, die das Bild ausmachen, vom Geist nicht etwa mit Absicht auf den zu produzierenden Funken voneinander abgeleitet wurden, sondern das sie das Ergebnis eines Vorgangs sind, den ich surrealistisch nenne, wobei die Vernunft sich darauf beschränkt, das Licht-Phänomen festzustellen und zu würdigen.“ 54 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Surrealismus als unkontrollierte Bildproduktion Louis Aragon, Le Paysan de Paris, 1926 („Le passage de l’Opéra“, darin: „Discours de l’Imagination“): „REDE DER PHANTASIE / Man muß sich ins Unvermeidliche schicken: Ihr alle, die ihr immer gute Miene zum bösen Spiel macht, hattet eure Rechnung ohne mich gemacht. Von einer Illusion in die andere gleitend, fallt ihr unablässig der Illusion Realität anheim. Dabei habe ich euch doch alles geschenkt: die blaue Farbe des Himmels, die Pyramiden, die Automobile. Warum bloß verzweifelt ihr an meiner Laterna magica? Ich halte für euch eine unendliche Zahl unendlicher Überraschungen bereit […] Ich habe das Gedächtnis, die Schrift, die Infinitesimalrechnung erfunden. […] Alles fällt in den Bereich der Phantasie […]. Heute bringe ich euch ein Rauschgift, das von den Randbezirken des Bewußtseins, von den Grenzen des Abgrunds kommt. Was habt ihr in den Drogen anderes gesucht als ein Machtgefühl, einen trügerischen Größenwahn und die freie Ausübung eurer Fähigkeiten im Luftleeren Raum? Das Produkt, das ich die Ehre habe euch anzubieten, verschafft all das, verschafft auch gewaltige, unverhoffte Vorteile, geht über eure Wünsche hinaus, erweckt sie, läßt in euch neue, verrückte Wünsche aufkommen; ihr könnt ganz sicher sein, es sind die Feinde der Ordnung, die diesen Zaubertrank des Absoluten in Umlauf bringen. Sie reichen ihn heimlich vor den Augen der Polizisten weiter, in Form von Büchern, Gedichten. Der harmlose Deckmantel der Literatur erlaubt ihnen, euch zu einem konkurrenzlosen Preis dieses tödliche Ferment abzugeben, das schleunigst allgemeine Verwendung finden sollte. Es ist der Geist in der Flasche, die Poesie in Barren. Kauft, kauft die Verdammnis eurer Seele, endlich werdet ihr euch zugrunde richten, hier ist die Maschine, die euren Geist zum Kentern bringt. Ich verkünde der Welt ein Ereignis erster Größe: Ein neues Laster wurde geboren, ein weiterer Taumel wurde den Menschen geschenkt: der Surrealismus, Sohn der Raserei und der Finsternis. Hereinspaziert, hereinspaziert, hier beginnen die Reiche des Augenblicklichen.“ „Das Laster des Surrealismus ist der zügellose, leidenschaftliche Gebrauch des Rauschgifts Bild oder vielmehr das das Verfahren der unkontrollierten Hervorrufung des Bildes um seiner selbst willen und um der unvorhersehbaren Störungen und Verwandlungen willen, die es im Bereich der Vorstellung nach sich zieht […].“ 55 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die surrealistische Collage und die Ästhetik des Décousu „la rencontre fortuite de deux réalités distantes sur un plan nonconvenant“ (Max Ernst, Au delà de la peinture, 1937) „beau comme la rencontre fortuite sur une table des dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie“ (Lautréamont, Les chants de Maldoror, 1869) „comme si la grande affaire était de rapprocher un jour une orange et une ficelle, un mur et un regard“ (Aragon, Paysan de Paris, 1926) Definition des Petit Robert: „DECOUSU“: „1. Dont la couture a été défaite, s’est défaite. Ourlet décousu.“ „2. FIG. Qui est sans suite, sans liaison. → incohérent, inconséquent. Conversation décousue, sans suite […] SUBST. „Le décousu et l’absurdité de la rédaction“ (Mérimée). → désordre, incohérence.“ 56 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der surrealistische Begriff des Wunderbaren André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924: „Pour cette fois, mon intention était de faire justice de la haine du merveilleux qui sévit chez certains hommes, de ce ridicule sous lequel ils veulent le faire tomber. Tranchons-en: le merveilleux est toujours beau, n’importe quel merveilleux est beau, il n’y a même que le merveilleux qui soit beau.“ (24f.) „Für dieses Mal wollte ich nur mit dem Haß auf das Wunderbare, der bei manchen Menschen herrscht, abrechnen, und mit der Lächerlichkeit, der sie es preisgaben wollen. Sagen wir es geradeheraus: das Wunderbare ist immer schön, gleich welches Wunderbare ist schön, es ist sogar nur das Wunderbare schön.“ (18) „Le merveilleux n’est pas le même à toutes les époques; il participe obscurément d’une sorte de révélation générale dont le détail seul nous parvient: ce sont les ruines romantiques, le mannequin moderne ou tout autre symbole propre à remuer la sensibilité humaine durant un temps.“ (26) „Das Wunderbare ist nicht zu allen Zeiten dasselbe; dunkel nimmt es teil an einer Art allgemeiner Offenbarung, die uns nur in ihren Einzelheiten überkommt: das sind die romantischen Ruinen, das moderne Mannequin oder jedes andere Symbol, das geeignet ist, die menschliche Phantasie eine zeitlang zu beschäftigen.“ (20) 57 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich „Le merveilleux quotidien“: Die Idee einer modernen Mythologie sein? Werde ich noch lange das Gefühl für das Wunderbare des Alltäglichen [merveilleux quotidien] haben? Ich sehe, wie es in jedem Menschen verloren geht, der in seinem Leben wie auf einem immer besser gepflasterten Weg voranschreitet, der sich mit wachsender Leichtigkeit immer mehr an die Welt gewöhnt, der sich nach und nach vom Gefallen am Ungewöhnlichen und dessen Wahrnehmung löst. Genau das werde ich zu meiner Verzweiflung niemals erfahren können.“ (12f.; Ü: Lydia Babilas) Louis Aragon (1897-1982) „Le passage de l’Opéra“ / „Die Opernpassage“, Erster Absatz: Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926 („Préface à une mythologie moderne“/ „Vorwort zu einer modernen Mythologie“): „Heute betet man die Götter nicht mehr auf den Höhen an. Der Tempel Salomons ist in die Metaphorik eingegangen, in der er Schwalbennestern und bleichen Eidechsen Unterschlupf gewährt. Der Geist der Kulte hat die heiligen Stätten verlassen, indem er sich in Staub auflöste. Aber es gibt andere Orte, die unter den Menschen blühen, andere Orte, an denen die Menschen sorglos ihrem geheimnisvollen Leben nachgehen und die sich allmählich einer tiefen Religion öffnen. Die Gottheit bewohnt sie noch nicht. Sie formt sich dort erst, es ist eine neue Gottheit, die sich in diesen modernen Ephesoi niederschlägt wie von einer Säure zersetztes Metall auf dem Grund eines Glases; es ist das Leben, das hier diese poetische Gottheit ans Licht bringt, an der tausend Leute vorbeigehen werden, ohne etwas zu sehen, die aber für jene, die sie ungeschickterweise einmal wahrgenommen haben, plötzlich spürbar und zu etwas entsetzlich Quälendem wird. Metaphysik der Orte, du wiegst die Kinder ein, du suchst die Träume heim. Unsere ganze geistige Materie säumt diese Strände des Unbekannten und des Erschauerns. Bei jedem Schritt, den ich zurück in die Vergangenheit tue, finde ich dieses Gefühl des Seltsamen wieder, das mich, als ich noch ganz Staunen war, in einer Szenerie überkam, in der mir zum erstenmal ein ungeklärter Zusammenhang und seine Auswirkungen auf mein Herz bewußt wurden.“ (17) „Ich will mir die Irrtümer meiner Finger, die Irrtümer meiner Augen nicht mehr versagen. Ich weiß jetzt, daß sie nicht nur plumpe Fallen sind, sondern eigenartige Wege zu einem Ziel, das nur sie allein mir enthüllen können. Jedem Irrtum der Sinne entsprechen seltsame Blumen der Vernunft. Prachtvolle Gärten der absurden Glaubensüberzeugungen, der Vorahnungen, der Zwangsvorstellungen und der Delirien. Dort nehmen unbekannte, sich immer wieder verändernde Götter Gestalt an. Ich werde diese bleiernen Gesichter betrachten, diese Hanfsamen der Phantasie. Wie schön ihr seid, ihr Rauchsäulen, in euren Sandburgen! Neue Mythen entstehen unter jedem unserer Schritte. Dort, wo der Mensch gelebt hat, beginnt die Legende, dort, wo er lebt. Ich will mein Denken nur noch mit diesen verachteten Verwandlungen beschäftigen. Täglich verändert sich das moderne Daseinsgefühl. Eine Mythologie baut sich auf und zerfällt wieder. Es ist eine Wissenschaft vom Leben, die jenen vorbehalten ist, die keine Lebenserfahrung haben. Es ist eine lebendige Wissenschaft, die sich selbst zeugt und sich selbst tötet. Kommt es mir noch zu – ich bin schon sechsundzwanzig Jahre alt –, dieses Wunders teilhaftig zu 58 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich „Le merveilleux quotidien“: Die Nähe des Geheimnisses und das Begehren im Wirrwarr der Orte solche Türschlösser, die gegen das Unendliche hin keine sichere Sperre bilden. Dort, wo die Lebenden der zweideutigsten Tätigkeit nachgehen, spiegeln sich ihre geheimsten Beweggründe manchmal im Unbelebten: So sind unseres Innenstädte von verkannten Sphinxen bevölkert, die den träumenden Passanten nicht anhalten, wenn er sich ihnen nicht in grüblerischer Zerstreutheit zuwendet, und die ihn auch keine todbringenden Fragen stellen. Aber wenn er sie erraten kann, dieser Weise, dann möge er sie seinerseits befragen, es sind immer noch seine eigenen Abgründe, die er dank dieser gesichtslosen Ungeheuer von neuem ausloten wird. Das moderne Licht des Ungewöhnlichen, das wird ihn von jetzt ab nicht mehr loslassen. Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926 („Le passage de l’Opéra“/ „Die Opernpassage“, Absatz 2f.): „Die ganze Fauna der Phantasiegebilde mitsamt ihrer Meeresvegetation verliert sich gleichsam in einem dunklen Kometenschweif und lebt nur noch in den spärlich beleuchteten Zonen des menschlichen Tuns fort. Dort werden die großen geistigen Leuchttürme sichtbar, die ihrer Form nach weniger reinen Zeichen nahe stehen. Ein Augenblick menschlicher Schwäche öffnet das Tor zum Geheimnis, und schon sind wir in den Gefilden des Dunkels. Ein falscher Tritt, eine verhedderte Silbe enthüllen das Denken eines Menschen. Es gibt Dieses Licht durchflutet in bizarrer Weise jene überdachten Galerien, die man häufig in Paris in der Nähe der großen Boulevards findet und die man irritierenderweise Passagen nennt, als ob es in diesen dem Tageslicht entzogenen Gängen niemandem erlaubt wäre, länger als einen Augenblick zu verweilen. Meergrüner, gewissermaßen tiefseehafter Lichtschein, der der jähen Helligkeit ähnelt, die aufleuchtet, wenn man einen Rock hochhebt und darunter ein Bein bloßlegt. Der von einem Präfekten des Zweiten Kaiserreichs in die Hauptstadt importierte typisch amerikanische Drang, dem Pariser Stadtplan einen neuen, schnurgeraden Zuschnitt zu geben, wird den Fortbestand dieser menschlichen Aquarien bald unmöglich machen; ihr ursprüngliches Leben ist schon erloschen, doch verdienen sie es, als Unterschlupf etlicher moderner Mythen betrachtet zu werden; denn erst heute, da die Spitzhacke sie bedroht, sind sie wirklich zu Heiligtümern des Ephemeren geworden, sind sie zur gespenstischen Landschaft der Vergnügen und der verruchten Berufe geworden, gestern noch unverständlich, morgen völlig unbekannt.“ (17f.) Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Das Meer in der Großstadt Louis Aragon, Le Paysan de Paris, 1926 („Le passage de l’Opéra“): „La lumière moderne de l'insolite [...] règne bizarrement dans ces sortes de galeries couvertes qui sont nombreuses à Paris aux alentours des grands boulevards et que l'on nomme d’une façon troublante des passages, comme si dans ces couloirs dérobés au jour, il n'était permis à personne de s'arrêter plus d'un instant. Lueur glauque, en quelque manière abyssale, qui tient de la clarté soudaine sous une jupe qu’on relève d’une jambe qui se découvre. Le grand instinct américain, importé dans la capitale par un préfet du Second Empire, qui tend à recouper au cordeau le plan de Paris, va bientôt rendre impossible le maintien de ces aquariums humains […].“ (20f.) „Quelle ne fut pas ma surprise, lorsque, attiré par uns sorte de bruit machinale et monotone qui semblait s’exhaler de la devanture du marchand de cannes, je m’aperçus que celle-ci baignait dans une lumière verdâtre, en quelque manière sous-marine […]. Toute la mer dans le passage de l’Opéra. Les cannes se balançaient doucement comme des varechs. Je ne revenais pas encore de cet enchantement quand je m’aperçus qu’une forme nageuse se glissait entre les divers étages de la devanture. […]. J’aurais cru avoir affaire à une sirène […].“ (30f.) Paul Delvaux, Les Nymphes des eaux, 1938 60 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der Einbruch des Wunderbaren Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926 („Le passage de l’Opéra“/ „Die Opernpassage“): „Ein Spazierstockhändler nimmt den Raum zwischen dem Café Le Petit Grillon und dem Eingang des Hotels in Beschlag. Es ist ein achtbarer Stockhändler, der einer fragwürdigen Kundschaft zahlreiche und verschiedenartige Luxusartikel anbietet, die in einer Weise aufgestellt sind, daß man sowohl den eigentlichen Stock als auch den Griff beurteilen kann. Eine ganze Kunst der Präsentation ist hier zur Entfaltung gebracht: Die unteren Stöcke sind fächerförmig angeordnet, die oberen neigen, sich zu einem X kreuzend, in einem einzigartigen Tropismus ihren Blütenknauf den Blicken zu: Rosen aus Elfenbein, Hundeköpfe mit Steinen als Augen, tauschiertes Halbdunkel aus Toledo, rührendes kleines nielliertes Blattwerk, Katzen, Frauen, Hakenschnäbel, zahllose Materialien vom gebogenen Rohr über den blonden Zauber der Karneole bis hin zum Rhinozeroshorn. […] Wie überrascht war ich, als ich, angezogen von irgendeinem mechanischen, monotonen Geräusch, das wohl aus dem Schaufenster des Spazierstockhändlers drang, bemerkte, daß dieses in ein blaßgrünes, gewissermaßen submarines Licht eingetaucht war, dessen Quelle unsichtbar blieb. Das ähnelte der Phosphoreszenz der Fische, wie ich sie einst als Kind auf der Mole von Port-Bail im Contentin sehen konnte; doch mußte ich mir eingestehen, daß Spazierstöcke zwar die Leuchteigenschaften der Meeresbewohner durchaus besitzen mögen, daß es aber eine physikalische Erklärung für diese übernatürlich Helligkeit und vor allem für das Geräusch, das das Gewölbe dumpf erfüllte, nicht zu geben schien. Das Geräusch erkannte ich wieder: Es war das Muschelrauschen, das immer wieder Dichter und Filmstars in Erstaunen versetzt. Das ganze Meer in der Passage de l’Opéra. Die Spazierstöcke wiegten sich sanft hin und her wie Seegras. Ich war noch ganz von diesem Zauber gefangen, als ich sah, daß eine schwimmende Gestalt sich zwischen die verschiedenen Etagen des Schaufensters gleiten ließ. Sie hatte nicht ganz die normale Körpergröße einer Frau, wirkte aber keineswegs wie eine Zwergin. Der Eindruck ihrer Kleinwüchsigkeit schien sich eher aus der Entfernung zu ergeben, und doch bewegte sich ihre Erscheinung unmittelbar hinter der Glasscheibe. Ihre Haare hatten sich gelöst, und ihre Finger hielten sich momentweise an den Stöcken fest. Ich hätte geglaubt, es mit einer Sirene im herkömmlichsten Sinn dieses Wortes zu tun zu haben; mit schien nämlich, daß diese zauberhafte, bis zu dem recht tief sitzenden Gürtel nackte Erscheinung in einem Stahl- oder Schildpattkleid oder vielleicht in Rosenblättern endete, aber als ich meine Aufmerksamkeit auf das Hin- und Herschwingen konzentrierte, das sie in die von Streifen durchzogene Atmosphäre trug, erkannte ich plötzlich diese Person wieder, trotz der abgezehrten Züge und des verstörten Ausdrucks, die ihr Gesicht zeichneten. In der Zweideutigkeit der schmählichen Besetzung der Rheinprovinzen und des Taumels der Prostitution war ich am Ufer der Saar der Liesel begegnet, die es abgelehnt hatte, dem Rückzug der Ihren in die Katastrophe zu folgen, und die in der Sophienstraße ganze Nächte lang Lieder sang […]. Was hatte sie hier unter den Stökken zu suchen? Und sie sang immer noch, nach der Bewegung ihrer Lippen zu urteilen; denn die Brandung des Schaufensters übertönte ihre Stimme und stieg über sie hinweg zur Spiegeldecke empor, über der man weder den Monde noch das bedrohliche Dunkel der Klippen wahrnahm: ,Das Ideal!‘ rief ich aus, in meiner Verwirrung fand ich nichts besseres zu sagen. Die Sirene wandte mir ein erschrecktes Gesicht zu und streckte mir ihre Arme entgegen. Da wurde das Schaufenster von einer allgemeinen Konvulsion gepackt. Die Spazierstöcke drehten sich um neunzig Grad nach vorn, so daß die obere Hälfte der Xe ihr V zur Glasscheibe hin öffnete und dabei den Fächervorhang der unteren Stöcke vor der Sirenen-Erscheinung vervollständigte. Es war, als hätten Spieße jäh den Blick auf eine Schlacht versperrt. Die Helligkeit erstarb mit dem Rauschen des Meeres. / Der Portier, der schleppenden Schrittes daherkam, um das Gitter der Passage zu schließen, fragte mich unwirsch, ob ich nun endlich hinausgehen wolle oder nicht. […] Als ich nun am Morgen dorthin zurückkam, hatte alles wieder sein normales Aussehen angenommen, nur daß im Ständer des zweiten Schaufensters, ohne daß man es bemerkt hätte, eine Meerschaumpfeife, die eine Sirene darstellte, zerbrochen war wie in einer vulgären Schießbude und am Ende ihres illusionierenden Rohrs immer noch den zweifachen Bogen eines zauberhaften Busens spannte: Ein bißchen weißer Staub, der auf den halbseidenen Bezug eines Regenschirms gefallen war, bezeugte, daß es da einmal Kopf und Haare gegeben hatte.“ (26-30) 61 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Übergänge ins Imaginäre: Die Einheit von Realität und Fiktion Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926 („Le passage de l’Opéra“/ „Die Opernpassage“): Der Erzähler mit der Allegorie der Nutzlosigkeit: „Alles zerfällt unter meiner Beobachtung. Das Gefühl der Nutzlosigkeit hockt neben mir auf der ersten Stufe. Es ist wie ich gekleidet, doch vornehmer. Es trägt kein Einstecktuck. Ein Ausdruck des Unendlichen liegt auf seinem Gesicht, und in seinen Händen hält es ein weit ausgezogenes Akkordeon, auf dem es niemals spielt und auf dem man lesen kann: PESSIMISME. Reichen Sie mir doch dieses Stück Himmelblau, mein liebes Gefühl des Unnützen, sein Lied dürfte meinen Ohren gefallen. […].“ (55f.) Der Erzähler mit der Allegorie der Phantasie: „In diesem Augenblick erscheint DIE PHANTASIE, so wie der Verstand sie beschrieben hat: Es ist ein großer hagerer Greis mit einem Schnurrbart à la Habsburg […]. Er nähert sich dem Menschen und richtet folgende Worte an ihn: / REDE DER PHANTASIE / Man muß sich ins Unvermeidliche schicken: Ihr alle, die ihr immer gute Miene zum bösen Spiel macht, hattet eure Rechnung ohne mich gemacht. Von einer Illusion in die andere gleitend, fallt ihr unablässig der Illusion Realität anheim. Dabei habe ich euch doch alles geschenkt: die blaue Farbe des Himmels, die Pyramiden, die Automobile. Warum bloß verzweifelt ihr an meiner Laterna magica? […] Kommt hierher an den Schalter. / Worauf die Phantasie dabei mit einem lichtdurchlässigen Zeigefinger deutet, ist die kleine Holzbude, in der man Eintrittskarten für das Théâtre Moderne verkauft. Sie stützt sich an einen grauen Plankenzaun, der zur Stunde des Sonnenuntergangs Farbtöne der Drossel annimmt und in dem sich eine Tür befindet, durch die man in die Buchhandlung Flammarion gelangt. Eine Kassiererin leiert jedesmal, wenn man durch ihr Blickfeld geht, hinter ihrem Schalter den Preis der Sitzplätze herunter […].“ (72-77) Der Erzähler mit dem Kommandeur und Don Juan beim Schuhputzer: „Wäre ich ein Gespenst, ich würde hierher zum Spuken kommen. Ich würde meine Schuhe zum Putzen geben und würde geisterhaft auf einem dieser Zufallsthrone sitzen wie eine Statue des Spuks. Der Kommandeur [Anspielung auf die Figur des „commandeur“ in Molières Dom Juan ou Le Festin de pierre], so wie ich ihn mir vorstelle, setzt sich ausgerechnet bei einem Schuhputzer neben Don Juan. Dieser verlor sich bereits in Hirngespinsten. Er rauchte. Heutzutage raucht Don Juan. Er bereitete sich auf ein neues Abenteuer vor. Er mußte saubere Schuhe haben. […] Gleichgültig hört er dem Gespräch des Schuhputzers mit seinem Nachbarn zu. […] Noch so ein Verrückter, aber diese Stimme kenne ich doch. Don Juan hebt den Kopf und erkennt den Kommandeur. O Schicksal, hartnäckiges Schicksal, da sitzt du nun also direkt neben mir. Der Kommandeur trägt den portugiesischen Christus-Orden, das äfft die Ehrenlegion nach. […] ,Wollen Sie‘, sagt der Kommandeur, ,Ihre Zigarette geht aus, von mir diese Zigarre annehmen?‘ Kostbarer Augenblick, Don Juan nimmt die Zigarre, die ihm das Gespenst reicht. Dieses Schauspiel ist unerträglich, ich verlasse den Schuhputzer und gehe zum Briefmarkenhändler.“ (80f.) Der Erzähler begegnet der Figur des Todes im Bordell: „Es geht vom Bordell eine Faszination aus, die sich nicht beschreiben läßt, die man selbst empfinden muß. […] Dort jage ich dem abstrakten großen Verlangen nach, das die paar Gesichter, die ich je geliebt habe, manchmal erwecken. Eine Inbrunst flammt auf. […] Von keinem Nutzen sind mir dann mehr diese Sprache, diese Kenntnisse, ja selbst diese Erziehung, alles Dinge, mittels derer man mich gelehrt hat, mich im Herzen der Welt zu bewegen. Blendwerk oder Spiegelbild, ein großer Zauber leuchtet jedenfalls in diesem Dunkel und lehnt sich an den Türstock der Verwüstungen in der klassischen Pose des Todes, der soeben sein Leichentuch hat fallen lassen. O mein knöchernes Abbild, hier bin ich: Möge alles sich endlich zersetzen im Palast der Illusionen und des Schweigens. Die Frau macht sich bereitwillig meine Wünsche zu eigen und kommt ihnen zuvor […].“ (119f.) 62 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die Passage als Aufenthaltsort und Ort der Befreiuung Eingang und Durchgang durch die Passage de L’Opéra (1822-1925), historische Aufnahmen „Dieses Licht [das moderne Licht des Ungewöhnlichen] durchflutet in bizarrer Weise jene überdachten Galerien, die man häufig in Paris in der Nähe der großen Boulevards findet und die man irritierenderweise Passagen nennt, als ob es in diesen dem Tageslicht entzogenen Gängen niemandem erlaubt wäre, länger als einen Augenblick zu verweilen. Meergrüner, gewissermaßen tiefseehafter Lichtschein, der der jähen Helligkeit ähnelt, die aufleuchtet, wenn man einen Rock hochhebt und darunter ein Bein bloßlegt.“ (17f.) „[…] an der Grenze der beiden Lichtöffnungen, die die außerhalb der Passage existierende Realität dem Subjektivismus der Passage entgegensetzen, wollen wir doch – wie ein Mensch, der am Rande seiner Abgründe steht, gleichermaßen angelockt von den Strömungen der Gegenstände und von den Strudeln seiner selbst – in dieser seltsamen Zone, in der alles Fehlleistung ist, Fehlleistung der Aufmerksamkeit und der Unaufmerksamkeit, ein wenig verweilen, um diesen Taumel zu erleben.“ (54) „[…] der Henker hole mich, wenn diese Passage etwas anderes ist als eine Methode, mich von gewissen Zwängen zu befreien, ein Mittel, über meine Kräfte hinaus in einen noch verbotenen Bereich zu gelangen. Möge sie endlich ihren wahren Namen annehmen, und möge Monsieur Oudin das Schild anbringen: PASSAGE DE L’OPÉRA ONIRIQUE.“ (99) 63 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Der Zufall als Lebensprinzip André Breton, Nadja, 1928: „Je n’ai dessein de relater, en marge du récit que je vais entreprendre, que les épisodes les plus marquants de ma vie telle que je peux la concevoir hors de son plan organique, soit dans la mesure même où elle est livrée aux hasards, au plus petit comme au plus grand, où regimbant contre l’idée commune que je m’en fais, elle m’introduit dans un monde comme défendu qui est celui des rapprochements soudains, des pétrifiantes coïncidences, des réflexes primant tout autre essor du mental, des accords plaqués comme au piano, des éclairs qui feraient voir, mais alors voir, s’ils n’étaient encore plus rapide que les autres.“ (19f.) „Am Rand des Berichts, den ich hier beginne, will ich nur die hervorstechendsten Episoden meines Lebens wiedergeben, so wie ich es außerhalb seines organischen Aufbaus erfassen kann, das heißt in dem Maße, wie es den Zufällen, dem kleinsten wie dem größten, ausgeliefert ist, sich der gängigen Vorstellung, die ich mir von ihm mache, widersetzt und mich in eine gleichsam verbotene Welt einführt, die der plötzlichen Annäherungen, der versteinernden Koinzidenzen, der jedem Aufschwung des Geistigen vorausgehenden Reflexe, der wie an einem Klavier angeschlagenen Akkorde, der Blitze, die sehen ließen, wirklich sehen, wenn sie nicht noch schneller wären als die anderen.“ (16) Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926: „J’aime à me laisser traverser par les vents et la pluie: le hasard, voilà toute mon expérience.“ (109) André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924: „Telle idée, telle femme lui fait de l’effet. Quel effet, il serait bien incapable de le dire […]. En désespoir de cause, il invoque alors le hasard, divinité plus obscure que les autres, à qui il attribue tous ses égarements. Qui me dit que l’angle sous lequel se présente cette idée qui le touche, ce qu’il aime dans l’œil de cette femme n’est pas précisément ce qui le rattache à son rêve, l’enchaîne à des données que par sa faute il a perdue?“ (23) „Jene Idee, jene Frau macht Eindruck auf ihn. Aber er wäre keineswegs fähig zu sagen, welchen Eindruck […] Weil er keine Erklärung weiß, beschwört er dann den Zufall, eine dunklere Gottheit als jede andere, schreibt ihm alle seine Verwirrungen zu. Wer kann behaupten, daß der Blickwinkel, unter dem ihn diese Idee berührt, daß das, was er in den Augen jener Frau liebt, nicht eben das ist, was ihn mit seinem Traum verbindet, ihn an Gegebenheiten kettet, die ihm durch seine eigene Schuld entfallen sind?“ (17) 64 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Die ,halbautomatische‘ Schreibweise von Nadja André Breton, Nadja, 1928: „Qu’on n’attende pas de moi le compte global […]. Je me bornerai ici à me souvenir sans effort de ce qui, ne répondant à aucune démarche de ma part, m’est quelquefois advenu, de ce qui me donne, m’arrivant par des voies insoupçonnable, la mesure de la grâce et de la disgrâce particulière dont je suis l’objet; j’en parlerai sans ordre préétabli, et selon de caprice de l’heure qui laisse surnager ce qui surnage.“ (22f.) „Man erwarte von mir keine umfassende Rechenschaft […]. Ich werde mich hier darauf beschränken, mir zwanglos in Erinnerung zu rufen, was, ohne daß es auf irgendeine Initiative meinerseits zurückginge, mir einige Male zugestoßen ist, was, auf unverdächtigen Wegen zu mir gekommen, mich die besondere Gnade und Ungnade ermessen läßt, die mir widerfahren; ich werde ohne vorgegebene Ordnung davon sprechen, der Laune des Augenblicks folgend, die oben schwimmen läßt, was oben schwimmt.“ (18) 65 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Nadjas Selbstrepräsentation als Sirene oder Melusine André Breton, Nadja, 1928: „Die Zeichnung, datiert 18. November 1926, enthält das symbolische Porträt von ihr und von mir: Die Meerjungfrau, in deren Gestalt sie sich stets von hinten und unter diesem Blickwinkel sah, hält eine Papierrolle in der Hand; das Monster mit blitzenden Augen taucht aus einer art Behältnis mit Adlerkopf auf, der gefüllt ist mit Federn, die die Ideen darstellen.“ (102f.) „Mehrfach hat sich Nadja auch in den Zügen Melusines dargestellt, der sie sich von allen mythischen Gestalten offensichtlich am nächsten fühlte“ (108). 66 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Nadja als Luftgeist Ses yeux de fougère André Breton, Nadja, 1928: „J’ai pris, du premier au dernier jour, Nadja pour un génie libre, quelque chose comme un de ces esprit de l’air que certaines pratiques de magie permettent momentanément de s’attacher, mais qu’il ne saurait être question de se soumettre.“ (130) „Vom ersten bis zum letzten Tage habe ich Nadja für einen freien Geist gehalten, für so etwas wie einen jener Luftgeister, die man durch gewisse magische Praktiken für Augenblicke an sich binden kann, nie aber sich unterwerfen könnte.“ (94) 67 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich Nadjas Wahnsinn „Vor einigen Monaten teilte man mir mit, daß Nadja wahnsinnig sei. Nach einigen überspannten Auftritten, die sie sich offenbar in den Gängen ihres Hotels geleistet hatte, mußte sie in die geschlossene Anstalt von Vaucluse eingeliefert werden. Andere als ich werden sich ganz unnütz über diesen Vorfall auslassen, der ihnen sicher als verhängnisvolles Ende des Vorausgegangenen vorkommen wird. Die Neunmalklugen werden eilfertig zu ergründen suchen, was in meinen Berichten über Nadja ihren bereits deliranten Vorstellungen zuzurechnen sei, und vielleicht werden sie meinem Eingriff in ihr Leben, einem Eingriff, der die Entwicklung dieser Vorstellungen praktisch noch beförderte, eine nachgerade ausschlaggebende Bedeutung beimessen.“ (116f.) „Die Verachtung, die ich generell der Psychiatrie entgegenbringe, ihrem Pomp und ihrem Wirken, ist so groß, daß ich bislang nicht gewagt habe, mich zu erkundigen, was aus Nadja geworden ist. […] Wäre sie in einem Privatsanatorium behandelt worden, mit all der Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme, die man den Reichen schuldet, hätte sie nicht auf engstem Raum mit anderen zusammenleben müssen, was ihr möglicherweise schadete, wäre sie vielleicht im richtigen Augenblick durch die Anwesenheit von Freunden gestärkt und getröstet worden, in ihren Vorlieben und ihrem Geschmack weitestgehend zufriedengestellt und unmerklich zu einem annehmbaren Realitätssinn zurückgeführt worden, was vorausgesetzt hätte, daß man nicht zu grob mit ihr umgeht und alles daransetzt, daß sie von selbst zum Ursprung ihres Verstörtseins vordringt, dann, so glaube ich, auch wenn ich mich damit weit vorwage, wäre sie aus dieser schlimmen Lage herausgekommen. Doch Nadja war arm […].“ (121f.) 68