Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische

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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus
Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
(W. Eckel)
Vorlesung im WS 2011/12
Neue Kunstformen .................................................................................................................... 3
Die Absage an die Kunst der Werke und die hergebrachte Idee des Ästhetischen ................... 4
Zur Idee der Kunst im Dienste des Lebens ............................................................................... 5
Die Avantgarden als Antwort auf den Ästhetizismus ............................................................... 6
Der erweiterte Kunst- und Poesiebegriff ................................................................................... 7
Die Idee der Verschmelzung der Kunstgattungen ..................................................................... 8
Zur Begriffsgeschichte des Terminus „Avantgarde“ ................................................................ 9
Avantgarde als Terror und Krieg ............................................................................................ 10
Wichtige Vertreter des Futurismus ......................................................................................... 11
Der Angriff auf die Institutionen der Kunst ............................................................................ 12
Die Idee der ständigen Selbstüberholung ................................................................................ 13
Die Apotheose der Technik im Futurismus............................................................................. 14
Das futuristische Ideal des Menschen: Der Mensch als Maschine ......................................... 15
Die Animierung und Erotisierung der Maschine im Futurismus ............................................ 16
Die futuristische Sensibilität (I) .............................................................................................. 17
Die futuristische Sensibilität (II) ............................................................................................. 18
Der bildnerische Dynamismus der Futuristen ......................................................................... 19
Die futuristische Idee einer Kunst der Geräusche ................................................................... 20
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (I) ......................................................................... 21
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (II) ....................................................................... 22
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (III) ...................................................................... 23
Die futuristische Idee des Theaters (I) .................................................................................... 24
Die futuristische Idee des Theaters (II) ................................................................................... 25
Wichtige Vertreter des Dadaismus .......................................................................................... 26
Der chaotisch-anarchische Geist von Dada ............................................................................. 27
Die Aufwertung des Augenblicks im Dadaismus ................................................................... 28
Die Aufwertung des Zufalls im Dadaismus ............................................................................ 29
Das Wort „DADA“ ................................................................................................................. 30
Der latente Nihilismus Dadas .................................................................................................. 31
Der ,demokratische‘ Charakter Dadas: Die Integration verschiedener Stilrichtungen ........... 32
Dada als Geisteszustand .......................................................................................................... 33
Simultangedicht, Bruitistisches Gedicht ................................................................................. 34
Die Emergenz einer neuen Gattung: Die dadaistische Lautpoesie.......................................... 35
Die dadaistische Lautpoesie und die Kritik an der konventionellen Sprache ......................... 36
Die Konzeption des Lautgedichts bei Raoul Hausmann ......................................................... 37
Kurt Schwitters, ursonate (1922-32) ....................................................................................... 38
Der romantische Traum von der Musikalisierung der Sprache als Antizipation des
dadaistischen Lautgedichts .................................................................................................. 39
MERZ-Dada: Kurt Schwitters ................................................................................................. 40
Kurt Schwitters. Lyrik unter dem Einfluß August Stramms ................................................... 41
Kurt Schwitters. Die Merz-Dichtung ...................................................................................... 42
Kurt Schwitters. Die Dichtung der konstruktivistischen Phase .............................................. 43
Die surrealistische Gruppe ...................................................................................................... 44
Die surrealistische Absage an Dada ........................................................................................ 45
Die Idee der praktisch werdenden Poesie im Surrealismus .................................................... 46
Die surrealistische Diagnose der Gegenwart .......................................................................... 47
Die Rolle der Imagination im Surrealismus ............................................................................ 48
Die Polemik gegen den Realismus und den (realistischen) Roman ........................................ 49
Der Begriff der „surréalité“ ..................................................................................................... 50
Der Begriff „Surrealismus“ ..................................................................................................... 51
Die automatische Schreibweise als Grenzwert ....................................................................... 52
Ein Beispiel eines automatischen Textes (Auszug) ................................................................ 53
Die surrealistische Idee des Bildes .......................................................................................... 54
Surrealismus als unkontrollierte Bildproduktion .................................................................... 55
Die surrealistische Collage und die Ästhetik des Décousu ..................................................... 56
Der surrealistische Begriff des Wunderbaren ......................................................................... 57
„Le merveilleux quotidien“: Die Idee einer modernen Mythologie........................................ 58
„Le merveilleux quotidien“: Die Nähe des Geheimnisses und das Begehren ........................ 59
Das Meer in der Großstadt ...................................................................................................... 60
Der Einbruch des Wunderbaren .............................................................................................. 61
Übergänge ins Imaginäre: Die Einheit von Realität und Fiktion ............................................ 62
Die Passage als Aufenthaltsort und Ort der Befreiuung.......................................................... 63
Der Zufall als Lebensprinzip ................................................................................................... 64
Die ,halbautomatische‘ Schreibweise von Nadja .................................................................... 65
Nadjas Selbstrepräsentation als Sirene oder Melusine ............................................................ 66
Nadja als Luftgeist .................................................................................................................. 67
Nadjas Wahnsinn..................................................................................................................... 68
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Neue Kunstformen
Buchstabengedicht (z.B. bei Raoul Hausmann)
„objet trouvé“, „ready made“ (Marcel Duchamps)
„poème simultan“
„arte dei rumori“ (Luigi Russolo)
Traumprotokoll
„écriture automatique“
Collage, Montage (z.T. unter Verwendung von
Rohmaterial aus dem Alltag wie Zeitungsschnipseln oder Abfälle)
„parole in libertà“ (F.T. Marinetti)
Lautgedicht (z.B. „Verse ohne Worte“ von
Hugo Ball)
Manifest
„Aktion“: Performances, happeningartige
Soiréen und Straßenaktionen mit dem Hang
zum Skandal
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Absage an die Kunst der Werke und die hergebrachte Idee des Ästhetischen
„Man muß jeden Tag den Altar der Kunst anspeien!“ (F.T. Marinetti, Technisches Manifest
der futuristischen Literatur, 1912)
„Der Dadaismus steht zum erstenmal dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber […].“
(Dadaistisches Manifest von 1918)
„Dada will gelebt sein. […] Dada ist keine Kunstrichtung.“ (Theo van Doesburg, Was ist
Dada?, 1923)
„Uns liegt kaum daran, Werke zu schaffen.“ (Offener Brief der Surrealisten an Paul Claudel, Zit. bei Nadeau, 94)
„Ich bin kein Berufsschriftsteller und bin ohne jegliche literarische Ambitionen.“ (Tristan
Tzara, Zit. bei Breton, Gespräche, 63)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Zur Idee der Kunst im Dienste des Lebens
Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, postum 1927:
„Sich nicht in die Ästhetik abdrängen lassen. Um den Menschen geht es, nicht um die Kunst. Wenigstens nicht in erster Linie um die Kunst.“ (5. März 1916) „Man kann wohl sagen, daß uns die
Kunst nicht Selbstzweck ist – dazu bedürfte es einer mehr ungebrochenen Naivität –, aber sie ist uns
eine Gelegenheit zur Zeitkritik und zum wahrhaften Zeitempfinden […] So sind unsere Debatten
ein brennendes, täglich flagranteres Suchen nach dem spezifischen Rhythmus, nach dem vergrabenen
Gesicht dieser Zeit. Nach ihrem Grund und Wesen; nach der Möglichkeit ihres Ergriffenseins, ihrer
Erweckung. Die Kunst ist dazu nur ein Anlaß, eine Methode.“ (5. April 1916) „Wir neigen dazu,
das Gewissen nur noch für die Leistung, für das Werk zu haben, das Leben aber und die Person als
inkurabel auf sich beruhen zu lassen. Das aber hieße den Künstler selbst zur Dekoration, zum Ornament erniedrigen. Die Menschen dürfen nicht weniger wert sein als ihre Werke.“ (19. Mai 1917)
„Der kürzeste Weg zur Selbsthilfe: auf Werke zu verzichten und das eigene Dasein zum Gegenstande energischer Wiederbelebungsversuche zu machen.“ (10. November 1915)
F.T. Marinetti, Al di là del comunismo/ Jenseits des Kommunismus, 1919:
„Die Kunst darf kein Balsam, sie muß Alkohol sein. Kein Alkohol, der Vergessen bringt, sondern
ein Alkohol, der zum Optimismus anregt, der die Jugend vergöttlicht, die Jahre der Reife verhundertfacht und das Alter wieder jung werden läßt. […] Unser Verdienst ist es, daß die Zeit kommen wird, in
der das Leben nicht mehr einfach ein Leben des Brotes und der Mühe sein wird, auch kein Leben des
Müßigganges, sondern in der das Leben Kunstwerk-Leben sein wird. [Grazie a noi il tempo verrà in
cui la vita non sarà più semplicemente una vita di pane e di fatica, né una vita d’ozio, ma in cui la vita
sarà vita-opera d’arte] / Jeder Mensch wird seinen bestmöglichen Roman leben. Die genialeren
Geister werden ihr bestmögliches Gedicht leben. Es wird kein Wettlaufen mehr nach Besitz und
Prestige geben. Die Menschen werden in lyrischer Inspiration, Originalität, musikalischer Eleganz,
Überraschung, Fröhlichkeit und geistiger Elastizität wetteifern.“
André Breton, Manifeste du Surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924
„La poésie […] porte en elle la compensation parfaite des misères que nous endurons. Elle peut être
une ordonnatrice, aussi, pour peu que sous le coup d’une déception moins intime on s’avise de la
prendre au tragique. Le temps vienne où elle décrète la fin de l’argent et rompe seule le pain du ciel
pour la terre! Il y aura encore des assemblées sur les places publiques, et des mouvements auxquels
vous n’avez pas espéré prendre part. […] Qu’on se donne seulement la peine de pratiquer la poésie.
N’est-ce pas à nous, qui déjà en vivons, de chercher à faire prévaloir ce que nous tenons pour notre
plus ample informé?“
„Die Poesie […] trägt in sich den vollkommenen Ausgleich für das Elend, das wir ertragen. Sie vermag auch eine ordnende Kraft zu sein, wenn es einem, unter dem Eindruck einer weniger persönlichen Enttäuschung, einfallen sollte, sie tragisch zu nehmen. Die Zeit komme, da sie das Ende des Geldes dekretiert und allein das Brot des Himmels für die Erde bricht! Es wird noch Versammlungen auf
den öffentlichen Plätzen geben und Bewegungen, an denen teilzunehmen ihr nicht zu hoffen gewagt
habt. […] Man gebe sich doch nur die Mühe, die Poesie zu praktizieren. Ist es nicht an uns, die wir
bereits davon leben, zu versuchen, dem größere Geltung zu verschaffen, was am meisten von uns
zeugt?“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Avantgarden als Antwort auf den Ästhetizismus
Ästhetizismus
Avantgarde
L’art pour l’art. Trennung von Kunst und Leben.
Die Kunst als Gegenwelt. Der Künstler als Aristokrat. Esoterik:
Die Kunst als „Stimulanz des Lebens“ (Nietzsche):
Mallarmé: Hérésies artistiques: L’art pour tous
(1862): „L’homme peut-être démocrate, l’artiste
se dédouble et doit rester aristocrate. […] Que
les masses lisent la morale, mais de grâce ne leur
donnez pas notre poésie à gâter.“
George, Aus den Blättern für die Kunst (1892):
„Der name dieser veröffentlichung sagt schon
zum teil was sie soll: der kunst besonders der
dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend. Sie
will die GEISTIGE KUNST auf grund der neuen
fühlweise und mache – eine kunst für die kunst
– und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer
falschen auffassung der wirklichkeit entsprang,
sie kann sich auch nicht beschäftigen mit weltverbesserungen und allbeglückungsträumen in
denen man gegenwärtig bei uns den keim zu
allem neuen sieht, die ja sehr schön sein mögen
aber in ein anderes gebiet gehören als das der
dichtung.“ „Einfach liegt was wir teils erstrebten
teils verewigten: eine kunst frei von jedem
dienst: über dem leben nachdem sie das leben
durchdrungen hat: die nach dem Zarathustraweisen zur höchsten aufgabe des lebens werden kann
[…].“
Hofmannsthal, Poesie und Leben (1896): „Es
führt von der Poesie kein direkter Weg ins
Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie.
Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und
das traumhafte Bruderwort, welches in einem
Gedicht stehen kann, streben auseinander und
schweben fremd aneinander vorüber, wie die
beiden Eimer eines Brunnens. Kein äußerliches
Gesetz verbannt aus der Kunst alles Vernünfteln,
alles Hadern mit dem Leben, jeden unmittelbaren
Bezug auf das Leben und jede direkte Nachahmung des Lebens, sondern die einfache Unmöglichkeit: diese schweren Dinge können dort ebenso wenig leben als eine Kuh in den Wipfeln der
Bäume.“
Marinetti, Al di là del comunismo (1919): „Die
Kunst darf kein Balsam, sie muß Alkohol sein.
Kein Alkohol, der Vergessen bringt, sondern ein
Alkohol, der zum Optimismus anregt, der die
Jugend vergöttlicht, die Jahre der Reife verhundertfacht und das Alter wieder jung werden läßt.“
Die Kunst ins Leben bringen:
Raoul Hausmann, Dada empört sich, im Rückblick 1970: „Aktion, Aktion, vorbei die Zeit der
Dichtung auf geschwärztem Papier, diese individuelle Eitelkeit. […] Der Ober-DADA [Johannes
Baader] und ich tragen die Literatur und die
Poesie auf die Straße, im wahren Sinne des
Wortes.“ (DB 5f.)
Das Leben in die Kunst bringen:
F.T. Marinetti: „Der Futurismus will auf brutale
Weise das Leben in die Kunst einführen.“ (Zit.
nach SB 58)
Das Dadaistische Manifest von 1918 fordert eine
„Kunst […], die uns die Essenz des Lebens ins
Fleisch brennt“ (RH 31). „Das Leben erscheint
als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt […] in seiner gesamten
brutalen Realität übernommen wird. […] Der
Dadaismus steht zum erstenmal [?] dem Leben
nicht mehr ästhetisch gegenüber“ (RH 32).
Die Entdeckung der Poesie im Leben:
Tzara, Essai sur la situation de la poésie (1931)
„Es gilt das Mißverständnis aufzudecken, das
glaubt, die Poesie in der Rubrik der Ausdrucksmittel klassifizieren zu können. […] Es besteht
Anlaß, dieser veralteten Konzeption die PoesieAktivität des Geistes gegenüberzustellen. […]
Heute wird zugestanden, daß einer Dichter sein
kann, ohne je einen Vers geschrieben zu haben, daß eine poetische Qualität auf der Straße, in einem Spektakel, egal wo existiert. Die
Verwirrung selbst wird ,poetisch‘ genannt, und
Proust kam auf die geniale Idee, sie sogar in den
Pißbuden zu finden.“
6
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der erweiterte Kunst- und Poesiebegriff
Raoul Hausmann, Dada empört sich, regt sich und stirbt in Berlin, Rückblick 1970:
„Aktion, Aktion, vorbei die Zeit der Dichtung auf geschwärztem Papier, diese individuelle
Eitelkeit. Und die Kunst in alledem? Achtung, auch sie wird aktiv. Vorbei mit der Ästhetik;
ich kenne keine Regeln mehr, weder des ,Wahren‘ noch des ,Schönen‘ […] Der Ober-DADA
[Johannes Baader] und ich tragen die Literatur und die Poesie auf die Straße, im wahren
Sinne des Wortes.“
Tristan Tzara, Essai sur la situation de la poésie/ Versuch über die Lage der Poesie, 1931:
„Il s’agit de dénoncer le malentendu qui prétendait classer la poésie sous la rubrique des
moyens d’expression. La production poétique qui ne se distingue des romans et des autres
genres littéraires que par sa forme extérieure, la poésie qui exprime uniquement soit des idées
soit des sentiments, ne saurait plus définir la poésie à son stade actuel. A cette conception
périmée il y a lieu d’opposer la poésie-activité de l’esprit. […] Il est parfaitement admis aujourd’hui qu’on peut être poète sans jamais avoir écrit un vers, qu’il existe une qualité de
poésie dans la rue, dans un spectacle, n’importe où. La confusion elle-même est appelée
,poétique‘ et Proust s’était ingénié à la trouver jusque dans les pissotières.“
„Es gilt das Mißverständnis aufzudecken, das glaubt, die Poesie in der Rubrik der Ausdrucksmittel klassifizieren zu können. Die poetische Produktion, die sich nur durch ihre äußere Form
von den Romanen und anderen literarischen Gattungen unterscheidet, die Poesie, die allein
entweder Ideen oder Gefühle ausdrückt, vermag die Poesie auf ihrem aktuellen Entwicklungsstand nicht mehr zu definieren. Es besteht Anlaß, dieser veralteten Konzeption die PoesieAktivität des Geistes gegenüberzustellen. […] Heute wird zugestanden, daß einer Dichter
sein kann, ohne je einen Vers geschrieben zu haben, daß eine poetische Qualität auf der
Straße, in einem Spektakel, egal wo existiert. Die Verwirrung selbst wird ,poetisch‘ genannt, und Proust kam auf die geniale Idee, sie sogar in den Pißbuden zu finden.“
Dadaistisches Manifest, 1918:
„Dada ist eine Geistesart […]. Dadaist sein kann unter Umständen heißen, mehr Kaufmann,
mehr Parteimann als Künstler sein – nur zufällig Künstler sein“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Idee der Verschmelzung der Kunstgattungen
Umberto Boccioni, Die futuristische Bildhauerkunst, 1912:
„Keine Angst ist dümmer als die, die uns
fürchten läßt, die Kunstgattungen, die wir
ausüben, zu überschreiten. Es gibt nicht Malerei, Plastik, Musik, Dichtung. Es gibt nur
Schöpfung! […] Wir behaupten, daß auch
zwanzig verschiedene Materialien in einem
einzigen Werk zur Erreichung der bildnerischen Emotionen verwendet werden können.
Wir zählen nur einige davon auf: Glas, Holz,
Pappe, Eisen, Zement, Roßhaar, Leder, Stoff,
Spiegel, elektrisches Licht usw. usw.“
ne […]. Die Merzbühne kennt nur die Verschmelzung aller Faktoren zum Gesamtwerk.“
(5, 79).
Kurt Schwitters, 1920/21
„Die Merz-Bühne strebt fort von der Kunstgattung zur Verschmelzung im Gesamtkunstwerk. Mein letztes Streben ist die Vereinigung
von Kunst und Nichtkunst zum MerzGesamtweltbilde.“ (5, 84)
Kurt Schwitters, Merz, 1920
„Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der
Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern
das Streben, nicht Spezialist einer Kunst, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst
habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung
rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe
umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt,
auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich
habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen. Das
Merzgesamtkunstwerk aber ist die Merzbüh-
Kurt Schwitters, Merzbau, 1933
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Zur Begriffsgeschichte des Terminus „Avantgarde“
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 1832:
„Jede Truppe, welche nicht vollkommen schlachtfertig ist, bedarf einer Vorhut, um des
Feindes Anrücken zu erfahren und zu erforschen, bevor sie ihn selbst ansichtig wird, denn
der Gesichtskreis reicht in der Regel nicht viel weiter als der Wirkungskreis der Waffen. Was
aber wäre ein Mensch, dessen Augen nicht weiter reichten als seine Arme? Die Vorposten
sind die Augen des Heeres […]. Ist die Truppe in Bewegung, so bildet ein mehr oder weniger
starker Haufe ihre […] Avantgarde, welche, im Fall die Bewegung rückwärts geschieht, zur
Arrièregarde wird.“
Olinde Rodrigues, L’artiste, le savant et l’industriel, 1825:
„C’est nous, artistes, qui vous servirons d’avant-garde; la puissance des arts est en effet
la plus immédiate et la plus rapide. Nous avons des armes de toute espèce: quand nous
voulons répandre des idées neuves parmi les hommes, nous les inscrivons sur le marbre ou sur
la toile; nous les popularisons par la poésie et le chant; nous employons tour à tour la lyre ou
le galoubet, l’ode ou la chanson, l’histoire ou le roman; la scène dramatique nous est ouverte,
et c’est là surtout que nous exerçons une influence électrique et victorieuse. Nous nous
adressons à l’imagination et aux sentiments de l’homme […].“
„Wir sind es, die Künstler, die euch als Avantgarde diesen werden. Die Gewalt der
Künste ist tatsächlich am unmittelbarsten und schnellsten. Wir haben Waffen aller Art.
Wenn wir neue Ideen unter den Menschen verbreiten wollen, schreiben wir sie auf Marmor
oder auf Leinwand. Wir bringen sie unter das Volk durch Poesie und Gesang. Wir greifen zur
Leier oder zur Flöte, zur Ode oder zum Lied, zur Geschichte oder zum Roman. Die dramatische Szene steht uns offen, und gerade dort üben wir einen zündenden und erfolgreichen Einfluß aus. Wir sprechen die Einbildungskraft und die Gefühle des Menschen an […].“
F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo/ Gründung und Manifest des Futurismus, 1909:
„Avevamo vegliato tutta la notte – i miei amici ed io – […]. Un immenso orgoglio gonfiava i
nostri petti, poiché ci sentivamo soli, in quell’ora, ad esser desti e ritti, come fari superbi o
come sentinelle avanzate, di fronte all’esercito delle stelle nemiche, occhieggianti dai loro
celesti accampamenti.“
„Wir haben die ganze Nacht gewacht – meine Freunde und ich – […]. Ein ungeheurer Stolz
schwellte unsere Brust, denn wir fühlten, in dieser Stunde die einzigen Wachen und Aufrechten zu sein, wie stolze Leuchttürme oder vorgeschobene Wachtposten vor dem Heer der
feindlichen Sterne, die aus ihren himmlischen Feldlagern herunterblickten.“
Theo van Doesburg schreibt 1921 in einer Heerschau der Ismen, daß „Avant-garde de
collectieve benaming voor alle revolutionaire kunstenaarsgroepen“ sei.
9
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Avantgarde als Terror und Krieg
F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo/ Gründung und Manifest des Futurismus, 1909:
„Non v’è più bellezza, se non nella lotta. Nessuna opera che non abbia un carattere aggressivo può essere un capolavoro.“
„Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein
Meisterwerk sein.“ (7. These)
„Noi vogliamo glorificare la guerra – sola igiene del mondo – il militarismo, il patriottismo,
il gesto distruttore dei libertarî, le belle idee per cui si muore e il disprezzo della donna.“
„Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus,
den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt,
und die Verachtung des Weibes.“ (9. These)
F.T. Marinetti, Uccidiamo il Chiaro di Luna!/ Tod dem Mondenschein!, 1909:
„La guerra?… Ebbene, sì: essa è la nostra unica speranza, la nostra ragione di vivere, la
nostra sola volontà!… Sì, la guerra! Contro di voi, che morite troppo lentamente, e contro tutti
i morti che ingombrano le nostre strade!…“
„Krieg? Gewiß!… Unsere einzige Hoffnung, unsere Existenzberechtigung und unser Wille… Ja, der Krieg! Gegen euch, die ihr zu langsam sterbt, und gegen alle Toten, die unseren
Weg versperren!…“
Raoul Hausmann, Dada ist mehr als Dada, 1921
„Dada ist die Faust aufs Auge und der Tritt in den verlängerten Rücken […].“
André Breton, Second manifeste du surréalisme/ Zweites Manifest des Surrealismus, 1930:
Es gelte zu begreifen, „que le surréalisme n’ait pas craint de se faire un dogme de la révolte
absolue, de l’insoumission totale, du sabotage en règle, et qu’il n’attende encore rien que
de la violence. L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre
dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“
„[…], daß der Surrealismus vor einem Dogma der absoluten Revolte, der totalen Unbotmäßigkeit, der obligatorischen Sabotage nicht zurückgeschreckt ist und daß er sich einzig
von der Gewalt etwas verspricht. Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit
Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings solange wie möglich in die
Menge zu schießen.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Wichtige Vertreter des Futurismus
Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), Dichter und Theoretiker
Umberto Boccioni (1882-1916), Maler, Bildhauer und Theoretiker
Antonio Sant’Elia (1888-1916), Architekt
Paolo Buzzi (1874-1956), Dichter
Libero Altomare (1883-1962), Dichter
Luciano Folgore (1888-1966), Dichter
Giacomo Balla (1871-1958), Maler
Enrico Prampolini (1894-1956), Maler
Gino Severini (1883-1966), Maler
Carlo Carrà (1881-1966), Maler und Theoretiker
Fortunato Depèro (1892-1960), Maler, Bühnenbildner, Kostümzeichner
Luigi Russolo (1885-1947), Komponist und Maler, Erfinder der Geräuschkunst
Francesco Pratella (1880-1955), Musiker
Anton Giulio Bragaglia (1890-1960), Erfinder des Fotodynamismus
Russolo, Carra, Marinetti, Boccioni, Severini 1910
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der Angriff auf die Institutionen der Kunst
führt. Warum will man sich vergiften? Warum
will man verfaulen?
Und was kann man auf einem alten Bilde
schon anderes sehen als die mühseligen Verrenkungen des Künstlers, der sich abmühte,
die unüberwindbaren Schranken zu durchbrechen, die sich seinem Wunsch entgegenstellen, seinen Traum voll und ganz zu verwirklichen?… Ein altes Bild bewundern,
heißt unsere Sensibilität in eine Aschenurne
schütten, anstatt sie weit und kräftig ausstrahlen zu lassen in Schöpfung und Tat.
Tato, Futuristisches Porträt Marinettis, 1930
F.T. Marinetti, Gründung und Manifest des
Futurismus (1909):
„Von Italien aus schleudern wir unser Manifest
voll mitreißender und zündender Heftigkeit in
die Welt, mit dem wir heute den ,Futurismus‘
gründen, denn wir wollen dieses Land von dem
Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen,
Fremdenführer und Antiquare befreien.
Schon zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe
über und über bedecken.
Museen: Friedhöfe!… Wahrlich identisch in
dem unheilvollen Durcheinander von vielen
Körpern, die einander nicht kennen. Museen:
öffentliche Schlafsäle, in denen man für immer
neben verhaßten oder unbekannten Wesen
schläft! Museen: absurde Schlachthöfe der
Maler und Bildhauer, die sich gegenseitig wild
mit Farben und Linien entlang der umkämpften
Ausstellungswände abschlachten!
Einmal im Jahr mögt ihr dahin pilgern, wie
man zu Allerseelen auf den Friedhof geht…
das gestatte ich euch. Einmal im Jahr mögt ihr
einen Blumenstrauß vor der Mona Lisa niederlegen, …das gestatte ich euch… Aber ich lasse
nicht zu, daß man täglich in den Museen unser
kümmerliches Dasein, unseren gebrechlichen
Mut und unsere krankhafte Unruhe spazieren-
Wollt ihr denn eure besten Kräfte in dieser
ewigen und unnützen Bewunderung der Vergangenheit vergeuden, aus der ihr schließlich
erschöpft, ärmer und geschlagen hervorgehen
werdet?
Wahrlich, ich erkläre euch, daß der tägliche
Besuch von Museen, Bibliotheken und Akademien (diesen Friedhöfen vergeblicher Anstrengungen, diesen Kalvarienbergen gekreuzigter Träume, diesen Registern gebrochenen
Schwunges) für die Künstler ebenso schädlich
ist wie eine zu lange Vormundschaft für manche Jünglinge, die ihr Genie und ihr ehrgeiziger Wille trunken machen. Für die Sterbenden,
für die Kranken, für die Gefangenen mag das
angehen: – die bewunderungswürdige Vergangenheit ist vielleicht ein Balsam für ihre Leiden, da ihnen die Zukunft versperrt ist… Aber
wir wollen von der Vergangenheit nichts
wissen, wir jungen und starken Futuristen!
Mögen also die lustigen Brandstifter mit ihren
verkohlten Fingern kommen! Hier! Da sind
sie!… Drauf! Legt Feuer an die Regale der
Bibliotheken!… Leitet den Lauf der Kanäle
ab, um die Museen zu überschwemmen!…
Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten,
ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen!… Ergreift die Spitzhacken, die
Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt
ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!“
(Übersetzung: Jean-Jacques = Hans Jakob,
erster deutscher Marinetti-Übersetzer)
12
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Idee der ständigen Selbstüberholung
F.T. Marinetti, Fondazione e Manifesto del Futurismo/ Gründung und Manifest des Futurismus, 1909:
„I più anziani fra noi, hanno trent’anni: ci rimane dunque almeno un decennio, per compier
l’opera nostra. Quando avremo quarant’anni, altri uomini più giovani e più validi di noi,
ci gettino pure nel cestino, come manoscritti inutili. – Noi lo desideriamo!
Verranno contro di noi, i nostri successori; verranno di lontano, da ogni parte, danzando su la
cadenza alata dei loro primi canti, protendendo dita adunche de predatori, il buon odore delle
nostre menti in putrefazione, già promesse alle catacombe delle biblioteche.
Ma noi non saremo là… Essi ci troveranno alfine – una notte d’inverno – in aperta campagna,
sotto una triste tettoia tamburellata da una pioggia monotona, e ci vedranno accoccolati accanto ai nostri aeroplani trepidanti e nell’atto di scaldarci le mani al fuocherello meschino che
daranno i nostri libri d’oggi fiammeggiando sotto il volo delle nostre immagini.“
„Die Ältesten von uns sind jetzt dreißig Jahre alt: es bleibt uns also mindestens ein Jahrzehnt,
um unser Werk zu vollbringen. Wenn wir vierzig sind, mögen andere, jüngere und tüchtigere Männer uns ruhig wie nutzlose Manuskripte in den Papierkorb werfen. Wir wünschen es so!
Unsere Nachfolger werden uns entgegentreten; von weither werden sie kommen, von allen
Seiten, sie werden auf dem beflügelten Rhythmus ihrer ersten Gesänge tanzen, ihre gebogenen Raubtierkrallen werden sie ausstrecken und an den Türen der Akademien werden sie wie
Hunde den guten Geruch unseres verwesenden Geistes wittern, der bereits den Katakomben
der Bibliotheken geweiht ist.
Aber wir werden nicht da sein!… Sie werden uns schließlich finden – in einer Winternacht –
auf offenem Feld, unter einem traurigen Hangar, auf den ein eintöniger Regen trommelt, sie
werden uns neben unseren Flugzeugen hocken sehen, zitternd und bemüht, uns an dem kümmerlichen kleinen Feuer zu wärmen, das unsere Bücher von heute geben, die unter dem
Flug unserer Bilder auflodern.“ (Übersetzung: Jean-Jacques)
Walter Conrad Arensberg, DADA is American, 1920:
„A true work of DADA shouldn’t live more than six hours.“
Vgl. dagegen Ovid am Ende seiner Metamorphosen, ca. 8 n. Chr.:
„Habe vollbracht nun ein Werk, das nicht Juppiters Zorn, das nicht Schwert noch / Feuer
wird können zerstören und nicht das gefräßige Alter. / Setze der Tag, dem nur ein Recht
auf den Leib hier gegeben, / Wann er nur mag ein Ziel meinem flüchtigen Dasein: ich werde /
Doch mit dem besseren Teil meines Selbst mich über die Sterne / Heben auf ewig und unzerstörbar wird bleiben mein Name.“ (Übersetzung: Erich Rösch)
13
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Apotheose der Technik im Futurismus
F.T. Marinetti, Das futuristische Italien:
„Oh! wie beneide ich die Menschen, die in
hundert Jahren auf meiner schönen Halbinsel
geboren werden, die durch die neuen elektrischen Kräfte völlig neubelebt, in Bewegung
versetzt und aufgezäumt ist!… Da, entlang der
ganzen Küste erscheint uns das grüne Meer,
das nichts mehr von der Muße und Trägheit
einer bewunderten, verzehrenden und treulosen
Kurtisane hat und endlich gezähmt, tätig und
produktiv ist. Das weite grüne Meer, das die
Dichter so törichterweise angebetet haben,
arbeitet überall, mit all seinen flinken und wütenden Stürmen, im emsigen Reigen zahlloser
Eisenflöße, die zwei Millionen von Dynamos
betreiben, die auf dem Strand und in den tausend arbeitsamen Golfen aufgestellt sind.
Durch ein Netz von Metallkabeln steigt die
vereinte Kraft des Mittelmeeres und der Adria
bis zu den Gipfeln des Apennin empor, um
sich in großen Käfigen aus Eisen und Kristall
zu konzentrieren, furchtbare Akkumulatoren,
enorme Kraftzentren, die in Abständen auf
dem gebirgigen Rückgrat Italiens aufgestellt
sind. Durch die Muskeln, Arterien und Nerven
der Halbinsel verbreiten sich die Energien
ferner Winde und die Revolten des Meeres, die
das Genie des Menschen in mehrere Millionen
Kilowatt verwandelt hat, überall hin, ohne
Leitungen, mit einer befruchtenden Fülle, die
die von Ingenieuren bedienten Tastaturen regulieren. Diese Ingenieure leben in Hochspannungskammern, in denen 100 000 Volt zwischen den großen Glastüren vibrieren. Sie sitzen vor Verteilertischen, rechts und links Zähler, Steuer- und Schaltapparate, und überall der
mächtige Blitz glänzender Kurbeln. […] Von
der Höhe ihrer Eindecker lenken sie durch
drahtlose Telephone den blitzschnellen Lauf
der Saat-Züge, die zwei- oder dreimal im Jahr
die Ebenen zum frenetischen Säen durchque-
ren. Jeder Waggon trägt auf seinem Dach einen
riesigen Eisenarm, der sich horizontal dreht
und dabei rundherum Saatkorn ausstreut. Und
die Elektrizität sorgt auch für ein beschleunigtes Aufgehen der Saat. Die gesamte in der Luft
enthaltene Elektrizität, die gesamte unberechenbare Elektrizität des Erdinnern wird endlich nutzbar gemacht. Die unzähligen Blitzableiter und Dynamo-Fang-Masten, die in endloser Reihe in Gemüsekulturen und Gärten stehen, kitzeln mit ihren Spitzen den aufgeblähten
und stürmischen Bauch der Wolken, damit sie
ihre stimulierenden Kräfte bis zu den Wurzeln
der Pflanzen fließen lassen können… Die Erde
gibt endlich ihren ganzen Ertrag. […] Hunger
und Armut verschwinden. Die bittere soziale
Frage ist abgeschafft.“
Altomare, Boccioni, Bonzagni u.a., Manifest gegen das passatistische Venedig,
1910:
„Wir lehnen das alte, von jahrhundertelanger
Wollust erschöpfte und verblühte Venedig ab,
obwohl auch wir es einst in einem nostalgischen Traum liebten und besaßen. […] / Wir
wollen die Geburt eines industriellen und
militärischen Venedig vorbereiten, das in der
Lage ist, die Adria, das kleine italienische
Binnenmeer, zu beherrschen. / Beeilen wir uns,
die kleinen stinkenden Kanäle mit dem Schutt
der alten fallenden Paläste zuzuschütten. /
Verbrennen wir die Gondeln, Schaukelstühle
für Dummköpfe, und errichten wir bis zum
Himmel die imposante Geometrie der Metallbrücken und der rauchgekrönten Fabriken, um die erschlafften Kurven der alten Bauten abzuschaffen. / Es komme endlich das
Reich des göttlichen elektrischen Lichtes,
um Venedig von seinem käuflichen Mondschein der möblierten Zimmer zu befreien.“
14
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Das futuristische Ideal des Menschen: Der Mensch als Maschine
F.T. Marinetti, Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine:
„Es gilt daher, die unmittelbar bevorstehende Identifikation des Menschen mit der Maschine vorzubereiten, indem man einen ununterbrochenen Austausch von Intuition, Rhythmus,
Instinkt und metallischer Disziplin erleichtert und vollendet, wovon die Mehrheit noch keinerlei Begriff hat und nur die erleuchtetsten Köpfe etwas ahnen. / Akzeptiert man Lamarcks
transformistische Hypothese, so wird man sicher anerkennen, daß wir die Schaffung eines ahumanen Typus anstreben. Gewissenspein, Güte, Gefühl und Liebe stellen nichts als zerfressende Gifte der unerschöpflichen vitalen Energie dar, bloße Barrieren für den Fluß unserer
mächtigen physiologischen Elektrizität. Sie werden eliminiert werden. / Wir glauben an die
Möglichkeit einer unabsehbaren Zahl menschlicher Verwandlungen und erklären in vollem
Ernst, daß im Fleisch des Menschen Flügel schlafen. / Wenn es dem Menschen möglich
sein wird, seinen Willen in der Weise Gestalt annehmen zu lassen, daß er sich außerhalb seiner wie zu einem immensen, unsichtbaren Arm verlängere, werden Traum und Begehren,
heute nichts als leere Worte, souverän über den gebändigten Raum und die gezähmte Zeit
herrschen. / Der für eine allgegenwärtige Geschwindigkeit geschaffene a-humane und
mechanische Typus wird natürlich grausam, allgegenwärtig und kampfbereit sein. / Er
wird mit Organen ausgestattet sein, angepaßt an die Erfordernisse seiner Umwelt voller
unablässiger Erschütterungen. […] Wie ihr des weiteren mit Leichtigkeit feststellen könnt,
stößt man heute ohne Zweifel immer häufiger auf einfache Leute aus dem Volk, die zwar über
keinerlei Kultur verfügen, denen aber dessen ungeachtet das gegeben ist, was ich die große
mechanische Vergöttlichung oder den metallischen Sinn nenne. / Und zwar deshalb, weil
diesen Arbeitern ihre Erziehung bereits durch die Maschine zuteil wird und sie sich auf irgend
eine Weise den Motoren anverwandeln. / Obschon das Bedürfnis nach Gefühl in den Adern
des Menschen noch nicht zerstörbar ist, muß man es unbedingt verringern, will man die Bildung des a-humanen, mechanischen, durch die Veräußerlichung seines Willens potenzierten
Menschen vorbereiten. […] Man begegnet heute Menschen, die in schöner, stahlfarbener
Stimmung beinahe ohne Liebe durchs Leben schreiten. Sorgen wir dafür, daß die Zahl dieser
exemplarischen Menschen stetig zunehme. Anstatt abends eine süße Geliebte aufzusuchen,
lieben es diese energischen Wesen, morgens mit liebender Sorgfalt dem perfekten Betriebsbeginn in ihrer Werkstatt beizuwohnen.“
F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912:
„Wir werden die scheinbar unbeugsame Feindschaft besiegen, die unser menschliches
Fleisch vom Metall der Motoren trennt. / Nach dem Reich der Lebewesen beginnt das
Reich der Maschinen. Durch Kenntnis und Freundschaft der Materie, von der die Naturwissenschaftler nur die physikalisch-chemischen Reaktionen kennen können, bereiten wir die
Schöpfung des MECHANISCHEN MENSCHEN MIT ERSATZTEILEN vor. Wir werden ihn vom Todesgedanken befreien, und folglich auch vom Tode, dieser höchsten Definition logischer Intelligenz.“
Enrico Prampolini, Ivo Pannaggi, Vinicio Paladini, Die mechanische Kunst, 1922:
„WIR FÜHLEN WIE MASCHINEN, WIR FÜHLEN UNS AUS STAHL ERBAUT, AUCH
WIR MASCHINEN, AUCH WIR MECHANISIERT!“
15
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Animierung und Erotisierung der Maschine im Futurismus
F.T. Marinetti, Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine:
„Deshalb entwickeln und verkünden wir eine neue große Idee aus dem zeitgenössischen Leben: die Idee der mechanischen Schönheit; und daher preisen wir die Liebe zur Maschine,
wie wir sie auf den versengten und rußgeschwärzten Wangen der Mechaniker aufflammen
sahen. Habt ihr nie einen Lokomotivführer beobachtet, wie er liebevoll den großen und mächtigen Körper seiner Lokomotive wäscht? Es sind die präzisen und wissenden Zärtlichkeiten
eines Liebhabers, der die angebetete Frau liebkost. / Beim großen Streik der französischen
Bahnarbeiter war festzustellen, daß die Organisatoren dieser Sabotage sich vergeblich mühten, auch nur einen Lokomotivführer zur Beschädigung seiner Lokomotive zu bewegen. / Mir
scheint dies absolut natürlich. Wie hätte einer dieser Männer seine treue und ergebene Freundin mit ihrem glühenden und hingebungsvollen Herzen verletzen können? Seine schöne, stählerne Maschine, die so oft vor Wonne unter seiner einölenden Zärtlichkeit glänzte? / […] Ihr
werdet sicher schon Betrachtungen der Art vernommen haben, in denen sich für gewöhnlich
Besitzer von Automobilen und Leiter von Werkstätten zu ergehen pflegen: ,Die Motoren‘,
sagen sie, ,sind wirklich geheimnisvoll… Sie haben ihre Launen, unerwartete Grillen. Es
scheint so, als hätten sie eine Persönlichkeit, eine Seele, einen Willen. Man muß sie streicheln und mit Respekt behandeln, niemals schlecht; und nie darf man sie zu sehr ermüden.
Wenn ihr es so macht, wird diese Maschine aus Gußeisen und Stahl, wird diese nach präzisen
Angaben konstruierte Motor euch nicht nur seine ganze Leistung schenken, sondern die
doppelte und dreifache, viel mehr und viel besser als nach den Berechnungen des Konstrukteurs – seines Vaters! – zu erwarten stand.‘ Nun – für mich bergen diese Sätze eine tiefe,
offenbarende Bedeutung. Sie kündigen mir die baldige Entdeckung der Gesetze einer wirklichen Sensibilität der Maschinen an!“
16
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die futuristische Sensibilität (I)
F.T. Marinetti, Zerstörung der Syntax.
Drahtlose Phantasie. Befreite Worte, 1913:
„Der Futurismus beruht auf einer vollständigen Erneuerung der menschlichen Sensibilität, die eine Folge der großen wissenschaftlichen Entdeckungen ist. Wer heute
den Fernschreiber, das Telephon, das Grammophon, den Zug, das Fahrrad, das Motorrad,
das Auto, den Überseedampfer, den Zeppelin,
das Flugzeug, das Kino, die große Tageszeitung (Synthese eines Tages der Welt) benutzt,
denkt nicht daran, daß diese verschiedenen
Arten der Kommunikation, des Transportes
und der Information auf seine Psyche einen
entscheidenden Einfluß ausüben. / Jeder
Mensch kann sich mit einer vierundzwanzigstündigen Fahrt im Zug von einer kleinen,
toten Stadt mit verlassenen Plätzen, auf denen
sich die Sonne, der Staub und der Wind still
vergnügen, in eine große Metropole versetzen,
die vor Licht, Gebärden und Geschrei starrt…
Der Bewohner eines Alpendorfes kann durch
eine Zeitung jeden Tag angsterfüllt um die
Aufständischen in China, die Suffragetten in
London und in New York, um Dr. Carrel und
die heroischen Schlitten der Polarforscher bangen. Der ängstliche und unbewegliche Einwohner jeder beliebigen Provinzstadt kann sich
den Rausch der Gefahr leisten, wenn er im
Kino einer Großwildjagd im Kongo beiwohnt.
Er kann japanische Athleten, schwarze Boxer,
Amerikaner von unerschöpflicher Exzentrik
und hochelegante Pariserinnen bewundern,
wenn er eine Mark für das Varieté ausgibt.
Wenn er dann zu Hause in seinem Bett liegt,
kann er die ferne und teure Stimme eines Caruso oder einer Burzio genießen. / Diese heute
allen zugänglichen technischen Mittel erwekken in oberflächlichen Gehirnen keinerlei
Neugierde […]. Diese technischen Errungenschaften bedeuten hingegen für den aufmerksamen Beobachter ebenso viele Verände-
rungsmöglichkeiten unserer Sensibilität,
denn sie haben die folgenden bedeutenden
Phänomene geschaffen.
1. Beschleunigung des Lebens, das heute einen raschen Rhythmus hat. […] Vielseitige
und gleichzeitige Bewußtseinslagen in ein
und derselben Person. / 2. Abscheu vor allem
Alten und Bekannten. Liebe zum Neuen,
zum Unvorhergesehenen. / 3. Abscheu vor
dem ruhigen Leben, Liebe zur Gefahr und
Heroismus im täglichen Leben. […] / 12. Der
von der Maschine vervielfältigte Mensch.
Neuer mechanischer Sinn, Verschmelzung des
Instinktes mit der Leistungsfähigkeit des Motors und den geschulten Kräften. / 13. Leidenschaft, Kunst und Idealismus des Sports. Begriff des ,Rekords‘ und Liebe zu ihm. / 14.
Neues Gefühl für den Reiseverkehr, die Überseedampfer und die großen Hotels (jährliche
Synthese der verschiedenen Völker). Begeisterung für die Stadt. Überwindung der Entfernungen und der sehnsüchtigen Einsamkeit.
Verspottung der himmlischen Ruhe im Grünen
und der unantastbaren Landschaft. / 15. Die
Welt schrumpft durch Geschwindigkeit zusammen. Neues Weltgefühl […]. Daraus ergibt
sich für den einzelnen die Notwendigkeit, mit
allen Völkern der Welt in Verbindung zu treten. Deshalb muß sich jeder als Mittelpunkt
fühlen […]. Das menschliche Gefühl nimmt
gigantische Ausmaße an […]. / 16. Ekel vor
der gekrümmten Linie, der Spirale und dem
Tourniquet. Liebe zur Gerade und zum
Tunnel. Gewöhnung an die verkürzten Ansichten und optischen Synthesen, die von der
Geschwindigkeit der Züge und Autos erzeugt
werden, die sich Städte und Landschaften von
oben ansehen. Abscheu vor der Langsamkeit,
der Pedanterie, den Analysen und den detaillierten Erklärungen. Liebe zur Geschwindigkeit, zur Abkürzung und zum Resümee.
,Erzähl mir schnell alles, in zwei Worten.‘“
17
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die futuristische Sensibilität (II)
F.T. Marinetti, Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà, 1913:
„Il Futurismo si fonda sul completo rinnovamento della sensibilità umana avvenuto per effetto
delle grandi scoperte scientifiche.“ „Ecco alcuni degli elementi della nuova sensibilità futurista che hanno generato il nostro dinamismo pittorico, la nostra musica antigraziosa senza quadratura ritmica, la nostra Arte dei rumori e le nostre parole in libertà.“
Wiss.-techn. Neuerungen
→
(Telefon, Fernschreiber usw.
Auto, Zug, Flugzeug usw.)
Wiss.-techn. Neuerungen
←
Futurist. Sensibilität
→
(Gefühl der geschrumpften Welt
Liebe zur Geschwindigkeit
Abscheu vor dem ruhigen Leben
Horror vor dem Alten
Liebe zum Neuen, zur Gefahr
Leidenschaft für den Sport
Begeisterung für die Stadt
Simultanperzeption
Bedürfnis nach Schocks
usw.)
Futurist. Sensibilität
←
Futurist. Kunst
(bildn. Dynamismus
Geräuschkunst
Worte in Freiheit)
Futurist. Kunst
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1936:
„Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise
der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und
Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem
sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt. […] Und wenn Veränderungen im Medium der Wahrnehmung, deren Zeitgenossen wir sind, sich als Verfall der
Aura begreifen lassen, so kann man dessen gesellschaftliche Bedingungen aufzeigen.“ „Das
Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie
bedrohenden Gefahren.“
18
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der bildnerische Dynamismus der Futuristen
Boccioni, Carrà, Russolo, Balla, Severini, Die futuristische Malerei – Technisches Manifest,
1910:
„Alles bewegt sich, alles fließt, alles vollzieht sich mit größter Geschwindigkeit. Eine Figur steht
niemals unbeweglich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet unaufhörlich. Durch das Beharren des Bildes auf der Netzhaut vervielfältigen sich die in Bewegung befindlichen Dinge, ändern
ihre Form und folgen aufeinander wie Schwingungen im Raum. So hat ein galoppierendes Pferd nicht
vier, sondern zwanzig Beine, und ihre Bewegungen sind dreieckig. / In der Kunst ist alles Konvention,
und die Wahrheiten von gestern sind für uns heute lauter Lügen.“
Boccioni, Carrà, Russolo, Balla, Severini, Futuristen. Die Aussteller an das Publikum, 1912:
„Der Wunsch, den ästhetischen Eindruck zu verstärken, der gleichsam das Bild mit der Seele des Betrachters in eines zusammenschweißt, hat uns bewogen zu erklären, ,daß der Beschauer von nun an
in der Mitte des Bildes stehen solle.‘ / Er wird dem Vorgange nicht nur beiwohnen, sondern auch teil
an ihm haben. Wenn wir malen, so übersetzen sich die Phasen eines Aufstandes, die sich mit Faustschlägen bedeckende Menge und der Angriff der Kavallerie auf der Leinwand durch Linienbündel, die
allen in Konflikt geratenen Kräften entsprechen, indem sie dem Gesetz der allgemeinen Gewalttätigkeit des Bildes folgen. – Diese ,Linienkräfte‘ müssen den Betrachter einhüllen und mit sich fortreißen; er muß gleichsam mit den Persönlichkeiten des Bildes kämpfen müssen.“
Giacomo Balla, Fahrendes Auto, 1913
19
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die futuristische Idee einer Kunst der Geräusche
Tones als eine selbständige Sache, die sich
vom Leben unterscheidet und von ihm
unabhängig ist. Daraus ging die Musik als
eine phantastische, unverletzliche und heilige Welt hervor, die über der wirklichen Welt
liegt.“
Luigi Russolo, Die Geräuschkunst, 1913:
„Das Leben der Vergangenheit war Stille.
Mit der Erfindung der Maschine im 19.
Jahrhundert entstand das Geräusch. Heute
triumphiert und herrscht das Geräusch souverän über die Sensibilität der Menschen. Viele
Jahrhunderte lang hat sich das Leben still oder
wenigstens in gedämpften Tönen abgespielt.
Die stärksten Geräusche, die diese Stille
durchbrachen, waren weder intensiv noch andauernd, noch abwechslungsreich. Denn sieht
man von den seltenen Erdbeben, den Orkanen,
Stürmen, Lawinen und Wasserfällen ab, ist die
Natur still. / Bei diesem Mangel an Geräuschen setzten die ersten Töne, die der Mensch
aus einem durchbohrten Rohr oder einem gespannten Seil herauszuholen verstand, als etwas Neues und Bewunderungswürdiges in
Erstaunen. Die primitiven Völker führten den
Ton auf die Götter zurück, er galt als heilig und
war den Priestern vorbehalten, die sich seiner
bedienten, um die Riten mit mehr Geheimnis
zu umgeben. / So entstand der Begriff des
„WIR MÜSSEN ÜBER DIESEN ENGEN
KREIS DER REINEN TÖNE HINAUSGEHEN UND DIE UNENDLICHE VIELFALT
DER ,GERÄUSCH-TÖNE‘ HINNEHMEN.
[…] Wenn wir eine moderne Großstadt mit
aufmerksameren Ohren als Augen durchqueren, dann werden wir das Glück haben, den
Sog des Wassers, der Luft oder des Gases in
den Metallröhren, das Brummen der Motoren,
die zweifellos wie Tiere atmen und beben, das
Klopfen der Ventile, das Auf und Ab der Kolben, das Kreischen der Sägewerke, die Sprünge der Straßenbahn auf den Schienen, das
Knallen der Peitschen und das Rauschen von
Vorhängen und Jalousien zu unterscheiden.
Wir haben Spaß daran, den Krach der Jalousien der Geschäfte, der zugeworfenen Türen,
den Lärm und das Scharren der Menge, die
verschiedenen Geräusche der Bahnhöfe, der
Spinnereien, der Druckereien, der Elektrizitätswerke und der Untergrundbahnen im Geiste zu orchestrieren. / WIR WOLLEN DIESE SO VERSCHIEDENEN GERÄUSCHE
AUFEINANDER
ABSTIMMEN
UND
HARMONISCH ANORDNEN.“
„Hier die 6 Geräuschfamilien des futuristischen Orchesters, die wir bald mechanisch
verwirklichen werden: 1. Brummen, Donnern,
Bersten, Prasseln, Plumpsen, Dröhnen; 2. Pfeifen, Zischen, Pusten; 3. Flüstern, Murmeln,
Brummeln, Surren, Brodeln; 4. Knirschen,
Knacken, Knistern, Summen, Knattern, Reiben; 5. Geräusche, die durch Schlagen auf
Metal, Holz, Leder, Steine, Terrakotta usw.
entstehen; 6. Tier- und Menschenstimmen:
Rufe, Schreie, Stöhnen, Gebrüll, Geheul, Gelächter, Röcheln, Schluchzen. / In dieser Aufstellung sind die charakteristischen Grundgeräusche enthalten; alle anderen sind nur Verbindungen und Kombinationen von ihnen.“
20
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (I)
F.T. Marinetti, Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte,1913:
„Stellt euch vor, ein Freund von euch, der über diese lyrische Fähigkeit verfügt, befindet sich
in einer Zone intensiven Lebens (Revolution, Krieg, Schiffbruch, Erdbeben usw.) und
kommt gleich darauf, um euch seine Eindrücke zu erzählen. Wißt ihr, was euer lyrischer und
erregter Freund instinktiv machen wird?… / Er wird zunächst beim Sprechen brutal die
Syntax zerstören. Er wird keine Zeit mit dem Bau von Sätzen verlieren. Er wird auf
Interpunktion und das Setzen von Adjektiven pfeifen. Er wird nicht darauf achten, seine Rede
auszufeilen und zu nuancieren, sondern er wird ganz außer Atem in Eile seine Seh-, Gehörund Geruchsempfindungen in eure Nerven werfen, so wie sie sich ihm aufdrängen. Das
Ungestüm seiner Dampf-Emotion wird das Rohr des Satzes zersprengen, die Ventile der Zeichensetzung und die Regulierbolzen der Adjektive. Viele Handvoll von essentiellen Worten
ohne irgendeine konventionelle Ordnung. Einzige Sorge des Erzählers: alle Vibrationen seines Ichs wiederzugeben.“
21
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (II)
2. MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV
GEBRAUCHEN, damit es sich elastisch dem
Substantiv anpaßt, und es nicht dem Ich des
Schriftstellers unterordnen, der beobachtet
oder erfindet. Nur das Verb im Infinitiv kann
das Gefühl für die Fortdauer des Lebens und
die Elastizität der Intuition, durch die sie
wahrgenommen wird, vermitteln.
3. MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN, damit das Substantiv seine wesenhafte Färbung beibehält. Da das Adjektiv
seinem Wesen nach nuancierend ist, ist es mit
unserer dynamischen Vision unvereinbar,
denn es setzt einen Stillstand, eine Überlegung
voraus.
4. MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN, diese alte Schnalle, die ein Wort an das
andere bindet. Das Adverb gibt dem Satz einen
lästigen einheitlichen Ton.
F.T. Marinetti, Technisches Manifest der
futuristischen Literatur, 1912:
„Ich saß im Flugzeug auf dem Benzintank und
wärmte meinen Bauch am Kopf des Fliegers,
da fühlte ich die lächerliche Leere der alten,
von HOMER ererbten Syntax. Stürmisches
Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus
dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu
ziehen! Dieser hat natürlich, wie alle Dummköpfe, einen vorausschauenden Kopf, einen
Bauch, zwei Beine und zwei Plattfüße, aber er
wird niemals zwei Flügel haben. Es reicht gerade, um zu gehen, einen Augenblick zu laufen
und fast sofort wieder anzuhalten!
Das hat mir der surrende Propeller gesagt,
während ich in einer Höhe von zweihundert
Metern über die mächtigen Schlote von Mailand flog. Und er fügte hinzu:
1. MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH
ZERSTÖREN, DASS MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS GERATEWOHL ANORDNET,
SO WIE SIE ENTSTEHEN.
5. JEDES SUBSTANTIV MUSS SEIN DOPPEL HABEN, d.h. jedem Substantiv muß ohne
Bindewort das Substantiv folgen, dem es durch
Analogie verbunden ist. Beispiel: Mann–
Torpedoboot,
Frau–Meerbusen,
Menge–
Brandung, Platz–Trichter, Tür–Wasserhahn.
Da die Fluggeschwindigkeit unsere Kenntnis
der Welt vervielfacht hat, wird die Wahrnehmung durch Analogien immer natürlicher für
den Menschen. Man muß folglich die Redewendungen wie, gleich, so wie, ähnlich unterdrücken. Besser noch sollte man direkt den
Gegenstand mit dem von ihm heraufbeschworenen Bild verschmelzen und so das
Bild mit einem einzigen, essentiellen Wort in
Verkürzung wiedergeben.
6. AUCH DIE ZEICHENSETZUNG MUSS
ABGESCHAFFT WERDEN. Sind Adjektive,
Adverbien und Konjunktionen erst beseitigt,
dann ist die Zeichensetzung natürlich aufgehoben in der wechselnden Dauer eines lebendigen, durch sich selbst geschaffenen Stils, ohne
die absurden Unterbrechungen durch Kommata
und Punkte. Um gewisse Bewegungen hervorzuheben und ihre Richtung anzugeben, wird
man die mathematischen Zeichen: + – × : = >
< und die musikalischen Zeichen verwenden.“
22
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Marinettis Konzept der „Parole in libertà“ (III)
F.T. Marinetti, Technisches Manifest der
futuristischen Literatur, 1912:
Marinetti, Schlacht. Gewicht + Geruch,
1911, Auszüge:
„11. MAN MUSS DAS ,ICH‘ IN DER LITERATUR ZERSTÖREN […]. An seine Stelle
muß endlich die Materie treten, deren Wesen
schlagartig durch Intuition erfaßt werden muß
[…]. An die Stelle der längst erschöpften
Psychologie des Menschen muß DIE LYRISCHE BESESSENHEIT DER MATERIE
treten. […] Nur der asyntaktische Dichter, der
sich der losgelösten Worte bedient, wird in das
Wesen der Materie eindringen und die dumpfe
Feindschaft, die sie von uns trennt, zerstören
können.“
„Mittag ¾ flöten gestöhn gluthitze bumbum
alarm Gargaresch krachen knattern marsch
Geklirr tornister gewehre hufe nägel kanonen
mähnen räder kisten juden schmalzgebäck
ölkuchen kantilene kramläden dunstwolken
schillern augenbutter gestank zimt“
„Man ruft uns zu: ,Eure Literatur wird nicht
schön sein! Wir werden keine Wortsymphonie
mit harmonischen Schwankungen und beruhigenden Kadenzen mehr haben!‘ Richtig! Ein
Glück! Wir werden im Gegenteil alle brutalen
Töne gebrauchen, alle ausdrucksvollen Schreie
des heftigen Lebens, das uns umgibt. FÜHREN WIR MUTIG DAS ,HÄSSLICHE‘ IN
DIE LITERATUR EIN, UND TÖTEN WIR
DIE FEIERLICHKEIT, WO IMMER WIR
SIE FINDEN. Los! nehmt nicht die Allüren
von Hohenpriestern an, wenn ihr mir zuhört!
Man muß jeden Tag den Altar der Kunst anspeien! Wir betreten das grenzenlose Reich der
freien Intuition. Nach dem freien Vers, nun
endlich DIE BEFREITEN WORTE!“
„Vorhut: 20 meter bataillone-ameisen reitereispinnen straßen-furten general-inselchen meldereiter-heuschrecken sand-revolution haubitzen-volksredner
wolken-gitter
gewehremärtyrer schrapnells-heiligenscheine multiplikation addition division haubitzen-abziehen
granate-tilgung triefen fließen erdrutsch blöcke
lawine“
23
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die futuristische Idee des Theaters (I)
präsentiert, ohne Apparat und ohne Zerknirschtheit, wie eine x-beliebige Attraktion.
So billigen wir bedingungslos die Aufführung
des Parsifal in 40 Minuten, die in einem großen Varieté in London vorbereitet wird.“
Boccioni, Futuristische Soiree in Mailand, 1911
F.T. Marinetti, Il Teatro di Varietà/ Das
Varieté, 1913:
„DER FUTURISMUS VERHERRLICHT
DAS VARIETÉ, denn: / 1. Das Varieté, das
gleichzeitig mit der Elektrizität entstanden ist,
hat zum Glück weder Tradition noch Meister
noch Dogmen, sondern lebt von Aktualität. /
2. Das Varieté dient rein praktischen Zwecken,
denn es sieht seine Aufgabe darin, das Publikum durch Komik, erotischen Reiz oder geistreiches Schockieren zu zerstreuen und zu
unterhalten. / 3. Die Autoren, die Schauspieler und die Techniker des Varietés haben eine
einzige Daseinsberechtigung und Erfolgschance: ständig neue Möglichkeiten zu ersinnen,
um die Zuschauer zu schockieren. Auf diese
Weise sind Stagnation und Wiederholung völlig unmöglich, und die Folge ist ein Wetteifer
der Gehirne und Muskeln, um die verschiedenen Rekorde an Geschicklichkeit, Geschwindigkeit, Kraft, Komplikationen und Eleganz zu
überbieten.“
„15. Das Varieté zerstört das Feierliche, das
Heilige, das Ernste und das Erhabene in der
Kunst. Es hilft bei der futuristischen Vernichtung der unsterblichen Meisterwerke mit, weil
es sie plagiiert, parodiert, auf zwanglose Art
„Das Varieté ist das einzige Theater, das sich
die Mitarbeit des Publikums zunutze macht.
Dieses bleibt nicht unbeweglich wie ein dummer Gaffer, sondern nimmt lärmend an der
Handlung teil, singt mit, begleitet das Orchester und stellt durch improvisierte und wunderliche Dialoge eine Verbindung zu den Schauspielern her. […] Das Varieté nützt auch den
Rauch der Zigarren und Zigaretten aus, um die
Atmosphäre des Publikums mit der der Bühne
zu verschmelzen. Und weil das Publikum auf
diese Weise mit der Phantasie der Schauspieler
zusammenarbeitet, spielt sich die Handlung
gleichzeitig auf der Bühne, in den Logen
und im Parkett ab. Sie setzt sich nach Schluß
der Aufführung zwischen den Bataillonen der
Bewunderer in Smoking mit Monokel fort, die
sich am Ausgang drängen, um sich den Star
streitig zu machen.“
„Man muß die Überraschung und die Notwendigkeit zu handeln unter die Zuschauer
des Parketts, der Logen und der Galerie
tragen. Hier nur ein paar Vorschläge: auf ein
paar Sessel wird Leim geschmiert, damit die
Zuschauer – Herr oder Dame – kleben bleiben
und so die allgemeine Heiterkeit erregen (der
Frack oder das beschädigte Kleid werden
selbstverständlich am Ausgang ersetzt). – Ein
und derselbe Platz wird an zehn Personen verkauft, was Gedrängel, Gezänk und Streit zur
Folge hat. – Herren und Damen, von denen
man weiß, daß sie leicht verrückt, reizbar oder
exzentrisch sind, erhalten kostenlose Plätze,
damit sie mit obszönen Gesten, Kneifen der
Damen oder anderem Unfug Durcheinander
verursachen. – Die Sessel werden mit Juck-,
Niespulver usw. bestreut.“
24
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die futuristische Idee des Theaters (II)
F.T. Marinetti, E. Settimelli, B. Corra, Das
futuristische synthetische Theater, 1915:
„Wir schaffen das futuristische Theater:
SYNTHETISCH
also sehr kurz. In wenigen Minuten, in wenige
Worte und in wenige Gesten wird eine Unzahl
von Situationen, Empfindungen, Ideen, Sinneswahrnehmungen, Ereignissen und Symbolen zusammengedrängt.
Wir sind überzeugt, daß man durch die Kürze
auf mechanischem Wege zu einem völlig neuen Theater gelangen kann, das in vollkommenem Einklang mit unserer sehr raschen und
lakonischen futuristischen Sensibilität steht.
Bei uns kann ein Akt ein Augenblick sein, also
nur wenige Sekunden dauern. […]
ATECHNISCH
[…] Mit unserem Streben nach einem synthetischen Theater wollen wir den technischen
Aufbau zerstören, der, anstatt sich zu vereinfachen, von den Griechen bis heute immer dogmatischer, töricht logisch, peinlich genau und
pedantisch geworden ist und alles erstickt. […]
AUTONOM, ALOGISCH, IRREAL
Die futuristische Theater-Synthese wird nicht
der Logik unterworfen sein, sie wird nichts
Photographisches enthalten, sie wird autonom
sein, nur sich selbst gleichen, obwohl sie die
Elemente, die sie nach ihrer Laune kombiniert,
aus der Wirklichkeit zieht.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Wichtige Vertreter des Dadaismus
Dada Zürich
Hugo Ball (1886-1927)
Richard Huelsenbeck (1892-1974)
Hans Arp (1887-1966)
Tristan Tzara (1896-1963)
Marcel Janco (1895-1963)
Emmy Hennings (1885-1948)
Hans Richter (1888-1976)
Dada Berlin
Richard Huelsenbeck (1892-1974)
Raoul Hausmann (1886-1971)
Hanna Höch (1889-1978)
Johannes Baader (1875-1955)
George Grosz (1893-1959)
Hans Richter (1888-1976)
John Heartfield (1891-1968)
Wieland Herzfelde (1896-1988)
Jefim Golyscheff (1897-1971)
MERZ-Dada Hannover
Kurt Schwitters (1887-1948)
Dada Holland
Theo van Doesburg (1883-1931)
Kurt Schwitters (1887-1948)
Dada Paris
Tristan Tzara (1896-1963)
André Breton (1896-1966)
Louis Aragon (1897-1982)
Paul Eluard (1895-1952)
Philippe Soupault (1897-1990)
Francis Picabia (1879-1953)
Georges Ribemont-Dessaignes (1884-1974)
Dada New York
Marcel Duchamp (1887-1968)
Man Ray (1890-1976)
Walter Conrad Arensberg (1878-1954)
Arthur Cravan (1887-1920)
E.E. Cummings (1894-1962)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der chaotisch-anarchische Geist von Dada
Hugo Ball (1886-1927)
Raoul Hausmann (1886-1971)
Tristan Tzara (1896-1963)
Ball im Zürcher Tagebuch, 24. 5. 1916:
Hausmann, Dada empört
sich, regt sich und stirbt
in Berlin, 1970:
Tzara, Vortrag auf dem
Dada-Kongress 1924:
„Wir sind fünf Freunde, und
das Merkwürdige ist, daß
wir eigentlich nie gleichzeitig und völlig übereinstimmen, obgleich uns in der
Hauptsache dieselbe Überzeugung verbindet. Die
Konstellationen wechseln.
Bald verstehen sich Arp und
Huelsenbeck und scheinen
unzertrennlich, dann verbinden sich Arp und Janco gegen H., dann H. und Tzara
gegen Arp usw. Es ist eine
ununterbrochen wechselnde
Anziehung und Abneigung.
Ein Einfall, eine Geste, eine
Nervosität genügt, und die
Konstellation ändert sich,
ohne den kleinen Kreis indessen ernstlich zu stören.“
(FZ 96)
„Die Mitglieder des Club
DADA waren eifersüchtig
und lieferten sich oftmals
recht kleinliche Angriffe
und Kämpfe. / Die Heartfield-Herzfelde und Mehring
beteten George Grosz, diesen Pseudorevolutionär, an,
Huelsenbeck betete nur
Huelsenbeck an; obgleich er
mit mir die meisten unserer
12 Manifestationen gemacht
hatte, war er immer bereits,
zu den Groszisten zu neigen.
/ Auf der anderen Seite
sonderte ich mich mit Baader ab, der unglücklicherweise zu oft von seinen religiös-paranoischen Ideen besessen war.“ (DB 8)
„Ein weiteres Charakteristikum Dadas ist die ständige
Trennung unserer Freunde.
Man trennt sich und man
kündigt. Der erste, der der
Dada-Bewegung aufgekündigt hat, bin ich. […] Im
Grunde waren die echten
Dadaisten immer von Dada
getrennt.“ (RH 58f.)
27
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Aufwertung des Augenblicks im Dadaismus
Raoul Hausmann, Am Anfang war Dada, 1972:
„DADA suchte nichts als den PREsenten Augenblick herbeizuführen.“
Tristan Tzara, Dada-Manifest, 1918:
„Abschaffung des Gedächtnisses: DADA – Abschaffung der Archäologie: DADA – Abschaffung der Propheten: DADA – Abschaffung des Künftigen: DADA“.
Francis Picabia, Dadaisme, Instantanéisme 391, 1924:
„L’INSTANTANEISME: ne veut pas d’hier. L’INSTANTANEISME: ne veut pas de demain
[…] L’INSTANTANEISME: ne croit qu’à aujourd’hui. […] L’INSTANTANEISME: ne
croit qu’au mouvement perpétuel.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Aufwertung des Zufalls im Dadaismus
Hans Richter, DADA – Kunst und Antikunst, 1964:
„Arp hatte lange in seinem Atelier am Zeltweg an einer Zeichnung gearbeitet. Unbefriedigt
zerriß er schließlich das Blatt und ließ die Fetzen auf den Boden flattern. Als sein Blick nach
einiger Zeit zufällig wieder auf diese auf dem Boden liegenden Fetzen fiel, überraschte ihn
ihre Anordnung. Sie besaß einen Ausdruck, den er die ganze Zeit vorher vergebens gesucht
hatte. Wie sinnvoll sie dort lagen, wie ausdrucksvoll! Was ihm mit aller Anstrengung vorher nicht gelungen war, hatte der Zu-Fall, die Bewegung der Hand und die Bewegung
der flatternden Fetzen, bewirkt, nämlich Ausdruck. Er nahm diese Herausforderung des
Zufalls als ,Fügung‘ an und klebte sorgfältig die Fetzen in der vom ,Zu-Fall‘ bestimmten
Ordnung auf. […] Die Schlußfolgerung, die Dada daraus zog, war, den Zufall als ein neues
Stimulans des künstlerischen Schaffens anzuerkennen. Dieses Erlebnis war so erschütternd,
daß man es sehr wohl als das eigentliche Zentral-Erlebnis von Dada bezeichnen kann, welches Dada von allen vorhergehenden Kunst-Richtungen unterscheidet.“
Tristan Tzara, Um ein dadaistisches Gedicht zu machen, 1920:
„Nehmt eine Zeitung.
Nehmt Scheren.
Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu
geben beabsichtigt.
Schneidet den Artikel aus.
Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte.
Schüttelt leicht.
Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus.
Schreibt gewissenhaft ab
in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind.
Das Gedicht wird Euch ähneln.
Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn
auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Das Wort „DADA“
Richard Huelsenbeck, Einleitung zur Dokumentation DADA, 1964:
„Ich habe oft erzählt, daß das Cabaret Voltaire, kurz ehe die Dadaperiode begann, dem Bankrott nahe war und daß Ball, dem Rat des Besitzers, des Herrn Ephraim folgend,
Cabaretschauspieler und Sänger interviewte. Wir hatten eine Sängerin befragt, deren Name
mir aus dem Gedächtnis geschwunden ist, aber es war ein Name, der für das Auftreten im
Cabaret ungeeignet war. So saßen Ball und ich eines Nachmittags in seinem Zimmer zusammen und überlegten. Der Larousse lag auf dem Tisch, hinter dem ich saß. Wir blätterten
und stießen dabei auf das Wort Dada, das in diesem Lexikon als Kinderwort gleichbedeutend mit Hottehotte oder Holzpferdchen erklärt wurde. Mein Finger blieb bei dem Wort
stehen und ich sagte DADA. […].“
Hugo Ball, 1916:
Tagebuch, 18. April: „Tzara quält wegen der Zeitschrift. Mein Vorschlag, sie Dada zu nennen, wird angenommen. […] Dada heißt im Rumänischen Ja Ja, im Französischen Hottound Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher
Verbundenheit mit dem Kinderwagen.“
Manifest zum 1. Dada-Abend im Zürcher „Zunfthaus Waag“, 14. Juli: „Dada ist eine neue
Kunstrichtung. Das kann man daran erkennen, dass bisher niemand davon wusste und morgen
ganz Zürich davon reden wird. Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach.
Im Französischen bedeutets Steckenpferd. Im Deutschen: Addio, steigt mir bitte den Rücken
runter, auf Wiedersehen ein ander Mal! Im Rumänischen: ,Ja wahrhaftig, Sie haben Recht, so
ist es. Jawohl, wirklich. Machen wir‘. Und so weiter. / Ein internationales Wort. […] Dada
ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.“
Tristan Tzara, Dada-Manifest, 1918:
„Den Zeitungen entnimmt man, daß die Kru-Neger den Schwanz einer heiligen Kuh DADA
nennen. ,Würfel‘ und ,Mutter‘ heißen in einer bestimmten Gegend Italiens DADA. ,Holzpferd‘, ,Amme‘, die zweifache Bejahung auf russisch und auf rumänisch heißen DADA.“
Hugo Ball, Tagebuch 1921:
„Als mir das Wort ,Dada‘ begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysos [Dionysos
Areopagita]. D.A. – D.A. (über diese mystische Geburt schrieb H…k [Huelsenbeck]; auch ich
selbst in früheren Notizen. Damals betrieb ich Buchstaben- und Wort-Alchimie).“
Johannes Baader, Wer ist Dadaist?, 1918:
„Ein Dadaist ist ein Mensch, der das Leben in allen seinen unübersehbaren Gestalten liebt und
der weiß und sagt: Nicht allein hier, sondern auch da, da, da ist das Leben!“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der latente Nihilismus Dadas
Richard Huelsenbeck, 1916:
„Wir haben beschlossen unsere mannigfaltigen Aktivitäten unter dem Namen Dada
zusammenzufassen. Wir fanden Dada, wir sind Dada, und wir haben Dada. Dada wurde in
einem Lexikon gefunden, es bedeutet nichts.“
Tristan Tzara, Dada-Manifest, 1918:
„DADA BEDEUTET NICHTS“.
Hugo Ball, Tagebuch, 1916/1915:
„Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind“
„Bei genauerem Hinsehen lösen sich die Dinge in Phantasmata auf. Das ganze Arrangement
erscheint als ein verhängnisvoller Ablauf optischer Täuschungen, worin der bewußte Irrtum
und die gefaßte Lüge am ehesten noch eine Art von Sinn und Halt, eine Perspektive aufrechterhalten. Was man gemeinhin Wirklichkeit nennt, ist, exakt gesprochen, ein aufgebauschtes Nichts.“
Francis Picabia, Manifest Cannibale Dada, 1920:
„Was Dada angeht: es riecht nicht, es bedeutet ja nichts, gar nichts.
Dada ist wie Euere Hoffnungen: nichts
wie Euer Paradies: nichts
wie Euere Idole: nichts
wie Euere politischen Führer: nichts
wie Euere Helden: nichts
wie Euere Künstler: nichts
wie Euere Religionen: nichts.“
Theo van Doesburg, Was ist Dada?, 1923:
„Dada ist die Verneinung des allgemeinen, gängigen Lebenssinns. […] Dada sieht in allen
Einbildungen, die uns von der Wirklichkeit abgelenkt haben – mögen wir sie Tao, Om, Brahma, Jahwe, Gott, Zahl, Geist usw. nennen – lediglich verschiedene Etiketten für den gleichen
Artikel, der, ,aus einem Nichts sich entwickelnd‘, mit viel Trara den Menschen aufgeschwatzt
wird. / Dada spricht dem Leben, der Kunst, der Religion, der Philosophie oder der Politik jeden höheren geistigen Inhalt ab.“
31
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der ,demokratische‘ Charakter Dadas: Die Integration verschiedener Stilrichtungen
Hugo Ball, Tagebucheintrag, 5. Februar
1916:
Plakat von Marcel Slodki
Pressenotiz in der Zürcher Post vom 5.
Feb. 1916:
„Cabaret Voltaire. Unter diesem Namen hat
sich eine Gesellschaft junger Künstler und
Literaten etabliert, deren Ziel es ist, einen Mittelpunkt für die künstlerische Unterhaltung zu
schaffen. Das Prinzip des Kabaretts soll sein,
daß bei den täglichen Zusammenkünften musikalische und rezitatorische Vorträge der als
Gäste verkehrenden Künstler stattfinden, und
es ergeht an die junge Künstlerschaft Zürichs
die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine
besondere Richtung mit Vorschlägen und
Beiträgen einzufinden.“
„Das Lokal war überfüllt; viele konnten keinen
Platz mehr finden. Gegen sechs Uhr abends,
als man noch fleißig hämmerte und futuristische Plakate anbrachte, erschien eine orientalisch aussehende Deputation von vier Männlein, Mappen und Bilder unterm Arm; vielmals
diskret sich verbeugend. Es stellten sich vor:
Marcel Janco der Maler, Tristan Tzara, Georges Janco und ein vierter Herr, dessen Name
mir entging. Arp war zufällig auch da und man
verständigte sich ohne viel Worte. Bald hingen
Jancos generöse ,Erzengel‘ bei den übrigen
schönen Sachen, und Tzara las noch am selben
Abend Verse älteren Stiles, die er in einer nicht
unsympathischen Weise aus den Rocktaschen
zusammensuchte.“
Hugo Ball über die von ihm herausgegebene Anthologie Cabaret Voltaire, 4. Juli
1916:
„,Cabaret Voltaire‘ enthält Beiträge von Apollinaire, Arp, Ball, Cangiullo, Cendrars, Hennings, Hoddis, Huelsenbeck, Janco, Kandinsky, Marinetti, Modigliani, Oppenheimer, Picasso, van Rees, Slodki und Tzara. Es ist auf
zwei Bogen die erste Synthese der modernen
Kunst- und Literaturrichtungen. Die Gründer des Expressionisme, Futurisme und Kubisme sind mit Beiträgen darin vertreten.“
32
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Dada als Geisteszustand
Theo van Doesburg, Was ist Dada?, 1923:
„Dada will gelebt sein.“ „Es ist ein Irrtum, zu glauben, Dada gehöre zur Kategorie neuer
Kunstformen wie Impressionismus, Futurismus, Kubismus, Expressionismus. / Dada ist keine Kunstrichtung.“
Tristan Tzara, Vortrag auf dem Dada-Kongress 1924:
„Dada ist ein Geisteszustand. Sie können vergnügt, traurig, bedrückt, fröhlich, schwermütig
oder dada sein.“
Richard Huelsenbeck, Dadaistisches Manifest, 1918:
„Dada ist eine Geistesart, die sich in einem Gespräch offenbaren kann, so daß man sagen
muß: dieser ist ein DADAIST – jener nicht; der Club Dada hat deshalb Mitglieder in allen Teilen der Erde, in Honolulu so gut wie in New-Orleans und Meseritz. Dadaist sein kann unter
Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein – nur zufällig
Künstler sein“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Simultangedicht, Bruitistisches Gedicht
Richard Huelsenbeck, En avant dada, 1920:
„Wir fanden Marinettis Weltauffassung realistisch und liebten sie nicht, obwohl wir den von
ihm oft verwendeten Begriff von Simultaneität gern übernahmen. […] Von Marinetti übernahmen wir auch den Bruitismus […]. Bruitismus ist das Leben selbst, das man nicht beurteilen kann wie ein Buch, das vielmehr ein [sic] Teil unserer Persönlichkeit darstellt, uns angreift, verfolgt und zerfetzt. […] Simultaneität (von Marinetti in diesem Literatur-Sinne zuerst
gebraucht) ist eine Abstraktion, ein Begriff für die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschehnisse. […] Simultaneität ist direkter Hinweis aufs Leben und sehr eng mit dem Problem des
Bruitismus verwandt.“
Dadaistisches Manifest, 1918:
„Das BRUITISTISCHE GEDICHT / schildert eine Trambahn wie sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers Schulze und dem Schrei der Bremsen. / Das
SIMULANISTISCHE GEDICHT / lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert
im Keller des Schlächters Nuttke.“
Tristan Tzara, Anmerkung zu: L’amiral cherche une maison à louer, 1916:
„Les poèmes de Mrs Barzun et Divoire sont purement formels. Ils cherchent un effort musical, qu’on peut imaginer en faisant les mêmes abstractions que sur une partiture [sic]
d’orchestre. / Je voulais réaliser un poème basé sur d’autres principes. Qui consistent dans la
possibilité que je donne à chaque écoutant de lier les associations convenables. Il retient
les éléments caractéristiques pour sa personalité [sic], les entremêle, les fragmente etc.,
restant tout-de-même dans la direction que l’auteur a canalisé [sic].“
Hugo Ball, Tagebuch, 30. März 1916:
„Huelsenbeck, Tzara und Janco traten mit einem ,Poème simultan‘[sic] auf. Das ist ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen,
pfeifen oder dergleichen, so zwar, daß ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizarren Gehalt der Sache ausmachen. Der Eigensinn eines Organons kommt in solchem Simultangedichte drastisch zum Ausdruck, und ebenso seine Bedingtheit durch die Begleitung. Die
Geräusche (ein minutenlang gezogenes rrrrr, oder Polterstöße oder Sirenengeheul und dergleichen), haben eine der Menschenstimme an Energie überlegene Existenz. / Das ,Poème simultan‘ handelt vom Wert der Stimme. Das menschliche Organ vertritt die Seele, die Individualität in ihrer Irrfahrt zwischen dämonischen Begleitern. Die Geräusche stellen den Hintergrund dar; das Unartikulierte, Fatale, Bestimmende. Das Gedicht will die Verschlungenheit
des Menschen in den mechanistischen Prozeß verdeutlichen. In typischer Verkürzung
zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Emergenz einer neuen Gattung: Die dadaistische Lautpoesie
Hugo Ball, Tagebuch, 23. Juni 1916:
„Ich habe eine neue Gattung von Versen
erfunden, ,Verse ohne Worte‘ oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale
nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen
und ausgeteilt wird.“
Raoul Hausmann, Introduction à une histoire du poème phonétique (1910-1939),
1965:
„Si l’on veut arriver à une histoire véritable du
poème phonétique, on doit distinguer trois
tendances: / La première concerne une trouvaille due au hasard, qui n’aboutit pas à un
exercice continuel; / La deuxième représente la
création d’un genre nouveau de poésie, basée sur une conviction ou sur une théorie; /
La troisième comprend l’application des créations de la deuxième catégorie dans un sens
conventionnel.“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die dadaistische Lautpoesie und die Kritik an der konventionellen Sprache
Hugo Ball, Eröffnungs-Manifest zum 1. Dada-Abend im Zürcher „Zunfthaus Waag“, am 14.
Juli 1916:
„Ich lese Verse, die nichts weniger vorhaben als: auf die konventionelle Sprache zu verzichten, ad acta zu legen […]. Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte
haben andre erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, meinen eigenen Rhythmus und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen, die von mir selbst sind. […] Da kann
man nun so recht sehen, wie die artikulierte Sprache entsteht. Ich lasse die Vokale kobolzen.
Ich lasse die Laute ganz einfach fallen, etwa wie eine Katze miaut… Worte tauchen auf,
Schultern von Worten; Beine, Arme, Hände von Worten. Au, oi, uh. Man soll nicht zu viel
Worte aufkommen lassen. Ein Vers ist die Gelegenheit, allen Schmutz abzutun. Ich wollte
die Sprache hier selber fallen lassen. Diese vermaledeite Sprache, an der der Schmutz
klebt, wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. Dada ist das Herz der Worte.“
Hugo Ball, Tagebuch, 24. Juni 1916:
„Vor den Versen hatte ich einige programmatische Worte verlesen. Man verzichte mit dieser
Art Klanggedichte in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene
und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes
zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten
heiligsten Bezirk. Man verzichte darauf, aus zweiter Hand zu dichten: nämlich Worte zu
übernehmen (von Sätzen ganz zu schweigen), die man nicht funkelnagelneu für den eigenen
Gebrauch erfunden habe.“
Raoul Hausmann, Courrier Dada (Kapitel: „Poème phonétique“), 1958:
„Le langage, si on le pétrifie dans les académies, s’enfuit chez les enfants et les poètes
fous.“ „C’est la langue qui se venge des poètes! Et le phonétisme pur a pris forme, non
parce que quelqu’un le VOULAIT, mais parce que c’était là le chemin vers la purification,
que le langage complexe, concert atonal de quatre, cinq, littératures européennes s’est vu forcé de réaliser contre l’aboiement lamentable de ce qu’on appelle communément Littérature
mondiale (Weltliteratur de Gœthe). Le langage indo-européen a un esprit vengeur, et c’est
lui qui revient à ses sources, là où il n’y avait pas encore de pluriel, ni encore de pronom et
où le penser (c’est-à-dire voir-ouïr-parler) était catégorisant surindividuel. C’est le langage,
ce parler, qui cherche un sens nouveau, pour un usage nouveau. Et ce ne sont pas (comme
les soi-disant grand poètes d’aujourd’hui le prétendent) les rénovateurs dadaïstes ou surréalistes qu’il faut blâmer pour cela! La langue veut créer inlassablement des formes, elle veut
élargir, rénover son esprit, qui, lui, est canalisé par les fonctionnaires des pompes funèbres
nationales, les poètes reconnus comme tels!“
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Konzeption des Lautgedichts bei Raoul Hausmann
simultanément, optiquement et phonétiquement. Le poème est la fusion de la dissonance
et de l’onomatopée. Le poème jaillit du regard
et de l’ouïe intérieurs du poète par le pouvoir
matériel des sons, des bruits et de la forme
tonale, ancrée dans le geste même de la
langue.“
„C’est en quoi je me distingue de Ball. Ses
poèmes créaient des mots nouveaux, des sons,
surtout des onomatopées musicalement arrangées; les miens sont fondés sur la lettre, là où
il n’y a plus la moindre possibilité de créer
un langage offrant un sens, des déroulements
coordonnés.“
Raoul Hausmann, Cauchemar, entstanden
während des zweiten Weltkriegs:
„bbg bbg bgg jjj ji jj zzzuuuu oooooo O! /
uuuachtachtj hhh hzz hhzzz ggggzzzggg zgg z’
– / kkk i i u kkiuu kki […]“
Raoul Hausmann, Courrier Dada (Kapitel:
„Poème phonétique“), 1958:
„Je me croyais, comme de juste, le premier
inventeur. Je dois dire que c’était Ball. Mais
les phonétismes de Ball étaient formés de
,mots inconnus‘, cependant que mes poèmes
se basaient directement et exclusivement sur
les lettres, ils étaient ,lettristes‘. Le poème
phonétique, purification de la poésie ,poétique‘
était tellement nécessaire, que je le créais encore une fois.“
„Je pensais que le poème est le rythme des
sons. Pourquoi des mots? De la suite rythmique des consonnes, diphtongues et comme
contre-mouvement de leur complément de
voyelles, résulte le poème, qui doit être orienté
„Ich hielt mich, vermeintlich zu Recht, für den
ersten Erfinder. Ich muß indes sagen, daß es
Ball war. Aber die Phonetismen Balls waren
aus ,unbekannten Wörtern‘ gebildet, während
meine Gedichte direkt und ausschließlich
auf Buchstaben gründeten, sie waren
,lettristisch‘. Das phonetische Gedicht, Reinigung der ,poetischen‘ Poesie, war dermaßen
notwendig, daß ich es noch einmal erfand.“
„Ich dachte, daß das Gedicht der Rhythmus
der Klänge ist. Warum Wörter? Aus der
rhythmischen Folge der Konsonanten,
Diphthonge und aus ihrer Vokalergänzung
als Gegen-Bewegung resultiert das Gedicht,
das gleichzeitig optisch und phonetisch ausgerichtet sein muß. Das Gedicht ist die Verschmelzung der Dissonanz und der Lautmalerei. Das Gedicht entspringt dem inneren Blick
und Gehör des Dichters durch die materielle
Gewalt der Töne, der Geräusche und der in der
Geste der Sprache verankerten tonalen Form.“
„Das ist der Punkt, an dem ich mich von Ball
unterscheide. Seine Gedichte schufen neue
Wörter, Klänge, vor allem musikalisch arrangierte Lautmalereien; die meinen sind auf dem
Buchstaben begründet, dort, wo es nicht die
geringste Möglichkeit mehr gibt, eine einen
Sinn anbietende Sprache zu schaffen, koordinierte Abläufe.“
37
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Kurt Schwitters, ursonate (1922-32)
Der ersten vollständigen Veröffentlichung der ursonate 1932 in Merz 24 geht die folgende Erläuterung
zum Aufbau voran:
„die sonate besteht aus vier sätzen, einer einleitung, einem schluß, und einer kadenz im vierten satz.
der erste satz ist ein rondo mit vier hauptthemen, die in diesem text der sonate besonders bezeichnet
sind. es ist rhythmus in stark und schwach, laut und leise, gedrängt und weit usw. die feinen abwandlungen und kompositionen der themen will ich nicht erklären. ich mache nur beim ersten satz aufmerksam auf die wörtlichen wiederholungen der schon variierten themen vor jeder neuen variation,
auf den explosiven anfang des ersten themas, auf die reine lyrik des gesungenen Jüü-Kaa, auf den
streng militärischen rhythmus des dritten themas, das gegenüber dem zitternden, lammhaft zarten vierten thema ganz männlich klingt, und endlich auf den anklagenden schluß des ersten satzes in dem gefragten tää? der zweite teil ist auf mitte komponiert. daß er gesungen wird, sehen sie aus den anmerkungen im text. das largo ist metallisch und unbestechlich, es fehlt sentiment und alles sensible. beachten sie bei Rinn zekete bee bee und ennze die erinnerung an den ersten satz. beachten sie auch in der
einleitung das lange Oo als profezeihung zu dem langen largo. der dritte satz ist ein echtes scherzo.
beachten sie das schnelle aufeinanderfolgen der drei themen: lanke trr gll, pe pe pe pe pe und Ooka,
die voneinander sehr verschieden sind, wodurch der charakter scherzo entsteht, die bizarre form. lanke
trr gll ist unwandelbar und kehrt eigensinnig taktmäßig wieder. in rrmmmp und rrrnnff ist eine erinnerung an das rummpff tillff too vom ersten satz. doch klingt es jetzt nicht mehr lammhaft zart, kurz und
befehlend, durchaus männlich. das Rrumpftillftoo im dritten satz klingt dort auch nicht mehr so zart.
die ziiuu lenn trll und lümpff tümpff trill sind klanglich dem hauptthema lanke trr gll nachgebildet. das
ziiuu iiuu im trio erinnert sehr an das ziiuu ennze in teil 1, nur ist es hier sehr getragen und feierlich.
das scherzo unterscheidet sich wesentlich von allen drei anderen sätzen, in denen das lange bee außerordentlich wichtig ist. im scherzo kommt kein bee vor. der vierte satz ist der strengste und dabei reich
im aufbau. die vier themen sind wieder im text genau bezeichnet. […]“
38
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der romantische Traum von der Musikalisierung der Sprache als Antizipation des dadaistischen Lautgedichts
Novalis, Fragmente und Notizen, Ende der 1790er Jahre:
„Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Association, wie Träume. Gedichte – blos
wohlklingend und voll schöner Worte – aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang –
höchstens einzelne Strofen verständlich – sie müssen, wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen [seyn]. Höchstens kann wahre Poësie einen allegorischen Sinn im
Großen haben und eine indirecte Wirckung wie Musik etc. thun –“
„Unsre Sprache – sie war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach gerade so
prosaisirt – so enttönt. Es ist jezt mehr Schallen geworden – Laut, wenn man dieses schöne
Wort so erniedrigen will. Sie muß wieder Gesang werden. Die Consonanten verwandeln den
Ton in Schall.“
„Man muß schriftstellen, wie Componiren.“
Friedrich Schlegel, Notizen:
„Die Methode des Romans ist die der Instrumentalmusik.“
„Jede K[unst] hat mus[ikalische] Princ[ipien] und wird vollendet selbst Musik.“
„Ist Musik die tellurische Grundkunst, so muß alle Sprache sich wieder in Musik auflösen.“
Wilhelm Heinrich Wackenroder, Phantasien über die Kunst, 1799:
„Aber was streb ich Törichter, die Worte zu Tönen zu zerschmelzen? Es ist immer nicht,
wie ich’s fühle.“
39
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
MERZ-Dada: Kurt Schwitters
sonstwie. Ich nannte nun alle meine Bilder als
Gattung nach dem charakteristischsten Bild
MERZbilder. Später erweiterte ich die Bezeichnung MERZ erst auf meine Dichtung,
denn seit 1917 dichte ich, und endlich auf all
meine entsprechende Tätigkeit. Jetzt nenne ich
mich selbst MERZ.“ (V, 252f.)
Kurt Schwitters, 1923:
Kurt Schwitters, Merz 20, 1927:
„MERZ. Das ist die 2te Silbe von Kommerz.
Es entstand beim Merzbilde, einem Bilde, auf
dem unter abstrakten Formen das Wort MERZ,
aufgeklebt und ausgeschnitten aus einer Anzeige der KOMMERZ- UND PRIVATBANK,
zu lesen war. Dieses Wort MERZ war durch
Abstimmen gegen die anderen Bildteile selbst
Bildteil geworden, und so mußte es dort stehen. Sie können verstehen, daß ich ein Bild mit
dem Worte MERZ das MERZbild nannte, wie
ich ein Bild mit ,und‘ das und-Bild und ein
Bild mit ,Arbeiter‘ das Arbeiterbild nannte.
Nun suchte ich, als ich zum ersten Male diese
geklebten und genagelten Bilder im Sturm in
Berlin ausstellte, einen Sammelnamen für diese neue Gattung, da ich meine Bilder nicht
einreihen konnte in alte Begriffe wie Expressionismus, Kubismus, Futurismus oder
„Es ist im Kunstwerk nur wichtig, daß sich
alle Teile aufeinander beziehen, gegeneinander gewertet werden. […] Was das
verwendete Material vor seiner Verwendung
im Kunstwerk bedeutet hat, ist gleichgültig,
wenn es nur im Kunstwerk seine künstlerische
Bedeutung durch Wertung empfangen hat. / So
habe ich zunächst Bilder aus dem Material
konstruiert, das ich gerade bequem zur Hand
hatte, wie Straßenbahnfahrscheine, Garderobemarken, Holzstückchen, Draht, Bindfaden,
verbogene Räder, Seidenpapier, Blechdosen,
Glassplitter usw. Diese Gegenstände werden,
wie sie sind, oder auch verändert in das Bild
eingefügt, je nachdem es das Bild verlangt. Sie
verlieren durch Wertung gegeneinander ihren
individuellen Charakter, ihr Eigengift, werden
entmaterialisiert und sind Material für das
Bild. Das Bild ist ein in sich ruhendes
Kunstwerk. Es bezieht sich nicht nach außen hin. Nie kann sich ein konsequentes
Kunstwerk außer sich beziehen, ohne seine
Beziehung zur Kunst zu verlieren.“ (V, 133f.)
Kurt Schwitters, 1920/21:
„Ende 1918 erkannte ich, daß alle Werte nur
durch Beziehungen untereinander bestehen,
und daß Beschränkung auf ein Material einseitig und kleinlich sei. Aus dieser Erkenntnis
formte ich Merz […].“ (V, 84)
40
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Kurt Schwitters. Lyrik unter dem Einfluß August Stramms
Erhabenheit
Kirchen türmen ein Mensch
Lastet Sonne Hochgebirge
Steil durchbrechen
Glut verrinnt umragen Zacken
Leiberheiß – seelennah,
Wärme umglutet Gluten!
–––
Klein ich?
Groß!
Arm ich?
Reich!
Wuchtet Riesen Hochgebirge,
Wuchtet Riesen ich!
Kirchen türmen, lastet steil!
Gluten Mensch wuchtet lasten Sonne.
Ich?
Umglute
Steil!
!
41
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Kurt Schwitters. Die Merz-Dichtung
An Anna Blume
Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, – – – – wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher!
Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist, bist Du?
Die Leute sagen, Du wärest.
Laß sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf Deinen Füßen und wanderst auf die Hände,
Auf den Händen wanderst Du.
Halloh, Deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt,
Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir.
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, – – – – wir?
Das gehört beiläufig in die kalte Glut!
Anna Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage:
1.) Anna Blume hat ein Vogel,
2.) Anna Blume ist rot.
3.) Welche Farbe hat der Vogel.
Blau ist die Farbe Deines gelben Haares,
Rot ist die Farbe Deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid,
Du liebes grünes Tier, ich liebe Dir!
Du Deiner Dich Dir, ich Dir, Du mir, – – – – wir?
Das gehört beiläufig in die – – – Glutenkiste.
Anna Blume, Anna, A – – – – N – – – – N – – – – A!
Ich träufle Deinen Namen.
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt Du es Anna, weißt Du es schon,
Man kann Dich auch von hinten lesen.
Und Du, Du Herrlichste von allen,
Du bist von hinten wie von vorne:
A – – – – – N – – – – – N – – – – – A.
Rindertalg träufelt STREICHELN über meinen Rücken.
Anna Blume,
Du tropfes Tier,
Ich – – – – – – – liebe – – – – – – – Dir!
42
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Kurt Schwitters. Die Dichtung der konstruktivistischen Phase
Cigarren [elementar]
Cigarren
Ci
garr
ren
Ce
i
ge
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err
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Ce
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CeIGeAErrErr
CeIGeAErrErr
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En
Ce
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a
err
err
e
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Ci
garr
ren
Cigarren
(Der letzte Vers wird gesungen).
43
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die surrealistische Gruppe
Max Ernst, Au rendez-vous des amis (1922), Wallraf-Richartz-Museum, Köln
1 René Crevel, 2 Philippe Soupault, 3 Hans Arp, 4 Max Ernst, 5 Max Morise, 6 Dostojewski,
7 Raffael, 8 Théodore Fraenkel, 9 Paul Éluard, 10 Jean Paulhan, 11 Benjamin Péret, 12 Louis
Aragon, 13 André Breton, 14 Johannes Theodor Baargeld, 15 Giorgio de Chirico, 16 Gala
Éluard, 17 Robert Desnos
44
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die surrealistische Absage an Dada
André Breton, Entretiens – Gespräche (Radiointerviews aus den 50er Jahren)
„Das Manifest Dada 1918 schien die Türen weit zu öffnen, doch entdeckten wir, daß diese
Türen auf einen Gang führen, der im Kreis verläuft.“ (72)
„Ich beschränke mich darauf zu sagen, daß die von Tzara inspirierten Dada-Zeitschriften und
Veranstaltungen auf der Stelle traten. […] Von innen wie von außen betrachtet, wurden sie
stereotyp und verkalkt.“ (78)
„Es reicht nicht, aus Veranstaltungsräumen an die frische Luft umzuziehen, um mit dem platten Schema ,Dada‘ Schluß zu machen.“ (80)
Bruch zwischen Tzara und Breton 1922/23 nach Tzaras Weigerung, an einem von Breton
geplanten „Kongreß zur Festlegung der Richtlinien und zur Verteidigung des modernen Geistes“ teilzunehmen.
45
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Idee der praktisch werdenden Poesie im Surrealismus
André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924:
„La poésie […] porte en elle la compensation parfaite des misères que nous endurons. Elle
peut être une ordonnatrice, aussi, pour peu que sous le coup d’une déception moins intime
on s’avise de la prendre au tragique. Le temps vienne où elle décrète la fin de l’argent et
rompe seule le pain du ciel pour la terre! Il y aura encore des assemblées sur les places publiques, et des mouvements auxquels vous n’avez pas espéré prendre part. […] Qu’on se
donne seulement la peine de pratiquer la poésie. N’est-ce pas à nous, qui déjà en vivons, de
chercher à faire prévaloir ce que nous tenons pour notre plus ample informé?“
„Die Poesie […] trägt in sich den vollkommenen Ausgleich für das Elend, das wir ertragen.
Sie vermag auch eine ordnende Kraft zu sein, wenn es einem, unter dem Eindruck einer weniger persönlichen Enttäuschung, einfallen sollte, sie tragisch zu nehmen. Die Zeit komme, da
sie das Ende des Geldes dekretiert und allein das Brot des Himmels für die Erde bricht! Es
wird noch Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen geben und Bewegungen, den denen
teilzunehmen ihr nicht zu hoffen gewagt habt. […] Man gebe sich doch nur die Mühe, die
Poesie zu praktizieren. Ist es nicht an uns, die wir bereits davon leben, zu versuchen, dem
größere Geltung zu verschaffen, was am meisten von uns zeugt?“
46
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die surrealistische Diagnose der Gegenwart
André Breton (1896-1966)
André Breton, Manifeste du surréalisme/
Manifest des Surrealismus, 1924:
„So lange wendet sich der Glaube dem Leben
zu, dem Zerbrechlichsten im Leben, im realen
Leben, versteht sich, bis dieser Glaube am
Ende verlorengeht. Der Mensch, dieser entschiedene Träumer, von Tag zu Tag unzufriedener mit seinem Los, vermag kaum alle
die Dinge ganz zu begreifen, die er zu gebrauchen gelernt hat und die ihn zu seiner Gleichgültigkeit geführt haben oder zu seiner Anstrengung, fast immer zu seiner Anstrengung,
denn er hat eingewilligt zu arbeiten, zumindest
hat er sich nicht gesträubt, sein Glück zu versuchen (das, was er sein Glück nennt!). Eine
große Bescheidenheit ist nun sein Teil: er
weiß, welche Frauen er gehabt hat, auf welche
lächerlichen Abenteuer er sich eingelassen hat;
sein Reichtum oder seine Armut helfen ihm
nichts, in dieser Hinsicht bleibt er ein neugeborenes Kind, und was die Stimme seines Gewissens angeht, so muß ich gestehen, daß er sehr
gut ohne sie auskommt. Wenn er sich einige
Hellsichtigkeit bewahrt hat, dann kann er nicht
anders, als sich nun wieder seiner Kindheit
zuzuwenden, die ihm, sosehr sie auch durch
die Bemühungen seiner Dresseure verpfuscht
sein mag, dennoch als von Zauber erfüllt
scheint. Das Fehlen jeglichen sonst üblichen
Zwangs läßt ihm dort die Hoffnung auf mehrere, zu gleicher Zeit geführte Leben; an
diese Illusion klammert er sich; nur noch von
der augenblicklichen, extremen Leichtigkeit
aller Dinge will er wissen. Jeden Morgen brechen Kinder ohne Bangen auf. Alles ist nahe,
die schlimmsten materiellen Bedingungen sind
großartig. Die Wälder sind weiß oder schwarz,
man muß niemals schlafen gehen.
Indessen, nie könnte man so weit gehen, es
handelt sich nicht nur um die Entfernung. Die
Bedrohungen häufen sich, man gibt nach, man
gibt einen Teil des zu erobernden Landes auf.
Und jener Phantasie, die keine Grenzen
kannte, erlaubt man nur noch, sich nach
den Gesetzen einer willkürlichen Nützlichkeit zu betätigen; diese untergeordnete Rolle
durchzuhalten, ist sie nicht lange fähig, und um
das zwanzigste Lebensjahr zieht sie es im allgemeinen vor, den Menschen seinem lichtlosen
Schicksal zu überlassen.
Selbst wenn er später ab und zu versucht, sich
auf sich zu besinnen, weil er gespürt hat, daß
er allmählich immer weniger Sinn im Leben
findet, da er unfähig geworden ist, eine außerordentliche Situation, die Liebe etwa, zu erleben – es wird ihm kaum gelingen. Denn er ist
nun mit Leib und Seele einer gebieterischen,
praktischen Notwendigkeit unterworfen, die
es nicht duldet, daß man sie unbeachtet läßt.“
47
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Rolle der Imagination im Surrealismus
André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924:
„La seule imagination me rend compte de ce qui peut être, et c’est assez pour lever un
peu le terrible interdit; assez aussi pour que je m’abandonne à elle sans crainte de me
tromper (comme si l’on pouvait se tromper davantage). Où commence-t-elle à devenir
mauvaise et où s’arrête la sécurité de l’esprit? Pour l’esprit, la possibilité d’errer n’est-elle pas
plutôt la contingence du bien?“
„Einzig die Imagination zeigt mir, was sein kann, und das genügt, den furchtbaren Bann
ein wenig zu lösen; genügt auch, mich ihr ohne Furcht, mich zu täuschen, zu ergeben (als
wenn man sich noch mehr täuschen könnte). Wo beginnt sie, Trug zu werden, und wo ist
der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit umherzuschweifen, nicht
vielmehr die Zufälligkeit des Guten? [vgl. die dt. Übers. von Ruth Henry: „Ist für den Geist
die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken“]“
„Qu’ils [les fous] soient, dans une mesure quelconque, victimes de leur imagination, je suis
prêt à l’accorder, en ce sens qu’elle les pousse à l’inobservance de certaines règles, hors desquelles le genre se sent visé, ce que tout homme est payé pour savoir. Mais le profond détachement dont ils témoignent à l’égard de la critique que nous portons sur eux, voire des corrections diverses qui leur sont infligées, permet de supposer qu’ils puisent un grand réconfort dans leur imagination, qu’ils goûtent assez leur délire pour supporter qu’il ne soit
valable que pour eux. Et, de fait, les hallucinations, les illusions, etc., ne sont pas une source
de jouissance négligeable. […] Les confidences des fous, je passerais ma vie à les provoquer.
Ce sont gens d’une honnêteté scrupuleuse, et dont l’innocence n’a d’égale que la mienne. Il
fallut que Colomb partît avec des fous pour découvrir l’Amérique. Et voyez comme cette
folie a pris corps, et duré.“
„Daß sie [die Wahnsinnigen] gewissermaßen Opfer ihrer Einbildungskraft sind, will ich
durchaus zugestehen, insofern als diese sie zur Nichtbeachtung gewisser Konventionen treibt,
ohne welche die Gattung Mensch sich sogleich getroffen fühlt; wird doch jeder dafür bezahlt,
daß er es weiß. Aber die tiefe Gleichgültigkeit, die sie unserer Kritik gegenüber zeigen, und
selbst gegenüber den verschiedenen Strafen, die man über sie verhängt – sie läßt die Vermutung zu, daß sie aus ihrer Imagination einen großen Trost schöpfen und ihr Delirium
hinreichend auskosten, um zu ertragen, daß es nur für sie selbst Gültigkeit besitzt. Und
tatsächlich sind Halluzinationen, Illusionen usw. keine geringzuachtende Quelle des Genusses. […] Ich könnte mein Leben damit verbringen, die Wahnsinnigen zu ihren Bekenntnissen
zu provozieren. Sie sind Menschen von peinlicher Ehrlichkeit und von einer Unschuld, die
sich nur mit der meinen vergleichen läßt. Kolumbus mußte mit Verrückten ausfahren, um
Amerika zu entdecken. Und seht nur, wie diese Verrücktheit Gestalt gewonnen hat –
und Dauer.“
48
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Polemik gegen den Realismus und den (realistischen) Roman
„Le procès de l’attitude réaliste demande à être instruit, après le procès de l’attitude matérialiste. Celle-ci, plus poétique, d’ailleurs, que la précédente, implique de la part de l’homme un
orgueil, certes, monstrueux, mais non une nouvelle et plus complète déchéance. […] Par
contre, l’attitude réaliste, inspirée du positivisme, de saint Thomas à Anatole France, m’a
bien l’air hostile à tout essor intellectuel et moral. Je l’ai en horreur, car elle est faite de
médiocrité, de haine et de plate suffisance. […] Elle se fortifie sans cesse dans les journaux et
fait échec à la science, à l’art, en s’appliquant à flatter l’opinion dans ses goûts les plus bas; la
clarté confinant à la sottise, la vie des chiens. […] Une conséquence plaisante de cet état de
choses, en littérature par exemple, est l’abondance des romans. Chacun y va de sa petite
,observation‘. […] On ne m’épargne aucune des hésitations du personnage: sera-t-il blond,
comment s’appellera-t-il, irons-nous le prendre en été? Autant de questions résolues une fois
pour toutes, au petit bonheur; il ne m’est laissé d’autre pouvoir discrétionnaire que de fermer
le livre, ce dont je ne me fais pas faute aux environs de la première page. Et les descriptions!
Rien n’est comparable au néant de celles-ci; ce n’est que superpositions d’images de catalogue, l’auteur en prend de plus en plus à son aise, il saisit l’occasion de me glisser ses cartes
postales, il cherche à me faire tomber d’accord avec lui sur des lieux communs.“
„Nach dem Prozeß gegen die materialistische Haltung muß der gegen die realistische eingeleitet werden. Erstere, die übrigens poetischer ist als die folgende, birgt, was den Menschen
angeht, einen zweifellos ungeheuren Stolz in sich, nicht aber eine neue, letzte Erniedrigung.
[…] Dagegen erscheint mir die realistische Haltung, seit Thomas von Aquin bis zu Anatole
France vom Positivismus inspiriert, als jedem intellektuellen und moralischen Aufschwung
absolut feindlich. Sie ist mir ein Greuel, denn sie ist aus Mittelmäßigkeit gemacht, aus Haß
und platter Selbstgefälligkeit. […] Ständig holt sie sich Rückhalt in der Tagespresse und
bringt Wissenschaft und Kunst in Verlegenheit, indem sie sich bemüht, dem niedrigsten Geschmack als allgemeinen Meinung zu schmeicheln: an Dummheit grenzende Klarheit, das
Leben von Hunden. […] Eine belustigende Folge dieses Tatbestands ist in der Literatur zum
Beispiel die Überfülle von Romanen. Jeder steuert da seine kleine ,Beobachtung‘ bei. […]
Kein Zögern des Helden wird mir erspart: ist er blond, wie heißt er, treffen wir ihn im Sommer? Lauter Fragen, die aufs Geratewohl – und ein für allemal – beantwortet werden; die einzige Entscheidungsfreiheit, die mir noch bleibt, ist die, das Buch zu schließen, was ich, bei
der ersten Seite etwa, zu tun denn auch nicht verfehle. Und die Beschreibungen erst! Nichts
kann nichtssagender sein als sie; übereinandergeschichtete Katalogbilder sind das, der Verfasser macht es sich immer leichter, er ergreift die Gelegenheit, mir seine Ansichtskarten
zuzuschieben, versucht mein Einverständnis zu gewinnen mit seinen Gemeinplätzen.“
49
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der Begriff der „surréalité“
André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924:
„Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que
sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi
dire. C’est à sa conquête que je vais, certain de n’y pas parvenir mais trop insoucieux de ma
mort pour ne pas supporter un peu les joies d’une telle possession.“
„Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von
Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann:
Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert
jedoch um meinen Tod, um nicht die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen.“
Max Bucaille (1906-1992), Ohne Titel
50
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der Begriff „Surrealismus“
André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924:
„SURREALISME, n. m. Automatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit
verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement de la pensée. Dictée
de la pensée, en l’absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale.
ENCYCL. Philos. Le surréalisme repose sur la croyance à la réalité supérieure de certaines
formes d’associations négligées jusqu’à lui, à la toute-puissance du rêve, au jeu désintéressé
de la pensée. Il tend à ruiner définitivement tous les autres mécanismes psychiques et à se
substituer à eux dans la résolution des principaux problèmes de la vie. Ont fait acte de SURREALISME ABSOLU MM. Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos,
Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac.“
(36f.)
„SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich
oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken
sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder
ethischen Überlegung.
ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme
an ihre Stelle setzen. Zum ABSOLUTEN SURREALISMUS haben sich bekannt: Aragon, Baron,
Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise,
Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac.“ (26f.)
51
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die automatische Schreibweise als Grenzwert
André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924:
„Eines Abend also, vor dem Einschlafen, vernahm ich, so deutlich ausgesprochen, daß es mir
unmöglich war, ein Wort daran zu ändern, abgetrennt jedoch vom Klang irgendeiner Stimme,
einen recht merkwürdigen Satz; er hatte keinen Bezug zu irgendwelchen Geschehnissen, in
die ich nach bestem Gewissen zu diesem Zeitpunkt verwickelt war, es war ein Satz, der mir
eindringlich erschien, ein Satz, möchte ich sagen, der ans Fenster klopfte. Rasch nahm ich
davon Kenntnis und wollte es dabei belassen, als mich sein organischer Aufbau stutzig machte. Dieser Satz setzte mich wirklich in Erstaunen; ich habe ihn leider nicht bis heute behalten
könnten; er lautete etwa so: ,Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird‘, doch
war das durchaus eindeutig gemeint, da er von der schwachen bildhaften Vorstellung eines
gehenden Mannes begleitet war, der in der Mitte senkrecht zu seiner Körperachse von einem
Fenster durchschnitten wurde. Ohne Zweifel handelte es sich einfach um die aufrechte Stellung eines Mannes, der sich aus dem Fenster gelehnt hat. Da aber dieses Fenster die räumliche
Veränderung des Mannes mitgemacht hatte, wurde mir klar, daß ich es hier mit einem Bild
ziemlich seltener Art zu tun hatte, und sogleich hatte ich keinen anderen Gedanken, als es
meinen poetischen Baumaterialien einzuverleiben. Kaum hatte ich es derart aufgezeichnet, als
es auch schon von einer fast ununterbrochenen Reihe von Sätzen abgelöst wurde, die mich
kaum weniger überraschten und mir den Eindruck einer solchen Willkürlichkeit vermittelten,
daß die Selbstkontrolle, mit der ich bis zu diesem Tag gelebt hatte, mir illusorisch erschien
und ich nur noch daran dachte, dem endlosen Streit in meinem Innern ein Ende zu bereiten. /
Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Krieg gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,
und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich
einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und
der so weit wie nur möglich gesprochener Gedanke wäre.“ (23f.)
„[…] un monologue de débit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du
sujet ne fasse aucun jugement, qui ne s’embarrasse, par suite, d’aucune réticence, et qui soit
aussi exactement que possible la pensée parlée.“ (33)
„Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es stimmt wirklich, daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. Ziemlich schwierig ist es, etwas darüber zu sagen, wie es mit dem
folgenden Satz geht; ohne Zweifel gehört er unserer bewußten Tätigkeit und zugleich
der anderen an – wenn man annimmt, daß die Tatsache, einen ersten Satz geschrieben zu
haben, ein Minimum an Wahrnehmung mit sich bringt.“ (30)
52
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Ein Beispiel eines automatischen Textes (Auszug)
André Breton, Philippe Soupault, Gants blancs/ Weiße Handschuhe, erster Abschnitt, aus:
Les champs magnétiques/ Die magnetischen Felder, 1919:
„Les couloirs des grands hôtels sont désert et la fumée des cigares se cache. Un homme descend les marches du sommeil et s’aperçoit qu’il pleut: les vitres sont blanches. On sait que
près de lui repose un chien. Tous les obstacles sont présents. Il y a une tasse rose, un ordre
donné et sans hâte les serviteurs tournent. Les grands rideaux du ciel s’ouvrent. Un bourdonnement accuse ce départ précipité. Qui peut courir aussi doucement? Les noms perdent leurs
visages. La rue n’est qu’une voie déserte.
Vers quatre heures ce jour-là un homme très grand passait sur le pont qui unit les différentes
îles. Les cloches ou les arbres sonnaient. Il croyait entendre les voix de ses amis: ,Le bureau
des excursions paresseuses est à droite, lui criait-on, et samedi le peintre t’écrira.‘ Les voisins
des solitudes se penchaient et toute la nuit on entendit les sifflements des réverbères. La maison capricieuse perd son sang. Nous aimons tous les incendies; quand le couleur du ciel
change c’est un mort qui passe. Que peut-on espérer de mieux? […]“
„Die Gänge der großen Hotels sind verlassen, und der Rauch der Zigarren versteckt sich. Ein
Mensch steigt die Stufen des Schlafes herab und bemerkt, daß es regnet: die Scheiben sind
weiß. Man weiß, daß neben ihm ein Hund ruht. Alle Hindernisse sind gegenwärtig. Es gibt
eine rosafarbene Tasse, einen gegebenen Befehl, und ohne Eile drehen sich die Kellner. Die
großen Vorhänge des Himmels öffnen sich. Ein Summen unterstreicht diese überstürzte Abreise. Wer kann so leise laufen? Die Namen verlieren ihre Gesichter. Die Straße ist nur ein
verlassener Weg.
Gegen vier Uhr an diesem Tag überquerte ein sehr großer Mann die Brücke, die die verschiedenen Inseln verbindet. Die Glocken oder die Bäume läuteten. Er glaubte die Stimmen seiner
Freunde zu hören: ,Das Büro der faulen Exkursionen liegt rechts, schrie man ihm zu, und
Samstag wird der Maler dir schreiben.‘ Die Nachbarn der Einsamkeit neigten sich, und die
ganze Nacht hörte man das Pfeifen der Straßenlaternen. Das launische Haus verliert sein Blut.
Wir lieben alle die Brandkatastrophen; wenn der Himmel sich verfärbt, geht ein Toter vorbei.
Was kann man Besseres hoffen? […]“
53
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die surrealistische Idee des Bildes
Pierre Reverdy, 1918, zitiert von Breton im Manifest des Surrealismus von 1924:
„L’image est une création pure de l’esprit. / Elle ne peut naître d’une comparaison mais du
rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. / Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance
émotive et de réalité poétique…“ (31)
„Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes. / Es kann nicht aus dem Vergleich entstehen,
vielmehr aus der Annäherung von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten. / Je entfernter und je genauer die Beziehungen der einander angenäherten Wirklichkeiten sind, um so stärker ist das Bild – um so mehr emotionale Wirkung und poetische
Realität besitzt es…“ (23)
Vgl. Lautréamont, Les chants de Maldoror: „[…] beau comme la rencontre fortuite sur une table des
dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie“. „[…] schön wie die zufällige Begegnung einer
Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“
Vgl. die Umschlagabbildung von Max Ernst zu Paul Éluard, Répétitions, 1922
André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924:
„Meines Erachtens ist es verkehrt, zu behaupten, daß von den zwei gegebenen Wirklichkeiten
,der Geist die Beziehungen erfaßt habe‘. Zuerst einmal hat er überhaupt nichts bewußt erfaßt.
An der sozusagen zufälligen Annäherung der beiden Ausdrücke hat sich ein besonderes Licht
entzündet, ein Licht des Bildes, für das wir unendlich empfänglich sind. Der Wert des Bildes
hängt ganz von der Schönheit des erzielten Funkens ab; ist also folglich die Funktion des
Spannungsunterschiedes zwischen den beiden Leitern. Wenn dieser Unterschied nur schwach
ist, wie im Vergleich, kommt es zu keinem Funken. Nun ist aber nach meinem Dafürhalten
der Mensch nicht befähigt, die Annäherung zweier so weit voneinander entfernter Wirklichkeiten zu bewerkstelligen. Das Prinzip der Ideenassoziation, wie wir es kennen, stellt sich
dem entgegen. […] Man muß also wohl oder übel zugeben, daß die beiden Begriffe, die das
Bild ausmachen, vom Geist nicht etwa mit Absicht auf den zu produzierenden Funken voneinander abgeleitet wurden, sondern das sie das Ergebnis eines Vorgangs sind, den ich surrealistisch nenne, wobei die Vernunft sich darauf beschränkt, das Licht-Phänomen festzustellen
und zu würdigen.“
54
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Surrealismus als unkontrollierte Bildproduktion
Louis Aragon, Le Paysan de Paris, 1926 („Le passage de l’Opéra“, darin: „Discours de
l’Imagination“):
„REDE DER PHANTASIE / Man muß sich ins Unvermeidliche schicken: Ihr alle, die ihr immer gute
Miene zum bösen Spiel macht, hattet eure Rechnung ohne mich gemacht. Von einer Illusion in die
andere gleitend, fallt ihr unablässig der Illusion Realität anheim. Dabei habe ich euch doch alles geschenkt: die blaue Farbe des Himmels, die Pyramiden, die Automobile. Warum bloß verzweifelt ihr an
meiner Laterna magica? Ich halte für euch eine unendliche Zahl unendlicher Überraschungen bereit
[…] Ich habe das Gedächtnis, die Schrift, die Infinitesimalrechnung erfunden. […] Alles fällt in den
Bereich der Phantasie […]. Heute bringe ich euch ein Rauschgift, das von den Randbezirken des
Bewußtseins, von den Grenzen des Abgrunds kommt. Was habt ihr in den Drogen anderes gesucht als
ein Machtgefühl, einen trügerischen Größenwahn und die freie Ausübung eurer Fähigkeiten im Luftleeren Raum? Das Produkt, das ich die Ehre habe euch anzubieten, verschafft all das, verschafft auch
gewaltige, unverhoffte Vorteile, geht über eure Wünsche hinaus, erweckt sie, läßt in euch neue, verrückte Wünsche aufkommen; ihr könnt ganz sicher sein, es sind die Feinde der Ordnung, die diesen
Zaubertrank des Absoluten in Umlauf bringen. Sie reichen ihn heimlich vor den Augen der Polizisten
weiter, in Form von Büchern, Gedichten. Der harmlose Deckmantel der Literatur erlaubt ihnen, euch
zu einem konkurrenzlosen Preis dieses tödliche Ferment abzugeben, das schleunigst allgemeine Verwendung finden sollte. Es ist der Geist in der Flasche, die Poesie in Barren. Kauft, kauft die Verdammnis eurer Seele, endlich werdet ihr euch zugrunde richten, hier ist die Maschine, die euren Geist
zum Kentern bringt. Ich verkünde der Welt ein Ereignis erster Größe: Ein neues Laster wurde geboren,
ein weiterer Taumel wurde den Menschen geschenkt: der Surrealismus, Sohn der Raserei und der Finsternis. Hereinspaziert, hereinspaziert, hier beginnen die Reiche des Augenblicklichen.“
„Das Laster des Surrealismus ist der zügellose, leidenschaftliche Gebrauch des Rauschgifts Bild
oder vielmehr das das Verfahren der unkontrollierten Hervorrufung des Bildes um seiner selbst
willen und um der unvorhersehbaren Störungen und Verwandlungen willen, die es im Bereich
der Vorstellung nach sich zieht […].“
55
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die surrealistische Collage und die Ästhetik des Décousu
„la rencontre
fortuite de
deux réalités
distantes sur
un plan nonconvenant“
(Max Ernst,
Au delà de la
peinture,
1937)
„beau comme
la rencontre
fortuite sur une
table des dissection d’une
machine à
coudre et d’un
parapluie“
(Lautréamont,
Les chants de
Maldoror,
1869)
„comme si la
grande affaire
était de rapprocher un jour
une orange et
une ficelle, un
mur et un regard“ (Aragon,
Paysan de
Paris,
1926)
Definition des Petit Robert: „DECOUSU“: „1. Dont la couture a été défaite, s’est défaite. Ourlet décousu.“ „2. FIG. Qui est sans suite, sans liaison. → incohérent, inconséquent. Conversation décousue,
sans suite […] SUBST. „Le décousu et l’absurdité de la rédaction“ (Mérimée). → désordre,
incohérence.“
56
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der surrealistische Begriff des Wunderbaren
André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924:
„Pour cette fois, mon intention était de faire justice de la haine du merveilleux qui sévit chez
certains hommes, de ce ridicule sous lequel ils veulent le faire tomber. Tranchons-en: le merveilleux est toujours beau, n’importe quel merveilleux est beau, il n’y a même que le merveilleux qui soit beau.“ (24f.)
„Für dieses Mal wollte ich nur mit dem Haß auf das Wunderbare, der bei manchen Menschen
herrscht, abrechnen, und mit der Lächerlichkeit, der sie es preisgaben wollen. Sagen wir es
geradeheraus: das Wunderbare ist immer schön, gleich welches Wunderbare ist schön, es
ist sogar nur das Wunderbare schön.“ (18)
„Le merveilleux n’est pas le même à toutes les époques; il participe obscurément d’une
sorte de révélation générale dont le détail seul nous parvient: ce sont les ruines romantiques,
le mannequin moderne ou tout autre symbole propre à remuer la sensibilité humaine durant
un temps.“ (26)
„Das Wunderbare ist nicht zu allen Zeiten dasselbe; dunkel nimmt es teil an einer Art allgemeiner Offenbarung, die uns nur in ihren Einzelheiten überkommt: das sind die romantischen Ruinen, das moderne Mannequin oder jedes andere Symbol, das geeignet ist, die menschliche Phantasie eine zeitlang zu beschäftigen.“ (20)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
„Le merveilleux quotidien“: Die Idee einer modernen Mythologie
sein? Werde ich noch lange das Gefühl für das
Wunderbare des Alltäglichen [merveilleux
quotidien] haben? Ich sehe, wie es in jedem
Menschen verloren geht, der in seinem Leben
wie auf einem immer besser gepflasterten Weg
voranschreitet, der sich mit wachsender Leichtigkeit immer mehr an die Welt gewöhnt, der
sich nach und nach vom Gefallen am Ungewöhnlichen und dessen Wahrnehmung löst.
Genau das werde ich zu meiner Verzweiflung
niemals erfahren können.“ (12f.; Ü: Lydia
Babilas)
Louis Aragon (1897-1982)
„Le passage de l’Opéra“ / „Die Opernpassage“, Erster Absatz:
Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der
Pariser Bauer, 1926 („Préface à une mythologie moderne“/ „Vorwort zu einer modernen Mythologie“):
„Heute betet man die Götter nicht mehr auf
den Höhen an. Der Tempel Salomons ist in die
Metaphorik eingegangen, in der er Schwalbennestern und bleichen Eidechsen Unterschlupf
gewährt. Der Geist der Kulte hat die heiligen
Stätten verlassen, indem er sich in Staub auflöste. Aber es gibt andere Orte, die unter den
Menschen blühen, andere Orte, an denen die
Menschen sorglos ihrem geheimnisvollen Leben nachgehen und die sich allmählich einer
tiefen Religion öffnen. Die Gottheit bewohnt
sie noch nicht. Sie formt sich dort erst, es ist
eine neue Gottheit, die sich in diesen modernen
Ephesoi niederschlägt wie von einer Säure
zersetztes Metall auf dem Grund eines Glases;
es ist das Leben, das hier diese poetische Gottheit ans Licht bringt, an der tausend Leute
vorbeigehen werden, ohne etwas zu sehen, die
aber für jene, die sie ungeschickterweise einmal wahrgenommen haben, plötzlich spürbar
und zu etwas entsetzlich Quälendem wird.
Metaphysik der Orte, du wiegst die Kinder ein,
du suchst die Träume heim. Unsere ganze
geistige Materie säumt diese Strände des
Unbekannten und des Erschauerns. Bei
jedem Schritt, den ich zurück in die Vergangenheit tue, finde ich dieses Gefühl des Seltsamen wieder, das mich, als ich noch ganz
Staunen war, in einer Szenerie überkam, in der
mir zum erstenmal ein ungeklärter Zusammenhang und seine Auswirkungen auf mein Herz
bewußt wurden.“ (17)
„Ich will mir die Irrtümer meiner Finger, die
Irrtümer meiner Augen nicht mehr versagen.
Ich weiß jetzt, daß sie nicht nur plumpe Fallen
sind, sondern eigenartige Wege zu einem Ziel,
das nur sie allein mir enthüllen können. Jedem
Irrtum der Sinne entsprechen seltsame Blumen
der Vernunft. Prachtvolle Gärten der absurden Glaubensüberzeugungen, der Vorahnungen, der Zwangsvorstellungen und der Delirien. Dort nehmen unbekannte, sich immer
wieder verändernde Götter Gestalt an. Ich
werde diese bleiernen Gesichter betrachten,
diese Hanfsamen der Phantasie. Wie schön ihr
seid, ihr Rauchsäulen, in euren Sandburgen!
Neue Mythen entstehen unter jedem unserer Schritte. Dort, wo der Mensch gelebt hat,
beginnt die Legende, dort, wo er lebt. Ich will
mein Denken nur noch mit diesen verachteten
Verwandlungen beschäftigen. Täglich verändert sich das moderne Daseinsgefühl. Eine
Mythologie baut sich auf und zerfällt wieder.
Es ist eine Wissenschaft vom Leben, die jenen
vorbehalten ist, die keine Lebenserfahrung
haben. Es ist eine lebendige Wissenschaft, die
sich selbst zeugt und sich selbst tötet. Kommt
es mir noch zu – ich bin schon sechsundzwanzig Jahre alt –, dieses Wunders teilhaftig zu
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
„Le merveilleux quotidien“: Die Nähe des Geheimnisses und das Begehren
im Wirrwarr der Orte solche Türschlösser, die
gegen das Unendliche hin keine sichere
Sperre bilden. Dort, wo die Lebenden der
zweideutigsten Tätigkeit nachgehen, spiegeln
sich ihre geheimsten Beweggründe manchmal
im Unbelebten: So sind unseres Innenstädte
von verkannten Sphinxen bevölkert, die den
träumenden Passanten nicht anhalten, wenn er
sich ihnen nicht in grüblerischer Zerstreutheit
zuwendet, und die ihn auch keine todbringenden Fragen stellen. Aber wenn er sie erraten
kann, dieser Weise, dann möge er sie seinerseits befragen, es sind immer noch seine eigenen Abgründe, die er dank dieser gesichtslosen Ungeheuer von neuem ausloten wird. Das
moderne Licht des Ungewöhnlichen, das wird
ihn von jetzt ab nicht mehr loslassen.
Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der
Pariser Bauer, 1926 („Le passage de
l’Opéra“/ „Die Opernpassage“, Absatz 2f.):
„Die ganze Fauna der Phantasiegebilde mitsamt ihrer Meeresvegetation verliert sich
gleichsam in einem dunklen Kometenschweif
und lebt nur noch in den spärlich beleuchteten
Zonen des menschlichen Tuns fort. Dort werden die großen geistigen Leuchttürme sichtbar,
die ihrer Form nach weniger reinen Zeichen
nahe stehen. Ein Augenblick menschlicher
Schwäche öffnet das Tor zum Geheimnis,
und schon sind wir in den Gefilden des Dunkels. Ein falscher Tritt, eine verhedderte Silbe
enthüllen das Denken eines Menschen. Es gibt
Dieses Licht durchflutet in bizarrer Weise jene
überdachten Galerien, die man häufig in Paris
in der Nähe der großen Boulevards findet und
die man irritierenderweise Passagen nennt, als
ob es in diesen dem Tageslicht entzogenen
Gängen niemandem erlaubt wäre, länger als
einen Augenblick zu verweilen. Meergrüner,
gewissermaßen tiefseehafter Lichtschein, der
der jähen Helligkeit ähnelt, die aufleuchtet,
wenn man einen Rock hochhebt und darunter
ein Bein bloßlegt. Der von einem Präfekten des
Zweiten Kaiserreichs in die Hauptstadt importierte typisch amerikanische Drang, dem Pariser Stadtplan einen neuen, schnurgeraden Zuschnitt zu geben, wird den Fortbestand dieser
menschlichen Aquarien bald unmöglich machen; ihr ursprüngliches Leben ist schon erloschen, doch verdienen sie es, als Unterschlupf etlicher moderner Mythen betrachtet
zu werden; denn erst heute, da die Spitzhacke
sie bedroht, sind sie wirklich zu Heiligtümern
des Ephemeren geworden, sind sie zur gespenstischen Landschaft der Vergnügen und der
verruchten Berufe geworden, gestern noch
unverständlich, morgen völlig unbekannt.“
(17f.)
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Das Meer in der Großstadt
Louis Aragon, Le Paysan de Paris, 1926 („Le passage de l’Opéra“):
„La lumière moderne de l'insolite [...] règne bizarrement dans ces sortes de galeries couvertes qui sont
nombreuses à Paris aux alentours des grands boulevards et que l'on nomme d’une façon troublante des
passages, comme si dans ces couloirs dérobés au jour, il n'était permis à personne de s'arrêter plus d'un
instant. Lueur glauque, en quelque manière abyssale, qui tient de la clarté soudaine sous une jupe
qu’on relève d’une jambe qui se découvre. Le grand instinct américain, importé dans la capitale par un
préfet du Second Empire, qui tend à recouper au cordeau le plan de Paris, va bientôt rendre impossible
le maintien de ces aquariums humains […].“ (20f.)
„Quelle ne fut pas ma surprise, lorsque, attiré par uns sorte de bruit machinale et monotone qui semblait s’exhaler de la devanture du marchand de cannes, je m’aperçus que celle-ci baignait dans une
lumière verdâtre, en quelque manière sous-marine […]. Toute la mer dans le passage de l’Opéra.
Les cannes se balançaient doucement comme des varechs. Je ne revenais pas encore de cet enchantement quand je m’aperçus qu’une forme nageuse se glissait entre les divers étages de la devanture.
[…]. J’aurais cru avoir affaire à une sirène […].“ (30f.)
Paul Delvaux, Les Nymphes des eaux, 1938
60
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der Einbruch des Wunderbaren
Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926 („Le passage de l’Opéra“/ „Die
Opernpassage“):
„Ein Spazierstockhändler nimmt den Raum zwischen dem Café Le Petit Grillon und dem Eingang
des Hotels in Beschlag. Es ist ein achtbarer Stockhändler, der einer fragwürdigen Kundschaft zahlreiche und verschiedenartige Luxusartikel anbietet, die in einer Weise aufgestellt sind, daß man sowohl
den eigentlichen Stock als auch den Griff beurteilen kann. Eine ganze Kunst der Präsentation ist hier
zur Entfaltung gebracht: Die unteren Stöcke sind fächerförmig angeordnet, die oberen neigen, sich zu
einem X kreuzend, in einem einzigartigen Tropismus ihren Blütenknauf den Blicken zu: Rosen aus
Elfenbein, Hundeköpfe mit Steinen als Augen, tauschiertes Halbdunkel aus Toledo, rührendes kleines
nielliertes Blattwerk, Katzen, Frauen, Hakenschnäbel, zahllose Materialien vom gebogenen Rohr über
den blonden Zauber der Karneole bis hin zum Rhinozeroshorn. […] Wie überrascht war ich, als ich,
angezogen von irgendeinem mechanischen, monotonen Geräusch, das wohl aus dem Schaufenster des
Spazierstockhändlers drang, bemerkte, daß dieses in ein blaßgrünes, gewissermaßen submarines
Licht eingetaucht war, dessen Quelle unsichtbar blieb. Das ähnelte der Phosphoreszenz der Fische,
wie ich sie einst als Kind auf der Mole von Port-Bail im Contentin sehen konnte; doch mußte ich mir
eingestehen, daß Spazierstöcke zwar die Leuchteigenschaften der Meeresbewohner durchaus besitzen
mögen, daß es aber eine physikalische Erklärung für diese übernatürlich Helligkeit und vor allem für
das Geräusch, das das Gewölbe dumpf erfüllte, nicht zu geben schien. Das Geräusch erkannte ich wieder: Es war das Muschelrauschen, das immer wieder Dichter und Filmstars in Erstaunen versetzt.
Das ganze Meer in der Passage de l’Opéra. Die Spazierstöcke wiegten sich sanft hin und her wie
Seegras. Ich war noch ganz von diesem Zauber gefangen, als ich sah, daß eine schwimmende Gestalt
sich zwischen die verschiedenen Etagen des Schaufensters gleiten ließ. Sie hatte nicht ganz die normale Körpergröße einer Frau, wirkte aber keineswegs wie eine Zwergin. Der Eindruck ihrer
Kleinwüchsigkeit schien sich eher aus der Entfernung zu ergeben, und doch bewegte sich ihre Erscheinung unmittelbar hinter der Glasscheibe. Ihre Haare hatten sich gelöst, und ihre Finger hielten
sich momentweise an den Stöcken fest. Ich hätte geglaubt, es mit einer Sirene im herkömmlichsten
Sinn dieses Wortes zu tun zu haben; mit schien nämlich, daß diese zauberhafte, bis zu dem recht tief
sitzenden Gürtel nackte Erscheinung in einem Stahl- oder Schildpattkleid oder vielleicht in Rosenblättern endete, aber als ich meine Aufmerksamkeit auf das Hin- und Herschwingen konzentrierte, das sie
in die von Streifen durchzogene Atmosphäre trug, erkannte ich plötzlich diese Person wieder, trotz der
abgezehrten Züge und des verstörten Ausdrucks, die ihr Gesicht zeichneten. In der Zweideutigkeit der
schmählichen Besetzung der Rheinprovinzen und des Taumels der Prostitution war ich am Ufer der
Saar der Liesel begegnet, die es abgelehnt hatte, dem Rückzug der Ihren in die Katastrophe zu folgen,
und die in der Sophienstraße ganze Nächte lang Lieder sang […]. Was hatte sie hier unter den Stökken zu suchen? Und sie sang immer noch, nach der Bewegung ihrer Lippen zu urteilen; denn die
Brandung des Schaufensters übertönte ihre Stimme und stieg über sie hinweg zur Spiegeldecke empor,
über der man weder den Monde noch das bedrohliche Dunkel der Klippen wahrnahm: ,Das Ideal!‘ rief
ich aus, in meiner Verwirrung fand ich nichts besseres zu sagen. Die Sirene wandte mir ein erschrecktes Gesicht zu und streckte mir ihre Arme entgegen. Da wurde das Schaufenster von einer allgemeinen
Konvulsion gepackt. Die Spazierstöcke drehten sich um neunzig Grad nach vorn, so daß die obere
Hälfte der Xe ihr V zur Glasscheibe hin öffnete und dabei den Fächervorhang der unteren Stöcke vor
der Sirenen-Erscheinung vervollständigte. Es war, als hätten Spieße jäh den Blick auf eine Schlacht
versperrt. Die Helligkeit erstarb mit dem Rauschen des Meeres. / Der Portier, der schleppenden
Schrittes daherkam, um das Gitter der Passage zu schließen, fragte mich unwirsch, ob ich nun endlich
hinausgehen wolle oder nicht. […] Als ich nun am Morgen dorthin zurückkam, hatte alles wieder sein
normales Aussehen angenommen, nur daß im Ständer des zweiten Schaufensters, ohne daß man es
bemerkt hätte, eine Meerschaumpfeife, die eine Sirene darstellte, zerbrochen war wie in einer vulgären Schießbude und am Ende ihres illusionierenden Rohrs immer noch den zweifachen Bogen eines
zauberhaften Busens spannte: Ein bißchen weißer Staub, der auf den halbseidenen Bezug eines Regenschirms gefallen war, bezeugte, daß es da einmal Kopf und Haare gegeben hatte.“ (26-30)
61
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Übergänge ins Imaginäre: Die Einheit von Realität und Fiktion
Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926 („Le passage de l’Opéra“/ „Die
Opernpassage“):
Der Erzähler mit der Allegorie der Nutzlosigkeit: „Alles zerfällt unter meiner Beobachtung. Das
Gefühl der Nutzlosigkeit hockt neben mir auf der ersten Stufe. Es ist wie ich gekleidet, doch vornehmer. Es trägt kein Einstecktuck. Ein Ausdruck des Unendlichen liegt auf seinem Gesicht, und in seinen Händen hält es ein weit ausgezogenes Akkordeon, auf dem es niemals spielt und auf dem man
lesen kann: PESSIMISME. Reichen Sie mir doch dieses Stück Himmelblau, mein liebes Gefühl des
Unnützen, sein Lied dürfte meinen Ohren gefallen. […].“ (55f.)
Der Erzähler mit der Allegorie der Phantasie: „In diesem Augenblick erscheint DIE PHANTASIE, so
wie der Verstand sie beschrieben hat: Es ist ein großer hagerer Greis mit einem Schnurrbart à la
Habsburg […]. Er nähert sich dem Menschen und richtet folgende Worte an ihn: / REDE DER
PHANTASIE / Man muß sich ins Unvermeidliche schicken: Ihr alle, die ihr immer gute Miene zum
bösen Spiel macht, hattet eure Rechnung ohne mich gemacht. Von einer Illusion in die andere gleitend, fallt ihr unablässig der Illusion Realität anheim. Dabei habe ich euch doch alles geschenkt: die
blaue Farbe des Himmels, die Pyramiden, die Automobile. Warum bloß verzweifelt ihr an meiner
Laterna magica? […] Kommt hierher an den Schalter. / Worauf die Phantasie dabei mit einem lichtdurchlässigen Zeigefinger deutet, ist die kleine Holzbude, in der man Eintrittskarten für das Théâtre
Moderne verkauft. Sie stützt sich an einen grauen Plankenzaun, der zur Stunde des Sonnenuntergangs
Farbtöne der Drossel annimmt und in dem sich eine Tür befindet, durch die man in die Buchhandlung
Flammarion gelangt. Eine Kassiererin leiert jedesmal, wenn man durch ihr Blickfeld geht, hinter ihrem
Schalter den Preis der Sitzplätze herunter […].“ (72-77)
Der Erzähler mit dem Kommandeur und Don Juan beim Schuhputzer: „Wäre ich ein Gespenst,
ich würde hierher zum Spuken kommen. Ich würde meine Schuhe zum Putzen geben und würde geisterhaft auf einem dieser Zufallsthrone sitzen wie eine Statue des Spuks. Der Kommandeur [Anspielung auf die Figur des „commandeur“ in Molières Dom Juan ou Le Festin de pierre], so wie ich ihn
mir vorstelle, setzt sich ausgerechnet bei einem Schuhputzer neben Don Juan. Dieser verlor sich bereits in Hirngespinsten. Er rauchte. Heutzutage raucht Don Juan. Er bereitete sich auf ein neues Abenteuer vor. Er mußte saubere Schuhe haben. […] Gleichgültig hört er dem Gespräch des Schuhputzers
mit seinem Nachbarn zu. […] Noch so ein Verrückter, aber diese Stimme kenne ich doch. Don Juan
hebt den Kopf und erkennt den Kommandeur. O Schicksal, hartnäckiges Schicksal, da sitzt du nun
also direkt neben mir. Der Kommandeur trägt den portugiesischen Christus-Orden, das äfft die Ehrenlegion nach. […] ,Wollen Sie‘, sagt der Kommandeur, ,Ihre Zigarette geht aus, von mir diese Zigarre
annehmen?‘ Kostbarer Augenblick, Don Juan nimmt die Zigarre, die ihm das Gespenst reicht. Dieses
Schauspiel ist unerträglich, ich verlasse den Schuhputzer und gehe zum Briefmarkenhändler.“ (80f.)
Der Erzähler begegnet der Figur des Todes im Bordell: „Es geht vom Bordell eine Faszination aus,
die sich nicht beschreiben läßt, die man selbst empfinden muß. […] Dort jage ich dem abstrakten großen Verlangen nach, das die paar Gesichter, die ich je geliebt habe, manchmal erwecken. Eine Inbrunst flammt auf. […] Von keinem Nutzen sind mir dann mehr diese Sprache, diese Kenntnisse, ja
selbst diese Erziehung, alles Dinge, mittels derer man mich gelehrt hat, mich im Herzen der Welt zu
bewegen. Blendwerk oder Spiegelbild, ein großer Zauber leuchtet jedenfalls in diesem Dunkel und
lehnt sich an den Türstock der Verwüstungen in der klassischen Pose des Todes, der soeben sein Leichentuch hat fallen lassen. O mein knöchernes Abbild, hier bin ich: Möge alles sich endlich zersetzen
im Palast der Illusionen und des Schweigens. Die Frau macht sich bereitwillig meine Wünsche zu
eigen und kommt ihnen zuvor […].“ (119f.)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die Passage als Aufenthaltsort und Ort der Befreiuung
Eingang und Durchgang durch die Passage de L’Opéra (1822-1925), historische Aufnahmen
„Dieses Licht [das moderne Licht des Ungewöhnlichen] durchflutet in bizarrer Weise jene überdachten Galerien, die man häufig in Paris in der Nähe der großen Boulevards findet und die man
irritierenderweise Passagen nennt, als ob es in diesen dem Tageslicht entzogenen Gängen niemandem
erlaubt wäre, länger als einen Augenblick zu verweilen. Meergrüner, gewissermaßen tiefseehafter
Lichtschein, der der jähen Helligkeit ähnelt, die aufleuchtet, wenn man einen Rock hochhebt und darunter ein Bein bloßlegt.“ (17f.)
„[…] an der Grenze der beiden Lichtöffnungen, die die außerhalb der Passage existierende Realität
dem Subjektivismus der Passage entgegensetzen, wollen wir doch – wie ein Mensch, der am Rande
seiner Abgründe steht, gleichermaßen angelockt von den Strömungen der Gegenstände und von den
Strudeln seiner selbst – in dieser seltsamen Zone, in der alles Fehlleistung ist, Fehlleistung der
Aufmerksamkeit und der Unaufmerksamkeit, ein wenig verweilen, um diesen Taumel zu erleben.“
(54)
„[…] der Henker hole mich, wenn diese Passage etwas anderes ist als eine Methode, mich von gewissen Zwängen zu befreien, ein Mittel, über meine Kräfte hinaus in einen noch verbotenen Bereich
zu gelangen. Möge sie endlich ihren wahren Namen annehmen, und möge Monsieur Oudin das Schild
anbringen: PASSAGE DE L’OPÉRA ONIRIQUE.“ (99)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Der Zufall als Lebensprinzip
André Breton, Nadja, 1928:
„Je n’ai dessein de relater, en marge du récit que je vais entreprendre, que les épisodes les
plus marquants de ma vie telle que je peux la concevoir hors de son plan organique, soit
dans la mesure même où elle est livrée aux hasards, au plus petit comme au plus grand, où
regimbant contre l’idée commune que je m’en fais, elle m’introduit dans un monde comme
défendu qui est celui des rapprochements soudains, des pétrifiantes coïncidences, des réflexes primant tout autre essor du mental, des accords plaqués comme au piano, des éclairs
qui feraient voir, mais alors voir, s’ils n’étaient encore plus rapide que les autres.“ (19f.)
„Am Rand des Berichts, den ich hier beginne, will ich nur die hervorstechendsten Episoden
meines Lebens wiedergeben, so wie ich es außerhalb seines organischen Aufbaus erfassen
kann, das heißt in dem Maße, wie es den Zufällen, dem kleinsten wie dem größten, ausgeliefert ist, sich der gängigen Vorstellung, die ich mir von ihm mache, widersetzt und mich in
eine gleichsam verbotene Welt einführt, die der plötzlichen Annäherungen, der versteinernden Koinzidenzen, der jedem Aufschwung des Geistigen vorausgehenden Reflexe, der wie
an einem Klavier angeschlagenen Akkorde, der Blitze, die sehen ließen, wirklich sehen,
wenn sie nicht noch schneller wären als die anderen.“ (16)
Louis Aragon, Le Paysan de Paris/ Der Pariser Bauer, 1926:
„J’aime à me laisser traverser par les vents et la pluie: le hasard, voilà toute mon expérience.“ (109)
André Breton, Manifeste du surréalisme/Manifest des Surrealismus, 1924:
„Telle idée, telle femme lui fait de l’effet. Quel effet, il serait bien incapable de le dire […].
En désespoir de cause, il invoque alors le hasard, divinité plus obscure que les autres, à qui
il attribue tous ses égarements. Qui me dit que l’angle sous lequel se présente cette idée qui le
touche, ce qu’il aime dans l’œil de cette femme n’est pas précisément ce qui le rattache à
son rêve, l’enchaîne à des données que par sa faute il a perdue?“ (23)
„Jene Idee, jene Frau macht Eindruck auf ihn. Aber er wäre keineswegs fähig zu sagen, welchen Eindruck […] Weil er keine Erklärung weiß, beschwört er dann den Zufall, eine
dunklere Gottheit als jede andere, schreibt ihm alle seine Verwirrungen zu. Wer kann behaupten, daß der Blickwinkel, unter dem ihn diese Idee berührt, daß das, was er in den Augen jener
Frau liebt, nicht eben das ist, was ihn mit seinem Traum verbindet, ihn an Gegebenheiten
kettet, die ihm durch seine eigene Schuld entfallen sind?“ (17)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Die ,halbautomatische‘ Schreibweise von Nadja
André Breton, Nadja, 1928:
„Qu’on n’attende pas de moi le compte global […]. Je me bornerai ici à me souvenir sans
effort de ce qui, ne répondant à aucune démarche de ma part, m’est quelquefois advenu, de ce
qui me donne, m’arrivant par des voies insoupçonnable, la mesure de la grâce et de la disgrâce particulière dont je suis l’objet; j’en parlerai sans ordre préétabli, et selon de caprice
de l’heure qui laisse surnager ce qui surnage.“ (22f.)
„Man erwarte von mir keine umfassende Rechenschaft […]. Ich werde mich hier darauf beschränken, mir zwanglos in Erinnerung zu rufen, was, ohne daß es auf irgendeine Initiative
meinerseits zurückginge, mir einige Male zugestoßen ist, was, auf unverdächtigen Wegen zu
mir gekommen, mich die besondere Gnade und Ungnade ermessen läßt, die mir widerfahren;
ich werde ohne vorgegebene Ordnung davon sprechen, der Laune des Augenblicks folgend, die oben schwimmen läßt, was oben schwimmt.“ (18)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Nadjas Selbstrepräsentation als Sirene oder Melusine
André Breton, Nadja, 1928:
„Die Zeichnung, datiert 18. November 1926, enthält das symbolische Porträt von ihr und von
mir: Die Meerjungfrau, in deren Gestalt sie sich stets von hinten und unter diesem Blickwinkel sah, hält eine Papierrolle in der Hand; das Monster mit blitzenden Augen taucht aus einer
art Behältnis mit Adlerkopf auf, der gefüllt ist mit Federn, die die Ideen darstellen.“ (102f.)
„Mehrfach hat sich Nadja auch in den Zügen Melusines dargestellt, der sie sich von allen mythischen Gestalten offensichtlich am nächsten fühlte“ (108).
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Nadja als Luftgeist
Ses yeux de fougère
André Breton, Nadja, 1928:
„J’ai pris, du premier au dernier jour, Nadja pour un génie libre, quelque chose comme un de
ces esprit de l’air que certaines pratiques de magie permettent momentanément de s’attacher,
mais qu’il ne saurait être question de se soumettre.“ (130)
„Vom ersten bis zum letzten Tage habe ich Nadja für einen freien Geist gehalten, für so etwas
wie einen jener Luftgeister, die man durch gewisse magische Praktiken für Augenblicke an
sich binden kann, nie aber sich unterwerfen könnte.“ (94)
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Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich
Nadjas Wahnsinn
„Vor einigen Monaten teilte man mir mit, daß Nadja wahnsinnig sei. Nach einigen überspannten Auftritten, die sie sich offenbar in den Gängen ihres Hotels geleistet hatte, mußte sie
in die geschlossene Anstalt von Vaucluse eingeliefert werden. Andere als ich werden sich
ganz unnütz über diesen Vorfall auslassen, der ihnen sicher als verhängnisvolles Ende des
Vorausgegangenen vorkommen wird. Die Neunmalklugen werden eilfertig zu ergründen suchen, was in meinen Berichten über Nadja ihren bereits deliranten Vorstellungen zuzurechnen
sei, und vielleicht werden sie meinem Eingriff in ihr Leben, einem Eingriff, der die Entwicklung dieser Vorstellungen praktisch noch beförderte, eine nachgerade ausschlaggebende Bedeutung beimessen.“ (116f.)
„Die Verachtung, die ich generell der Psychiatrie entgegenbringe, ihrem Pomp und ihrem
Wirken, ist so groß, daß ich bislang nicht gewagt habe, mich zu erkundigen, was aus Nadja
geworden ist. […] Wäre sie in einem Privatsanatorium behandelt worden, mit all der Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme, die man den Reichen schuldet, hätte sie nicht auf engstem
Raum mit anderen zusammenleben müssen, was ihr möglicherweise schadete, wäre sie vielleicht im richtigen Augenblick durch die Anwesenheit von Freunden gestärkt und getröstet
worden, in ihren Vorlieben und ihrem Geschmack weitestgehend zufriedengestellt und unmerklich zu einem annehmbaren Realitätssinn zurückgeführt worden, was vorausgesetzt
hätte, daß man nicht zu grob mit ihr umgeht und alles daransetzt, daß sie von selbst zum Ursprung ihres Verstörtseins vordringt, dann, so glaube ich, auch wenn ich mich damit weit
vorwage, wäre sie aus dieser schlimmen Lage herausgekommen. Doch Nadja war arm […].“
(121f.)
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