1 Bildrausch Filmfest Basel | 25. – 29.5.2016 CUTTING EDGE

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 Bildrausch Filmfest Basel | 25. – 29.5.2016 CUTTING EDGE – Internationaler Wettbewerb 13 Filme, 10 Schweizer Premieren 11 MINUTES von Jerzy Skolimovski Polen, 2015, 81 Minuten A DRAGON ARRIVES! von Mani Haghighi Iran, 2016, 105 Minuten Schweizer Vorpremiere, in Anwesenheit des Regisseurs BADEN BADEN von Rachel Lang Belgien, 2016, 96 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit der Hauptdarstellerin Salomé Richard CEMETERY OF SPLENDOR von Apichatpong Weerasethakul Thailand u.a., 2015, 122 Minuten THE CHILDHOOD OF A LEADER von Brady Corbet UK/Ungarn/F, 2015, 115 Minuten Schweizer Premiere DIE GETRÄUMTEN von Ruth Beckermann Österreich, 2016, 89 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit der Regisseurin EPITAPH von Ruben Imaz, Yulene Olaizola Mexiko, 2015, 82 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit von Hauptdarsteller Cabier F. Coronado HOMO SAPIENS von Nikolaus Geyrhalter Österreich, 2016, 94 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs INTERROGATION von Vetri Maaran Indien, 2015, 106 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs LE FILS DE JOSEPH von Eugène Green Frankreich, 2016, 115 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs MATE ME POR FAVOR von Anita Rocha da Silveira Brasilien/Argentinien, 2015, 101 Minuten In Anwesenheit der Regisseurin OLEG Y LAS RARAS ARTES von Andrés Duque Spanien, 2016, 70 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs THE DAUGTHER von Simon Stone Australien, 2015, 96 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs Theaterstrasse 22, 4051 Basel presse@bildrausch-­basel.ch, www.bildrausch-­basel.ch Tel +41 61 205 98 80, Fax +41 61 205 98 89 1 11 MINUTES von Jerzy Skolimovski Polen, 2015, 81 Minuten Am Anfang strolcht man durch den Cyberfriedhof, eine Masse unzusammenhängender Netz-­‐‑, Mobiltele-­‐‑
fon-­‐‑ oder Videoüberwachungsanlagenbilder, am Ende fügt sich ein Mosaik aus ähnlichen Bildern dieser Art zu so etwas wie einer kosmischen Videoleinwand – mit einem blinden Fleck. Was sich dazwischen abspielt, beschreibt man am besten als eine den Geist wie sämtliche Sinne aufs Äusserste fordernde Mi-­‐‑
schung aus Avantgardefilm und Action-­‐‑Blockbuster mit einer Geschichte voller schicksalhafter Verhäng-­‐‑
nisse wie von Kieslowski, in der sich die Leben mehrerer Warschauer auf geheimnisvolle Weise ineinan-­‐‑
der verstrickt finden: die Schauspielerin, ihr eifersüchtiger Gatte und der Hollywood-­‐‑Regisseur im Hotel, draussen der Ex-­‐‑Knacki am Würstelwagen, woanders die Schwangere, zum Stadtrand hin ein Durchge-­‐‑
knallter etc. Hin und her springt die Erzählung, vor und zurück in der Zeit – ein Knoten wird gelegt, als er sich festzieht, steht die Zeit, scheint es, still. Jerzy Skolimowski, Grenzgänger zwischen den Genres und Produktionskulturen, Polens einsamer Wolf der Weltkinomoderne, meditiert sardonisch amüsiert über Zeit und Ewigkeit, Gott und Zufall, Schuld, Verdammnis und Vergebung. Seine dabei gewonnenen Einsich-­‐‑
ten sind bizarr tröstlich. A DRAGON ARRIVES! von Mani Haghighi Iran, 2016, 105 Minuten Schweizer Vorpremiere, in Anwesenheit des Regisseurs 1965: Ein Mann mit undurchschaubarem Blick, ein schwerer, orangefarbener Schlitten offenbar US-­‐‑
amerikanischer Bauart, um sie herum die Wüste. In deren Mitte steht ein gewaltiges Schiffswrack. Der Mann ist vom iranischen Geheimdienst, das Land in Aufruhr – und sein Auftrag wahrscheinlich ein ganz anderer, als er denkt ... A Dragon Arrives! zeigt Haghighi auf dem bisherigen Höhepunkt seines Schaffens: Visuell ist seine Meditation über den Verfolgungswahn als die dunkle Seele des Iran von einer Farben-­‐‑
pracht und dramatischen Wucht, die nichts gleicht in seinen bisherigen Werken. Und mehr noch als bisher lässt er seine cinephile Ader spielen: So ist A Dragon Arrives! auch eine Ode an das Genie des iranischen Genrekinos der 1960er, allen voran dessen gut realistisch grundierten Krimis, die schon Bildrausch-­‐‑Gast Amir Naderi so mächtig inspirierten. Damals wie heute wehte durch den Iran der Paranoia-­‐‑Blues – über die Schulter muss man in diesem Land immer schauen, egal, wer gerade an der Macht ist. Bunt-­‐‑
strahlender kam Film noir selten daher! BADEN BADEN von Rachel Lang Belgien, 2016, 96 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit der Hauptdarstellerin Salomé Richard Dass Ana ihr Leben auf der Reihe hätte, lässt sich nicht gerade behaupten; dabei ist sie jetzt auch schon Mitte zwanzig. Nachdem sie ihren Job als Fahrerin einer Filmproduktion glorios in den Sand gesetzt hat, fährt sie zu ihrer Oma nach Strassburg. Doch dort verläuft auch nichts nach Plan. Was daran liegen mag, dass Ana keinen Plan hat. Dafür lebt sie ihre eher hingepfuschte Existenz mit umso grösserer Souveräni-­‐‑
tät. Sie will sich (noch) nicht festlegen (lassen), sie probiert sich aus, sie macht alte Fehler noch einmal neu und sie geht bei alledem eher instinktiv denn überlegt vor. In ihrem Spielfilmdebüt nach eigenem Dreh-­‐‑
buch erzählt die studierte Philosophin und Schauspielerin Rachel Lang, 1984 in Strassburg geboren, vom Scheitern nicht als abschreckendem Beispiel, sondern als notwendigem Bestandteil des Gelingens. Und ebendies ist das Erfreuliche an ihrem von lakonischem Humor durchwirkten Film, der viel mit Badenge-­‐‑
hen im übertragenen Sinn, doch nichts mit dem titelgebenden Ort zu tun hat. Die junge Frau im Zentrum ist ein ganz gegenwärtiger Charakter; sie verzettelt sich im Abwägen ihrer Möglichkeiten, während ihr die Felle davonschwimmen. Was schliesslich übrig bleibt, ist das ganz normale Leben. Theaterstrasse 22, 4051 Basel presse@bildrausch-­basel.ch, www.bildrausch-­basel.ch Tel +41 61 205 98 80, Fax +41 61 205 98 89 2 CEMETERY OF SPLENDOR von Apichatpong Weerasethakul Thailand u.a., 2015, 122 Minuten Die Soldaten liegen in einem Spital im Tiefschlaf. Die Könige vergangener Tage brauchen sie. Das erfährt die Krankenschwester beim Mittagessen im Park von den beiden Göttinnen vom Schrein. Da macht sie grosse Augen und schaut ungläubig. So wie wir. Es wird hier aber niemandem ein Streich gespielt, es ist nur Apichatpong Weerasethakul, Thailands bedeutendster Filmkünstler, mit einer neuen Geschichte aus jener Welt, die keine Trennung kennt zwischen dem Faktischen und dem Fantastischen. Von einer Liebe zwischen Träumenden und Wachenden erzählt Cemetery of Splendor und angesiedelt ist diese in Khon Kaen, einer Stadt im Nordosten Thailands, in der der 1970 geborene Regisseur aufgewachsen ist und sei-­‐‑
ne Eltern als Ärzte arbeiteten. Dies ist eine weitere, biografisch-­‐‑semidokumentarische Ebene, die sich ins vielfach lesbare traumlogische Gewebe des Films einschreibt. Denn in der spirituellen Praxis, die als Teil des Alltags der Protagonisten gezeigt wird, ist die politische Verfasstheit des Landes, das seit 2014 unter Militärherrschaft steht, mitzudenken. Und es ist ebendiese Zusammenschau von individueller Existenz und gesellschaftlicher Struktur, die Weerasethakuls Kino zu einem visionären, engagierten, vor allem aber menschlichen macht. THE CHILDHOOD OF A LEADER von Brady Corbet UK/Ungarn/F, 2015, 115 Minuten Schweizer Premiere Frankreich, Winter 1919, nach dem Waffenstillstand von Compiègne, vor dem Friedensvertrag von Versai-­‐‑
lles. Prescotts Vater gehört zur US-­‐‑amerikanischen Delegation unter Woodrow Wilson, die mit ihren Ver-­‐‑
bündeten den Ersten Weltkrieg formal zum Abschluss bringen soll. Prescott erweist sich als kindlicher Tyrann, Choleriker – wenn etwas nicht nach seinem Willen läuft, bekommt der Siebenjährige einen Wut-­‐‑
anfall ... Von drei solchen Ausbrüchen erzählt der Schauspieler Brady Corbet (unter anderem Funny Ga-­‐‑
mes USA, Clouds of Sils Maria) hier in seinem Regiedebut, einer schlimmer als der andere. Wohin solche Zustände, Erregungen führen können, zeigt ein Epilog aus Rausch und Schrecken: eine Evokation totalitä-­‐‑
rer Herrlichkeit, schrecklich strahlend nach all der Dunkelheit zuvor... Jean-­‐‑Paul Sartres frühe Erzählung L'Enfance d'un chef (aus dem 1939 erschienenen Erzählungsband «Le Mur») liefert das Handlungsgerüst für den Film. Weiter konsultiert wurden, per Abspann: Robert Musil und Hannah Arendt – Namen, deren Werke wie wenige weitere jenen grauenvollen Geist des 20. Jahrhunderts beschreiben, welchen Corbet hier als einen samtenen Furor mal duftiger, mal schimmeliger Sinnlichkeit beschwört. DIE GETRÄUMTEN von Ruth Beckermann Österreich, 2016, 89 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit der Regisseurin Nicht mit Dir, aber auch nicht ohne Dich. Ingeborg Bachmann und Paul Celan hätten ein Traumpaar sein können, empfindsame Sprachkünstler und bedeutende Lyriker der Nachkriegszeit, die sie waren. Doch sie wurden’s nicht, ihrer Zuneigung zum Trotz, eben weil ihnen die Worte, mit denen sie ihre Geschichte (be)schrieben, auf die Goldwaage und in die Quere gerieten, immer und immer wieder. Ein qualvolles, hingebungsvolles, um Liebe und Gemeinsamkeit ringendes, zurück in Einsamkeit führendes Hin und Her und Für und Wider, das Jahrzehnte währte. Eine komplexe Beziehung, die die renommierte österreichi-­‐‑
sche Dokumentaristin und Essayfilmerin Ruth Beckermann in ihrer vielfach preisgekrönten aktuellen Arbeit von der Musikerin Anja Plaschg und dem Schauspieler Laurence Rupp nachvollziehen lässt. Die beiden lesen aus dem Briefwechsel Bachmann-­‐‑Celan (1948–67), und in den Pausen reflektieren sie mal über das Gelesene, mal rauchen sie auch nur eine Zigarette miteinander – und in und mit ihnen sind die aneinander verlorenen Dichterseelen präsent. Zwei Paare, ein vergangenes, ein gegenwärtiges, treten im gleichen Raum zueinander in Relation. Ein sichtbarer und ein unsichtbarer Film zugleich, in dem die Träumenden die Geträumten wachrufen. Theaterstrasse 22, 4051 Basel presse@bildrausch-­basel.ch, www.bildrausch-­basel.ch Tel +41 61 205 98 80, Fax +41 61 205 98 89 3 EPITAPH von Ruben Imaz, Yulene Olaizola Mexiko, 2015, 82 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit von Hauptdarsteller Cabier F. Coronado 1519: Im Auftrag von Hernán Cortés de Monroy y Pizzaro machen sich drei Conquistadores an die Bestei-­‐‑
gung des Popocatepetl; zu erkunden gilt es das Terrain. Die Eroberung von Tenochtitlan und damit die Vernichtung des Aztekenreiches steht kurz bevor. Namentlich verbürgt ist historisch allein einer von ihnen: Diego de Ordaz. Die Männer, mit denen man sich nun auf den Weg macht, immer weiter den Berg hinauf, entlang von Trampelpfaden, sind Raubritter, darüber muss man sich keine Illusionen machen – sie selber denken darüber manchmal ja auch nach, streiten sich. De Ordaz erweist sich dabei als Fanatiker, Getriebener. Der Anstieg wird immer steiler, sie werden müder und stiller, ihre Beweggründe immer un-­‐‑
wichtiger ... Eine Reise ins Ungewisse, die wie ein Pyrrhussieg wirkt oder eine kosmische Marginalie. Im-­‐‑
mer wieder zeigen sie die Gruppe aus weiter Ferne, wie sie sich alle abstrampeln: Kleiner als Ameisen scheinen sie zu sein, kaum sichtbar in diesem gewaltig-­‐‑unwirtlichen, steinernen, fast vergletscherten Le-­‐‑
benskreislauf, verloren in einem immer frostigeren Grau-­‐‑Blau-­‐‑Weiss. Kurios ist, dass Rubén Imaz (Ce-­‐‑
falópodo, 2010) und Yulene Olaizola (Fogo, 2012) zuvor schon jeder für sich Langspielfilme gedreht haben – deren jeweils spezielle Eigenarten (ihr Interesse an indigenen Kulturresten, seine Faszination für die Poesie der Erschöpfung und Entleerung) sich hier kongenial vereinen. HOMO SAPIENS von Nikolaus Geyrhalter Österreich, 2016, 94 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs Die Frage, an welchen Orten Nikolaus Geyrhalter die Bilder für seine über vier Jahre entstandene post-­‐‑
apokalyptische Studie Homo sapiens aufgenommen hat, liegt zwar auf der Hand, ist aber nicht wichtig. Wobei, bildgebende katastrophenverwüstete Landstriche wie die um Fukushima und Tschernobyl legen natürlich nahe, dass der 1972 in Wien geborene Dokumentarist die Überlebenschancen der Menschheit insgesamt eher gering einschätzt. Verlassene Siedlungen, Ruinen, Trümmer, obsolet gewordenes Gerät, absurde Anhäufungen von Gegenständen – allmählich kapitulierend im rückerobernden Griff eines un-­‐‑
nachgiebig wuchernden Grün. In himmeloffenen Hallen schlagen Helikopter-­‐‑Tauben mit den Flügeln; der Wind pfeift, das herumliegende Zeug antwortet mit Geklapper. Wer will, sieht einen Horrorfilm, oder lauscht einer Erzählung über das verborgene, das eigentliche Leben der Dinge. Das fallweise narrative Funktionen übernehmende Sounddesign gestaltet Peter Kutin, den berauschend sicher rhythmisierten Schnitt besorgt Michael Palm. Für Konzept, Regie und Kamera zeichnet Geyrhalter verantwortlich, der mit Homo sapiens ein weiteres Beispiel jenes von lyrischer Kraft wie kritischer Analyse geprägten Kinos vor-­‐‑
legt, das er wie kein zweiter beherrscht. Theaterstrasse 22, 4051 Basel presse@bildrausch-­basel.ch, www.bildrausch-­basel.ch Tel +41 61 205 98 80, Fax +41 61 205 98 89 4 INTERROGATION von Vetri Maaran Indien, 2015, 106 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs Vier tamilische Wanderarbeiter werden von der Polizei im benachbarten Bundesstaat Āndhra Pradēś aufgegriffen und eines Verbrechens beschuldigt, das sie nicht begangen haben. Da sie kaum Telugu spre-­‐‑
chen, können die Behörden mit ihnen machen, was sie wollen, und tun das auch. Knapp ein Drittel aller Kriminalfälle Indiens enden so: Erst wird ein Geständnis produziert, dem folgt rasch die Verurteilung – und zu ist der Aktendeckel, ab damit ins Regal, Soll erfüllt, Statistik stimmt. So weit kommt's hier aber nicht, weil's noch schlimmer kommt: Ein weiteres Mal sind sie zur falschen Zeit am falschen Ort, bekom-­‐‑
men Wind von einer politischen Kabale, in der die Ordnungshü ter mä chtig mitmischen ... Vetrimarran Meisterschü ler des großen Bā lū Mahē ndra, ist der Shooting Star des Tamil-­‐‑Kinos: Robust sind seine Filme (Pollā tavaṉ , 2007; A•ṭukaḷam, 2011), fest verankert im Alltag seines Bundesstaates, dessen Kultur wie Politik, im Tonfall oft brutal realistisch, dies gern mit rabiaten melodramatischen Spitzen. Einen ähnlich brillant-­‐‑packenden Politthriller alter Damiani-­‐‑ oder Boisset-­‐‑Schule wie Vicāraṇai hat in unseren Breiten-­‐‑
graden schon seit Dekaden niemand mehr zusammengebracht. LE FILS DE JOSEPH von Eugène Green Frankreich, 2016, 115 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs Vincent will es jetzt endlich wissen. Fünfzehn Jahre lang, hat er sich und seine alleinerziehende Mutter Marie immer wieder mit der Frage gequält, wer sein Vater ist. Doch als er plötzlich vor ihm steht, ist das Resultat wenig erfreulich. Denn der ebenso arrogante wie schlüpfrige Pariser Erfolgsverleger will nichts von ihm wissen, woraufhin Vincent kurzerhand beschliesst, sich bei ihm für seine väterlichen Versäum-­‐‑
nisse zu rächen. Zufällig lernt er im gleichen Moment jedoch auch dessen Bruder Joseph kennen – eine Begegnung, die das Leben beider binnen kurzem von Grund auf verändern soll. In gewohnt anachronistisch wie innovativ anmutender Manier, arrangiert der Autor und Regisseur Eugène Green (La Sapienza, 2014) in seinem neuen Film auf äusserst elegante Weise biblische und kunst-­‐‑
historische Motive, italienische Barockmusik und Poesie in einer mondänen, perfekt inszenierten Kompo-­‐‑
sition von Sprache und Bild, die im heutigen Kino ihres gleichen sucht. Seine Figuren kreisen um sich selbst wie um Fragen der Abstammung und der Versöhnung. Gefilmt ist das wie stets bei dem 1947 in New York geborenen Franzosen in streng formal gebundenen Dialogen und Einstellungen, in denen Kul-­‐‑
turkritik und Religion sich mit dem Komischen und Absurden versöhnen. MATE ME POR FAVOR von Anita Rocha da Silveira Brasilien/Argentinien, 2015, 101 Minuten In Anwesenheit der Regisseurin Barra de Tijuca, ein im Westen von Rio de Janeiro gelegenes Stadtviertel: Ansammlungen von Hochhäu-­‐‑
sern inmitten von Brachen, die nachts gefährliches Gelände werden. Eine Serie von Vergewaltigungen und Morden sorgt für Entsetzen. Bia und ihre Freundinnen aber, die von Hormonen entflammt mitten im Pu-­‐‑
bertätsfeuer stehen, reagieren mit morbider Faszination. Ein Spiel mit der Angstlust, das seinen Nährbo-­‐‑
den in Gerüchten und Mutmassungen findet und das vor allem Bia leichtsinnig immer weiter vorantreibt und sich zu ihrem ganz persönlichen Flirt mit der tödlichen Gefahr gestaltet. Nach drei Kurzfilmen legt die brasilianische Filmemacherin Anita Rocha da Silveira mit Mate-­‐‑me por favor ihr eigenwillig düsteres Langfilmdebüt vor. Eine Expedition in jenes dunkle, von Erwachsenen befreite Reich, in dem Teena-­‐‑
gerpsychen im Widerstreit von Todessehnsucht und Lebensgier die Orientierung verlieren, in dem Begeh-­‐‑
ren und Blut in eins fallen und zum letztgültigen Beweis der eigenen, verunsicherten Existenz werden können. Ein Stimmungsbild mit kursorischen Reminiszenzen ans Genrekino, das das emotionale Chaos seiner jugendlichen Protagonistinnen in die leuchtend starken Farben klar strukturierter Bilder fasst, bevor es sich im Assoziationsraum auflöst. Theaterstrasse 22, 4051 Basel presse@bildrausch-­basel.ch, www.bildrausch-­basel.ch Tel +41 61 205 98 80, Fax +41 61 205 98 89 5 OLEG Y LAS RARAS ARTES von Andrés Duque Spanien, 2016, 70 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs Der alte Mann tänzelt einen prachtvollen Gang in der St. Petersburger Eremitage entlang, auf die Kamera zu und legt bewegt Zeugnis ab von seiner Verehrung für Katharina die Grosse, die Gebäudekomplex wie Sammlung einst begründete. Er spricht über das Göttliche in der Kunst und seine Freunde von Tarkovski bis Akhmatova, die alle in der nahen Stalin-­‐‑Künstlerkolonie gelebt haben. Der ukrainische Komponist und Pianist Oleg Nikolaevich Karavaychuk hat sich vor allem mit seinen Arbeiten für Film (u.a. Paradjanov und Muratova) und Theater einen Namen gemacht. Wenn er nicht gerade alles in Grund und Boden redet, spie-­‐‑
len die Hände dieses seltsamen Alten – der in Russland nicht nur wegen seiner Musik, sondern auch we-­‐‑
gen seiner exzentrischen Persönlichkeit bewundert wird – improvisierend noch heute alles an die Wand. Andrés Duque, 1972 in Venezuela geboren, als Journalist ausgebildet und mittlerweile in Spanien als Fil-­‐‑
memacher tätig, begleitet Karavaychuk, der in der Öffentlichkeit nie ohne rothaarige Frauenperücke und keck versetzte Mütze unterwegs ist, auf seinen mäandernden (Gedanken-­‐‑)Wegen und fängt unterwegs jene berauschenden Zufallsmomente ein, in denen dessen wildpoetische Musik scheinbar wie aus dem Nichts entsteht und alles andere unwichtig macht. THE DAUGTHER von Simon Stone Australien, 2015, 96 Minuten Schweizer Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs Christian kehrt an den Ort des Aufwachsens zurück – sein ihm entfremdeter Vater heiratet die langjährige Hauswirtschafterin. Er nimmt Kontakt zu seinem alten Schulfreund und dessen Familie auf und bald schon brechen vormalige Konflikte wieder auf, will Verdrängtes ans Licht und Christians selbstzerstörerische Impulse richten sich nach aussen: das Geheimnis, das die beiden Familien verbindet, soll endlich gelüftet werden, um jeden Preis! Schauspieler, Theaterregisseur und Dramatiker Simon Stone, 1984 in der Schweiz geborener Sohn australischer Eltern, lange Jahre downunder tätig und nunmehr mit dem Nestroy-­‐‑Preis ausgezeichneter Hausregisseur des Theaters Basel, legt mit The Daughter sein Spielfilmde-­‐‑
büt vor. Es fusst auf Stones eigener Inszenierung von Henrik Ibsens Schauspiel Die Wildente am Belvoir St. Theater in Sydney aus dem Jahr 2011 und verlagert Figurenkonstellation wie Problemgemengelage ins ländliche Australien der Gegenwart, wo sie ebenso verheerende Wirkungen zeitigen wie 1884 bei der Uraufführung in Norwegen. Eingebettet in Stones souveränen Umgang mit den filmischen Mitteln er-­‐‑
strahlt die beeindruckende Zusammenarbeit eines hervorragenden Schauspielensembles und bringt die Seele der Geschichte zum Glühen. Theaterstrasse 22, 4051 Basel presse@bildrausch-­basel.ch, www.bildrausch-­basel.ch Tel +41 61 205 98 80, Fax +41 61 205 98 89 6 JURY CUTTING EDGE 2016 CHRISTINE DOLLHOFER (*1963 in Wels) studiert an der Universität Wien Theaterwissenschaften und Publizistik/Medienwissenschaften. Seit 1990 setzt sie sich als Leiterin und Kuratorin zahlreicher Filmfes-­‐‑
tivals und thematischer Filmreihen für das Autorenkino ein, das sie unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet. Sie war Geschäftsführerin des Art-­‐‑House Kinos Filmcasino in Wien (1994 -­‐‑96) und leitete u.a. das Festival des österreichischen Films, DIAGONALE. Sie ist Vorstandmitglied von Sixpack Film und Jury-­‐‑
mitglied des Österreichischen Filminstituts. Christine Dollhofer ist Gründerin und Direktorin des CROSSING EUROPE Filmfestivals in Linz, wo sie die Scheinwerfer auf handverlesene europäische Filme, welche das aktuelle gesellschaftspolitische Treiben thematisieren, richtet. Sie ist seit 2011 auch Pro-­‐‑
grammdelegierte (Österreich, Schweiz, Deutschland) für das San Sebastian International Film Festival in Spanien und Acquisition Consultant für den Filmladen Filmverleih in Wien. Mehrere Lehraufträge ergän-­‐‑
zen ihr Tätigkeitsfeld. Christine Dollhofer wurde 2007 mit dem Würdigungspreis für Filmkunst der Re-­‐‑
publik Österreich ausgezeichnet. JEAN PERRET (*1952 in Paris) beendet sein Studium an der Universität Genf mit einer Lizentiatsarbeit zum Schweizer Dokumentarfilm der 1930er-­‐‑Jahre. Er arbeitet als Filmjournalist für verschiedene Medien und ruft in Locarno die «Semaine de la critique» ins Leben, die er von 1990 bis 1994 leitet. Als er 1995 die Direktion des altehrwürdigen Dokumentarfilmfestivals in Nyon übernimmt, macht er das Festival, das von nun an «Visions du Réel»heisst, innert weniger Jahre zu einem Epizentrum des internationalen Dokumen-­‐‑
tarfilms. Jean Perret fördert das Nachdenken über Kino; ihn interessieren gerade auch Mischformen des Dokumentarischen und Fiktionalen, Verschmelzungen, mit denen filmisches Neuland betreten wird. Nach 16 erfolgreichen Jahren wird Perret 2010 die Leitung der Abteilung Film/«cinéma du réel» an der Haute école d’art et de design (HEAD) in Genf anvertraut. Hier profitiert eine junge Generation von Filmschaf-­‐‑
fenden von seiner Weitsicht und der Liebe zum Kino. Jean Perret will ihnen ein Versuchsgelände eröffnen, sie anregen, «ihren eigensten filmischen Ausdruck zu finden und die stärkste innere Motivation, die ihre Arbeit legitimiert.» ALBERT SERRA: Der katalanische Filmemacher Albert Serra (*1975 in Spanien) ist einer der grossen Visi-­‐‑
onäre des zeitgenössischen Kinos. Seine kompromisslose, symbolisch aufgeladene Bildsprache setzt mehr auf Stimmung und die Kraft des Visuellen als auf lineares Erzählen. Er verbindet auf humorvolle und iro-­‐‑
nisierende Art kunst(historische) Referenzen, ohne dabei in das Genre des Historiendramas zu verfallen. Vielmehr interessieren ihn Überlegungen zu der Gegenwart ikonischer Figuren wie Dracula oder Casano-­‐‑
va, die sich in Serras ganz eigenen, originären Bildwelten entfalten. Albert Serra studiert Literatur und Kunstgeschichte an der Universität in Barcelona. 2006 schreibt, realisiert und produziert er seinen ersten langen Film, Honor de cavallería, gefolgt von Els cant dels ocells (2008) – beide werden für die Quinzaine des Réalisateurs in Cannes ausgewählt. Für die Ausstellung Correspondencias in Barcelona realisiert er 2010 Els noms de Crist und ein Jahr später El senyor ha fet en mi meravelles. Beide Filme laufen 2011 in Locarno in der Sektion Fuori concorso. Im selben Jahr gehört er zu den 60 Regisseuren, die am Projekt 60 Seconds of Solitude in Year Zero teilnehmen – einer Reihe einminütiger Kurzfilme zum Thema «Tod des Kinos». Im Jahr 2013 wird sein Film Història del meva mort in Locarno mit dem Goldenen Leoparden aus-­‐‑
gezeichnet. Auf seinen neuesten Streich La mort de Louis XIV darf man gespannt sein. Theaterstrasse 22, 4051 Basel presse@bildrausch-­basel.ch, www.bildrausch-­basel.ch Tel +41 61 205 98 80, Fax +41 61 205 98 89 7