Von Pia Mester
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Von Pia Mester
Die Glaskugel Von Pia Mester Mit sachkundigem Blick prüfte die Dekorateurin den Eingangsbereich des Kaufhauses. Hüfthohe Holzelche, klassische Schlitten neben Strohballen, Tannenzapfen und ein paar rote Akzente -- der Stil entsprach der diesjährigen Weihnachtsmode. Klassisch-Rustikal nannte Frau Schmitz ihn. Zum Glück waren die lilafarbenen Glitzerbäume aus der vergangenen Saison in Vergessenheit geraten. “Dieser Aufbau wirkt einfach langweilig. Er ermuntert die Leute nicht zum Kaufen. Bitte ändern Sie das, Frau Schmitz. Schließlich ist morgen der letzte Adventssamstag, da kommt es auf jedes Detail an.” Frau Erler blickte sie herausfordernd an. An ihrer Schläfe lösten sich ein paar feine Schweißtropfen aus dem toupierten und festgesprayten Haargebilde. Endspurt im Weihnachtsgeschäft, da blieb der Stress nicht aus. Eigentlich war für Frau Schmitz als Schaufensterdekorateurin die Saison längst vorbei. Die meisten Geschäfte buchten sie Anfang November. Dann arbeitete sie vier Wochen lang von morgens bis abends. Sie galt als die beste in ihrem Metier. Dieser Notfall-Einsatz im Kaufhaus von Frau Erler würde die herrische Geschäftsführerin einen Aufschlag kosten, so viel war sicher. In Frau Erlers hellblauem Jackett piepte ein Handy. “Ich vertraue Ihrem Geschmack. Aber denken Sie daran: Wir wollen, dass jeder Kunde, der hier hereinkommt, sein letztes Weihnachtsgeld bei uns lässt. Und rücken Sie das Spielzeug in den Focus.” Dann eilte sie davon. Frau Schmitz stellte ihren Rollkoffer ab und öffnete ihn. Dann wollen wir diesen Eingangsbereich mal zum Blinken bringen, dachte sie. Nicht ohne Grund galt sie als die beste Schaufensterdekorateurin in ihrer Gegend. Sie hatte sich auf Weihnachtsdekorationen spezialisiert, weil sie Weihnachten liebte. Als Kind hatte sie das ganze Jahr von duftenden Lebkuchenhäusern, Adventskränzen und einem geschmückten Christbaum geträumt. Heute war Weihnachten ihr Beruf. Tief in ihrem Koffer fand sie, was sie suchte: Die von innen beleuchteten Schneekugeln. Solche hingen auch an ihrem eigenen Baum. Frank würde sie an Heiligabend wieder loben: So ein heimeliges Fest könnte nur seine Frau gestalten. Und sie würde lächeln, sich an ihn schmiegen und sich vorstellen, wie ihre Kinder mit glänzenden Augen das Papier von den Geschenken reißen. Frau Schmitz schob die Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die langweiligen Holzelche, denen sie samtene Nikolausmützen aufsetzte. Auf dem Strohballen in der Mitte verteilte sie die Puppen, die in diesem Jahr der letzte Schrei waren: “Prinzessin Bellini”, 49,95 Euro. Ein Wucherpreis, fand Frau Schmitz. In ihrer Kindheit hatte sie eine Puppe besessen, die einmal im Jahr neue Kleider bekommen hatte. So wie sie. Ihre jüngere Schwester war noch schlechter dran gewesen, denn sie musste ihre abgelegten Kleider auftragen. Heute besaßen die Kinder so viel Spielzeug, dass sie den Überblick verloren. Und an Weihnachten kam noch einmal das Doppelte hinzu. Gerade, als Frau Schmitz auf eine Leiter kletterte und überlegte, ob die Decke stabil genug war, um einen Lichterkettenvorhang aufzuhängen, stieß jemand an ihr Bein. Ein vielleicht sieben Jahre altes Mädchen hielt zielstrebig auf die Puppen zu. “Mamaaaaa! Da ist sie! Die wünsche ich mir! Kannst du das dem Christkind sagen?” Die Mutter, sehr jung, mit langen dunklen Haaren, ließ sich von ihrer Tochter zu dem Strohballen ziehen. Frau Schmitz bemerkte, dass die Mutter sich nervös umsah. Wollte sie etwa stehlen? Gut möglich, dachte Frau Schmitz, der die ausgetretenen Turnschuhe und die billige Daunenjacke der Frau aufgefallen waren. Jetzt nahm die Mutter eine Puppenverpackung in die Hand und stellte sie schnell wieder weg. Sie strich ihrer Tochter über den Kopf. Im Profil sah sie fast aus wie Robbi, dachte Frau Schmitz und erschrak. Wie lange hatte sie schon nicht mehr an ihre Schwester gedacht? “So eine Puppe hast du doch schon”, sagte die Mutter zu ihrer Tochter. “Lass uns mal gucken, was es noch so gibt.” “Nein, so eine habe ich nicht! Alle meine Freundinnen haben eine Prinzessin Bellini, nur ich nicht! Bitte, Mama, sag dem Christkind, dass ich mir Prinzessin Bellini wünsche, sonst nichts.” Die junge Mutter hatte entdeckt, dass Frau Schmitz ihnen zuhörte. “Ja, ich sage es ihm”, sagte sie schnell. “Geh doch schon mal rüber zu den anderen Spielsachen, ich komme sofort nach.” “Juhuuu”, jubelte das Mädchen und hüpfte davon. Frau Erlers hatte das Gespräch aus der Damenunterwäscheabteilung beobachtet. Jetzt kam sie herüber. “Kann ich Ihnen helfen?” “Äh, nein, oder vielleicht doch. Diese Puppe, könnte ich darauf einen Rabatt bekommen? Ich bin alleinerziehend, wissen Sie. Das ist einfach zu teuer für mich.” Frau Erlers Mund zog sich zusammen. “Wir geben hier keinen Rabatt. Wenn Sie sich die Puppe nicht leisten können, dann müssen Sie Ihrer Tochter eben etwas anderes schenken. Ich glaube allerdings nicht, dass Sie hier fündig werden.” Wie eine Statue stand sie da und versperrte der jungen Frau den Durchgang. “Meine Tochter ist dort hinten, lassen Sie mich bitte durch, damit ich sie holen kann.” In Zeitlupe trat Frau Erlers zur Seite. “Unverschämt! Glauben diese Leute, dass ich die Wohlfahrt bin? Rabatte! Vor Weihnachten! Frau Schmitz, die jungen Menschen wissen einfach nicht mehr, was sich gehört.” Sie sah zu Frau Schmitz hoch: “Was tun Sie da oben?” “Ich bringe einen Haken für einen Lichterkettenvorhang an. Mehr Licht lenkt den Blick der Kunden sofort auf diesen Bereich.” “Einen Lichterkettenvorhang? Frau Schmitz, ich hatte Sie für einfallsreicher gehalten. Das lassen Sie mal schön. Mehr Glitzer und vielleicht diese lustigen lila Bäume vom letzten Jahr, das wäre doch was”, befahl sie und rauschte davon. Frau Schmitz war sprachlos. So eine Behandlung hatte sie nicht mehr erlebt, seit sie vor 22 Jahren in dieser Branche begonnen hatte. Sie war 45 Jahre alt und kein kleines Mädchen mehr! Beruhige dich, dachte sie, noch dieser eine Auftrag und dann hatte sie endlich frei. Weihnachtspause. Sie lächelte. Heute war eigentlich ein guter Tag. Frank kam nach Hause. Drei Wochen war er auf Geschäftsreise gewesen. Sie sehnte sich nach ihrem Mann, ihrer einzigen Familie. Weihnachten war Familienzeit, das hatte sie hier gelernt. Also, schnell wieder weg mit dem Kunstschnee. Sollte Frau Erler doch ihre Kitsch-Deko bekommen. Die Leuchtkugeln tauschte Frau Schmitz gegen dicke, goldene Glaskugeln aus, die so riesig waren, dass sich das gesamte Kaufhaus darin spiegelte. Sie sah, wie die Mutter versuchte, ihre Tochter von den Spielzeugbauernhöfen weg zu lotsen. Das kleine Mädchen zeigte ganz aufgeregt mal auf das eine Regal, dann auf das andere. Offenbar war ein Besuch im Kaufhaus nichts Alltägliches für sie. In Frau Schmitz Hosentasche vibrierte ihr Handy. Sie brauchte einen Moment, um den richtigen Knopf zu finden. Diese modernen Dinger hatten einfach keine Tasten! Frank! “Hallo mein Schatz, bist du noch bei der Arbeit?” fragte er. Er klang weit weg. “Ja, aber in ein paar Stunden bin ich fertig und dann habe ich nur noch Zeit für dich. Morgen früh hole ich die Gans für Heiligabend ab.” “Deswegen rufe ich an. Hier ist etwas dazwischen gekommen, wir liegen ganz schlecht im Zeitplan. Ich werde wohl das Wochenende und die Feiertage durcharbeiten müssen. Aber am 27. bin ich wieder da. Dann holen wir Weihnachten einfach nach.” Frau Schmitz sah aus den Augenwinkeln wie die Mutter ihre Tochter in Richtung Ausgang zog. “Frank, man kann Weihnachten nicht nachholen.” “Schatz, wir reden darüber, wenn ich wieder da bin. Es tut mir wirklich furchtbar leid, aber das geht jetzt vor. Bis nächste Woche also. Ich liebe dich.” “Ja”, war das einzige, was Frau Schmitz noch hervorbrachte, bevor sie auflegte. In der Hand hielt sie noch die goldene Kugel. Sie legte sie auf den Strohballen und griff stattdessen nach einer Prinzessin Bellini und ging zur Kasse. “Sind Sie schon fertig, Frau Schmitz? Das sieht aber alles noch ziemlich wüst aus”, hörte sie Frau Erlers rufen. Ohne sie zu beachten verließ Frau Schmitz das Geschäft. Draußen fielen die ersten Schneeflocken. Ein Glühweinstand verbreitete seine Düfte. Ab und zu wehte der Wind ein paar Töne von “Stille Nacht, heilige Nacht” herüber. So muss Weihnachten sein, dachte Frau Schmitz. Die Tür des Kaufhauses öffnete sich und die junge Mutter und ihre Tochter traten ins Freie. Frau Schmitz beobachtete das Kind einen Moment. Die rosafarbene Mütze rutschte ihr in die Stirn als sie versuchte, sich die Handschuhe überzustreifen. Die Mutter entdeckte Frau Schmitz und senkte rasch den Blick. Jetzt oder nie, dachte Frau Schmitz. Sie trat einen Schritt auf die Frau zu und drückte ihr die Tüte mit der Puppe in die Hand. “Frohe Weihnachten”, sagte sie. Ungläubig öffnete die Mutter die Tüte. “Mami, was hat die Frau dir da gegeben? Zeig doch mal!” “Nur Geschenkpapier, mein Engelchen, nichts Besonderes”, sagte die Frau rasch und stopfte die Tüte in ihre Handtasche. “Danke”, flüsterte sie und ging davon. Frau Schmitz sah ihr nach. Plötzlich ekelte sie der Glühweinduft an. Mit eiskalten Händen zog sie ihr Handy aus der Tasche. “Hallo, Schmitz mein Name, ich würde gerne ein Ticket für den nächsten Flug nach Kabul buchen. Heute um 7, gerne. Ja, die Buchung geht auf den Namen Naima Schmitz. N-A-I-M-A. Schmitz mit -TZ. Danke.” Was Robina wohl sagen würde, wenn sie morgen vor ihrer Tür stand? Nach 22 Jahren. Bild: GG-Berlin / pixelio.de