- Grupello Verlag

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Tatjana Kuschtewskaja
»Hier liegt Freund Puschkin ...«
Spaziergänge auf russischen Friedhöfen
Tatjana Kuschtewskaja
»Hier liegt Freund Puschkin . . . «
Spaziergänge auf russischen Friedhöfen
Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner
Grupello Verlag
Das Auge liest mit – schöne Bücher für kluge Leser
Besuchen Sie uns im Internet unter:
www.grupello.de
Titel des russischen Originals:
Russkije kladbyschtschenskije istorii
Fotos: Janina Kuschtewskaja und Archiv der Autorin
Die Verse auf den Seiten 99 und 216 wurden von Alexander Nitzberg übersetzt. Mit Sternchen (*) gekennzeichnete Vers- und Prosazitate wurden vorhandenen Übersetzungen entnommen (Quellen am Schluß des Bandes).
1. Auflage 2006
© by Grupello Verlag
Schwerinstr. 55 · 40476 Düsseldorf
Tel.: 0211-498 10 10 · E-Mail: [email protected]
Druck: Müller · Satz & Repro, Grevenbroich
Lektorat: Sascha Kirchner
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 3-89978-059-0
Friedrich Paul Dieter Karrenberg gewidmet
I N H A LT
Von der Taphophilie 11
Beerdigung auf russisch 17
Wer liegt im Grab des Zaren? 22
Gogols Golgatha-Stein 30
»Wer mich erkennt, wird
meiner Seele gedenken« 37
»Die Toten kamen zu mir ...« 46
Wer die Ruhe der Toten stört ... 49
»Ich verfüge, meinen Leichnam
in eine Seifensiederei zu geben« 60
Friedhof Nummer 1 67
Legenden um Moskauer Nekropolen 78
Die Heimkehr des Grafen Amurskij 102
Ein ungewöhnlicher Klosterbesuch 108
Der Ring 116
»Im Eis schlafende Reiter« 122
»Auf einem der Gräber wankte das Kreuz« 127
Das berühmteste Grab
der russischen Unterwelt 139
Das berühmteste deutsche
Grab von Moskau 148
Der geheimnisvolle sibirische Starez 159
Der Rogoschskoje-Friedhof 164
Mein Heimatfriedhof 171
Das russische Totenbuch 185
Russische Epitaphe 198
Auf der Bühne 209
Epilog 215
Quellen 221
Zwei Gaben hat der Himmel uns gesandt,
Sie wärmen, nähren unser Herz und mahnen –
Die Liebe zu den Gräbern unsrer Ahnen
Und zu dem Ort, wo unsre Wiege stand.
ALEXANDER PUSCHKIN
VON
DER
TA P H O P H I L I E
Wissen Sie, was Taphonomie ist? Dieses Wort wurde von den Russen erfunden, oder richtiger – von einem, nämlich dem russischen Gelehrten I. Andrejew. Es geht auf das griechische taphos, das Grab, zurück und bedeutet soviel
wie »Lehre vom Begräbniswesen«. Taphophile wiederum sind Menschen, die
es lieben, auf den schattigen Alleen alter Friedhöfe zu wandeln und über Tod
und Leben nachzusinnen. Unter uns Russen gibt es sie bemerkenswert häufig.
Wenn Sie den Atem der Ewigkeit und die stille Poesie einer Nekropole
spüren wollen, wenn Sie die Phantasie schweifen lassen und sich in die Vergangenheit versenken, wenn Sie sich in die Zukunft hineinversetzen und
dabei Liebe zum heutigen Tag empfinden wollen – dann begeben Sie sich auf
einen alten Friedhof, einen verlassenen, wo seit langem nicht mehr beerdigt
wird.
Auf einen verlassenen, unbedingt, denn ein Friedhof, auf dem noch Begräbnisse stattfinden, hat eine ganz andere Aura. Die frischen Grabhügel,
anzusehen wie frische Wunden, lenken den Geist nicht auf das Mysterium
des Todes oder die Ewigkeit, sondern lassen an einen akuten Schmerz, an die
eben geschehene Tragödie eines Verlustes und Abschieds denken, und bei
ihrem Anblick möchten Sie ewig leben. Ja, ewig möchten Sie leben, damit
Ihnen nur nicht selbst widerfährt, unter Bergen von Blumen auf Parzelle
Nummer soundso zu liegen.
Der Taphophile bevorzugt alte Friedhöfe, wo die Toten vor seinem inneren Auge erscheinen und er sich vorstellt, wie sie still und abgeklärt liegen in
den dunklen Wohnungen ihrer Stadt. Wer sie geliebt und besucht hat, ist
längst selber gestorben. Sie ruhen, allem Irdischen endgültig entrückt. Dorthin müssen Sie gehen. – Gehen Sie hin, suchen Sie das eine oder andere Grab
auf, das vielleicht noch bekannt ist, und lassen Sie sich auf den Alleen und
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Wegen dahintreiben. Sie werden erfahren, wie die scheinbar unaufhaltsam
verrinnende Zeit ihre Geheimnisse enthüllt.
Ich brauche für solche Spaziergänge zweierlei – schönes Wetter und eine
besondere Stimmung, die mich anregt, eine dieser Inseln der verharrenden
Zeit aufzusuchen. Als ich jung war, habe ich meine Freunde, die regelmäßig
zu den Gräbern von Gogol, Dostojewskij oder Tolstoj pilgerten, oftmals
belächelt. Ich fand, an einem großen Schriftsteller bräuchten uns nur die
Werke zu interessieren – sie enthalten alles, was es über ihn zu erfahren gibt.
Lies seine Bücher, und du siehst ihn in seiner ganzen Größe vor dir! Aber sein
Grab anschauen – wozu? Das ist albern und langweilig. Da hat einer gelebt,
nun lebt er nicht mehr. Na und? Grab ist Grab. Außerdem ist es Privatsache,
also was soll’s?
Diesen Standpunkt, der sich nur allzu oft in langen Disputen niederschlug, habe ich inzwischen längst aufgegeben. Heute sehe ich mir die Gräber
von Berühmtheiten leidenschaftlich gern an und kenne keinen bewegenderen
und bedeutungsvolleren Ort als einen alten Friedhof. Denn Aldous Huxley
hat recht: Der Tod ist das einzige, was noch nicht vollends trivialisiert werden konnte.
Ich bin in Deutschland mit jemandem befreundet, der ausgesprochen
taphophil ist. Ein Mann von enzyklopädischer Bildung. Durch ihn wurde
mir bewußt, wie ungemein reizvoll Spaziergänge auf alten Friedhöfen sind.
Vorher bin ich dort immer recht gedankenlos umhergelaufen – ich las die
Epitaphe und bewunderte die Grabmäler oder die Exotik und Majestät der
Bäume. Und fühlte mich wie in einem Freilichtmuseum. Während unserer
Studienzeit hatten wir sogar ein kleines Friedhofs-Gesellschaftsspiel ausgeheckt: Unterwegs zum Ausgang auf der Hauptallee, bogen wir noch einmal
in einen Seitenweg ein; wir schlossen die Augen, blieben nach einigen
Schritten stehen und zeigten auf ein Grab. Dann studierten wir, was auf dem
Stein, dem Kreuz oder der Tafel stand, und rätselten, was das für uns bedeuten könnte.
Manchmal ergaben sich dabei Sinnfälligkeiten, die uns ganz und gar mystisch vorkamen. Einmal zum Beispiel, auf dem alten Donskoje-Friedhof, zeigte meine Freundin auf einen Grabstein, dessen Inschrift den Zusatz trug: »Gestorben bei einer Operation von Doktor Snegirjow«. Es war das bekannte
Grab der Fürstin Schachowskaja, die im fernen Jahr 1884 mit vierunddreißig
gestorben war. Und ausgerechnet in jenen Tagen stand meiner Freundin eine
Operation bevor. Prompt fragte sie den Chirurgen: »Heißen Sie Snegirjow?«
In Deutschland sind fast alle alten Friedhöfe gehegt und gepflegt und
schön anzusehen. Es tut mir wohl, auf ihnen spazieren zu gehen; sie haben
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etwas so Besänftigendes – »alles wird gut«. Im 19. Jahrhundert kam in Europa das italienische Wort cimitero auf, der Ort des Schlafs und der ewigen
Ruhe. Psychologen sagen, unser Organismus habe die Fähigkeit, ein Antidepressivum zu bilden, das uns helfe, die Furcht vor dem Tod zu verdrängen.
Bei religiösen Menschen wurde diese Furcht von jeher durch den Glauben an
ein ewiges Leben gemindert und bei Atheisten – durch die Zuversicht, in den
Schoß der Natur zurückzukehren und Teil dessen zu werden, was vor einem
war und was nach einem kommt.
Von meinem Freund, der viel über die verschiedenen Beerdigungsriten
und deren historische Bedeutung gelesen hat, erfuhr ich, daß der Tod bis zum
19. Jahrhundert als grausames Verhängnis empfunden wurde. Die Epoche der
Aufklärung brachte eine Verbesserung hinsichtlich der Lage und der Hygienebedingungen für Friedhöfe mit sich. Die Romantik, wie einst die Antike,
pries und feierte den Tod als etwas Schönes, Erhabenes, Beseligendes. Aus
der Romantik rührt auch die Tradition her, Verstorbenen kunstvolle, symbolträchtige Grabmäler zu setzen. Wenn ich solche Gräber sehe, kommen
mir immer Verse von Wassilij Schukowskij in den Sinn, die als eines der
bedeutendsten russischen Epitaphe gelten; sie schließen mit den Worten: »Sag
nicht betrübt: sie sind nicht mehr, / Sage in Dankbarkeit: sie waren!«
Worüber haben wir uns nicht alles unterhalten auf unseren ausgedehnten
Friedhofsstreifzügen, diesen »Wanderungen im Tal der trauernden Schatten«,
wie mein Freund in Anlehnung an einen Bibelpsalm zu sagen liebt. Zum
Beispiel darüber, daß sich die Geistigkeit eines Volkes am Verhältnis zu seinen Verstorbenen mißt, oder über die Unterschiedlichkeit der Beerdigungsrituale, der Totenehrung oder der Grab- und Grabmalgestaltung bei den
verschiedenen Völkern. Die Grabskulpturen auf unserem Weg hatten es uns
immer besonders angetan. Welch interessante Schicksale verbergen sich hinter ihnen! Viele habe ich erst von meinem Freund erfahren. Dabei hat mich
aber der Umstand, daß mir die letzten Tage und Stunden bekannter historischer Persönlichkeiten vor Augen traten, keineswegs niedergedrückt oder
dazu gebracht, mich um mein eigenes unausweichliches Ende (»Memento
mori!«) zu ängstigen. Im Gegenteil, diese Schicksale wirkten auf sanfte Weise
belebend und regten mich an, neu über unser Erdentreiben nachzudenken.
Dabei gefiel ich mir immer mehr in dem Gedanken, ein Buch mit russischen
Friedhofsgeschichten zu schreiben. – Es war kurios: Alltagsepisoden, in
denen Friedhöfe eine Rolle spielten, schien mein Freund geradezu magisch
anzuziehen. Von den vielen, die wir erlebten, seien hier drei erzählt.
Im Sommer vorigen Jahres hielten wir uns einige Tage in Salzburg auf und
wohnten im Hotel Wolf-Dietrich. Unter unserem Fenster war ein alter Fried13
hof, und in unserem Blickfeld lag das Grab von Mozarts Vater. »Laß mal, das
hat auch sein Gutes«, sagte mein Freund. »Man wacht morgens auf, blickt aus
dem Fenster, sieht Vater Mozarts Grab und beginnt bescheidener von sich zu
denken. In der Tat, eine gute Gelegenheit, unsere unverhältnismäßigen Vorstellungen von der eigenen Person zurechtzurücken.«
Als wir während einer Spanienreise in Barcelona ankamen, war das erste,
worauf wir stießen, das städtische Bestattungsinstitut mit einem Leichenwagenmuseum (Sancho de Avila, 2). In seinem Kellergewölbe kann man ein
ganzes Sammelsurium seltsamster Vehikel aus dem 19. und 20. Jahrhundert
besichtigen, in welchen die Bürger von Barcelona zu ihrer letzten Ruhestätte
befördert worden waren.
Berlin, im Herbst. Wir fuhren zur Chausseestraße 125, wo Bertolt Brecht
in seinen letzten Jahren wohnte und wo sich heute ein ihm gewidmetes Museum befindet. Wie wir beim Rundgang feststellten, hat Brecht von seiner
Wohnung aus auf den berühmten Dorotheenstädtischen Friedhof geblickt.
Dort liegt er begraben, nicht weit vom Fenster jenes Zimmers entfernt, in dem
er gestorben ist. Auf seinem Grab befindet sich ein Stein, wie er ihn sich
wünschte. Er liebte unbehauene, naturbelassene Steine. Nach östlicher Vorstellung bleibt deren Seele erhalten, behauene Steine hingegen sind tot. Dieser
»lebendige Stein«, umgeben vom Herbstlaub eines alten Friedhofs, hat mir
sehr gefallen. Ein kleiner Vogel saß auf ihm und zwitscherte aus voller Kehle,
während mein Freund Brechts berühmte Worte aus dem Gedächtnis zitierte:
Ich benötige keinen Grabstein, aber
Wenn ihr einen für mich benötigt,
Wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Vorschläge gemacht. Wir
Haben sie angenommen.
Durch eine solche Inschrift wären
Wir alle geehrt.
Unversehens hatte ich Feuer gefangen und begann meinerseits Verschiedenes
zu erzählen, beispielsweise von einem Begräbnis in einem Dorf bei Wologda
oder von alten russischen Beerdigungsbräuchen und berühmten russischen
Grabstätten samt den sich um sie rankenden Geschichten und Legenden.
»Du solltest ein Buch darüber schreiben!« rief mein Freund aus. »Wie
interessant das alles ist! Ja, mach das, das Thema Tod ist unsterblich!«
So haben sich unter meinen Händen unsere russischen Friedhöfe in ein
eigenartiges Buch verwandelt, in welchem ich unter alten Bäumen und hinter
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überwucherten Zäunen entlanggehe und mich geduldig mühe, die halbverwitterten Inschriften alter Grabsteine zu entziffern, oder vor dem Grab dieser oder jener Persönlichkeit, die in die russische Geschichte eingegangen ist,
verweile. Ein Buch, in welchem ich mir Begebenheiten aus meiner Kindheit
und Jugend ebenso wie traurige und lustige Friedhofsgeschichten – denn
auch solche gibt es ja – in Erinnerung rufe. Literatur und Leben sind für mich
so eng verflochten, daß ich gar nicht mehr anders konnte, als dieses Buch zu
schreiben. Auch wenn mir natürlich bewußt war, daß das »unsterbliche
Thema Tod« nicht geringe Schwierigkeiten birgt.
Um es zu vollenden, bin ich eine Wegstrecke von mehreren Jahren gegangen – eine Zeitspanne, die mich verändert hat. Nach und nach begriff ich, was
mir immer unbegreiflich gewesen war. Ich hörte auf, den Tod zu fürchten,
sofern er nicht vorzeitig, in jungen Jahren kommt. Wir sollen uns mit Leben
füllen, wie die Ähre mit Korn, wir sollen unsere Bestimmung erfüllen – und
in Würde gehen.
Und danach, was geschieht mit uns nach dem Tod? Von allen weiß ich es
nicht, aber was mit schlechten Schriftstellern und Räubern geschieht, weiß
jedes russische Schulkind, weil es eine Reihe Fabeln von Iwan Krylow, einem
russischen Dichter des 19. Jahrhunderts, auswendig lernen muß, darunter
eine, die Der Schriftsteller und der Räuber heißt: Nach ihrem Tod treten zwei
Männer vor den himmlischen Richterstuhl, ein Räuber und ein »mit Ruhm
bedeckter« Schriftsteller. Letzterer hat zeit seines Lebens »unanständige
Büchlein« geschrieben (»literarisches Gift«, wie uns die Lehrerin unheilschwanger erklärte). Beide werden schuldig gesprochen und in zwei verschiedene Eisenkessel gesetzt. Das Feuer unter dem Kessel des Räubers schlägt
hohe, lodernde Flammen, das unter dem Kessel des Schriftstellers dagegen
flackert nur schwach. Aber das große Feuer verzehrt sich rasch, während das
kleine »ärger wird von Stunde zu Stunde«. Der Schriftsteller kann die Qualen
nicht mehr ertragen und wirft den Göttern Ungerechtigkeit vor. Auch wenn
er »ein wenig frei geschrieben« habe, beklagt er sich, sei die Strafe gar zu hart,
und außerdem könne er sich beim besten Willen nicht für frevlerischer als
den Räuber halten. Darauf entgegnet eine der drei Höllenschwestern: »Er
war von Schaden nur, solang er lebte. Doch du? Blick auf dein böses Werk
zurück. Sieh dort die Kinder, ihrer Eltern Gram und Schande, das Herz zerstört von Gift! Durch wen? Durch dich!«
BEERDIGUNG
AUF RUSSISCH
Eine meiner ungewöhnlichsten Friedhofserinnerungen ist eine Beerdigung
im russischen Norden, im Gebiet Wologda. Ein einsamer alter Mann war
gestorben, und das ganze Dorf, ein sehr kleines, mit kaum mehr als zehn
Einwohnern, gab ihm am dritten Tag, wie es sich gebührt, das letzte Geleit.
Es herrschte eine furchtbare Kälte – unter 40 Grad. Die hartgefrorene Erde
widersetzte sich den Spaten, so daß es lediglich gelang, eine Grube von knapp
einem Meter Tiefe auszuheben. Da schlug der Freund des Verstorbenen, ein
bärtiger Greis, vor, Sprengstoff zu Hilfe zu nehmen. Man tat es – legte Dynamit aus und brachte es zur Explosion. Dann glättete man Boden und Seitenwände der Grube und bestattete den Leichnam. Als die Grube bereits zugeschaufelt wurde, fiel einem der Anwesenden ein, daß man vergessen hatte, die
Füße des Verstorbenen loszubinden. Was nun? Die alten Frauen begannen zu
weinen. »Wie soll er da auferstehen?« wimmerten sie. »Die Bänder werden
ihn in der eisigen Erde festhalten und ihn nicht gen Himmel fahren lassen!«
Man legte den Sarg wieder frei. Es war so bitterkalt, daß das Atmen schmerzte und sich über dem Grab ein geheimnisvoller milchiger Schleier bildete.
Man löste die Bänder von den Füßen des Verstorbenen und schloß das Grab
abermals. Alle bekreuzigten sich erleichtert: Jetzt wird er ganz gewiß auferstehen!
Wenn ich mich an diese sonderbare Beerdigung, eine der ersten in meinem
Leben, erinnere, muß ich immer auch an jene Studenten der Ethnographie
denken, mit denen ich damals in den russischen Norden gereist war, unter
anderem in das Gebiet Wologda. Wir hatten die Aufgabe, ungewöhnliche
Grabkreuze aufzuspüren und zu fotografieren. Anfangs wurden wir für
Grabräuber gehalten. »Von diesen unreinen Kräften wimmelt es hier heutzutage«, beschwerten sich die alten Frauen bei uns. »Sie buddeln auf unsern
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alten Friedhöfen herum und suchen und suchen.« Schnell ließen sie sich aber
davon überzeugen, daß uns ein rein ethnographisches Interesse hergeführt
hatte, und nahmen uns in ihrem einsamen Dörfchen, wo nur noch wenige
Häuser standen, wie Verwandte auf.
Wie ein orthodoxes Kreuz aussieht, wird jeder wissen. Aber auch diese
Form gibt es in mancherlei Varianten. Einmal entdeckten wir ein Holzkreuz
in Form zweier sich überkreuzender Fische. Bei wohlhabenden Bauern waren schmiedeeiserne Kreuze mit Verzierungen üblich, die zudem auf einem
Sockel angebracht wurden und damit eine Kombination von Grabkreuz und
Grabmal bilden. Ein Holzkreuz mit kleinem Dach wie bei einer Vogelkrippe
wiederum deutet auf ein Altgläubigengrab hin. Leider sind Holzkreuze nicht
allzu langlebig, so daß man manchen alten Friedhof finden kann, auf dem
überhaupt keine Kreuze mehr vorhanden sind. Viele der alten Friedhöfe, auf
die wir gestoßen sind, lagen völlig brach und verödet – die Bäume abgestorben, die Kirche oder Kapelle verfallen, ganz vereinzelte morsche Holzkreuze
und immer wieder aufgerissene Gräber. Auf russischen Gräbern stehen übrigens fast ausschließlich Kreuze. Einerseits symbolisieren sie die Auferstehung, andererseits sollen sie einen Schutz gegen böse Geister bilden.
Die russischen Beerdigungstraditionen gerieten in starke Bedrängnis, als
mit dem Oktoberumsturz 1917 die Bolschewiken an die Macht kamen.
Diese erklärten, Religion sei »Opium für das Volk«, und begannen die
Kirche zu bekämpfen und Gläubige, die nicht davon ablassen wollten, ihre
Kinder zu taufen und ihre Verstorbenen mit einer Seelenmesse zu verabschieden, gnadenlos zu verfolgen. Die alten heidnischen wie christlichen
Traditionen durch Verbot auszulöschen, haben sie aber nie ganz geschafft.
Zumindest Weihnachten, Christi Geburt, und Ostern, Christi Auferstehung,
sowie der Jahreswechsel wurden weiterhin heimlich gefeiert. Wir Russen
sind das einzige Volk auf der Welt, das Neujahr zweimal begeht – einmal
nach dem üblichen Kalender und einmal nach dem alten, dem Julianischen
Kalender.
Die russische Beerdigung weicht von der anderer Völker in mancher Hinsicht ab. Die Andacht vor dem Mysterium des Todes und die Trauer um den
Verstorbenen gehen damit einher, das Sterben als einen ganz natürlichen
Vorgang zu betrachten. Der Tod selbst eines nahen oder sogar noch jungen
Menschen darf nicht dazu führen, daß der Fortgang des Lebens zu lange
stockt und sich die Angehörigen und Freunde vor Trauer aus der Bahn werfen lassen. Trauer – ja, aber dann muß das Leben weitergehen. Daß Russen
lange Zeit Tränen um einen Verstorbenen vergießen, werden Sie nicht erleben, weil in Rußland nicht der Sieg des Todes über das Leben, sondern der
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Sieg des Lebens über den Tod im Vordergrund steht und stärker wahrgenommen wird als woanders. Die Tragödie des Verlustes ist wie eine Gewitterwolke – sie entlädt sich und macht der Sonne Platz.
Die Beerdigung findet bei uns grundsätzlich am dritten Tag nach dem
Tode statt. Dazu waschen wir den Verstorbenen mit warmem Wasser und
kleiden ihn neu ein. Das Totenmahl (auf russisch trapesa oder auch trisna)
pflegen wir dreimal zu halten – am Tag der Beerdigung nach der Rückkehr
vom Friedhof, am neunten und am vierzigsten Tag. Der vierzigste Tag, auch
»Vierzigster« genannt, gilt als besonders wichtig; an ihm versammeln sich alle
Angehörigen und Freunde noch einmal zum gemeinsamen Gedenken. Das
nächste Gedenkdatum ist der erste Jahrestag des Todes. Kein Angehöriger
oder Freund des Verstorbenen wird es versäumen, die Grabstätte nochmals
aufzusuchen, wie weit weg ihn das Schicksal inzwischen auch verschlagen
haben mag. Unser Beerdigungsritus hat einige heidnische Elemente bewahrt,
wie etwa das laute Wehklagen am Sarg. Der Sarg wird offen zum Friedhof
getragen und erst nach der sogenannten »Klage am Sarg« geschlossen und
zugenagelt. In alten Zeiten pflegten reiche Familien bezahlte Klageweiber zu
bestellen; diese gibt es sogar noch heute, in den Dörfern von Wologda beispielsweise. Ein solches Klageweib habe ich einmal bei einer Beerdigung in
der Kleinstadt Nikolskoje erlebt. Sein Vortrag war so mitreißend (die Totenklage ist eine Art Volksdichtung und erfordert außergewöhnliche schauspielerische Fähigkeiten), daß ich zusammen mit allen anderen in untröstliches
Schluchzen ausbrach.
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Für das Totenmahl bereiten wir spezielle Speisen zu. Das sind in erster
Linie die Kutja, ein Brei aus gesüßtem Reis oder Weizen mit Rosinen, und die
berühmten Plinsen. Jeder Gast muß von dem Brei und wenigstens eine von
den Plinsen essen. Natürlich trinken wir auch auf den Verstorbenen, meistens
Wodka, allerdings ohne anzustoßen. Zuvor stellen wir ein gefülltes Gläschen
auf einen freien Platz an der Tafel und legen ein Stück Brot darauf. Diese
Geste besagt, daß die Trauernden den Verstorbenen noch unter sich wissen.
Was Ausländer manchmal verwundert oder sogar befremdet, ist unser
Brauch, am Todestag oder eine Woche nach Ostern Speisen und Getränke auf
das Grab zu stellen. Auch diese Tradition hat heidnische Wurzeln.
Der Wagankowskoje-Friedhof, fast
im Zentrum von Moskau gelegen, über
50 Hektar groß und 230 Jahre alt, ist berühmt dafür, daß das ganze Jahr Bettler
dort umherstreichen und sich von den
Speisen und Getränken, die von Besuchern auf die Gräber gestellt wurden, ernähren. Noch vor zehn Jahren taten sich
auch herrenlose Hunde und Katzen hier
gütlich. Dann aber entdeckten die Behörden, daß dies den Vorschriften zur
Friedhofshygiene widersprach, und sie
ließen die Hunde und Katzen fangen und
töten. So haben die Bettler deren Rolle
mit übernommen! Friedhofsbettler sind ein besonderes Völkchen. Sie stellen
sich jeden Tag auf dem Friedhof ein, und es sind immer dieselben. Gern sind
sie Besuchern gefällig, indem sie ihnen für wenige Kopeken bestimmte Gräber zeigen oder über dieses und jenes Prominentengrab erzählen, was sie bei
den Touristenführern aufgeschnappt haben.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine lustige Begebenheit.
Vor der Auferstehungskirche auf dem Wagankowskoje-Friedhof sprach uns
ein Mann an – arm und schmuddlig gekleidet und nicht mehr der Jüngste.
»Junge Leute, ich verkaufe das Elixier der ewigen Jugend, mache euch einen
Vorzugspreis! Greift zu, ihr werdet es nicht bereuen!« sagte er und hielt uns
ein Fläschchen mit einer wenig vertrauenerweckenden dunkelgrünen Flüssigkeit hin. Wir winkten lachend ab. Aber er ließ nicht locker und heftete sich
an unsere Fersen. »Nehmt es, ihr werdet es nicht bereuen, ich mache euch
einen Vorzugspreis!« haspelte er. Schließlich wurde es uns zu bunt, und wir
sagten: »Wenn Sie uns nicht in Ruhe lassen, rufen wir die Miliz oder bringen
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Sie gleich hin!« Er seufzte tief. »Bin erst gestern dagewesen. Ein Bulle führte
mich ab und sagte: ›Ehrbaren Bürgern auf einem Friedhofsgelände das Elixier
der ewigen Jugend zu verkaufen ist Betrug.‹ Dann fragte er noch, ob ich
schon einmal vor Gericht gestanden hätte. ›Mehrmals‹, gestand ich, ›1380,
1519, 1727 – und zuletzt 1901.‹«
WER
LIEGT IM
SARG
DES
ZAREN?
In meiner Jugend ist mir einmal eine alte Zeitschrift in die Hände gefallen, in
der die Beerdigung der Zarin Katharina II. geschildert wurde. Die unwürdige Posse, die Pawel I. inszenierte, um seine Mutter unter die Erde zu bringen,
indem er die Gebeine seines Vaters grabschänderisch exhumieren ließ und
seinen Zeitgenossen die postume Versöhnung seiner entzweiten Eltern vorspiegelte, ist mir unvergeßlich geblieben. Sie trug sich am 6. Dezember 1786,
einem eiskalten Tag, in Sankt Petersburg zu.
Einen Monat hatte Pawel auf die Bestätigung seiner Thronfolge warten
müssen, dabei war sein Unmut über die verstorbene Mutter so gewachsen,
daß er sich entschloß, einen langgehegten Plan in die Tat umzusetzen und sich
an ihr zu rächen. Zunächst verschob er ihre Beerdigung um einen Monat.
Wofür wollte er sich rächen? Um Pawels Motive zu verdeutlichen, werfen
wir einen Blick auf das Leben Katharinas II.: Die deutsche Prinzessin Sophie
Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst, geboren 1729, kam als junges Mädchen nach Rußland und wurde mit dem Enkel von Zar Peter I. und Neffen
von Zarin Elisabeth Petrowna, Peter III., verheiratet. Ihr junger Gemahl
machte kein Hehl daraus, daß er sie nicht liebte, ja sogar, daß er sie nicht ausstehen konnte. Lange schwebte sie also in der Gefahr, in ein Kloster verbannt
oder sogar umgebracht zu werden – die Intrigen am Hof schlugen damals
hohe Wellen. Aber sie hielt stand. Ihr Ehemann – so weiß es jedenfalls das
Gerücht – interessierte sich überhaupt nicht für sie, und so gebar sie einen
Sohn nicht von ihm, sondern von einem russischen Grafen.
Nach einigen Jahren gelang Katharina der Staatsstreich, gestützt auf einen
Kreis russischer Offiziere sowie ihren Günstling Grigorij Orlow und dessen
Brüder. In den Besitz der Krone gelangt, verwandelte sich die dem Blut nach
Deutsche in eine Russin dem Geiste nach. Sie war schön und klug, großzügig
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und nachtragend. Ihr wahrhaft unerschöpfliches Liebesverlangen deuten Historiker behutsam an, indem sie ihre zahlreichen Günstlinge aufzählen. Zwölf Jahre nach dem Staatsstreich wurde Grigorij Potjomkin ihr geheimer Gemahl. Er gewann einen solchen Einfluß auf sie, daß sie ihn später sogar ihre Liebhaber auswählen ließ. Eine ganze Phalanx
schöner, stattlicher Männer ging in die Geschichte ein: Sie stiegen durch die Gunst der
Zarin zu hohen Würdenträgern Rußlands
auf. Ihrem einstigen Liebhaber Grigorij Orlow, der am Zarenmord beteiligt
gewesen war, schenkte sie Tausende von leibeigenen Bauern sowie ein eigens
in Frankreich angefertigtes, kostbares silbernes Speiseservice; sie ließ ihm ein
Marmorpalais in Sankt Petersburg bauen und eine hohe Jahresdotation als
Pension zukommen. Orlow seinerseits erwarb mit Geldern der Zarin jenen
berühmten großen Diamanten für die russische Schatzkammer, der noch
heute seinen Namen trägt.
Dies alles hatte sich vor den Augen des Sohns abgespielt. Jetzt, nach dem
Ableben seiner Mutter, hielt Pawel die Zeit für gekommen, der Gerechtigkeit
zum Triumph zu verhelfen. Er beabsichtigte, die sterblichen Überreste seiner
Eltern »zur Versöhnung vor der Ewigkeit« zu
vereinen – die seiner kürzlich verschiedenen
Mutter Katharina II. und die seines offiziellen
Vaters Peter III., der 34 Jahre zuvor ermordet
worden war, ohne als Zar zu Geltung und
Ansehen gelangt zu sein. Überdies hatte Katharina es seinerzeit untersagt, ihren Mann in
der Kathedrale der Sankt Petersburger PeterPaul-Festung, der traditionellen Grabstätte
der russischen Zaren, beizusetzen. Er war in
aller Stille und ohne besondere Ehrenbekundungen im Alexander-Newskij-Kloster beerdigt und so dem Vergessen anheimgegeben
worden. Diese Demütigung des Vaters hatte der Sohn der Mutter nie verziehen. Seine erste Forderung nach Besteigen des Thrones war, die Gebeine seines Vaters unverzüglich zu sich ins Winterpalais bringen zu lassen.
Der Sarkophag Peters III. wurde geöffnet und sein Inhalt, das modernde
Skelett, der Hut, die Handschuhe, die Stiefel, in einen neuen Sarg gelegt.
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Dieser wurde im Säulensaal des Winterpalais neben dem von Katharina II.
aufgestellt. So »fanden« zwei Feinde »in Frieden zusammen«, die alte Monarchin, die Rußland zu Ruhm und Ehre geführt und sich den Namen »Katharina die Große« verdient hatte, und ihr junger Gemahl, Opfer einer Verschwörung Dutzende Jahre zuvor. Pawel ließ an den Sarkophagen eine Tafel
anbringen, auf welcher stand: »Im Leben geschieden, im Tode vereint«. Unter
seinen wachsamen Augen defilierte ganz Sankt Petersburg an den Särgen vorbei. Stumm leistete man diesen Abschiedstribut, und stumm zog man sich vor
den Augen jenes Mannes wieder zurück, der zu sagen pflegte: »Mir ist es lieber, für eine gerechte Sache gehaßt als für eine ungerechte geliebt zu werden.«
Der schwedische Minister Graf Steding wohnte dieser Zeremonie bei und
bemerkte dazu in einem Brief: »Was soll man sagen über diese so stolze Frau,
die Monarchen ihren Willen diktierte und nun dem Gaffen der Menge preisgegeben war, im Sarg zur Schau gestellt neben einem Menschen, der auf ihren
Wunsch getötet wurde? Solch bittere Lehre liebt die Vorsehung all jenen zu
erteilen, die ihren fatalen Neigungen leichtfertig nachgeben.«
Nach der Trauerfeier wurden die Särge unter Glockengeläut zur Kathedrale der Peter-Paul-Festung getragen. Es herrschte grimmiger Frost, die
Prozession rückte nur sehr langsam voran, und die Menschen schlotterten
vor Kälte. Das langsame Voranschreiten und das anhaltende Glockengeläut
waren beabsichtigt, denn Pawel wollte den Bußcharakter der Zeremonie hervorheben.
Ebenso hatte er angeordnet, daß alle Verschwörer, die den frühen Tod seines Vaters verschuldet hatten, in Paradeuniform an der Spitze des Trauerzuges schritten. Doch Grigorij Orlow war bereits dreizehn Jahre tot. Er hatte
in vorgerücktem Alter den Verstand verloren, sich in geistiger Verwirrung
das Gesicht mit den eigenen Exkrementen beschmierend, und war unter
furchtbaren Wahnvorstellungen gestorben. Sein Bruder, der Zarenmörder
Alexej Orlow, trat indes zu dem Bußgang an – alt und gebrechlich, mit krummen Beinen, in zu enger Uniform tappte er vor den Särgen her, die Krone seines Opfers auf einem goldbestickten Kissen tragend. Seine Komplizen hielten die Zipfel der Sargdecken.
Von dieser Szene hatte Pawel viele Jahre geträumt – die Mörder sollten
ihrem Opfer die letzte Ehre erweisen und sich in Reue üben! Vor allem aber
glaubte er sich damit selber zu beweisen, daß er die Geschichte berichtigen
könne. Und daß ihm das Volk in dieser gerechten Sache zur Seite stehe.
Dem Volk aber war der vor einer Ewigkeit gestorbene und wer weiß
warum wieder ausgegrabene Peter III. einerlei. Es trauerte um Katharina und
bedachte ihre Regentschaft mit guten Worten, hielt ihren Sohn jedoch für när24
risch und größenwahnsinnig. In Adelskreisen wurde ein Epitaph kolportiert,
das Katharina II. einst im Scherz auf sich selbst verfaßt hatte – eine Parodie auf
ein Epitaph, das auf dem Grabstein ihres Hündchens zu lesen war. »Hier ruht
Katharina die Zweite, welche am 2. Mai 1729 zu Stettin geboren wurde. Sie
kam 1744 nach Rußland, um sich mit Peter III. zu vermählen. Mit vierzehn
Jahren war sie von dem dreifachen Wunsch beseelt, ihrem Mann, Elisabeth
und dem Volk zu gefallen. Dies zu erreichen, ließ sie nichts unversucht. Achtzehn Jahre Langeweile und Einsamkeit brachten es mit sich, daß sie viele
Bücher las. Zur russischen Zarin gekrönt, gab sie sich redliche Mühe, Gutes zu
bewirken und ihren Untertanen Glück, Freiheit und Eigentum angedeihen zu
lassen. Sie war nachsichtig und hegte gegen niemanden Feindschaft. Ihre
Großmut und Umgänglichkeit, ihre Herzensgüte, heitere Natur und ihre republikanische Seele sorgten dafür, daß sie Freunde im Leben fand. Arbeiten
fiel ihr leicht. Sie liebte die Kunst und war gern unter Menschen.«
Schließlich wurde in der riesigen Kathedrale der Peter-Paul-Festung die
Seelenmesse für das »wiedervereinte« Zarenpaar gehalten. Ein Augenzeuge
schrieb später, dabei habe ihn keinen Augenblick das ungute Gefühl verlassen, der »Trauung zweier schrecklicher Schatten« beizuwohnen, die sich
sogar im Jenseits noch haßten. Beide waren deutscher Herkunft, Katharina
II. ganz und Peter III. – als Sohn des Herzogs Karl Friedrich von HolsteinGottorp und der aus Kiew gebürtigen Tochter Peters I., Anna Petrowna – zur
Hälfte, und beide hatten sie ein Land regiert, von dem sie vorher kaum etwas
wußten und dessen Glauben sie erst als Erwachsene annahmen.
Doch Katharina waren Glück und Erfolg beschieden gewesen. Ihr Sohn
indes betrachtete ihre Macht nach wie vor als die Macht des Teufels, auch
wenn ihm durchaus bewußt war, daß sie den Segen der russisch-orthodoxen
Kirche genoß, und ihn sein Beichtvater immer wieder ermahnte, sich mit allem
abzufinden. Jetzt stand er an ihrem Sarg und hielt sich voller Erbitterung die
lange Reihe ihrer Liebhaber vor Augen, deren letzter der fünfundzwanzigjährige Fürst Subow war. Mit Subow hatte sie, bereits über sechzig, ein besonders inniges Verhältnis gehabt – er war Liebhaber und Sohn zugleich; sie hatte
sich seiner Erziehung angenommen und ihn zu ihrem Idol erhoben.
Gleich nach dem Tod der Mutter wies Pawel den jungen Subow aus Rußland aus. Dieser ging nach Deutschland, wo er sich mit seinen Brillanten,
Ordensbändern und den ihm gewidmeten Porträts der Zarin interessant zu
machen wußte und wo er 1810 ein historisches Schloß bei Tilsit erwarb.
Nein, Pawel war nicht gewillt, all diese Handlungen der Mutter, die ihm
frevlerisch und unverzeihlich erschienen, ungesühnt zu lassen; längst hatte er
sich zu einem weiteren Vergeltungsschritt entschlossen: Gegen Fürst Grigorij
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Potjomkin hegte er den meisten Groll; ihm hatte seine Mutter 1775 eine
Tochter geboren, die 1794 unter dem Namen Elisabeth Tjomkina den Gouverneur von Cherson ehelichte. Fürst Potjomkin, ein kluger, edelmütiger und
ehrgeiziger Mann, spielte im Leben der Zarin eine entscheidende Rolle.
»Anfangs vergötterte er seine Gebieterin wie ein Liebhaber«, heißt es bei
einem Zeitgenossen. »Später hing er ihr zärtlich an wie seinem eigenen
Ruhm. Diese beiden großen Charaktere waren wie geschaffen füreinander;
sie liebten sich und blieben einander auch nach Beendigung ihres Liebesverhältnisses in Zuneigung und Achtung verbunden. Die Politik und ihrer
beider Ehrgeiz hielten sie, nachdem die intimen Beziehungen gelöst waren,
weiterhin zusammen.«
Nur allzu gern hätte Pawel auch dem »durchlauchtigsten Fürsten von
Taurien« Potjomkin eine demonstrative Lehre erteilt – dieser war aber schon
1791 gestorben und in einem Mausoleum in Cherson beigesetzt worden. So
mußte sich Pawel darauf beschränken, sein Grab öffnen und seine verfluchte
Asche in alle Winde verstreuen zu lassen. Er
war schier davon besessen, die Gräber aller,
die seine Mutter geliebt hatten, eigenhändig
zu entweihen. Erst nach Jahr und Tag, abgelenkt durch die Staatsgeschäfte, sollte seine
Rachlust nachlassen. In die russische Geschichte ist Pawel I. (1754–1801) als unglückselige Figur eingegangen. Mit seinen wirren
Ideen brachte er das Land an den Rand des
Chaos; unter seiner Herrschaft wurde das
absurdeste, lächerlichste Dekret in der Geschichte Rußlands verabschiedet. Es stammt
aus der Feder des Gouverneurs von Sankt
Petersburg Rylejew und lautet: »Alle Hausbesitzer sind gegen Unterschrift
davon zu unterrichten, daß sie der Polizei mindestens drei Tage im voraus
Meldung über einen eintretenden Hausbrand zu erstatten haben.«
Pawel nahm, so wie viele andere russische Zaren, ein tragisches Ende. Er
wurde von Verschwörern in seinem Schlafgemach umgebracht. Zur Stunde
des Mordes hielt sich der künftige Zar Alexander I. in einem anderen Teil des
Palastes auf und betete weinend vor einer Ikone: Gott möge ihm vergeben,
was ohne sein Zutun, doch mit seiner stillschweigenden Billigung in diesen
Augenblicken geschehe.
Pawel wurde wie seine Eltern in der Peter-Paul-Kathedrale beigesetzt.
Seine Grabplatte erhielt einen außerordentlich kostbaren Schmuck – eine der
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schönsten Brillantenkronen des Malteserordens, die es auf der Welt gab. Sie
ist nach 1917 spurlos verschwunden.
Wenn Sie in Sankt Petersburg sind,
müssen Sie sich unbedingt die Grabstätten der russischen Zaren in der Peter-Paul-Kathedrale ansehen. Peter I.
liegt in einem doppelten Sarg, der außen
aus Eiche und innen aus Metall ist. Neben ihm liegen seine nächsten Angehörigen und seine Nachfolger, darunter
Katharina I. Freilich muß ich gestehen,
anfangs haben mir die Zarengräber
nicht sonderlich gefallen – zu glattpoliert von Millionen Touristenblicken;
außerdem bargen sie keinerlei Geheimnis, alles über sie war bis ins kleinste bekannt. Ein Irrtum, wie ich erfahren
sollte: Zumindest ein Geheimnis bergen
diese Gräber doch. Es betrifft Zar Alexander I.: Dieser wurde im März 1826,
erst Monate nach seinem Tod, in Sankt Petersburg beigesetzt. Obwohl sein
Leichnam mehrere Tage in der Kasaner Kathedrale aufgebahrt war, begann
man in Hofkreisen und in der Bevölkerung seinen Tod hinter vorgehaltener
Hand zu bezweifeln.
Der Zar war überraschend am 1. Dezember 1825 in Taganrog gestorben,
als er sich auf einer Reise durch den russischen Süden befand. Aber bis heute
wird gelegentlich behauptet, er sei zu dem genannten Zeitpunkt nicht gestorben, sondern in ein Kloster gegangen, und in seinem Sarg habe ein in einem
Hospital verstorbener Soldat, der ihm sehr ähnlich sah, gelegen. Viele Jahre
später machte in Sibirien ein wundertätiger Mönch namens Fjodor Kusmitsch
von sich reden. Einige Zeitgenossen hielten ihn für Zar Alexander I., eine
Vermutung, die übrigens auch Lew Tolstoj teilte. Doch ausführlich will ich auf
diese rätselhafte Geschichte in einem gesonderten Kapitel eingehen.
Auch um den plötzlichen Tod Zar Nikolajs I., der Rußland 30 Jahre mit
eiserner Faust regiert hatte, ranken sich dunkle Gerüchte. Es wurde sogar behauptet, der Zar habe die Niederlage im Krimkrieg nicht verwinden können
und sich vergiftet. Der Selbstmord durch Gift wird von der Wissenschaft ausgeschlossen, der Gram über den verlorenen Krieg freilich nicht. – Dem Tod
Nikolajs I. sollen zwei unerklärliche Erscheinungen vorausgegangen sein. Die
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Schwiegertocher des Zaren, Großfürstin Alexandra Josefowna, berichtete,
einige Zeit bevor der Zar starb, habe sie zusammen mit Fürst Baratynskij in
der Sommerresidenz des Zaren zu Gatschina eine weiße Gestalt gesehen.
Wenige Tage vor seinem Tod wiederholte sich diese Erscheinung im Sankt
Petersburger Winterpalais. Dort tauchte überdies ein großer schwarzer Vogel
auf, der sonst nur in Finnland anzutreffen ist und als Unglücksbote gilt.
Mehrere Morgen hintereinander flog er herbei und setzte sich auf die Telegraphenanlage, die sich auf dem Türmchen über dem Zimmer befand, in welchem Nikolaj I. dann gestorben ist. Von der Wache verjagt, flog er zur Kuppel
der Peter-Paul-Kathedrale hinüber und verschwand. 26 Jahre später soll sich
übrigens ein solcher Vogel abermals am Winterpalais gezeigt haben, und zwar
kurz bevor Zar Alexander II. einem Bombenanschlag zum Opfer fiel.
Die Machtergreifung der Bolschewiken ist an der Peter-Paul-Kathedrale
und -Festung nicht spurlos vorübergegangen. 1919 wurde die Kathedrale geschlossen und ein Truppenteil der Roten Armee in der Festung einquartiert.
Nachforschungen belegen, daß die Tscheka in den Jahren 1919 bis 1921 die
Grabkammern der Großfürsten zerstörte und die Zarengräber auf der Jagd
nach Schätzen öffnete, darunter auch das Grab von Peter dem Großen.
Augenzeugen erinnerten sich, Peters Leichnam sei so kunstvoll einbalsamiert
gewesen, daß er wie lebendig aussah; er lag in ganzer Länge ausgestreckt
(Peter I. war 2,13 Meter groß gewesen), in der grünen Uniform des Kommandeurs des Preobraschenskij-Regiments, die rechte Hand am Degengriff, das
von dunklen Locken umwallte Gesicht düster und hoheitsvoll. Als der
Deckel des Sargs angehoben wurde, hatten sich plötzlich seine Arme bewegt,
worüber die Tscheka-Kommissare so heftig erschraken, daß sie mit ihren
Fackeln Hals über Kopf zum Ausgang stürzten. Man vermutet, daß sich die
Arme vermittels eines Mechanismus bewegt hatten, der in den Sarg eingebaut
worden war, um eventuelle Grabräuber zu vertreiben.
In den 1990er Jahren wurden die Gebeine der von den Bolschewiken
ermordeten Romanows, des letzten russischen Zaren Nikolaj II. und seiner
Familie, bei Jekaterinburg aufgefunden und zur feierlichen Beisetzung nach
Sankt Petersburg übergeführt. In Rußland entbrannte daraufhin ein Streit, ob
es sich hierbei wirklich um die sterblichen Überreste der Romanows handele. Wissenschaftliche Forschungszentren in Rußland, England und den USA
nahmen sich dieser Frage an, Dutzende von Expertisen beibringend, konnten
sie aber nicht mit letzter Gewißheit klären. Die russische Kirche äußerte
jedenfalls Zweifel, und der Patriarch von Moskau und ganz Rußland, Alexij
II., sowie alle Metropoliten lehnten es zum Ärger der staatlichen Behörden
ab, an der Beisetzung teilzunehmen. So wurde ein Geistlicher, der nicht der
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Jurisdiktion der russischen Kirche unterstand, beordert, die Gedenkmesse zu
halten. Dieser zog sich aus der Affäre, indem er die Namen des Zaren und
seiner Familie nicht nannte, sondern feierlich sprach: »Ihre Namen aber,
Herr, weißt du allein.« – Wer also liegt im Grab des Zaren?
G O G O L S G O L G AT H A -S T E I N
Der Tod von Gogol ist mit einer traurigen Geschichte verbunden. Schon in
seinem 1847 veröffentlichten Briefwechsel mit Freunden hatte Gogol seine
Zeitgenossen beschworen, seinen Körper erst dann zu begraben, »wenn er
deutliche Anzeichen von Verwesung zeigt«.
Ursprünglich befand sich sein Grab auf dem Friedhof des Moskauer
Danilow-Klosters. Als dieser 1931 der Planierraupe zum Opfer fallen sollte,
wurde es zusammen mit mehreren anderen Gräbern geöffnet. Gerüchten
zufolge hat Gogol gekrümmt auf der Seite gelegen, und die Auskleidung seines Sarges ist zerrissen gewesen. Es ist weder bewiesen noch widerlegt – man
kann aber mit Gewißheit annehmen, daß er zweimal beerdigt wurde. Es soll
sogar ein geheimes Dokument geben, das dies bestätigt. Ich kenne dieses
Dokument nicht, habe aber ein Zeugnis gefunden, das mir Bestätigung genug
zu sein scheint. Es ist so grausig, daß selbst die Vorstellung von dem sich im
Grab umdrehenden Schriftsteller davor verblaßt und einem wie eine bloße
Gruselmär vorkommt, wie sie sich Kinder erzählen.
Es handelt sich um einen Ausschnitt aus den Erinnerungen des Schriftstellers und Literaturprofessors Wladimir Lidin (1894–1979) und trägt die
Überschrift Umbettung der Gebeine Gogols. »Im Juni 1931«, schreibt Lidin,
»wurde ich vom Historischen Museum angerufen. ›Wenn Sie Interesse haben,
kommen Sie morgen auf den Friedhof des Danilow-Klosters, dort soll Gogols Grab geöffnet werden‹, hieß es. Ich ließ mich nicht zweimal bitten und
fuhr hin. Aus Gewohnheit nahm ich den Fotoapparat mit. Zum Glück, denn
ich war schließlich der einzige, der Aufnahmen gemacht hat. Außer Gogol
wurden an diesem Tag noch Chomjakow und Jasykow zur Umbettung exhumiert. Der Friedhof sollte eingeebnet werden, um auf dem Klostergelände
eine Anstalt für minderjährige Straftäter einzurichten.
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Die Grabungen dauerten fast einen ganzen Tag. Gogols Sarg lag ungewöhnlich tief. Zunächst stießen wir auf eine Ziegelgruft, die aber keinerlei
vermauerte Öffnung aufwies. Wir gruben quer zu ihr in östlicher Richtung
weiter und entdeckten nach mehreren Stunden eine Nebengruft, durch welche der Sarg einst in die Hauptgruft geschoben worden war.
Es begann schon zu dunkeln, als der Sarg endlich zum Vorschein kam.
Sein oberer Teil war morsch und eingefallen, aber die Seitenwände mit der
Stanniolfolie, den Metallecken und Metallgriffen und sogar ein Teil der lilablauen Posamenten hatten dem Zahn der Zeit standgehalten. Das, was von
Gogol verblieben war, sah so aus: das Skelett ohne Schädel, nur bis zu den
Halswirbeln; ein zwar schon brüchiger, doch noch recht ansehnlicher tabakbrauner Gehrock, darunter, stellenweise sichtbar, die Unterwäsche mit Elfenbeinknöpfen; Lederschuhe, ebenfalls gut erhalten, deren Spitzen sich allerdings dadurch, daß die Pfriemnaht vermodert war, etwas aufgestülpt hatten,
so daß die Zehenknochen hervorlugten. Die Schuhabsätze waren auffallend
hoch (vier bis fünf Zentimeter), was darauf deutet, daß Gogol von kleinerem
Wuchs war.
Wann und unter welchen Umständen der Schädel verschwunden ist, wird
wohl ein Rätsel bleiben. In geringerer Tiefe, noch weit oberhalb der Ziegelgruft mit dem Sarg, hatten wir einen einzelnen Schädel gefunden, aber die
Archäologen identifizierten ihn als den Schädel eines noch jungen Menschen.
Die Gebeine von Chomjakow und Jasykow habe ich fotografieren können. Die von Gogol leider nicht, weil es schon zu dunkel geworden war und
sie am nächsten Morgen zum Friedhof des Neujungfrauen-Klosters übergeführt wurden.
Ich war so frei, mir ein Stückchen von dem Gehrock abzutrennen. Diese
Reliquie hat später ein geschickter Buchbinder in den Einband meiner Erstausgabe der Toten Seelen eingearbeitet. Das Buch steht noch heute in meiner
Bibliothek.«
Auf diese Art also haben sowjetische Schriftsteller den Klassiker im Angesicht seiner sterblichen Überreste geehrt! Denn wie ich von einem GogolForscher erfuhr, sind außer Lidin noch andere Berühmtheiten bei Gogols
Exhumierung dabei gewesen, sowjetische freilich – »Ingenieure der menschlichen Seele«, wie dazumal die Schriftsteller überschwenglich genannt wurden –, und jeder hat ein Souvenir mitgehen lassen: Wsewolod Iwanow eine
Rippe, Alexander Malyschkin die Sargfolie und ein Komsomolfunktionär
namens Aratschejew einen der Schuhe mit den schönen hohen Absätzen. Die
reinste Phantasmagorie! Aber von genau solchen Phantasmagorien war Gogol zeitlebens geplagt worden!
32
Meine Freundin zeigte mir einmal ein vertrocknetes Lorbeerblatt. »Das
hat meine Großmutter mir als ihrer einzigen Enkelin vermacht, bevor sie
starb. Weißt du, was das ist? Ein Blatt aus einem Lorbeerkranz, den Gogol
auf dem Haupt getragen hat! Ihr selbst wurde es von ihrer Großmutter vermacht, die im März 1852 auf Gogols Beerdigung gewesen war.«
Als ich dies jenem Gogol-Forscher erzählte, lachte er. »Solche ›Blumen‹
vom Haupt bedeutender Verstorbener findet man in Rußland zuhauf! Sie
waren im 19. Jahrhundert Mode und tauchen in den Fotoalben vieler bekannter Leute auf, zum Beispiel bei der Tochter von Fjodor Tjutschew.«
Daraufhin suchte ich nach Veröffentlichungen, die Erinnerungen von
Zeitgenossen an Gogols Krankheit, seine letzten Tage und seine Beerdigung
enthalten. Was mögen das für Blumen bei der Beerdigung gewesen sein? Wer
hat damit Geschäfte gemacht? Und ich fand folgendes heraus: Die Beerdigung
des großen Schriftstellers zog die Menschen in Massen an, wie heutzutage nur
die eines berühmten Popstars. »Selbstentleibung« hieß das Wort, das unter
den Tausenden, die gekommen waren, Abschied von Gogol zu nehmen, von
Mund zu Mund ging. Der unerklärliche Tod des berühmten Mannes erregte
die Gemüter und sorgte für alle möglichen Gerüchte. Woran war Gogol gestorben? Menschen, die ihn näher kannten, nennen eine merkwürdige Ursache: an Todesfurcht! »Ihn hatte die Angst vor dem Tod überwältigt«, lesen
wir in den Memoiren eines Zeitgenossen. Erstaunlich, wie sehr diese Diagnose dem Leiden entspricht, an dem Choma Brut stirbt, der Held der
Erzählung Wij, der König der Erdgeister. Man denkt auch an die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen und erinnert sich, wie der unglückliche Held im
Krankenhaus kuriert werden soll: Man prügelt ihn und läßt kaltes Wasser auf
seinen Kopf tropfen. Etwas ähnliches hat Gogol gegen Lebensende selbst
erlitten. Aber schon lange, schon viele Jahre vor seinem Tod fragte man sich
in Rußland immer wieder: »Was denn, Gogol ist noch nicht gestorben?«
Denn allen hatte er versichert, er leide an einer schweren, unheilbaren Krankheit und könne von einem Augenblick zum anderen sterben.
Nun zu den »Blumen von Gogols Haupt«. Diese Blumen hat es in gewisser
Weise tatsächlich gegeben. Ich zitiere aus einem Brief, den ein F. Jordan einem
gewissen Iwanow, beide Zeitgenossen von Gogol, schrieb: »Der Volksauflauf
war ungeheuerlich. Richter (der Maler, er wohnt bei der Universität) schrieb
mir, zwei Tage lang sei die Nikitskaja durch Menschengedränge verstopft gewesen. Gogol lag im Gehrock aufgebahrt (wohl ein Wunsch von ihm) und hatte
einen Lorbeerkranz auf dem Haupt, der vor dem Verschließen des Sarges abgenommen und nach der Beisetzung Blatt für Blatt verkauft wurde, was eine
gehörige Summe Geldes einbrachte. Alle rissen sich um dieses Andenken.«
33
Eine weitere Phantasmagorie um Gogols Grab trug sich im 20. Jahrhundert zu; sie betrifft Gogol und Bulgakow. Beide liebten übrigens Kiew, die
»Mutter aller russischen Städte«, über alles und litten unter dem großmächtigen Sankt Petersburg / Leningrad; beide schufen indes ihre Hauptwerke in
Moskau, wo sie beide ihre Manuskripte verbrannten und auf demselben
Friedhof, dem des Neujungfrauen-Klosters, begraben liegen. Die Geschichte
ihrer Grabsteine ist nicht weniger mysteriös.
Als 1931 die Behörden Gogols Gebeine vom Danilow-Kloster auf den
Neujungfrauen-Friedhof umbetten ließen, ersetzten sie den bisherigen Grabstein, »Golgatha« genannt, durch einen eigenen von sowjetischer Machart,
auf dem die Inschrift prangte: »Von der Sowjetischen Regierung«. Neun Jahre sollte der alte Grabstein aus schwarzem Granit, den Verehrer des Gogolschen Werkes einst auf der Krim erworben und nach Moskau gebracht hatten, auf Bulgakow warten, bevor er diesem zu Häupten gelegt wurde.
Natürlich handelte es sich nicht um einen Zufall. Werfen wir zunächst
einen Blick in Bulgakows Roman Der Meister und Margarita. »Mir nach,
Leser!« lesen wir zu Beginn des zweiten Teils. »Wer hat dir gesagt, es gäbe auf
Erden keine wahre, treue, ewige Liebe? Man schneide dem Lügner seine
gemeine Zunge ab! Mir nach, mein Leser, und nur mir, ich zeige dir eine solche Liebe!«* Zu solch einer Liebe hatte der Schriftsteller »Margarita« erkoren – Jelena Sergejewna, geborene Nürnberg; sie war deutscher Herkunft und
stammte aus Riga. In ihren Armen starb Bulgakow am 10. März 1940 in Moskau. Bis zu ihrem Lebensende im Jahr 1970 setzte sie sich unermüdlich für
die Herausgabe seiner Werke ein und schrieb ihm lange, ausführliche »Briefe
ins Jenseits«. Ihre Tagebücher und Erinnerungen enthalten viele interessante
Einzelheiten aus seinen letzten Lebenstagen. »Hast du mich geliebt?« fragte
sie einmal, als er bereits im Sterben lag. Noch im Angesicht des Todes beteuerte er ihr seine Liebe: »Du bist für mich alles auf der Welt, den ganzen
Erdball hast du mir ersetzt.«
Die Liebe der beiden hebe ich deshalb so hervor, weil sie eine wichtige
Rolle in unserer mysteriösen Grabstein-Geschichte spielt. Bulgakow selbst
hatte sich nicht geäußert, wo und wie er begraben sein wollte. Jelena Sergejewna ließ ihn im alten Teil des Neujungfrauen-Friedhofs beisetzen, im
»Kirschgarten«, wo sich auch Gogols, Tschechows und Stanislawskijs Gräber
befinden. Nicht gleich, sondern erst einige Zeit später setzte sie ihm ein
Grabmal, einen großen schwarzen Stein. Danach schrieb sie an Bulgakows
Bruder Nikolaj: »Mischas Grab finden alle wunderschön, manchmal rufen
sogar fremde Leute an und sagen es mir. Ich hatte lange gezögert, es endgültig herzurichten, und vorerst nur Blumen und ringsherum vier Birnbäum34
chen gepflanzt. Ich konnte einfach nichts finden, was würdig genug für
Mischa gewesen wäre. Als ich wieder einmal in die Werkstatt des Neujungfrauen-Friedhofs kam, sah ich in einer Grube einen halbverschütteten
schwarzen Granitbrocken. Der Werkstattleiter sagte, das sei der ›GolgathaStein‹ von Gogols Grab; die Verwaltung habe ihn weggeworfen, als Gogol ein
neuer Stein gesetzt wurde. Auf meine Bitte ließ er ihn mit einem Kran aus der
Grube hieven und zu Mischas Grab bringen ... Sie wissen, wie gut das zusammenpaßt: Mischa unter einem Golgatha-Stein, der vom Grab seines Lieblingsschriftstellers stammt. Jetzt säe ich jedes Frühjahr nur noch Rasen.
Stellen Sie sich das Bild vor: ein dichter grüner Teppich, darauf der GolgathaStein, und beides überwölbt von einem Schirm blühender Zweige – es ist
sagenhaft schön und so ungewöhnlich, wie Mischa als Mensch und Künstler
selber war.«
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Eines Sonntags im Sommer 1968 suchte ich zusammen mit einem Freund
Bulgakows Grab auf. Tatsächlich stand auf ihm ein großer schwarzer Granitbrocken, der »Golgatha-Stein«. Eine alte Frau und ein junger Mann waren
damit beschäftigt, hellrote Begonien auf das Grab zu pflanzen. »Guck mal,
das muß Jelena Sergejewna sein!« flüsterte mein Freund aufgeregt. Wir sahen
ihnen zu, überlegten sie anzusprechen und stellten dabei fest, daß Jelenas
Gesicht auch noch im Alter ungewöhnlich schön war. »Gogol hat sich vor
schönen Frauen gefürchtet, erinnerst du dich? In seinem Werk ist eine schöne Frau immer eine Hexe«, bemerkte mein Freund, während wir zum Tor
zurückgingen. Ich fügte lachend hinzu: »Apropos! Mir wurde mal folgendes
erzählt: Ein Redakteur rief Jelena Sergejewna an und bat sie, so schnell wie
möglich in die Redaktion zu kommen, es bestehe die Möglichkeit, etwas von
Bulgakow zu drucken. Kaum hatte er aufgelegt, erschien sie in der Tür – geschminkt, frisch und schön wie immer. ›Wie sind Sie denn so schnell hergekommen?‹ – ›Auf dem Besen!‹«
Ein Scherz, na schön, aber neulich hörte ich zufällig, wie Sergej Schilowskij – ein Enkel von Jelena Sergejewna und Präsident der Bulgakow-Stiftung
erzählte: »Sie glaubte fest, in direkter Verbindung mit ihrem verstorbenen
Mann zu stehen, und berichtete ihm jeden Abend, was sie tagsüber gemacht
hatte und was für Neuigkeiten es gab. Sie bat ihn um Rat und behauptete,
Ratschläge zu erhalten, die sich immer als wohlüberlegt und richtig erwiesen.
Auch war sie davon überzeugt, daß alles Böse seine Strafe finde, und
tatsächlich sind Leuten, die mit Bulgakows Nachlaß unkorrekt umgingen,
unangenehmste Dinge passiert. Sie verloren die Manuskripte oder verpaßten
wichtige Termine, weil sie in die falsche Straßenbahn gestiegen waren usw. So
geht das bis heute.« – Die »schöne Margarita« liegt heute neben ihrem Mann
begraben, unter dem Gogol-Stein und hellroten Blumen.
Noch ein Letztes, nur lachen Sie bitte nicht! Als ich dieses Kapitel schrieb,
ließ sich plötzlich eine Taube auf dem Fenstersims nieder, was noch nie vorgekommen war. Mein Schreibtisch steht am Fenster, und die Taube sah mich
mit ihren rötlichen Augen lange unverwandt an. Mir ging durch den Sinn,
daß Gogol manchmal im Scherz gesagt hatte, in Wirklichkeit sei er kein
Mensch, sondern ein Vogel. Einmal fragte ihn ein Bekannter, warum er sich
einen so absonderlichen Namen zugelegt habe, sein richtiger, Janowskij, sei
doch viel schöner. »›Warum Gogol?‹ knurrte Gogol. ›Weil ich ein Erpel bin.‹
Und dann schwieg er verdrossen den ganzen Weg.«
Nie wieder ist eine Taube an meinem Fenster erschienen. Nicht ein einziges Mal. Na, wie sollte man da nicht an Zeichen und Wunder glauben!
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»W E R
M I C H E R K E N N T,
WIRD MEINER
SEELE
GEDENKEN«
Ein Bollwerk des Glaubens, zeugt von Stete
Die Kathedrale des Isaak,
wo ich um Maschas Gesundheit bete
und auch den eigenen Tod beklag.*
NIKOLAJ GUMILJOW
Wissen Sie, wessen Grab in Sankt Petersburg am häufigsten besucht wird? –
Ich will es Ihnen sagen: das der heiligen Xenia von Petersburg auf dem rechtgläubigen Smolensker Friedhof.
Xenia von Petersburg, auch Xenia die Glückselige genannt, ist in meinem
Leben Gegenstand mehrerer seltsamer Geschichten geworden. Früher hat
mir meine Großmutter oft von ihr erzählt; vieles wußte sie von ihrer Mutter,
die das Grab noch vor der Revolution gesehen hatte – auf ihm stand eine
Kapelle und ein marmornes Denkmal, auf welchem zu lesen war: »Wer mich
erkennt, wird meiner Seele gedenken zu seinem Seelenheil.« Die heilige
Xenia starb 1803, und auf ihrem Grab wurde eine schöne Kapelle im neurussischen Stil errichtet. Doch wie an alles, was als heilig galt, haben die
Bolschewiken auch hier Hand angelegt – sie schlossen die Kapelle, machten
aus ihr einen Lagerraum, verbrannten die Ikonen und schleiften das Grabmal. Die Leute ließen es sich indes nicht nehmen, die Kapelle auch weiterhin
aufzusuchen, um wenigstens vor der Tür zu beten und die Wange an die
Wand zu schmiegen.
Xenia von Petersburg, mit weltlichem Namen Fjodorowa, hatte nach dem
Tod ihres Mannes einen gänzlich neuen Lebensweg eingeschlagen – sie ver37
schenkte all ihr Hab und Gut an Arme, stellte sich aus Protest gegen die sogenannte normale Welt geisteskrank und begann als Bettlerin umherzuziehen. So lebte sie 45 Jahre, wobei es ihr auf wundersame Weise gelang, allen
Elenden und Bedürftigen, die ihr begegneten, Hilfe zu leisten. Sie war von
tiefer Frömmigkeit und hatte hellseherische Fähigkeiten, worüber es zahllose vom Volksmund überlieferte Zeugnisse gibt. 1988, bei der Tausendjahrfeier
anläßlich der Christianisierung Rußlands, ein Jahr nach Restaurierung und
Wiedereinweihung jener Grabkapelle, wurde Xenia die Glückselige von der
Kirche offiziell heiliggesprochen.
»Zu Xenia mußt du am 6. Februar gehen, das ist ihr Gedenktag«, trug
meine Großmutter mir auf. »Zu der Zeit bist du doch sowieso in Sankt Petersburg ... oder wie das jetzt heißt. Geh
hin, bete für sie, gedenke ihrer Seele, sie
wird dir Glück bringen.«
Aber damals hatte ich bei Großmutters
Erzählungen weniger für die heilige Xenia
ein Ohr als vielmehr für eine exotische
Nebenfigur, nämlich den Friedhofschronisten Goscha, »Goscha, der Chronist« genannt, der sogar auf dem Friedhof wohnte.
Großmutter kannte ihn persönlich. Daran
war freilich nichts Besonderes – alle Welt
hat ihn gekannt! Kaum ein Friedhofsbesucher wäre ohne ihn ausgekommen. Doch
von dem interessanten Goscha schweifte Großmutter stets wieder ab, um auf
ihr Lieblingsthema zurückzukommen – das Leben der heiligen Xenia. Das
kannte ich schon in- und auswendig, so oft hatte sie es mir erzählt. Besonders
gern ließ sie sich über Xenias Wundertaten aus. Ich hielt das alles für ziemlichen Quatsch, muß ich gestehen, und begann zu rebellieren. »Überleg mal,
Großmutter! Ein Pferd redet mit Menschenzunge, wie soll das gehen?
Gestern hast du mir von der heiligen Irina erzählt. Da spricht ein Pferd wie
ein Mensch. Du mußt schon entschuldigen, das kann ich nicht glauben! Auch
nicht, daß das Meer sich geöffnet, den Pharao verschlungen und sich wieder
geglättet hat. Das sind alles Metaphern, Großmutter. Das redende Pferd ist
lediglich Ausdruck des menschlichen Unterbewußtseins, es ist ein metaphysisches Pferd. Und all diese Wunder, die deine Xenia tut, wurden von C. G.
Jung längst erklärt, und der ist Psychologe.«
Großmutter sah mich entgeistert an und fragte leise, wie mit letzter Hoffnung: »Und woran glaubst du, Tanjuscha?« – »Hm ... Ich würde sagen, daß
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ich an Zeichen glaube, die mir von oben gesandt werden. Die spüre ich,
Großmutter, und dabei spüre ich auch, daß es etwas gibt zwischen Himmel
und Erde, das ... also, wie soll ich sagen ...«
»Das heißt, dir wird ein Zeichen gegeben«, konstatierte Großmutter.
»Warte es ab, du wirst schon noch dein Zeichen bekommen und zu Xenia
gehen.« Bei anderer Gelegenheit sagte sie (was sich mir besonders eingeprägt
hat), man dürfe nicht vor den Herrn treten, ohne einmal im Leben in einem
anderen Menschen den »Widerschein des ewigen Lebens und das Antlitz
Christi« gesehen zu haben. Einem solchen Menschen bin ich etliche Jahre
danach tatsächlich begegnet. Doch davon später. –
Als Studenten der Filmhochschule erzählten wir uns gern unsere Friedhofserlebnisse. Ein Kommilitone gab einmal folgendes zum besten: Auf dem
Moskauer Wagankowskoje-Friedhof befand sich das Grab einer seiner Großmütter. Und buchstäblich vor jeder Prüfung ging er hin und bat seine liebe
Großmama um Beistand. Er litt nämlich unter Prüfungsangst und war der
Meinung, daß ihm nur der Geist seiner Großmutter über eine Prüfung hinweghelfen könne. Eines Tages kam er auf den Friedhof, als es schon dunkel
wurde. Er ging rasch zu dem Grab, tat sein Gebet und kehrte über die Allee
zum Haupttor zurück. Hier sah er in einiger Entfernung eine Frau, die etwas
zu suchen schien. Als er sie fast eingeholt hatte, eilte sie auf ihn zu und bat
mit ängstlicher Stimme: »Ach, zeigen Sie mir doch bitte Jessenins Grab! Ich
bin auf der Durchreise, habe zwei Stunden Zeit bis zur Weiterfahrt und
möchte Jessenin noch ein paar Blumen aufs Grab legen, er ist mein Lieblingsdichter.« Gerührt von soviel Dichterverehrung, führte er sie zu Jessenins
Grab. Es pfiff ein kalter Wind, und er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und die Mütze in die Stirn gezogen. »Ein Glück, daß ich Sie getroffen
habe!« fuhr die Frau fort. »Allein wird einem hier angst und bange.« –
»Warum denn das?« fragte er. »Weil es schon so dunkel ist«, war die Antwort.
»Und ich habe doch solche Angst vor Toten!« Da gingen die Pferde mit ihm
durch, und er sagte mit todernster, rauher Stimme: »Vor uns? Das begreife ich
nicht! Wie können die Menschen nur Angst vor uns haben! Sie sehen doch,
wie freundlich ich bin.« Entsetzt machte sie kehrt und lief so schnell in
Richtung Ausgang, daß sie nicht mehr mitbekam, was der angehende Drehbuchautor ihr nachrief: »Das war doch nur ein Scherz, gute Frau, keine
Angst!«
Während meiner Studienzeit fuhr ich einmal im Februar nach Sankt
Petersburg, um mir den Smolensker Friedhof anzusehen. Unmittelbarer Anlaß war mein Wunsch, das Grab von Puschkins Kinderfrau Arina Rodionowna ausfindig zu machen und zu fotografieren. Leider gab es aber keiner39
lei Lageplan oder Literatur über den Friedhof. Der Friedhof ist so groß, wie
sollte man da ein bestimmtes Grab finden?
Zu dieser Frage hatte Großmutter bekümmert bemerkt: »Wenn doch
Goscha noch lebte, er würde dir das Grab von Arina Rodionowna zeigen.
Was für ein Gedächtnis er hatte – einmalig! Auch wohnte er ja direkt auf dem
Friedhof. Er starb 1954, ein paar Tage vor Neujahr. Zu seiner Beerdigung kamen nur Friedhofsbettler.
Kennengelernt habe ich Goscha gleich nach dem Krieg. Ich fragte: ›Wie
hast du die Blockade überstanden, Goscha?‹ – ›Mit Hilfe einer Sünde‹, sagte
er verlegen. ›Ich habe mich von Friedhofsvögeln ernährt.‹ Jeden Tag fing und
aß er einen Vogel. In dieser furchtbaren Zeit aßen die Menschen ja alles ...
und jeden! Aber Goscha ist der Himmel zu Hilfe geeilt. Danach betete er
immer und bat die Friedhofsvögel um Vergebung. Und fütterte sie mit Brotkrümeln. – Auf dem Friedhof war er jeden Tag anzutreffen. Dem einen half
er, das Grab eines Verwandten wiederzufinden, dem andern zeigte und erläuterte er den Friedhof, wiederum einen andern führte er zur heiligen Xenia.«
Bevor ich den Friedhof aufsuchte, wanderte ich noch ein Stück über die
Inseln: die Wassiljew-Insel und die Dekabristeninsel, die im Volksmund
»Hungerinsel« heißt. Auf der Dekabristeninsel waren einst in aller Heimlichkeit die Leichname der hingerichteten adligen Aufständischen verscharrt
worden. Zwischen der großen Wassiljew-Insel und der kleinen Dekabristeninsel fließt die Smolenka hindurch. An ihren Ufern liegen drei alte Friedhöfe
– der rechtgläubige Smolensker Friedhof auf der Wassiljew-Insel und der
Armenische und der Lutherische auf der »Hungerinsel«. An der Biegung der
Smolenka befindet sich die Smolensker Brücke, die beide Inseln verbindet.
Auf der Wassiljew-Insel ging ich bis zur parallel zur Smolenka verlaufenden Kamskaja-Straße, und diese führte mich geradewegs zum Smolensker Friedhof. Was habe ich von diesem so weit zurückliegenden Winterspaziergang in Erinnerung behalten? Sankt Petersburg sah aus wie in Puschkins Pique Dame: »Das Wetter war scheußlich: der Wind heulte, der Schnee
fiel in feuchten Flocken; die Laternen leuchteten trübe; die Straßen waren
leer.«* Auf dem Friedhof waren die Kreuze dick eingeschneit, in den Espen
krächzten die Krähen, Spatzen hüpften von Grabstein zu Grabstein und
zwitscherten schrill, als ob sie schimpften. Es war nichts zu machen, das
Grab von Puschkins Kinderfrau (das ihr gewidmete Gedicht kennt jeder
Russe auswendig) habe ich nicht finden können. Ich begann so erbärmlich
zu frieren, daß ich die Lust verlor und schließlich auch auf Xenia die Glückselige verzichtete. Ihre Kapelle erspähte ich noch von weitem, dabei ließ ich
es bewenden.
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Als ich nach Hause kam, fragte Großmutter sofort: »Bei Xenia gewesen?«
– »Nein, ich habe nur die Kapelle gesehen.« Großmutter seufzte. »Also hast
du noch kein Zeichen erhalten. Aber es wird eins geben, du wirst schon
sehen.« – Jahre später las ich in der Autobiographie Die Engelspuppe des
Sankt Petersburger Bühnenbildners Eduard Kotschergin zufällig von jenem
Goscha, den meine Großmutter so ins Herz geschlossen hatte: »Gefragt, wie
er heiße, sagte er: ›Ich werde Chronist genannt, weil ich alles über den Friedhof weiß. Der Friedhof ist wie ein altes Museum, viele berühmte Künstler
und Wissenschaftler sind hier begraben. Manchmal weise ich Leuten für eine
Kopeke den Weg. Wer vergessen hat, wo der und der Verwandte von ihm
liegt, fragt mich, und ich suche für ihn das Grab. Aber Xenia die Glückselige,
die Schutzheilige unserer Stadt, ist mir am allerwichtigsten; von ihr erzähle
ich bei jeder Gelegenheit, um die Erinnerung an ihre Wohltaten wachzuhalten, solange sie unter Verbot steht. Einer muß das doch schließlich tun, und
mir hat es der Herrgott selber aufgetragen – zu etwas anderm taugt meine
Natur nicht.
Meiner äußeren Person nach bin ich häßlich geraten, und viele wenden
sich ab, wenn sie mich sehen. So laufe ich immer gleich früh hierher, damit
sich keiner die Augen verdirbt. Die Toten stellen mir keine Bedingung, und
wer das Grab eines teuren Verstorbenen besucht, läßt seinen Hochmut vor
dem Tor zurück. Ob schön oder häßlich, hier kann ich Mensch sein. Der
Friedhof ist mein ein und alles – meine Kirche, meine Welt, mein Brot. Mir
kommt es so vor, als wäre ich schon eine Ewigkeit hier, viel länger als alle, die
hier begraben liegen, als hätte ich auf diesem Fleck Erde allesamt überlebt, die
Berühmtheiten wie die einfachen Sterblichen. Ich lebe, und sie gehen einer
nach dem andern davon. Und indem sie davongehen, kommen sie zu mir. In
mein Museum. Und werden meine Brotgeber.‹«
Wie Goscha aussah, wird von Kotschergin so anschaulich geschildert (das
Auge des Malers!), daß ich ihn wie lebendig vor mir sah – klein und schmächtig, mit zottigem Haar, armselig, ein »Halbmenschlein«, Vögel fütternd auf
verschneitem Friedhof.
Kotschergin erzählt außerdem mit Goschas eigenen Worten, wie dieser zu
seinem Schlittenhund Stjopa kam: »›Nach mehreren Tagen mit Fieber und
Husten fange ich wieder mit den Rundgängen an. Ich komme zur Moskauer
Schneise und sehe auf einmal, wie zwischen zwei frischen Gräbern Dampf
aufsteigt, ja, Dampf – mitten aus einer Schneewehe! Und höre so etwas wie
Heulen. Nanu, denke ich, spukt es auf unserm Smolensker? Für alle Fälle
bekreuzige ich mich sogar. Der Schnee dampft, und unter ihm heult es! Hat
sich der Satan hier eingenistet, als ich nicht da war? frage ich mich. Man darf
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eben nicht krank sein, schon gar nicht im Winter! Sonst erscheint der Leibhaftige. Die Kälte macht ihm nichts aus, ja sie tut ihm sogar wohl wie das
eigene Hemd. Kaum haben die Menschen mal nicht aufgepaßt, ist er zur
Stelle. Ich bekreuzige mich noch einmal, da verstummt der Schnee, aber der
Geist steigt weiter auf. Das Kreuzzeichen beruhigt mich, und ich sehe mir die
Stelle näher an. Das Heulen geht wieder los, jetzt hört es sich aber eher kläglich an, so als winselte ein Hund. Als ich von der andern Seite herangehe, sehe
ich den Spalt, aus dem der Dampf aufsteigt. Aus ihm lugt ein Riemen mit
Schlaufe hervor, der wie eine Hundeleine aussieht. Ich denke: An einer Hundeleine muß ein Hund sein, vielleicht ist es wirklich nur ein Hund. Einer, der
sein Herrchen vermißt. Sein Herrchen wurde hier beerdigt, als ich nicht da
war, und er hat sich neben ihm in den Schnee gewühlt. Nun sitzt er unterm
Schnee und klagt um ihn, das ist das ganze Geheimnis. Wenn nur die Menschen so treu sein könnten! Drei Tage rede ich ihm gut zu und locke ihn mit
gekauften Klopsen; endlich kriecht er hervor, und ich sehe, daß es ein Schlittenhund ist. Seitdem lebt er bei mir, und wir sind unzertrennlich. Nur daß er
einmal am Tag zum Grab seines Herrchens läuft.‹«
Als ich dies las, hörte ich die Stimme meiner Großmutter, die inzwischen
gestorben war, wie sie bald lebhaft und heiter, bald ernst und nachdenklich
von ihren Heiligen und vor allem von der heiligen Xenia erzählte, und mich
überkam der Wunsch, noch einmal zum Smolensker Friedhof zu fahren, wo
sie so gern gewesen war.
Das Zeichen aber, das mich dazu bewegen sollte, das Grab der heiligen
Xenia wirklich aufzusuchen, war die Begegnung mit jenem »Antlitz Christi«,
von dem Großmutter immer gesprochen hatte. Das »Antlitz Christi« ist mir
unter Umständen begegnet, an die ich nur mit Schrecken zurückdenken
kann: In den 80er Jahren sammelte ich Material für einen Dokumentarfilm
über Tschernobyl. Mir schien, daß die Geschichtsschreibung nicht die ganze
Wahrheit sagt, wenn sie die Geschehnisse auf Fakten, Zahlen und Ideen reduziert, wie sie es zu tun pflegt. Mir kam es beim Dokumentieren eines zeitgeschichtlichen Vorgangs darauf an, alles, was das Leben ausmacht – kleinste
Alltagsdinge, einzelne Schicksale, die Gefühle der Menschen und ihre Erinnerungen bis hin zu Gerüchten, Phantasien und Spekulationen – zu reproduzieren, damit ein wahrheitsgetreues Bild entsteht. Das Leben von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten, zwei Wahrheiten, die historische und
die persönliche, zu einer zu verschmelzen, das war es, worin ich als Dokumentarfilmerin meine Aufgabe sah.
Mein Film hieß: »Tschernobyl – seine Tiere und seine Menschen, die Natur
und der Mensch«. Er sollte einerseits Albert Schweitzers Idee der »Ehrfurcht
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vor dem Leben« Raum geben, andererseits den Menschen in seiner Vermessenheit und Bedenkenlosigkeit zeigen, mit der er alles Leben in tödliche Gefahr bringt oder sogar dem Tod ausliefert. Dieses Leitmotiv wurde mir von
einem riesigen Massengrab eingegeben, das ich an der Grenze zwischen Weißrußland und der Ukraine sah – ein Friedhof von gigantischen Ausmaßen, wo
Abertausende erschossener Hunde, Katzen, Rinder, Ziegen, Schafe und Wildtiere verscharrt liegen. Als die Menschen in aller Hast aus dem verseuchten
Gebiet rund um Tschernobyl evakuiert wurden, ließen sie nicht nur ihre Häuser und Einrichtungen, sondern auch ihre Tiere zurück. Sie bestiegen die
Busse und fuhren ab, und ihre Hunde, Katzen und sogar Kühe, die ihnen bis
zur Abfahrtsstelle nachgelaufen waren, blieben einfach zurück. Nachdem alle
Menschen fortgeschafft waren, wurden sämtliche Tiere von Soldaten getötet.
»Warum hat man denn nicht auch den Tieren geholfen, Mama?« fragte
meine kleine Tochter, die zufällig dabei war, als ich einem Kollegen, der uns
besucht hatte, davon erzählte. »Warum nicht, sie konnten doch nichts dafür?« fügte sie mit erschütterter Stimme hinzu. Ich murmelte etwas von
Radioaktivität und Verseuchung und verstummte schließlich. Ich konnte es
ihr nicht erklären. Wenn man es recht bedenkt, übersteigt das alles ohnehin
unser Fassungsvermögen. Tatsächlich war mir oft, als müßte ich den Verstand
verlieren, wenn ich Augenzeugen zuhörte. »Wir haben Hunderte von Hunden, Katzen und Rindern getötet«, berichtete einer vom Militär. »Und sie
verscharrt, verscharrt und verscharrt, tagelang! Nach den Tieren kamen die
Gärten an die Reihe. Wir packten die Bäume in Zellophanfolie ein und vergruben sie. Unter der Folie krabbelten Käfer, Spinnen, Hummeln, Schmetterlinge. Genauso verfuhren wir mit dem Wald. Tausende von Bäumen verpackten und vergruben wir! Dann ging es zum nächsten Dorf weiter. Wieder –
Umzingelung, Abschuß, Massengrab ...«
Damals habe ich Hunderte von Leuten befragt, um zu erfahren, wie sie mit
der Katastrophe und der Entwurzelung fertig geworden sind. Dabei hörte ich,
daß viele mit einer tödlichen Strahlendosis, die gewaltsam umgesiedelt worden
waren und in einer fremden Gegend starben, letztwillig verfügt hatten, auf
ihrem Heimatfriedhof, bei ihren Vorfahren beerdigt zu werden. So wurden
und werden noch heute Verstorbene in die Region Tschernobyl zurückgebracht und dort der toten Erde übergeben. Nur Verstorbene kehren dorthin
zurück. Die Lebenden jedoch, die sie gebracht haben, Familienangehörige
oder Verwandte, suchen nach der Beerdigungszeremonie schleunigst wieder
das Weite.
Einmal habe ich mir eines der sogenannten »Biogräber« bei Tschernobyl
angesehen. Als ich, zu meinem Fahrzeug zurückkehrend, feldeinwärts ging,
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kam ich an einem verlassenen, verwilderten Dorffriedhof vorbei. Plötzlich
sah ich einen Lkw; er war auf dem Weg abgestellt, und ein Stück abseits
schaufelten zwei Männer in Arbeitskluft ein frisches Grab zu, vor dem ein
einzelner Mann mit verweinten Augen stand. Ich ging zu ihm hin. Der Mann
sagte mir, er komme von weither und beerdige seinen Vater, der vor dem Tod
darum gebeten hatte, auf dem Friedhof seiner Eltern und Großeltern beerdigt
zu werden. »Selbst als er schon im Sterben lag, quälte ihn noch das Heimweh.
Immer wieder fragte er, wann wir endlich heimführen. Aber wie denn? Das
Gebiet gilt als verseucht, hier wohnt kein Mensch mehr. Aus Furcht vor der
Strahlung hat sich sogar der Priester geweigert, mit mir hierher zu kommen«,
sagte der Mann, schwieg und fuhr nach einer Weile fort: »Als wir schon längere Zeit an dem neuen, dem ›sauberen‹ Ort gewohnt hatten, sagte mein Vater
einmal, er fühle sich wie der heilige Lazarus aus dem Evangelium, der gestorben und wieder auferstanden ist. Wie Lazarus habe er hinter die ›verbotene
Grenze‹ geschaut und sei ein Fremder unter den Menschen geworden. Nie
wieder werde er unter den Lebenden er selbst sein, obwohl auferstanden
durch Christi Hand.« Während er sprach, blickte ich in sein tränenüberströmtes Gesicht, und mir war, als zerstäche eine Nadel mein Herz, ein so
heftiges Mitleid hatte mich erfaßt – Mitleid mit ihm, mit uns allen. »Wer um
einen andern weint, weint um sich selbst.« Wer sagte das? Ich weiß es nicht
mehr. Nein, nicht um sich selbst, nicht nur um sich selbst! Der Mann fuhr
fort zu erzählen – von seinem Vater, seiner Familie, von sich und seiner Kindheit und von der Katastrophe ... Die ständig wiederkehrenden Bilder des
Todes habe er nur mit Hilfe seines Glaubens bannen können.
Als er von seinem Glauben sprach, verklärte sich sein Gesicht, ein warmes
Licht trat in seine Augen, und jäh fühlte ich, daß mir in diesem Moment der
»Widerschein des ewigen Lebens und das Antlitz Christi« begegneten. Da
ergriff eine so übermächtige Erregung von mir Besitz, als tobte in mir ein
alles niederreißender Sturm. »Bitte sprechen Sie ein Gebet mit mir«, bat mich
der Fremde, und ich brach in Tränen aus, und wir beteten gemeinsam. Nach
dem Gebet kam eine wunderbare Ruhe über mich, ich fühlte mich wie
erleuchtet und von allen Ängsten erlöst, und am liebsten hätte ich in die Welt
hinausgerufen: »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?« (1. Korinther, 15,55)
Wir verabschiedeten uns. Auf dem Heimweg nahm ich mir fest vor, so bald
wie möglich nach Sankt Petersburg zu fahren und am Grab der heiligen Xenia
zu beten. Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb das
Drehbuch zu dem geplanten Film, wertete Dutzende von Notizheften und
Tonbandaufzeichnungen aus. Aber nach und nach legte sich mir all das Gese44
hene und Gehörte so schwer auf die Seele, daß ich nicht mehr ein noch aus
wußte. Nachts konnte ich nicht schlafen, bald erschienen mir die »Biogräber«,
bald jener Mann, wie er in aller Ruhe sagte: »Tausende von Bäumen verpackten und vergruben wir«, oder der verlassene, verwilderte Dorffriedhof.
Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus; noch mit dem Nachtzug fuhr ich
nach Sankt Petersburg und erreichte am frühen Morgen das Grab der heiligen
Xenia auf dem Smolensker Friedhof.
Der Seele der heiligen Xenia gedenkend, schmiegte ich die Wange an
die rauhe Wand der Kapelle, wie es
einst meine Großmutter getan hatte.
In der Kapelle vertiefte ich mich ins
Gebet und bat alle um Vergebung,
denen ich unrecht getan hatte. Und
bei dieser Andacht wurde mir ganz
leicht und froh zumute, und mich
erfüllte jäh die freudige Gewißheit,
daß ein jedes Pferd mit Menschenzunge redet, ein jedes Meer sich öffnet, wenn man mit der ganzen Glaubenskraft seines Herzens darum bittet. Und daß vor einem inständigen
Gebet alle bösen Teufel davonstieben
und sich kleinlaut verkriechen. Und
daß der uralte Menschheitstraum, auf
Erden eine Welt zu schaffen, wo die Menschen einander lieben und im Gebet
ihren Schöpfer preisen, vielleicht doch in Erfüllung gehen kann.
»D I E T O T E N
KAMEN ZU MIR
...«
In der UdSSR gab es eine Reihe von Themen, über die man nicht schreiben
durfte. Sie waren tabu. Ein paar davon habe ich nach der Perestroika in meinen Dokumentarfilmen behandelt: ... und aus den Netzen des Teufels befreie
mich! (über den Selbstmord), Die Fahrlässigen (über ein Straflager in Kasachstan), Von Irdischem und Himmlischem (über einen Dorfgeistlichen und seine Gemeinde). Aber in meinen Notizheften finden sich noch etliche andere
Projekte, deren Verfilmung ich selbst nach der Perestroika nicht durchsetzen
konnte – zum Beispiel »die schwarzen Pfadfinder«. Wenigstens ist es mir
gelungen, einige von diesen »schwarzen Pfadfindern« kennenzulernen und
zu befragen. Ich überredete sogar einen jungen Mann, der aus diesem »Gewerbe« ausgestiegen war, in einem Dokumentarfilm eines Kollegen mitzuwirken.
Was sind »schwarze Pfadfinder«? Es sind Leichenfledderer, Marodeure –
junge Leute, die Tote ausgraben und berauben: tote Deutsche aus dem Zweiten Weltkrieg. Über die Kriegsschauplätze wissen sie genauestens Bescheid,
nicht von ungefähr »arbeiten« sie mit Vorliebe in der Gegend von Demjansk,
wo im Winter 1943 mehrere deutsche Divisionen in den Sümpfen aufgerieben
wurden. Sie ziehen die Leichen aus dem Moor und nehmen alles mit, was
diese am Leib tragen, vom Orden über die Stiefel bis zum Kragenspiegel. Ihre
Beute verhökern sie auf den Trödelmärkten von Ismailowo oder Chimki in
Moskau. Ihre Kunden sind häufig Ausländer, die für ein Eisernes Kreuz,
einen Stahlhelm oder eine Uniform stattliche Summen zahlen. Auf Deutsche
haben es die jungen Marodeure deshalb abgesehen, weil die Militaria der
Roten Armee nicht gefragt sind.
Einmal sprach ich mit Sascha, einem 22jährigen Moskauer: »Zu den
›schwarzen Pfadfindern‹ bin ich gegangen, weil ich nie Geld hatte«, erzählte
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er. »Zuerst habe ich mich geekelt, aber dann ging’s – alles Gewohnheitssache.
Ich war sogar viel erfolgreicher als die andern. Meine Eltern? Nein, die haben
davon nichts gewußt. Die dachten, ich sammle eben nur allen möglichen
Krimskrams aus dem Krieg. Meine Stube war ein einziges Lager – Orden,
Waffen, Helme, Koppel, alles von der Wehrmacht. Aber irgendwann – mit
meinen Finanzen stand es durchaus gut – erschien mir ein halbverwester
deutscher Soldat im Traum. Erst flehte er, dann schrie er, ich solle alles wieder hergeben, was ich ihm weggenommen hatte: das kleine Kruzifix, den
Orden, die Brieftasche mit den in Zellophan gewickelten halbvermoderten
Papieren. ›Gib mir alles zurück!‹ schrie er und kam mit ausgestreckten
Armen auf mich zu. Das war mir unheimlich. Am liebsten wäre ich überhaupt nicht mehr eingeschlafen; jede Nacht erschienen mir Tote, immer neue
und neue, die ich beraubt hatte, manchmal sogar um die Unterwäsche.
Wütend verlangten sie alles zurück. Es war nicht mehr auszuhalten. Zu einem
Spottpreis überließ ich das ganze Zeug meinen Leuten, um nichts mehr davon
zu Hause zu haben. Aber die Albträume hörten nicht auf. Schaurig. Da stieg
ich aus der Sache aus und suchte mir eine andere Arbeit. Aber auch das hat
nichts genützt. Ich litt unter Depressionen und Verfolgungswahn und mußte
in psychiatrische Behandlung. Fast zwei Monate habe ich im Krankenhaus
gelegen, und bis heute schlucke ich Tabletten.«
Außer Sascha wollte ich neofaschistische Jugendliche, Moskauer Skinheads, vor die Kamera holen, denn sie sind es vor allem, die den »schwarzen
Pfadfindern« die NS-Devotionalien abkaufen. Sascha hatte mich mit einem
seiner Stammkunden bekannt gemacht, dem Schüler einer Technischen Berufsschule, dem Skinhead Nikolaj.
Der Film sollte aber nicht nur von Sascha, Nikolaj und ihren Kumpels
handeln. Ich hatte außerdem vor, diesem düsteren Kapitel einen Bericht über
junge Leute aus Moskau und Wolgograd gegenüberzustellen, die sich »rote
Pfadfinder« nennen und sich dem Ausspruch des großen russischen Feldherrn Suworow, ein Krieg sei erst dann zu Ende, wenn der letzte gefallene
Soldat beerdigt ist, verschrieben haben. Sie suchen in den Wäldern und
Sümpfen nach Massengräbern, in denen außer sowjetischen auch deutsche
Soldaten liegen. Im Laufe mehrerer Jahre haben sie 200.000 Gebeine von
sowjetischen Soldaten und 4.000 Gebeine von Wehrmachtssoldaten aufgefunden und die Namen von 5.000 sowjetischen Gefallenen und Vermißten
und von 200 deutschen Gefallenen ermittelt. Diese selbstlosen jungen Leute
arbeiten mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zusammen.
Als ich das fertige Drehbuch vorlegte, wurde ich gebeten, alles über
Sascha zu streichen: »So etwas darf nicht gedreht werden, dieses Thema ist
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tabu!« Aus meinem Film wurde also nichts. Als Andenken an diese Recherche blieb mir ein Foto, das ich auf dem Trödelmarkt von Chimki an einem
Verkaufstisch der »schwarzen Pfadfinder« entdeckt hatte. Es steckte in einem
noch gut erhaltenen ledernen Portemonnaie eines Soldaten. Als ich es herausnahm und ansah, sagte der junge Verkäufer: »Das können Sie so haben,
nehmen Sie’s nur. Das Portemonnaie ist vielleicht noch was wert, aber so ein
Foto doch nicht! Wen interessiert das schon.«
Ich erinnere mich, wie es mir einen schmerzlichen Stich versetzte, als ich
das Foto anschaute: ein kleiner Junge, liebevoll betrachtet von seiner Mutter.
Es schien, als hätte selbst die Kamera Zärtlichkeit für die beiden empfunden.
Die Beziehung zwischen dem Besitzer des Fotos, einem unbekannten deutschen Soldaten, und den beiden auf dem Foto muß sehr innig gewesen sein.
Dieses Band wurde durch den Tod zerrissen. Sicherlich war es sein sehnlichster Wunsch, recht bald wieder dorthin zurückzukehren, zu jenem alten
Park, wo er einst die beiden geliebten Menschen fotografiert hatte.
WER
DIE
RUHE
DER
TOTEN
S T Ö RT
...
Bei mir in Moskau leuchten die Kuppeln so weit,
Schwingt weit so weit ihr bronzenes Glockengeläut
Und schlafen in den Grabkammern aufgereiht
So tief die Zarinnen und Zaren –
schrieb Marina Zwetajewa liebevoll über die Moskauer Kathedralen, in deren
Grüften die Zaren und ihre Frauen beigesetzt waren.
Die Schicksale vieler Zarenfrauen gehören zu den tragischsten Kapiteln in
der russischen Geschichte. Seit dem 15. Jahrhundert gab es im Moskauer Kreml
zwei Kathedralen mit einer Zarengruft – die Erzengel-Kathedrale für die Zaren
und die Himmelfahrts-Kathedrale für die Zarenfrauen. Bis 1731 war letztere
die Begräbnisstätte aller Zarenfrauen, Zarentöchter und Großfürstinnen.
Ungeliebte Zarenfrauen erwartete ein grausames »Entweder-Oder«. Entweder sie gingen ins Kloster, oder sie wählten den Tod, die Anzahl der Sarkophage in der Himmelfahrts-Kathedrale vorzeitig vermehrend. Einst schien es,
ihre majestätischen Grabmäler mit den kunstvollen Verzierungen und Inschriften würden ewig bestehen. Doch dann brach die Revolution aus: Viele
Kathedralen wurden gesprengt oder zu Fabriken umfunktioniert.
Solch traurige Kapitel finden sich in der Geschichte vieler Völker. Während
der französischen Revolution beispielsweise mußte die Abteikirche von SaintDenis, die Grabstätte der Könige Frankreichs, erst als Artilleriedepot, dann als
Theater und schließlich als Salzlager herhalten. Und 1793, auf dem Höhepunkt
der Revolution, dekretierte der Konvent, die Gräber und Mausoleen aller französischen Könige »überall auf dem Gebiet der Republik« zu zerstören. Noch
im selben Jahr fielen Revolutionssoldaten über die Gräber von Königen und
hohen Würdenträgern der Monarchie her. Zuerst holten sie den Leichnam von
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Marschall Henri de Turenne aus seinem Grab, der zu ihrem Erstaunen nicht
verwest war. Dann kam der Leichnam von König Heinrich IV. an die Reihe: Sie
zerrten ihn aus dem Grab, steckten ihn in ein Leichengewand und warfen ihn
in einen Durchgang nahe der Tür. Dort stellten sie ihn als »Monsieur le Roi«
an der Wand auf, doch eine Frau versetzte ihm eine Ohrfeige, so daß er wieder
umfiel. Ein Soldat sprang mit gezücktem Säbel herbei und schnitt ihm den Bart
ab, um sich selbst daraus einen Schnauzbart zu machen. Von den sterblichen
Resten der Könige Ludwig XIII. und Ludwig XIV. ging ein abscheulicher,
unerträglicher Gestank aus, dem weder mit Essig noch mit dem Pulverrauch
mehrerer Gewehrsalven beizukommen war. Zuletzt schaufelten die Revolutionäre zwei große Gruben und warfen alle Könige, Prinzen und Herzöge hinein.
Ein noch betrüblicheres Los war den Herzen der Könige beschieden. In
versiegelten Gefäßen aufbewahrt, hatten sie eine Flüssigkeit abgesondert, die
dem beim Übermalen von Bildern verwendeten Lack eine vorzügliche Haltbarkeit verlieh. Was Wunder, daß die Maler der jungen Republik sich um sie
rissen. So verschwand ein Großteil der königlichen Herzen.
Die russische Dichterin Jelena Schwarz imaginiert in einem Gedicht jenen
Augenblick, in dem Revolutionssoldaten zum Sarg des Frankenkönigs Dagobert I. und seiner Gemahlin Nantilde vordringen:
Die körperlose Wollust
(Dagobert und Nantilde, ein Königspaar,
deren Skelette, wie die aller französischen Könige,
ausgegraben und in eine Kalkgrube geworfen wurden.)
1.
Dagobert, Dagobert,
ich befürchte, man hat uns vergessen,
zwölf Jahrhunderte liegen wir schon verscharrt,
atmen unsere Fäulnis,
und der Wurm unserer Ehe erstarrt.
2.
Ach Nantilde, Nantilde,
silberfarbene Knochen,
wissen Sie vielleicht, wer da klopft?
Das Gesinde, wie immer ... Doch Sie, meine Liebe,
haben nicht einmal mehr Ihren Kopf.
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3.
Einen Kopf hab’ ich nicht, das ist richtig,
alles Überflüssige schwand,
die Gewänder, die Brüste sind hin,
aber werde ich erstmal zum Stäubchen,
dann erkenn’ ich den tieferen Sinn.
4.
Und auch ich, meine liebe Nantilde,
wurde härter und weißer bloß,
dieses Todleben ist zu verfluchen ...
Bringen Diener uns Muscadet?
Da will uns doch einer besuchen!
5.
Jemand hebt den Deckel des Sarges
und will unsre Knochen sehn ...
Bat man denn Gäste herein,
die Ihre Gebeine trennen
von meinem armen Gebein?
Stimme:
Hier ist noch ein Königspärchen! In die Grube damit ...
mit ungelöschtem Kalk!
Sollten wir uns im Himmel nicht finden,
abgeschüttelt die Knochen und den Staub?
Mein Staub hatte deinen so lieb.
.. . Doch welch ein Wunder, Dagobert,
welch ein Wunder: Ich seh
dein Gesicht und an deinem Finger
den Ehering wie eh und je!
Oh Nantilde – Dagobert,
Dagobert – Nantilde!
Stimme:
Was spart ihr an Kalk?
Schüttet drüber!*
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Sollten Sie einmal Saint-Denis besuchen, so versäumen Sie nicht, auch einen
Blick in die Abteikirche zu werfen. Dort befindet sich rechts von der Empore
das Mausoleum von Dagobert und Nantilde. Mit seinen Statuen des Königspaars stellt es eines der reizvollsten Denkmäler des 13. Jahrhunderts dar; seine
Basreliefs schildern in eindrucksvollen allegorischen Bildern, wie sich die
Seelen aus dem vergänglichen Leib befreien und sich im Himmelreich wiederfinden.
Zurück zu unserer Himmelfahrts-Kathedrale im Moskauer Kreml: 1930
rissen die Bolschewiken sie nieder und erbauten an ihrer Stelle eine Offiziersschule. Die Sarkophage der Zarenfrauen sollten zerstört werden, doch in
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letzter Minute wurde entschieden, sie in den südlichen Anbau der ErzengelKathedrale zu verlegen. Bei dieser Gelegenheit öffnete und untersuchte man
sie. Man hoffte natürlich, Gold zu finden, aber vergeblich: Die Zarenfrauen
und Zarentöchter waren in schmuckloser, schlichter Kleidung beigesetzt
worden, manche sogar in Nonnengewändern. Nur die Schwester von Zar
Peter I. trug einen goldenen Ring am Finger. Die Sarkophage und Kreuze
wiesen keinerlei Schmuck und Verzierung auf. Marfa Sobakina, die dritte
Frau Zar Iwans des Schrecklichen, die gleich nach ihrer Hochzeit vergiftet
worden war, lag wie lebendig im Sarkophag, ohne das geringste Anzeichen
von Verwesung. Fachleute meinen, die Giftmischung, mit der sie als Jungvermählte aus dem Leben befördert worden war, habe wie eine Einbalsamierung
das Verwesen verhindert.
Heute befinden sich die Grabstätten der russischen Zarendynastien nahezu alle in der Moskauer Erzengel-Kathedrale. Eine Ausnahme bildet das
Grab von Salomonija, der ersten Frau des »Großfürsten und Selbstherrschers
von ganz Rußland« Wassilij III.; mit ihrem Namen ist eine geheimnisvolle
Geschichte verbunden.
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21 Jahre war die Ehe kinderlos geblieben. Das großfürstliche Paar hatte
für viele Klöster gespendet, mit vollen Händen Almosen verteilt, an unzähligen heiligen Orten in Andacht und Buße verweilt und sogar die Künste von
Zauberinnen bemüht – alles vergeblich. Da beschloß der Selbstherrscher, sich
von Salomonija zu trennen. Sie wurde unter dem Namen Sofija zur Nonne
geweiht und in das Frauenkloster zu Mariä Schutz und Fürbitte von Susdal
geschickt.
Wassilij III. heiratete abermals. Seine zweite Frau gebar ihm nach drei
Jahren einen Sohn, der auf den Namen Ioann getauft wurde und in die Geschichte als Iwan IV. bzw. Iwan der Schreckliche eingehen sollte. Man nimmt
also an, Salomonija sei wegen ihrer Unfruchtbarkeit verstoßen worden. Es
gibt aber eine Legende, die Legende von Prinz Georgij, derzufolge sie im Zustand der Schwangerschaft Nonne geworden ist.
Von Susdal aus verbreitete sich wie ein Lauffeuer das Gerücht, Salomonija
habe in der Verbannung einen Knaben, Georgij geheißen, zur Welt gebracht;
und es gibt sogar Dokumente, die nahelegen, daß es auf Tatsachen beruht.
Damit er ungefährdet aufwachsen konnte, gab sie ihn in die Obhut von treuen Gefolgsleuten und streute das Gerücht aus, er sei schon in der Wiege
gestorben. Ja, mehr noch, sie täuschte sogar sein Begräbnis vor, indem sie zu
den gebührenden Ritualen eine Puppe beerdigen ließ.
Das offizielle Grab des geheimnisvollen Georgij wurde 1934 geöffnet. In
dem kleinen, aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestehenden Sarg lag eine
Puppe im Seidenhemdchen und mit perlenbesetztem Wickelband. Wo sich
das wirkliche Grab des Georgij befand, konnte nicht geklärt werden. Eine
andere Version der Legende von Prinz Georgij besagt, Iwan der Schreckliche
habe zeit seines Lebens Jagd auf seinen Halbbruder gemacht, der der berühmte Räuber Ataman Kudejar gewesen sein soll. In einem der Dokumente
ist auch angedeutet, daß Iwan der Schreckliche die Schwangerschaft Salomonijas, der einstigen Gattin seines Vaters, zum Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens gemacht, alle Akten darüber aber vernichtet hat.
Wenn mich mein Weg zum Dreifaltigkeits-Kloster des Heiligen Sergius,
der Residenz unseres Patriarchen, führt, besuche ich immer auch die Grabstätte der Zarenfamilie Godunow bei der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale.
Dort befinden sich die Gräber Zar Boris Godunows, seiner gütigen und
sanftmütigen Gemahlin Maria und ihrer beider unglücklichen Kinder Zarewitsch Fjodor und Zarewna Xenia. Wie lange sind ihre sterblichen Überreste
umhergeirrt, bis sie eine Bleibe fanden!
Zar Godunow starb am 23. April 1605, zu einer für das Moskowiterreich
schweren und krisenhaften Zeit. Sein plötzliches Ableben wird so beschrie54
ben: Er stand von der Mittagstafel auf und begab sich in sein geliebtes
Turmgemach, von wo man ganz Moskau überblicken konnte. Nach kurzer
Zeit kam er jedoch hastig wieder herunter, wankend und über Leibschmerzen
und Übelkeit klagend. Während alles stürzte, die Ärzte und die Geistlichkeit
zu holen, begann er aus Nase und Ohren zu bluten und verlor das Bewußtsein. Wenige Augenblicke, nachdem ihm das heilige Sakrament verabreicht,
das Bußkleid angelegt und der Name Bogolep, der Gottwürdige, verliehen
worden war, verstarb er.
Einen Tag später wurde Boris Godunow in der Erzengel-Kathedrale des
Kreml, der Grabstätte der Moskowiter Zaren, beigesetzt. Aber die Feindschaft seiner Bojaren verfolgte ihn noch übers Grab hinaus. Die Bojaren hatten seine Thronrechte nie anerkannt und sprachen ihm nun auch das Recht
ab, bei den Herrschern des Moskowiterreiches begraben zu liegen. Nach
sechs Wochen stürzten sie seinen Sohn Zar Fjodor und brachten ihn und
seine Mutter um. Danach beeilten sie sich, Godunows Leichnam wieder aus
der Erzengel-Kathedrale zu entfernen und zusammen mit den Leichnamen
seiner Frau und seines Sohnes im Armenhaus des Bartholomäus-Klosters zu
verscharren. Aber auch hier war den Gebeinen Godunows keine Ruhe vergönnt: Wassilij Schuiskij, seit September 1606 neuer Zar, ließ sie abermals
exhumieren und im Dreifaltigkeits-Kloster des heiligen Sergius beisetzen.
Die Grabkammer der Godunows in der Erzengel-Kathedrale des Kreml steht
bis auf den heutigen Tag leer. Der nächste, der die Hand gegen die sterblichen
Überreste der Zarenfamilie Godunow erhob, war Zar Dmitrij, auch der
Falsche Dmitrij genannt. Er ließ sie in eine Höhlung in der Südwand werfen,
»damit sie das Portal nicht mehr schändeten«. Doch die Tage des Falschen
Dmitrij waren zu dieser Zeit ebenfalls gezählt; wenig später wurde er hingerichtet – die Vergeltung war gekommen!
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine andere »Vergeltung«;
sie trug sich aber erst in unseren Tagen zu. Am 22. November 1965 ließen die
sowjetischen Behörden die Gebeine Zar Iwans des Schrecklichen und seiner
Söhne aufs neue beisetzen. Der Vorgang wurde gefilmt, und irgendwann
hatte ich Gelegenheit, mir den Streifen im Zentralen Dokumentarfilm-Studio
in Moskau anzusehen. Moskauer Wissenschaftler – Experten der Archäologie, Anthropologie und Gerichtsmedizin – hatten die Gebeine des Zaren
zwei Jahre lang untersucht, ohne die Ursache für seinen Tod feststellen zu
können.
Zar Iwan IV. sei urplötzlich, während eines Wutausbruches gestorben, heißt
es in den Annalen. Der englische Aristokrat D. Garsay berichtet in seinen Erinnerungen: »Beim Schach- oder Damespiel sitzend, sank Iwan der Schreckliche
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plötzlich in sich zusammen und fiel zu Boden. Alles war in heller Aufregung,
die einen schickten nach Wodka, die anderen nach Apothekern und Ärzten, die
dritten nach dem Geistlichen. Unterdessen verschied der Zar.«
Der verstorbene Iwan der Schreckliche wurde zum Mönch geweiht, in das
Bußgewand gekleidet und auf den Namen Iona getauft. So hatte er es zu
Lebzeiten verfügt – darauf hoffend, mit der Aufnahme in den Mönchsorden
Buße zu tun für seine Sünden und schweren Untaten.
Die Exhumierung 1963 verfolgte unter anderem das Ziel, anhand der
Schädelknochen das Gesicht des Zaren zu rekonstruieren; daher nahmen Experten vom gerichtsmedizinischen Institut, von den Kremlmuseen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen, vor allem aber der bekannte Archäologe, Anthropologe und Bildhauer M. Gerassimow an ihr teil. Es stellte sich
heraus, daß das Grab schon einmal geöffnet worden sein mußte, weil der
linke Fuß des Skeletts beschädigt war; wann und von wem, ist freilich ungeklärt geblieben.
Das Bußgewand war schon so vermodert, daß es bei der geringsten Berührung zu Staub zerfiel und sich sogar stellenweise kaum noch von den
Gebeinen unterscheiden ließ. Um es einigermaßen wohlbehalten entnehmen
zu können, schoben die Experten feste Papierbögen unter sein mürbes Gewebe. Der Schädel lag etwas nach links geneigt, seine Basis und der linke
Schläfenknochen waren brüchig und bröckelten. Der rechte Arm befand sich
in einer ungewöhnlichen Lage; er war im Ellbogen so angewinkelt, daß die
Fingerspitzen fast den Unterkiefer berührten. Insgesamt jedoch hatte das
Skelett die Zeitläufte gut überstanden. Aus den Maßen und Proportionen der
einzelnen Knochen zogen die Experten den Schluß, daß der Zar über große
Körperkräfte verfügt haben mußte.
In dem Sarkophag standen zwei Pokale – ein normaler, hellgläserner am
Kopfende und in einer der unteren Ecken ein blauer von außergewöhnlicher
Schönheit: 18 Zentimeter hoch, aus tiefblauem Glas, mit schlankem Fuß, in
der Mitte durchsichtig und unten durchscheinend, der untere Randstreifen
mit roter, grüner und weißer Emaille, der obere, den die Lippen berühren,
mit Gold belegt.
Da keiner eine Vorstellung davon hatte, wo und wann dieser prächtige Pokal
hergestellt und wie er an den Hof des Zaren gelangt sein mochte, begann man
Nachforschungen anzustellen. Aus ihnen ergab sich: Das Gefäß stammt aus den
Hofwerkstätten Rudolfs II., des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation, mit dem Zar Iwan IV. in regem Austausch gestanden hatte.
Vermutlich war es ein Geschenk. Es war aus venezianischem Glas und daher so
leicht und elegant, von so tiefem Saphirblau. Russische Naturheiler sind der
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Meinung, der Saphir mache den Menschen
»ruhig, ehrlich, fromm und barmherzig«.
Tatsächlich lesen wir in den Erinnerungen
des erwähnten Engländers, daß Iwan der
Schreckliche den Saphir unter den Edelsteinen bevorzugte und ihn »Patron der Barmherzigkeit und Feind allen Lasters« nannte.
Der goldene Rand des Pokals war stellenweise abgenutzt, was auf häufigen Gebrauch schließen läßt. Das Geschenk wird
dem Zaren besonders gefallen haben und
ihm deshalb als Grabbeigabe zu Füßen gestellt worden sein.
Der Pokal ist in irgendein Museum oder wer weiß wohin gelangt; statt seiner erhielt der Sarkophag eine andere Beigabe, die Moskauer Ingenieure entwickelt hatten – vier Edelstahlzylinder mit jeweils einer Glasampulle, in welcher zwei Pergamentröllchen steckten. Auf dem einen stand: »Am 22. November 1963 wurde das Grab Iwans IV. von einer Kommission des Kulturministeriums der UdSSR zu Zwecken der wissenschaftlichen Forschung
geöffnet«, und auf dem anderen waren die Untersuchungsergebnisse aufgeführt – die Daten der chemischen Analysen mit einer Röntgenkopie und die
anthropologischen und pathologischen Befunde.
Schließlich schüttete man weißen Sand in den Steinsarkophag und legte
die mit Wachs und Kolophonium präparierten Gebeine hinein. Das Gleiche
geschah mit den Gebeinen der Zarensöhne und des Woiwoden SkopinSchuiskij.
Viele waren der Meinung, all das sei ein schwerer Tabubruch gewesen und
hätte unterbleiben sollen. »Wer die Ruhe der Toten stört, wird grausam
bestraft«, heißt es im Volksmund. Im alten Rußland stand die Öffnung eines
Grabs unter Todesstrafe. Dabei spielte es keine Rolle, zu welchem Zweck sie
vorgenommen wurde. Ein Grab anzutasten war tabu.
1993 haben Archäologen in einem Skythengrab in Gorno-Altai die Mumie einer Frau ausgegraben, die vor 2.500 Jahren beerdigt worden war. Sie lag
in einer Grabkammer aus Eis, in die man mehrere zuvor geopferte Pferde
hinabgelassen hatte. Das Grab glich einer unterirdischen Blockhütte, die den
Eindruck erweckte, als wäre in ihr die Zeit eingefroren. Man nannte die
Mumie die »Altaiprinzessin«. Als man sie nach Nowosibirsk flog, um sie
dem dortigen Museum zu übergeben, fiel plötzlich die Elektronik des Hubschraubers aus. Er mußte notlanden. Nachdem die Mumie einige Jahre in
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dem Museum aufbewahrt worden war, erhielt die Gebietsverwaltung von
Gorno-Altai mehrere von ganzen Dörfern unterschriebene Beschwerden.
Die Altaier forderten, die »Prinzessin« an ihre Ruhestätte zurückzubringen.
In der Umgebung ihres Grabes, so schrieben sie, gebe es laufend Erdbeben,
und es häuften sich unerklärliche Selbstmorde, seitdem ihre Totenruhe gestört wurde.
Am klügsten hinsichtlich ihrer sterblichen Überreste hat wohl die georgische Königin Tamar entschieden. Bis heute wird sie in ihrer Heimat als
Ideal einer weisen und erfolgreichen Landesherrin verehrt. Sie hat das Land
vor Eroberern geschützt und zu einem
großen Reich gemacht; überdies ist sie
ihre Ehe aus Liebe eingegangen, eine
Seltenheit unter gekrönten Häuptern.
Ihre Schönheit war legendär, und viele
Monarchen hielten um ihre Hand an.
Von ihrem Vater gekrönt, hatte sie
bereits als junges Mädchen den Thron
bestiegen. Die Zeit ihrer Regentschaft
gilt als Hochblüte Georgiens, in der
das Land auf den Gipfel seiner Macht
gelangte. In ihren letzten Lebensjahren
»zehrte«, wie ein Chronist schreibt,
»ein schweres Frauenleiden an ihr«.
Lange suchte sie es so gut es ging zu
verbergen, im Herbst 1212 verstärkte
es sich aber so sehr, daß sie gezwungen war, es dem Volk mitzuteilen. Selbst
die kunstreichsten Ärzte, zusammengerufen aus dem ganzen Reich, konnten
sie nicht mehr retten. Sie starb im Januar 1213.
Wo ihr Grab liegt, ist bis heute ein Geheimnis geblieben. Nach der Seelenmesse wurden aus der Hauptkathedrale von Tiflis neun gleichartige Särge
herausgetragen und in verschiedene Richtungen fortgebracht. Niemand
wußte, in welchem sich der Leichnam der Königin befand. Damit sollte vereitelt werden, daß Marodeure oder Feinde sich an ihrem Grab vergingen.
Einer Überlieferung nach ist die Königin Tamar im georgischen Kloster
Gelati, in der Grabstätte der Bagratiden beigesetzt. Wenn man aber den
Dokumenten des Vatikanarchivs Glauben schenkt, muß man annehmen, daß
ihre Gebeine im Kloster zum Heiligen Kreuz in Jerusalem ruhen – an jenem
Ort, wo der georgische Dichter Schota Rustaweli, sein Leben lang ein leidenschaftlicher Verehrer von ihr, seine Erdentage beschloß. Erst im Tod
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konnte er neben seiner schönen Königin liegen. In seiner Dichtung Der
Recke im Tigerfell hatte er über sie geschrieben:
Pflicht der Minne: schweigsam trage auch die Qual und auch den Gram.
Nie verletz durch lautes Seufzen vor der Welt der Liebsten Scham.
Nie verrate die Betörung, die dich selig überkam.
Flammend leide für die eine, die dem Leid den Stachel nahm.*
»I C H
VERFÜGE, MEINEN
IN EINE
SEIFENSIEDEREI
LEICHNAM
ZU GEBEN«
Die Geschichte des Bestattungswesens in Rußland läßt es im 20. Jahrhundert
an Wirrnis und Wechselhaftigkeit nicht fehlen. Gleich nach 1917 sahen es die
Bolschewiken als ihre »heilige« Pflicht an, auch die Art und Weise, wie ein
Mensch nach seinem Ableben verabschiedet wird, von Grund auf neu zu
gestalten. In den Zeitungen hieß es dazu: »Wir werden das kirchliche Begräbnis durch das zivile ersetzen. Weg mit den Popen und religiösen Litaneien! Mitreißende bolschewistische Reden sollen am Grab erschallen!« In
den 20er Jahren nahm das Bestreben, die Totenbestattung zu rationalisieren,
zuweilen groteske Züge an. Der Vorsitzende des Vereins »Kämpferische
Atheisten der UdSSR« Jemeljan Jaroslawskij schrieb in einem Artikel: »Ein
Genosse hat folgendes über sich verfügt: ›Wenn ich sterbe, soll mein Leichnam in eine Seifensiederei gegeben und zu Seife verarbeitet werden. Ihr sagt,
ihr seid gegen den Unfug der Rituale, führt aber selber alle möglichen Rituale
ein.‹« Das war indes selbst den radikalsten unter den »kämpferischen Atheisten« zuviel. Sich mit Seife zu waschen, die aus einem Kommunisten gemacht worden ist – nein, das ging wohl doch zu weit!
Nachdem die Bolschewiken alles Kirchliche aus der Beerdigungszeremonie verbannt hatten, versuchten sie eine neue Antwort auf die Frage zu
finden, was den Menschen nach dem Tode erwartet. Früher hatte es damit
keine Probleme gegeben – für die Gläubigen stand außer Zweifel, was geschehen werde; zahllose alte Grabinschriften legen Zeugnis davon ab.
Ruhe sanft, du liebe Asche,
Es gibt im Sterben kein Vergehen.
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Ruhe, bis dich Vater, Mutter
In Gottes Himmel wiedersehen –
So lautet eine Inschrift auf dem Friedhof des Alexander-Newskij-Klosters in
Sankt Petersburg. Und auf einem Grabmal eines Moskauer Friedhofs heißt
es: »Der Tod hat uns getrennt, die Ewigkeit wird uns vereinen. Doch alles
liegt in Gottes Hand.«
Dergleichen mißfiel den Bolschewiken zutiefst; sie erklärten solche Inschriften für schädlichen Aberglauben und gingen mit allen Mitteln dagegen
vor. Der Schriftsteller Leonid Pantelejew bemerkte in diesem Zusammenhang: »In Neu-Peterhof hat die Straße zum Friedhof immer ›Zur Dreifaltigkeit‹ geheißen. Als ich kürzlich dort vorbeikam, sah ich ein nagelneues
Emailleschild: ›Straße der Niewiederkehr‹.«
Die Grabinschriften der 20er und 30er Jahre erzählen Bände über den
Geist der damals angebrochenen neuen Zeit: »Stabschef des Aeroklubs«,
»Kämpfer in der Roten Reiterarmee«, »bester Genosse in der Autoreifenproduktion«, »bester Genosse der Kriminalfahndung von Samoskworetschje«.
Stets nur Name und berufliche Tätigkeit, wie im Arbeitsbuch.
Auch das äußere Bild der Friedhöfe veränderte sich. Ein Kreuz auf dem
Grab aufzustellen oder nur auf dem Grabstein abzubilden war bei Strafe verboten. Das aber genügte den »kämpferischen Atheisten« noch nicht, denn sie
befanden: »Schluß mit der Großväterart des Gräberschaufelns, es gibt fortschrittlichere Bestattungsmethoden.« 1925 war in der Zeitung Krasnaja Gaseta zu lesen: »Die politische Erziehung der letzten Jahre und der unter den
werktätigen Massen zu beobachtende hohe Bewußtseinsstand haben den
Boden für viele kulturelle Neuerungen bereitet, so auch für die Feuerbestattung Verstorbener, wie sie im Westen längst gang und gäbe ist.«
Gegen eine Orientierung am Westen auf diesem Feld hatten die Bolschewiken ausnahmsweise nichts einzuwenden. In den Zeitungen von Petrograd
(so der neue Name von Sankt Petersburg) waren bereits 1920 Anzeigen folgenden Inhalts erschienen: »Jeder Bürger ist berechtigt, sich im Schwitzbad
an der Smolenka gegenüber dem Smolensker Friedhof einäschern zu lassen.«
Die Bürger zeigten aber seltsamerweise kein Interesse, dieses Angebot wahrzunehmen, sondern ließen ihre verstorbenen Angehörigen weiterhin in der
Erde bestatten. Zwar ohne Kreuz, wie vorgeschrieben, aber wenigstens mit
einer rührenden, gefühlvollen Inschrift, wie etwa: »O meine Muse, welch ein
Leid, ohne dich zu leben! Nie wird mein Herz dich vergessen! Dein untröstlicher Ehemann« oder »Mein Katerchen! Verzeih mir, verzeih. Dein Täubchen auf immerdar«. Alsbald war aber auch diese Art Inschrift unerwünscht,
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die Presse nannte sie »kleinbürgerlich« und »nicht im Einklang mit der Epoche« stehend. Ab 1925 propagierte die Sowjetmacht die Einäscherung mit
wachsendem Nachdruck, wobei Argumente fielen wie: »Die Einäscherung
wird nicht mehr als 10 Rubel kosten. Dem stelle man die Ausgaben für einen
Sarg, und sei es ein billiger, und die Bekleidung gegenüber, und es wird klar,
wie vorteilhaft sie für die breiten Massen ist.«
Eine Tante mütterlicherseits erzählte mir, im Frühjahr 1925 sei im Hof des
Leningrader Anitschkow-Palais eine »Ausstellung zum neuen Bestattungswesen« eröffnet worden, die für einigen Wirbel gesorgt hat. Dort waren die
verschiedensten Modelle von Krematorien und Kolumbarien zu besichtigen
sowie Urnen in allen möglichen Ausführungen, darunter die berühmte Porzellanurne nach einem Entwurf des »revolutionären« Malers Tschechonin.
Ältere Damen mit schwachen Nerven fielen bei diesem Anblick in Ohnmacht. »Politisch zurückgebliebene« junge Leute hingegen witzelten hinter
vorgehaltener Hand: »Wie praktisch, bei der kommunalen Großkantine ein
modernes Krematorium zu bauen! Man kommt hin, würgt sein Essen hinunter, stirbt an Ort und Stelle an einer Lebensmittelvergiftung – und ab geht es
auf den Rost des Kantinenofens!«
Unterdessen waren sich die Gläubigen einig, daß auf all diese frevlerischen Neuerungen früher oder später die göttliche Strafe folgen müsse, und
man brachte die Petersburger Hochwasserkatastrophe von 1824 in Erinnerung: Damals hatten die Fluten die städtischen Friedhöfe aufgerissen und
Dutzende von Särgen durch die Straßen gespült. Und tatsächlich kam es zu
einer neuen Katastrophe: Im Januar 1924, gleich nach Lenins Tod, wurde
Petrograd in Leningrad umbenannt, und am 23. September brach eine furchtbare Flutwelle über die Stadt herein. Es geschah am Abend, als in der IsaakKathedrale gerade Gottesdienst war. Die Menschen suchten auf der Kolonnadenerhöhung Zuflucht und sahen mit Schrecken, wie das Wasser immer
höher stieg. Sie schrien, die Bolschewiken hätten mit ihrer Gottlosigkeit den
Weltuntergang heraufbeschworen, und warfen sich in die tobenden Fluten.
Viele ertranken oder erlitten dadurch, daß sie gegen die Kathedralenmauern
geschleudert wurden, schwere Verletzungen.
Der Weltuntergang blieb allerdings aus, und so konnte die Krasnaja
Gaseta im Sommer 1926 melden, daß in Moskau der Grundstein für das erste
Krematorium der Sowjetunion gelegt worden war, und im November desselben Jahres – daß in Leningrad ein zweites Krematorium entstehe. »Es wird
im Metropolitengarten des Alexander-Newskij-Klosters, nahe am Teich
errichtet. Die Vorbereitungsarbeiten sind schon im Gange. Den Bauplänen
nach soll vom Krematorium zum Kolumbarium ein überdachter Wandelgang
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führen. Das Krematorium wird neben seinen Funktionsräumen zwei große
Säle haben – einen für die Trauerfeiern, der 300 Personen Platz bietet, und
einen Wartesaal für 175 Personen. Die Partei hat beschlossen, bei der deutschen Firma ›Ton‹ zwei Krematoriumsöfen zu erwerben.«
Da aber die Mittel für die Finanzierung der Öfen nicht ausreichten, wurde
das letzte noch vorhandene Kirchengut zum Verkauf freigegeben. »In der
Sakristei des Alexander-Newskij-Klosters fand dieser Tage eine Versteigerung von Kirchenutensilien statt. Das Sakos genannte bischöfliche Festgewand, einst für die Krönung Alexanders III. angefertigt, erbrachte 45 Rubel«,
ließ die Krasnaja Gaseta ihre Leser wissen.
Kein Wunder, daß die benötigte Summe schließlich doch nicht zusammengekommen ist. Die Partei mußte sich auf einen Ofen beschränken, natürlich gab sie Moskau den Zuschlag. »Die Kremation ist eine in der kulturellen
Tradition wurzelnde Form, die jahrhundertealten Vorurteile in den Köpfen
der Menschen zu bekämpfen« – diese Devise machte es jedem Kommunisten
zur Parteipflicht, sich nach dem Tode einäschern zu lassen. So kam es, daß
bald danach die ersten Urnen in der Kremlmauer am Moskauer Roten Platz
beigesetzt wurden.
In der Zeit der »Spionomanie«, als die Sowjetmacht überall konterrevolutionäre Umtriebe witterte, wurde der Moskauer Krematoriumsofen besonders stark beansprucht: Nacht für Nacht wurden in ihm die Leichen Tausender sogenannter Volksfeinde in Asche verwandelt. Diese Asche, so heißt es,
hätten die heimlichen Bestatter in Blechbüchsen eingeschweißt und beim
Donskoi-Kloster in eine Grube geworfen.
Es gab damals manche Schriftsteller und Dichter, die »mit der Zeit im
Gleichschritt zogen«. Sie priesen den roten Terror mit seinen Hinrichtungen
und besangen den »todesmutigen Kampf
der Tschekisten gegen die Feinde der neuen Ordnung«. »Freier Smolny, Arbeiterfreund, / schwing deine machtvolle / rote
Geißel!« forderte der Dichter Wassilij
Knjasew in seinem Gedichtzyklus Das
rote Schafott, dessen einzelne Abschnitte
mit »Erste Hinrichtung«, »Zweite Hinrichtung« usw. überschrieben sind. Doch
1937 richtete sich die »Geißel« gegen ihn
selbst. Wegen »antisowjetischer Propaganda« verurteilt und in ein Straflager verbracht, starb er einige Zeit später im fernen
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Magadan. Die Mithäftlinge erfuhren erst an seinem Grab, daß er, den sie nur
als schweigsamen, hinfälligen Greis kannten, ein Dichter war, den einst »Genosse Lenin selbst« gerühmt hatte.
Auch andere Schriftsteller, anfangs voller Zuversicht, begriffen nach und
nach, was in ihrem Land in Wirklichkeit geschah. Im August des Schreckensjahres 1921 starben die Dichter Alexander Blok und Nikolaj Gumiljow. Mit
dem Tod zogen sie gleichsam ihren persönlichen Schlußstrich unter die Periode
des Kriegskommunismus. Blok starb eines natürlichen Todes im Alter von 40
Jahren, Gumiljow wurde mit fünfunddreißig als »Volksfeind« erschossen.
Über Blok schrieb der Schriftsteller Wladislaw Chodassewitsch: »Bekannt ist,
daß er stark gelitten hat – doch woran ist er gestorben? Ein Dichter stirbt, wenn
er keine Luft zum Atmen mehr hat: Das Leben verliert seinen Sinn.« Blok
wurde auf dem Smolensker Friedhof in Petrograd beerdigt. »Auf den Schultern
trugen wir seinen Sarg zum Friedhof«, schrieb der Dichter Nikolaj Ozup über
diese Beerdigung. »Der Rücken schmerzte von der Last, im Kopf drehte sich
alles vor Weihrauch und Trauer, aber es mußte etwas getan werden: Gumiljow
war noch immer in Haft. Und so verabredeten wir hier, an Bloks Grab, zusammen zur Tscheka zu gehen und um Gumiljows Freilassung zu bitten.«
Aber Ozup und seinen Freunden gelang es nicht, den Dichter Gumiljow
aus den Fängen der Tscheka zu befreien. Die Inquisition mit ihren mittelalterlichen Foltermethoden und Morden hatte in Rußland Auferstehung gefeiert. Gumiljow wurde umgebracht.
»Mich hätte dasselbe Schicksal wie meinen Vater treffen können«, höre
ich noch heute Lew Gumiljow sagen, Sohn der Dichterin Anna Achmatowa
und des Dichters Nikolaj Gumiljow, in meiner Studienzeit Professor für
Völkerkunde. »Doch der Himmel hat die Hand über mich gehalten.« Er
durchlief die schrecklichsten Straflager der Stalinzeit, hungerte, besaß bis ins
vorgerückte Alter kein eigenes Zuhause, sondern fand stets nur in Gemeinschaftswohnungen Unterschlupf – doch er hat überlebt! Er verfaßte eine
Dissertation, die in der Welt der Wissenschaft höchste Anerkennung fand:
Die Ethnogenese und die Biosphäre der Erde.
Heute liegt Gumiljow junior auf dem Sankt Petersburger NikolskojeFriedhof begraben, im Schatten einer kleinen Kirche, beschirmt von einem
schönen Grabmal. Neben seinem Grab befindet sich das der Anastasia Wjalzewa, einer gefeierten Chansonsängerin der 1920er Jahre, und ein Stück weiter das der Politikerin und Duma-Abgeordneten Galina Starowoitowa, die
vor einigen Jahren ermordet wurde. Der Sankt Petersburger Nikolskoje ist
für mich das anschauliche Beispiel eines Friedhofs, an dem sich die ganze russische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ablesen läßt.
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Jene Verwandte aber, die mir einst von der Leningrader Ausstellung erzählte, liegt auf dem Sankt Petersburger Bogoslowskoje-Friedhof begraben.
Sie wohnte zeitlebens in dieser Stadt, war unverheiratet und arbeitete im städtischen Tierpark, wo sie ein mächtiges Nilpferdweibchen namens »Schöne«
zu versorgen hatte. Bei der Überschwemmung 1924 sind dort 88 Tiere
ertrunken; das Nilpferd erkältete sich zwar stark, überlebte aber. Es überlebte zusammen mit der Tante sogar die Leningrader Blockade. Als es 1951
starb, gab sie ihre Stelle im Tierpark auf. »Ohne die Schöne ist es mir da einfach zu öd und leer«, sagte sie kummervoll. Ich erinnere mich, wie ich später
einmal an einem heißen Sommertag eine Busfahrt mit ihr machte und ihr
plötzlich schwindlig wurde. Weil sie sich nicht mehr aufrecht halten konnte,
legte man sie im Gang auf den Boden und rief die »Schnelle Hilfe«. Ich beugte mich zu ihr hinunter und flüsterte: »Warte, Tantchen, ich nehme dir die
Perücke ab, damit dir nicht so heiß ist« – da schlug sie die Augen auf und
sagte mit überraschend fester Stimme: »Auf gar keinen Fall! Wenn man schon
stirbt, möchte man wenigstens gut aussehen!«
Meine Tante hat ihr schönes Nilpferd um 20 Jahre überlebt. Der Bogoslowskoje-Friedhof, auf dem ihr Grab liegt, wurde in den 1950er Jahren angelegt und besitzt nur drei Prominentengräber: das des Kinderbuchautors Vitalij Biankij, das des U-Boot-Kommandanten Alexander Marinesko und das
des Sängers und Gitarristen der spätsowjetischen Rock-Szene Viktor Zoi.
Zoi, geboren 1962, kam am 15. August 1990 bei einem Autounfall ums Leben
– auf einer Fahrt nach Riga war er am Steuer eingeschlafen. Sein Grab ist für
die Sankt Petersburger Jugend eine regelrechte Kultstätte geworden. Oft halten sich Halbwüchsige dort auf und verharren stundenlang in tiefer Versunkenheit, als führten sie mit ihrem Idol nicht endenwollende Gespräche.
Bei der Anlage dieses Friedhofs hat man mit Anpflanzungen einmal nicht
gespart; er ist angenehm grün und schattig und erinnert an einen Park. Als ich
das Grab meiner Tante unlängst wieder besuchte, habe ich es zuerst nicht
gefunden, weil inzwischen alles überwuchert war. Also fragte ich im Büro
nach. Dort hing über einem uralten verschlissenen Sofa ein Plan, auf dem die
drei »Gräber bedeutender Persönlichkeiten« mit dicken Kreisen gekennzeichnet waren. Ich holte meinen Kuli heraus und malte einen vierten Kreis
dazu.
FRIEDHOF NUMMER 1
Der Sommer des Jahres 1964, jenes Jahres, in dem Chruschtschow gestürzt
wurde und Breschnew an die Macht kam, in dem das »Tauwetter« endete und
die Stagnation begann. Ich war siebzehn und freute mich wie närrisch, weil
ich zusammen mit meiner Freundin nach Moskau fahren durfte, um Lenin,
das Mausoleum und den Roten Platz endlich einmal mit eigenen Augen zu
sehen.
»Der Kreml ist, das weiß jedes Kind, / der Ort, an dem die Erde beginnt«
– wie liebte ich diese Zeilen von Majakowskij! Denn für mich stand fest, daß
meine Ukraine das Ende der Welt war und Moskau und sein Kreml der
Mittelpunkt!
Der Reise stellte sich allerdings ein Problem entgegen – wir hatten nicht
genug Geld. Aber die Mutter meiner Freundin wußte Rat. Sie füllte einen
Koffer mit Äpfeln aus ihrem Garten und gab ihn uns mit. »Fahrt nur, Kinder,
solche Äpfel hat Moskau noch nie gesehen! Geht auf den Markt und verkauft
sie, dann könnt ihr immer noch die Stadt besichtigen und Lenin und den
Roten Platz besuchen.« Unsere Freude war grenzenlos! Wir kauften uns eine
Broschüre über Moskau mit einem ausführlichen Stadtplan, auf dem die allerwichtigsten Sehenswürdigkeiten rot eingekreist waren:
1.
2.
3.
4.
Lenin-Mausoleum
Artjom-Grab an der Kremlmauer
Kaufhaus GUM
Skrjabin-Museum (von dessen Existenz kein Moskauer wußte,
wie wir dann feststellen mußten)
5. Wasnezow-Museum (das Museum unseres Lieblingsmalers).
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Wo wir übernachten sollten, war uns allerdings ein Rätsel. Aber denken Sie,
das hätte uns gekümmert? Wir gaben unsere Sachen in die Gepäckaufbewahrung, zogen zum zentralen Markt und bauten uns dort mit unserem
Koffer Äpfel auf. Es war furchtbar heiß, und wir standen und standen,
schwitzten, bekamen Durst und schließlich auch Hunger, aber niemand wollte unsere Äpfel haben. Höchstens umsonst! Denn ab und zu spazierte jemand
vorbei, fragte: »Sind die Äpfel gut?« und nahm sich einen, und wir wagten
nicht zu protestieren. So ging unsere Ware allmählich zur Neige. Nur einmal
kaufte uns ein altes Mütterchen ein Kilo ab. Die restlichen Äpfel vertilgten
wir nach und nach selbst. Seitdem kann ich keine Äpfel mehr riechen.
Fürs Mausoleum war es an diesem Tag schon zu spät, so bummelten wir
noch durchs Zentrum. Beide in schwarzem Röckchen und weißgepunkteter
Bluse, ich zudem mit einer Propellerschleife im Haar. Moskau war großartig
– eine Stadt, so stellten wir voll Bewunderung fest, in der die Menschen nicht
mit dem banalen Leben, sondern damit beschäftigt sind, stolz zu sein! Und
was für breite Boulevards und welch glatter Asphalt! Und die vielen Autos!
Der Neue Arbat war gerade im Bau, und im Gorkij-Park drehte sich das Riesenrad, von dem aus man die ganze Stadt überblickte. Und die Telefonapparate auf offener Straße, mit ihren zwei Kopeken Gebühr! Und der Schallplatten-Stand im GUM! (Dort haben wir sogar etwas gekauft.)
Und wieder Roter Platz und Kreml. An der Kremlmauer das Gemeinschaftsgrab mit dem berühmten Artjom, nach dem unsere Stadt benannt war
– Artjomowsk. Von diesem heldenhaften Mann hatten wir hundertmal in der
Schule gehört, seinen Lebenslauf kannten wir auswendig. Seine Statue,
22 Meter hoch, stand auf dem höchsten Berg der Donez-Höhen mit Blickrichtung auf das Städtchen Swjatogorsk und somit auch auf das Pionierlager
»Artjom«, wo wir jeden Sommer die Ferien verbrachten. Nach Artjom war
nicht nur unsere Stadt, sondern noch viel mehr in unserer Gegend benannt:
Kohlegruben, Fabriken, Sowchosen, Schulen, Dörfer, Straßen, Parks, Sanatorien, eine Insel im Kaspischen Meer, ein Panzerkreuzer und nicht zuletzt
meine Pioniereinheit! Über Artjom haben wir alles gewußt. Artjom war nur
sein Parteiname, eigentlich hieß er Fjodor Sergejew. Er lebte von 1883 bis
1921 und kämpfte als glühender Revolutionär und Führer der ukrainischen
Bolschewiken an Lenins Seite. Eine Episode aus seinem dramatischen Leben
hat mich als junge Pionierin einst so begeistert, daß ich sie noch heute in allen
Einzelheiten weiß.
Das Jahr 1905: Die Polizei von Charkow umstellt ein Krankenhaus, wo
sich der berüchtigte Bolschewikenführer Artjom versteckt hält. Den Gendarmen von Moskau, von Nikolajew und dem Donbas ist er wohlbekannt, aber
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immer wieder durchs Netz gegangen. Am Tag zuvor hat er eine Demonstration revolutionärer Soldaten und Arbeiterkampfgruppen angeführt. Als sich
der Zug einer Straßenbarrikade nähert, hinter der ein Strafkommando der
Infanterie mit Maschinengewehren lauert, tritt Artjom vor und hält eine
flammende Rede. Darin verleiht er der Hoffnung Ausdruck, daß auch unter
den Militärmänteln des Gegners noch »Menschenherzen« schlagen, und ruft:
»Wir sind alle Kinder ein und desselben Volkes und wollen alle die Freiheit!«
Mit einer Schar Mitstreiter springt er über die Maschinengewehre hinweg
und durchbricht die Linie der überrumpelten Infanteristen. Ihm auf dem Fuß
folgt die Masse der Demonstranten, sie stürmen heran und umarmen die verblüfften Feinde. »Es war ein überwältigender Anblick, welch ein Triumph für
die Revolutionäre!« berichtet ein Rittmeister der Gendarmerie.
Artjom hat also den bewaffneten Aufstand in der Stadt angeführt, jetzt
aber, nach dessen Niederschlagung, hält er sich in dem Krankenhaus, wo er
als Handwerker angestellt ist, versteckt. Die Polizei frohlockt bereits – es gibt
für ihn kein Entkommen mehr, an allen Ein- und Ausgängen stehen Posten.
Nur einer läßt einmal zwei Sanitäter heraus; sie tragen eine Bahre mit einem
verstorbenen Patienten, der mit einem Laken bedeckt ist. An der Krankenhauskapelle setzen sie den Toten ab, und sogleich wird der Deckel eines Sarges zugenagelt. Die Polizei durchsucht das Krankenhaus bis in alle Winkel,
aber Artjom scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Als sie unverrichteter
Dinge wieder abzieht, steigt der »verstorbene Patient« aus dem Sarg und verschwindet im Abendnebel.
Der Bolschewik Artjom ist bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen. An einem Sommerabend des Jahres 1921 kehrte er zusammen mit
22 ausländischen Kommunisten in einem Propellertriebwagen nach Moskau
zurück. Sie waren in den Städtchen Schtschekino und Tula gewesen, wo sie
Bergleute und Arbeiter einer Waffenfabrik getroffen hatten. Ihr Fahrzeug –
eine neue Erfindung: ein Triebwagen mit Heckpropeller und 50-PS-Benzinmotor – befand sich in voller Fahrt. 105 Kilometer vor Moskau entgleiste es.
Sieben Personen fanden dabei den Tod – der Vorsitzende der Zentralen Bergarbeitergewerkschaft Artjom und sechs seiner Genossen, darunter auch ein
deutscher Kommunist, Delegierter der saarländischen Bergarbeiterschaft. Sie
wurden an der Kremlmauer in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt. »Die
Helden der Kremlmauer«, hieß es dazu in der Zeitung Bergarbeiter, »haben
eine Gruppe Helden in ihre Reihen aufgenommen – die Kampfgruppe des
Genossen Artjom.«
Zu diesem Gemeinschaftsgrab also sind meine Freundin und ich damals
gepilgert. Wir stellten uns feierlich davor auf und standen eine Weile schwei70
gend, und meine Freundin vergoß sogar eine Träne: Ist es zu fassen? Wir stehen wahrhaftig am Grab des legendären Artjom!
Inzwischen ging es auf den Abend zu. Wo aber sollten wir über Nacht
bleiben? Wir überlegten hin und her und kamen auf den Belorussischen
Bahnhof. Dort würde man uns für Reisende halten, die auf der Durchreise
sind und auf den nächsten Zug warten. Gesagt, getan. Und am frühen Morgen ging es wieder auf den Roten Platz. Das Glockenspiel des Kreml spielte
die Melodie von Mit dem Morgenlicht erwacht unser ganzes Sowjetland, und
wir liefen Arm in Arm und summten mit.
Beim Metrobau beschäftigte Arbeiter kamen gerade von der Nachtschicht, und einer erklärte uns freundlich und geduldig, wie man auf schnellstem Wege zum Lenin-Mausoleum gelangt. Dort erwartete uns bereits eine
endlose Schlange. Schrittchen für Schrittchen vorrückend, guckten wir uns
nach allen Seiten um und stellten uns in Gedanken Lenins Beerdigung vor.
Wie jeder sowjetische Schüler, wußten auch wir, daß Lenin am 21. Januar
1924 gestorben ist, als furchtbarer Frost herrschte. Viele Jahre später habe ich
bei dem russischen Historiker und Kunstwissenschaftler Solomon Wolkow,
dem »Eckermann Rußlands«, eine ganz andere Darstellung dieser Beerdigung gelesen als jene, die wir kannten und zu lesen und zu hören gewohnt
waren. –
»Es gibt schwarze Tage im Leben der Menschen. Sie sind wie eine Sonnenfinsternis«, schrieb in den 60er Jahren die Schriftstellerin Galina Serebrjakowa
über den 21. Januar 1924, jenen Tag, »da Wladimir Iljitsch Lenin starb, der
ruhmreiche Führer der russischen Kommunisten und aller Kommunisten der
Welt, der Lenker der Geschicke Rußlands in sechs schicksalhaften Jahren, der
gewandte Polemiker, geniale Taktiker und unnachgiebige Politiker, der Mann
mit dem schnarrenden ›R‹ und der Stirn eines Sokrates oder Verlaine ...
Der Sarg mit Lenins Leichnam wurde im Säulensaal des Unionshauses auf
einem roten Podest aufgestellt. Über dem sich langsam vorwärtsbewegenden
Menschenstrom lag eine Wolke von hunderttausendfachem Atem. Die Luft
war wie erstarrt vor Kälte. Hoch droben am Himmel schwebte der Mond, er
hatte einen dreifachen Hof, wie nur bei stärkstem Frost. Im Säulensaal waren
die Kronleuchter mit Krepp-Papier abgedunkelt, ihr Licht fiel wie durch einen
Trauerflor auf den Sarg, der schier ertrank unter Bergen blutroter Tulpen.«
Wie die an dem Sarg vorbeiziehende Menschenmenge wirklich empfunden hat, wird sich heute kaum noch feststellen lassen. Doch eines steht fest:
Allen, selbst den Feinden Lenins und des Kommunismus, war der Ernst der
Stunde bewußt. Das riesige Land, das stets von der jeweiligen Persönlichkeit
seines Herrschers geprägt wurde, befand sich wieder an einem Kreuzweg,
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und die Dunkelheit und Unüberschaubarkeit der kommenden Jahre flößte
den Menschen Furcht ein. Man fühlte sich an Puschkins Ausruf aus dem
Ehernen Reiter erinnert: »In diesem Rosse – welche Glut! / Wo sprengt es hin
in wildem Mut, / Stampft auf sein Huf, daß Welten wanken?«*
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Nur wer sich jene apokalyptische Stimmung vor Augen hält, von der die
Russen nach Lenins Tod wochenlang erfaßt waren, wird verstehen, wie
Michail Bulgakow, obgleich durchaus kein Bolschewikenfreund, im Januar
1924 schreiben konnte: »Zu diesem Sarg wird man vier Tage bei grimmigem
Frost aus ganz Moskau kommen und dann jahrhundertelang von den weiten
Karawanenstraßen der gelben Wüsten des Erdballs, dorther, wo einst bei der
Geburt der Menschheit ein leuchtender Stern über einer Wiege stand.« Worte
des ironischen, skeptischen Bulgakow, der im gerade erst vergangenen Bürgerkrieg die Bolschewiken zusammen mit seinen jüngeren Brüdern erbittert
bekämpft hatte!
Am 26. Januar wurde in Moskau der Unionsweite Rätekongreß eröffnet,
dessen erste Sitzung dem Gedenken an Lenin gewidmet war. Auf dieser
Sitzung hielt der Generalsekretär der Regierungspartei, Josef Stalin, ein
untersetzter Georgier mit sorgfältig gestutztem Schnauzbart, eine Rede, in
der er mit leiser, dunkler Stimme, mit leichtem georgischen Akzent erklärte:
»Als der Genosse Lenin von uns ging, trug er uns als sein Vermächtnis auf,
die Diktatur des Proletariats zu wahren und zu festigen. Wir geloben dir,
Genosse Lenin, daß wir alles, was in unseren Kräften steht, daran setzen werden, dieses dein Vermächtnis in Ehren zu erfüllen!« Damit das Volk Lenin für
immer im Gedächtnis behalte, beschloß der Kongreß, seinen Todestag zum
Staatstrauertag zu erklären, ein Mausoleum für ihn auf dem Moskauer Roten
Platz zu errichten und seine gesammelten Werke herauszugeben.
Binnen dreier Tage hatte der Architekt Alexej Schtschussew die monumentale Grabstätte projektiert und errichten lassen. Die Bauarbeiten liefen
Tag und Nacht bei 30 Grad Kälte. Der Boden war so hartgefroren, daß weder
Pickel noch Stemmeisen etwas ausrichteten. So wurden Bausoldaten herbeibeordert. Eine Sprengung nach der anderen erschütterte den Roten Platz.
Währenddessen machte der bekannte russische Fotograf Pjotr Nowizkij Aufnahmen von dem Baugeschehen. Einige Zeit vorher waren an der Kremlmauer
an die 1.000 Bolschewiken begraben worden. Schon bei der ersten Detonation
wurden Überreste dieser Leichname emporgeschleudert – welch grausiger
Salut! Tschekisten nahmen dem Fotografen daraufhin den Film weg.
Erst viel später ersetzte der Architekt das hölzerne Mausoleum durch
eines aus Stein. Er ging selbst in verschiedene Steinbrüche und suchte die Gesteinsarten aus – Marmor, Granit, Labradorit, Porphyr. Den größten Monolith, ein Koloß von 60 Tonnen, ein schwarzblau geäderter grauschwarzer
Labradorit, ließ er aus einem Steinbruch bei Schitomir in der Ukraine heranschaffen, eine Prozedur, die mit gehörigem Aufwand verbunden war. Erst
eine lange Strecke auf einem achträdrigen Wagen und dann per Bahn weiter
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auf einer mächtigen Trägerplattform, die im Ersten Weltkrieg dem Transport
von U-Booten gedient hatte – so wurde der Monolith nach Moskau bugsiert.
Mit der Inschrift L E N I N versehen, fand er über dem Mausoleumseingang
einen Ehrenplatz. Die Lettern der Inschrift bestehen aus rotem Quarzit, der
vom Ufer des Onegasees stammt. Im Oktober 1930, nach 16 Monaten ununterbrochener Arbeit, wurde das Mausoleum eingeweiht. –
Ich erinnere mich, daß Lenin wirklich so aussah, als schliefe er nur, daß
leise Trauermusik erklang und den meisten um mich herum Tränen in den
Augen standen. Auch ist mir noch eine alte Frau in Erinnerung, die mit ihrem
Enkel vor mir ging. Als
sie wieder ins Freie trat,
bekreuzigte sie sich verstohlen und sagte: »Ja,
ja, König Salomo hat
recht: Der Todestag ist
besser als der Tag der
Geburt.« – Aber was
scherte uns der Ausspruch irgendeines Königs, wenn wir uns selber wie Könige fühlten – wir hatten Lenin gesehen! Vor Stolz und Erregung
hatte es uns die Sprache verschlagen. Stumm standen wir auf dem Roten Platz
und lauschten mit andächtigem Schauder dem Glockenspiel des Kreml.
In den Siebzigern studierte ich an der Moskauer Filmhochschule, dem
»Kinematographistenorden«, wie wir unsere Alma mater nannten. Nach dem
Studium wurde ich in Moskau tätig, schrieb Drehbücher und machte Dokumentarfilme, und hierbei sollte es sich ergeben, daß ich zusammen mit Kollegen an Breschnews Beerdigung teilnahm. Sie fand am 15. November 1982
an der Kremlmauer statt. Hier aber stand mir der Sinn nicht mehr nach feierlicher Andacht, und ich kann nicht sagen, daß ich Trauer empfunden hätte.
Um Breschnew rankte sich eine Unmenge Witze und Anekdoten, und man
hatte ihm alle möglichen Spottnamen angehängt, wie etwa »Weltmeister im
Weltfriedenskampf«. Er war ein Mann von großer Geschicklichkeit, ein – wie
das Volk ihn gelegentlich nannte – »Senkrechtstarter mit Raketenbeschleunigung« (weil aus den Niederungen des einfachen Volkes über die Komsomolzentribüne unaufhaltsam an die Spitze des Staates gelangt); er war vierfacher Held der Sowjetunion, Verfasser von Prosa wie Lyrik, er liebte die Oper
und hatte ein Faible für schnelle Autos. Eines Tages im Jahre 1973 zeichnete
er ein Parteibillett Nr. 1 auf den Namen Lenin ab, um sich tags darauf das
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Parteibillett Nr. 2 überreichen zu lassen. Das ganze Land hat darüber gelacht.
Er ist 1982 im Alter von 75 Jahren gestorben. Unlängst ist ein Buch über ihn
mit dem Titel Der andere Breschnew erschienen – darin werden von den
fünfhundert Breschnew-Witzen und -Anekdoten die hundert besten aufgeführt.
Was gibt es von Breschnews Beerdigung zu erzählen? Daß der Sarg in die
Grube gefallen ist! In der Tat, als der Sarg in der Tiefe verschwand, hörten wir
plötzlich ein lautes Poltern und einen dumpfen Aufprall. Was war geschehen?
Als die Sargträger, es waren nur zwei, den Sarg in die Grube hinunterließen,
rutschte ihnen das seidene Seil aus den Händen. Dieses Seil ist übrigens nicht
wieder heraufgeholt worden; ein Umstand, den der Volksglaube für ein
schlechtes Omen hält – er bedeute Vergessenwerden.
Dann wurde Salut gegeben, und das Grab wurde eilig zugeschaufelt, während im ganzen Land fünf Minuten die Sirenen heulten und man fünf Minuten schwieg. Doch gleich nach der Beerdigungszeremonie setzte sich eine
Militärparade in Bewegung; zu Marschmusik zogen Offiziersanwärter, Piloten und Marine- sowie Grenzsoldaten mit Karabinern über den Roten Platz.
Das Orchester schmetterte »Ruhm, Ruhm und Ruhm!«, und am Himmel
über uns allen kreiste ein schwarzer Vogel ...
Die Historiker sagen, der Brauch, Männer, die sich um das Vaterland verdient gemacht haben, an der Kremlmauer zu beerdigen, gehe unmittelbar auf
den Oktoberumsturz zurück. Offiziell wurde damit am 10. November 1917
begonnen; es steht aber zu vermuten, daß es schon vorher häufig geschehen
war. Vermutlich liegen rings um den Kreml Menschen in einer Anzahl begraben, die man kaum für möglich hält. Bekannt ist beispielsweise, daß zwischen
dem Spasskij- und dem Nikolskij-Tor 1917 Gemeinschaftsgräber ausgehoben
wurden, in denen 240 gefallene Revolutionäre ihre letzte Ruhe fanden. Die
Gesamtzahl der Toten, die zwischen 1917 und 1920 an der Kremlmauer beigesetzt wurden, ist unbekannt, ebenso wie die meisten ihrer Namen. Wahrscheinlich hat man dieses postume Privileg damals noch allen Regierungsmitgliedern zugestanden. Das war nicht nur von praktischem Vorteil (man
brauchte sie nicht weit wegzuschaffen), sondern auch von besonderer propagandistischer Wirkung. Damit fiel das Licht des traditionsreichen, heiligen
Ortes auch gleichsam auf die Usurpatoren. Über die Anzahl der KremlBeisetzungen seit 1920 können die Historiker hingegen genauere Angaben
machen: Es sind rund 150 – 70 Partei- und Staatsführer, 30 Führer der Komintern und der sogenannten Bruderparteien, ebenfalls 30 hohe Militärs und 20
Personen aus anderen Bereichen. Der Tod macht alle gleich? Seit ihrer
Entstehung war die Kremlnekropole darauf angelegt, diese einfache Weisheit
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zu leugnen. In den vergangenen 60 Jahren haben hier nur höchste Funktionäre des Partei- und Regierungsapparates ihre letzte Ruhestätte gefunden, sogar mit eigener Büste. Hier liegen Breschnew, Andropow, Tschernenko, Marschall Woroschilow, der Haudegen Budjonnyj, der großrussische Altvordere
Kalinin, der Häuptling der sowjetischen Nachkriegskultur und Achmatowaund Soschtschenko-Fresser Schdanow, der Chefideologe der KPdSU zur Zeit
der Stagnation Suslow und nicht zuletzt Stalin (seit seiner Entfernung aus
dem Mausoleum).
Übrigens – in postsowjetischer Zeit gibt es tatsächlich noch Stalin-Verehrer! Wo? In Jakutien! Wie die Presse im April 2005 meldete, wurde in der
Stadt Mirnyj auf Beschluß der Volksvertreter ein Stalin-Denkmal aufgestellt,
auf welchem »Für Stalin – von seinen dankbaren Anhängern« zu lesen ist.
Stalinbüste und Stalindenkmal haben nicht nur an der Kremlmauer den
Zeitenwandel überdauert, sondern in fast allen Gebieten der einstigen Sowjetunion, vor allem in Georgien. 1998 bzw. 1999 fand im 2. Gymnasium von
Tscheljabinsk sowie auf dem Sowjetskij-Prospekt von Kaliningrad eine feierliche Wiedereinweihung von Stalinbüsten statt, und im Juli bzw. Oktober
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2003 wurden die Stalindenkmäler der Ortschaften Taiginka in der Region
Tscheljabinsk und Ischim in der Region Tjumen restauriert.
Das 1987 erschienene Buch An der Kremlmauer von Alexej Abramow
schließt mit den Worten: »Am 25. November 1917 forderten die Reaktionäre
des Allrussischen Kirchenkonzils die junge Sowjetregierung auf, die
Gemeinschaftsgräber auf dem Roten Platz zu beseitigen. Wo sind sie heute,
all diese Grafen und Bischöfe? Von allen vergessen, modern sie auf dem
Müllhaufen der Geschichte. Die Namen der roten Kämpfer hingegen, die an
der Kremlmauer ruhen, werden von Millionen verehrt!«
Die russische Kirche hat die Regierung schon mehrmals ersucht, Lenin auf
einen städtischen Friedhof umzubetten. Der Rote Platz sei ein Ort der Freude
und der Festlichkeit, keiner für Gräber. Ohnehin heiße er im Volk leider
bereits »Friedhof Nummer 1«. Aber die Regierung hüllt sich in Schweigen. –
Seit meinem ersten Besuch liebe ich vor allem das hochsommerliche
Moskau – die Moskauer haben sich auf ihre Datschen zurückgezogen, und
man kann jenseits der Touristenschwärme durch die stillen engen Gassen
und das erste Laub der Linden laufen ... So wandere ich dann umher und
denke lächelnd an jenes Moskau zurück, wohin ich einst als Teenager mit
einem Koffer Äpfel ausgezogen bin.