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Malen gegen die Zeit WERNER SPIES »Ich habe den Eindruck, daß die Zeit immer schneller an mir vorüberzieht. Ich bin wie ein Fluß, der sich weiterwälzt und Bäume mit sich führt, die zu nahe an seinen Ufern wuchsen, oder tote Kälber, die man hineingeworfen hat, oder alle möglichen Mikroben, die in ihm gedeihen.«1 PAB L O PI CAS S O Die Zeit von Mougins Unsere Picasso-Ausstellung handelt von der Zeit in Mougins. Sie zeigt Werke, die in dem großen Landhaus Notre-Dame-de-Vie oberhalb von Cannes zwischen 1961 und dem Tod des Künstlers entstanden sind. Das Jahr 1961 dient als Zäsur.2 Seit Juni wohnt und arbeitet Picasso an diesem Ort. Er sah sich gezwungen, die lichte Villa »La Californie« aufzugeben, da man ihm dort die Sicht auf das Mittelmeer verbaut hatte. Im März 1961 schließt er die Ehe mit Jacqueline Roque (Abb. 1). Der Arbeitsrhythmus, zu dem er im neuen, im letzten Refugium findet, ist atemberaubend. In den zehn Jahren, die er auf dem Hügel verbringt, malt und zeichnet der Künstler mehr als je zuvor. Im November 1965 ist er gezwungen, die Arbeit vorübergehend zu unterbrechen. In den darauffolgenden Monaten erholt er sich von einer Operation, der er sich im Pariser Hôpital Américain hatte unterziehen müssen. Zwischen März und Oktober 1968 entstehen 347 Radierungen. 194 Zeichnungen werden zwischen Dezember 1969 und Januar 1971 inventarisiert. Neben Hunderten weiterer Grafiken zählen wir von September 1970 bis Juni 1972 mehr als zweihundert Gemälde. Wir wissen über diese Periode genau Bescheid. Das Diarium, das der Künstler in Form von Bildern, Zeichnungen und Grafiken hinterlassen hat, ist präzise. Wie früher schon, datiert Picasso auch in Mougins alAbb. 1 Pablo Picasso und Jacqueline Roque im Skulpturenraum von »Notre-Dame-de-Vie«. Im Hintergrund: Modell für Frauenkopf, Oktober 1966 les, was er ausführt, nicht nur die Werke, auch jeden Zettel, den er Jacqueline oder Freunden zuschiebt. In einem Gespräch mit Brassaï gibt Picasso am 10. Juli 1945 die Begründung für diese Genauigkeit. Der Künstler solle dies festhalten, denn: »Man muß es auch wissen, wann, warum, wie und unter welchen Bedingungen er sie schuf. Es wird sicher eines Tages eine Wissenschaft geben, vielleicht wird man sie ›die Wissenschaft vom Menschen‹ nennen, die sich mit dem schöpferischen Menschen befaßt, um neue Erkenntnisse über den Menschen im allgemeinen zu gewinnen … Ich denke oft an diese Wissenschaft, und es ist mir wichtig, der Nachwelt eine möglichst vollständige Dokumentation zu hinterlassen.«3 Dank dieser rigorosen Buchführung erfahren wir, dass er sein letztes Bild, Die Umarmung (Kat. 188), eine rauschhafte, von einer Riesenwoge bedrohte Endzeitzärtlichkeit, am 1. Juni 1972 malt. Von diesem Datum an finden wir nur noch Arbeiten auf Papier. Wir kennen auch den letzten Arbeitstag. Die Federzeichnung, die am 12. November 1972 im Haus auf dem Hügel entsteht (Abb. 2), führt eine eigentümliche Addition vor: Oben rechts im Blatt entdecken wir das Profil eines Männerkopfes, der eine der ständig wiederkehrenden Pathosformeln, den aufgerissenen, zur 14