Unterrichtsmaterialien Ausstellung

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Unterrichtsmaterialien Ausstellung
Maria von Hartmann
Unterrichtsmaterialien
,
»Der Gesang des Todes« - Robert
Musil und der Erste Weltkrieg
Ausstellung
27.02. bis zum 22.06.2014
Galerie des Literaturhauses
Stiftung Buch-, Medien- und
Literaturhaus München
Salvatorplatz 1
80333 München
Tel. 29 19 34 - 14
[email protected]
Leitung:
Dr. Reinhard G. Wittmann
Redaktion:
Maria von Hartmann
München, den 1.2.2014
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
die vorliegenden Unterrichtsmaterialien erscheinen begleitend
zu unserer Ausstellung:
»Der Gesang des Todes« Robert Musil und der Erste Weltkrieg
Die Ausstellung ist vom 27.2. bis zum 22.6.2014
in der Galerie des Münchener Literaturhauses zu sehen.
Die Materialien für Sie umfassen:
1. Robert Musil - Ausgewählte Daten zu Biographie und Werk
2. Tanglefoot - »Das Fliegenpapier« (1936) aus Robert Musils »Nachlaß zu
Lebzeiten«
3. »Europäertum, Krieg, Deutschtum« - Robert Musils erstaunlicher Beitrag zum
Sommererlebnis 1914
4. »Und weißt du, wie das war?« - Die Darstellung des Ersten Weltkriegs
in Robert Musils Erzählung »Die Amsel« (1928)
5. »In der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück« Auszüge aus Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« (1930/1932/1952)
6. Literatur
Ich wünsche Ihnen zu dem herausfordernden Thema interessante Diskussionen mit Ihren
Schülerinnen und Schülern,
Inhaltsverzeichnis
1.
Robert Musil Ausgewählte Daten zu Biographie und Werk
4
2.
Tanglefoot – »Das Fliegenpapier« (1936)
aus Robert Musils »Nachlaß zu Lebzeiten«
16
3.
»Europäertum, Krieg, Deutschtum«
- Robert Musils erstaunlicher Beitrag zum
Sommererlebnis 1914
19
4.
»Und weißt du, wie das war?«
- Die Darstellung des Ersten Weltkriegs
in Robert Musils Erzählung »Die Amsel«
(1928)
23
5.
»In der Geschichte der Menschheit gibt
es kein freiwilliges Zurück« Auszüge aus Robert Musils »Der Mann ohne
Eigenschaften« (1930/1932/1952)
28
6.
Literatur
33
1. Robert
Werk
Musil
–
Ausgewählte
Daten
Robert Musil als Siebenjähriger in Steyr
1880
zu
Leben
und
1
Robert Musil wird am 6. November 1880 als Sohn von Alfred und Hermine Musil in
Klagenfurt, Österreich, geboren. Der Vater ist Ingenieur und Maschinenbauprofessor. Die
Familien der Eltern, die aus den deutsch-böhmischen und tschechisch-mährischen Teilen
des habsburgischen Vielvölkerstaates stammen, weisen eine »Vielzahl an militärischen,
2
technischen und wissenschaftlichen Karrieren« auf - Robert Musils berufliche Laufbahn
wird neben der Schriftstellerei auch diese drei Komponenten beinhalten.
Die Mutter, die einen großen Einfluss auf den Sohn ausübt, hat ein heftiges, leicht
reizbares Temperament. Der Vater ist zurückhaltend und bleibt im Hintergrund: »Nicht der
etwas weiche, wohlwollende Vater, der noch die Rute einweichte, ehe er die von seiner
Gattin angeordnete Strafe an dem Knaben exekutierte, war die dominierende Figur in
Musils Kindheit, sondern die Mutter.«
1
3
Robert-Musil-Literatur-Museum Klagenfurt in: Oliver Pfohlmann, Robert Musil, Hamburg 2012, S.12
2
Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.10 ff
3
Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.13
4
Die Ehe der Eltern beinhaltet eine Art Stillhalteabkommen, denn die Mutter hat neben
ihrem Mann noch einen Hausfreund. Viele Jahre später beschreibt Musil in der Erzählung
Tonka das zusätzliche Familienmitglied als eine[n] jener Onkel, welche die Kinder vorfinden,
wenn sie die Augen aufschlagen.
4
Eifersucht und schillernde Liebesbeziehungen sind
Themen, die Musils ganzes Werk prägen werden.
Der ohne Geschwister aufwachsende Robert ist ein sensibles, nachdenkliches Kind. Er
5
verbringt Stunden damit, in der Melancholie des Zimmers zu brüten. Er sieht sich dabei
6
versetzt in einen anderen Zustand , der Unwirkliches und Mögliches beinhaltet, und sagt
als Erwachsener über sich: Die versenkte Phantasie des stillen Kindes, durchkreuzt von einer
7
gewissen Anlage zum Geschichtenausdenken, ist meine gewesen . Dieser andere Zustand ist
ein weiteres Thema, das Musils ganzes Leben und Schaffen bestimmen wird.
1882
Die Familie zieht nach Steyr. Da es dort kein Gymnasium gibt, geht Robert Musil auf
die Realschule.
1891
Auch in Brünn (Brno), dem Wohnort der Familie ab 1891, muss er trotz
8
ausgezeichneter Leistungen weiterhin die Realschule besuchen. Mit seinem Freund Gustl
Donath – dem Vorbild für die Figur des Walter im Roman Der Mann ohne Eigenschaften,
erkundet der frühreife Knabe die dunklen Seiten der Stadt: »Heimliche Expeditionen
führen in die nächtlichen Vorstädte Brünns, wo sie Arbeiterinnen und Prostituierte
9
beobachten.« Er gesteht später, es immer auf Konfrontation mit seiner Mutter angelegt zu
haben, »kein angenehmer Sohn gewesen zu sein«.
1892
Die Eltern beschließen, den anstrengenden Jungen auf die Militär-Unterrealschule
Eisenstadt zu geben, ein Internat, in dem die Zöglinge auf den Offiziersberuf vorbereitet
10
werden. Eine Mischung aus »Demütigung und Drill, Überwachung und Strafe« erwartet
ihn hier.
1894
Zwei Jahre später wechselt der Dreizehnjährige auf die Militär-Oberrealschule
Mährisch-Weißkirchen (Hranice). Hier erlebt er all das, was er in seinem Erstlingsroman
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) festhalten wird: »Erpressung, Mobbing und
4
Robert Musil, Gesammelte Werke. Band 2, Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen,
Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Hg, Adolf Frisé, Hamburg 1978, S. 282
5
Robert Musil, Transkriptionen & Faksimiles/Nachlass:Hefte, Klagenfurter Ausg. 2009, Heft 33, S. 79
6
Robert Musil, Gesammelte Werke. Band 2, a.a.O. S.1153
7
Robert Musil, Transkriptionen & Faksimiles/Nachlass:Hefte, Klagenfurter Ausg. 2009, Heft 33, S. 77
8
Seine Matura (Abitur) wird er nachträglich erst 1904 in Brünn ablegen.
9
Robert Musil, Transkriptionen & Faksimiles/Nachlass:Hefte, Klagenfurter Ausg. 2009, Heft 33, S. 27f.
10
Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.19
5
schließlich Folter und Vergewaltigung eines des Diebstahls überführten Zöglings durch
11
Kameraden« . Neben dem offiziellen Lehrplan lernt Robschi (der Kosename der Eltern für
den Sohn) mit diesem inoffiziellen Programm auch die »Zusammenhänge von Macht,
Sexualität und Sozialpsychologie« kennen.
12
Musil als Schüler der Militär-Oberrealschule
Mährisch-Weißkirchenmit vierzehn Jahren, 1894
13
@ Robert Musil Literatur Museum, Klagenfurt
1898
Als Musil 1898 ein Ingenieurstudium an der Deutschen Technischen Hochschule in
Berlin beginnt und schon zwei Jahre danach mit Erfolg abschließt, hat er damit dem Beruf
des Offiziers, den der Vater sich ursprünglich für ihn gewünscht hatte, den Rücken gekehrt:
Im Jahr zuvor nämlich, 1897, war Musil zwar als Offiziersanwärter in die Technische
Militärakademie in Wien eingetreten, aber bereits drei Monate später wieder ausgetreten.
Die moderne Welt der Technik begeistert ihn mehr als die Offizierslaufbahn.
Doch auch auf das Wissen aus dem Bereich des Messbaren will sich der Student nicht
beschränken. Er will mit den exakten Methoden die Seele des Menschen erkunden, gemäß
seiner »Überzeugung, mit dem Wissen aus Mathematik, Physik und Mechanik ließe sich
nicht nur die äußere Natur beherrschen, sondern endlich auch jene im Innern des
11
Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.20ff
12
Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.21
13
Robert-Musil-Literatur-Museum Klagenfurt in: Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.20
6
Menschen, deren Unsicherheiten ihm seit Kindheitstagen vertraut waren: die Welt der
Gefühle, Leidenschaften und Moral«.
1901
14
Zwei Stationen folgen noch, bevor Musil erneut einen Richtungswechsel
unternimmt: Von Oktober 1901 bis September 1902 legt er sein Einjährig-Freiwilligenjahr
ab, an dessen Ende er zum Leutnant der Reserve ernannt wird. Anschließend arbeitet der
junge Ingenieur für kurze Zeit als Volontär in einer Materialprüfungsanstalt in Stuttgart.
1903
Im Herbst 1903 nimmt Musil ein neues Studium auf, das ihn dem Inneren des
Menschen näher bringen soll: Er studiert nun Philosophie und Psychologie an der
Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin bei dem österreichischen Physiker und
Wissenschaftstheoretiker Ernst Mach und dem Psychologen Carl Stumpf. Sein
Hauptinteresse gilt dabei der optischen oder räumlichen Inversion (d.h. Umkehrung: man
denke an Vexier- oder Kippbilder, die, je nachdem, wie man sie anschaut, die eine oder
andere Bildform darstellen). Bei dem Philosophen Nietzsche, der einen großen Einfluss auf
Musil ausübt, heißt diese Vorstellung »Umwertung aller Werte«, bei Musil wird sie zur
Idee des anderen Zustandes, des Möglichen, des Vorstellbaren im Kontrast zur wirklichen
15
Welt, wie er in seinem Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften in aller Breite ausführt.
1906
Musil beginnt schon als Kind zu schreiben. Als junger Erwachsener verfasst er
Artikel und Rezensionen für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Seinen Durchbruch
als Schriftsteller hat er mit dem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, an dem er seit
1902 gearbeitet hat.
14
Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.24
15
Vgl. Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.41
7
Cover der Buchausgabe von 2010
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Rowohlt)
1908
Mit der Promotion zum Dr. phil. im November 1908 beschließt Musil seine
akademische Laufbahn. Der Titel seiner Dissertation lautet Beitrag zur Beurteilung der
Lehren Mach’s.
1909
Dieses Jahr bringt den entscheidenden Wendepunkt in Musils Leben, denn mit der
Ablehnung einer Assistentenstelle an der Universität Graz verzichtet er für den Rest seines
Lebens auf die Sicherheit einer bürgerlichen Existenz. Er will nun ausschließlich
Schriftsteller sein – eine Entscheidung, die er in späteren Jahren in Frage stellen wird.
1911
Musil heiratet die Malerin Martha Marcovaldi. Das Paar zieht mit der Tochter
Marthas nach Wien, wo Musil eine durch seinen Vater vermittelte Stelle als Bibliothekar II.
16
Klasse an der Technischen Hochschule Wien annimmt, eine Tätigkeit, die ihm wenig
abverlangt. So hat er genug Zeit, sich auch den Annehmlichkeiten des Lebens zu widmen:
Robert Musil […] ist ein Mann mit sehr vielen Eigenschaften. Er ist gepflegt,
durchtrainiert, seine Schuhe sind die glänzendsten aller Wiener Kaffeehäuser, und
eine Stunde pro Tag stemmt er Hanteln und macht Kniebeugen. Er ist ungeheuer eitel.
8
Aber von ihm geht auch die ruhige Kraft der Selbstdisziplinierung aus. In einem
eigenen kleinen Büchlein notiert er jede einzelne Zigarette, die er raucht […].
17
Im Georg Müller-Verlag in München erscheint, beeinflusst von Sigmund Freuds Studien
über Hysterie (1895), der Erzählband Vereinigungen, der von der Mehrheit der Rezensenten
abgelehnt wird und nicht den erwarteten finanziellen Erfolg bringt. Thomas Manns
Kommentar: Zuviel weibliches Geschlecht.
18
Die Enge von Familie und ungeliebter beruflicher Tätigkeit behagt Musil nicht. Wie in den
Jahren zuvor hat er diverse Affären und sucht nach Möglichkeiten, der Bibliotheksarbeit zu
entkommen: Ich gehe ungefähr seit drei Wochen in die Bibliothek. Unerträglich, mörderisch
(allzu erträglich, solange man dort ist), ich werde wieder austreten und ins Ungewisse
hineinsteuern.
1913
19
Anfang 1913 lässt sich Musil aus dem beruflichen Korsett befreien, denn sein Arzt
diagnostiziert: Er leidet an allgemeiner Neurasthenie schweren Grades unter Mitbeteiligung
20
des Herzens (Herzneurose). Musil nutzt den bibliotheksfreien Sommer, um zu reisen und
Material für seinen Jahrhundertroman Der Mann ohne Eigenschaften zu sammeln und zu
ordnen.
21
17
Florian Illies, 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2012, S.89
18
Zitiert nach Karl Corino, Robert Musil. Eine Biographie, Hamburg 2003, S. 921
19
Robert Musil, Transkriptionen & Faksimiles/Nachlass:Hefte, Klagenfurter Ausg. 2009, Heft 5, S. 51
20
Die »Neurasthenie«, eine um 1900 von vielen beanspruchte Art Modekrankheit, würde man heute
vielleicht als Burnout bezeichnen.
21
Das erste Kapitel des Romans, das die Überschrift Woraus bemerkenswerter Weise nichts
hervorgeht. trägt, beginnt mit diesem Absatz:
Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über
Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich
auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand
in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des
kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen
Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des
Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen
ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine
höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das
Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner
Augusttag des Jahres 1913. In: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften,(1952) Hamburg
1970 (Rowohlt) S.9
9
1914
Musil hat Glück: Der Verleger Samuel Fischer in Berlin lädt ihn dazu ein, bei der
damals wichtigsten Literaturzeitschrift Deutschlands, der Neuen Rundschau, als Redakteur
zu arbeiten. Ab Februar 1914 soll Musil die Zeitschrift, die das Sprachrohr des Naturalismus
und der Literatur der Jahrhundertwende war, der jungen literarischen Avantgarde des
Expressionismus zuführen. Der gut vernetzte Musil ist für Sammelrezensionen und den
Abdruck kürzerer Texte zuständig, in denen er die Werke der neuen Generation präsentiert.
Auch mit dem jungen Franz Kafka tritt er in brieflichen Kontakt, jedoch ohne Erfolg: Kafka
bietet Die Verwandlung an, der Verlag verlangt Kürzungen (!), Kafka zieht das Angebot
zurück.
Nur wenige Monate später, im August 1914, bricht der Erste Weltkrieg aus. Die beteiligten
Nationen - der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn und Deutschland gegen Russland,
England, Frankreich, Italien (und am Kriegsende die USA)
22
- fallen in eine Art
Kriegstaumel. Das gilt größtenteils auch für die geistigen Eliten, mit ihnen sehr viele
deutsche Schriftsteller, die dem Krieg - von dem sie glauben, dass er nur ein paar Monate
lang dauern werde - eine reinigende, klärende Bedeutung zumessen. Zu Beginn des 20.
Jahrhunderts wimmelt es von Welterklärungsmustern und Modernisierungsversuchen,
die
verwirrend
und
unbefriedigend
erscheinen.
Auch
Musil
wird
von
dem
»Sommererlebnis« des Jahres 1914 ergriffen. In seinen Notizen aus dem späteren Schweizer
Exil heißt es:
Ich war 1914 in einer Krise. Die Fortsetzung durch Jugend, die ich bei der »Neuen
Rundschau« sogar fördern sollte, gefiel mir nicht. »Die Vereinigungen«, die Mühe und
der Mißerfolg, lagen mir noch in den Gliedern. […]/ Der Krieg kam wie eine Krankheit,
besser wie das begleitende Fieber, über mich.«
23
22
Genannt sind hier nur die am Ersten Weltkrieg beteiligten Großmächte. (Anm. d. Verf.)
23
Robert Musil, Transkriptionen & Faksimiles/Nachlass:Hefte, Klagenfurter Ausg. 2009, Heft 33, S. 105
10
Titelblatt der Neuen Rundschau, September 1914
24
Für die Septembernummer 1914 der Neuen Rundschau verfasst er den Essay Europäertum,
Krieg, Deutschland, in dem er all die Werte vertritt, die er vorher abgelehnt hat. Der
modern und europäisch denkende Musil spricht sich nun für den Krieg aus – für ihn eine
Möglichkeit, um in den ersehnten anderen Zustand zu geraten. Bereits am 20. August 1914
25
rückt er als Freiwilliger zum Landsturm nach Linz ein. Zunächst wird er in Südtirol zur
Sicherung der Landesgrenze zu Italien stationiert. In dem kleinen Dorf Palai im Fersental
bei Trient findet Musil den Stoff zu seiner Novelle Grigia (1921). Hier wird er fast von einem
Fliegerpfeil getroffen - das ist das ersehnte Todeserlebnis, das ihn in den anderen Zustand
versetzen soll.
24
in: Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.69
11
Musil auf einem Südtiroler Gebirgsweg um 1915
@ Sammlung Karl Corino, Tübingen
1915
Mit dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 wird der Landsturm-Oberleutnant an die
Front an den Fluss Isonzo abgeordnet. und gerät mehrmals in Todesgefahr. Auf Grund
seiner Tapferkeit wird Musil zum Landsturm-Hauptmann befördert und erhält später für
seine Erfolge als Redakteur zweier österreichischer Militärzeitschriften das Ritterkreuz des
Franz-Joseph-Ordens.
Offiziersrunde im Palaier Pfarrhaus, Musil im Bild links
@ Fotoarchiv des Museo della Guerra, Rovereto
In seinen
Tagebuchaufzeichnungen
(den
Heften
aus
dem
von
Martha
Musil
herausgegebenen Nachlass) wie auch in seinem literarischen Opus spielt der Krieg eine
erstaunlich untergeordnete Rolle.
26
Erst 1928, in der Novelle Die Amsel, nimmt Musil ein Kriegserle bnis, bei den er fast von
einem Fliegerpfeil getötet worden wäre, als einen von drei Erzählsträngen auf.
26
Musils Tagebücher beinhalten vornehmlich Skizzen und Material für seine literarischen Werke;
sie sind keine Tagebücher im herkömmlichen Sinne. (Anm. d. Verf.)
12
Auch in seinem Lebenswerk, dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, der den Zeitraum
von 1913 bis zur österreichischen Mobilmachung 1914 umfasst, wird der eigentliche Krieg
nur am Rande gestreift.
Fliegerpfeil aus dem Ersten Weltkrieg
1916
27
Auf Grund einer schweren Erkrankung wird Musil von der Front abgezogen und in
Bozen als Redakteur der Tiroler Soldaten-Zeitung eingesetzt. In dieser Funktion hat er die
Aufgabe, die Kampfmoral der Soldaten zu stärken; er schreibt aber auch durchaus kritische
Artikel, in denen er z.B. den geheuchelten Patriotismus der Kriegsgewinnler und Schieber
28
angreift.
1918
Seit März 1918 leitet Musil im KPQ, dem Kriegspressequartier in Wien, die neue
Soldatenzeitung Heimat. Bis Dezember 1918, also über das Kriegsende hinaus, ist er für das
KQP tätig.
Robert Musil mit seinen Auszeichnungen um 1918
@ Robert Musil Literatur Museum, Klagenfurt
Mit der Nachkriegszeit in Wien beginnt der finanzielle Niedergang der Musils. Die
Privatvermögen von Musils Eltern und Frau sind entwertet. Musil empfindet diesen
27
In: Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.76
28
vgl. Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.77
13
Niedergang als Demütigung. Er übersteht die Hungerjahre nur mit Hilfe von Freunden und
karitativen Einrichtungen:
Ein Fleischhauer mietet ein Zimmer, das ich mir nicht leisten kann. Ich mache mir
nichts daraus. Plötzlich fällt mir auf: Die u n g e h e u r e G e d u l d [,] mit der wir uns
gefallen lassen, aus einer geistigen Oberschicht zu Parias herabgedrückt zu werden.
29
Musil lebt von dem Wiederabdruck früher Prosastücke (Das Fliegenpapier oder Die
Affeninsel; beide erst 1936 im Nachlaß zu Lebzeiten gesammelt herausgegeben) und einer
kleinen Stelle als Archivar im Presseamt des Außenministeriums.
1920
Eine weitere Anstellung sichert ein Zeitlang die Existenz: Musil wird für drei Jahre
Fachbeirat im Österreichischen Staatsamt für Heereswesen.
1921
Musil ist für kurze Zeit als Theaterkritiker für die Prager Presse tätig. Sein eigenes
Theaterstück Die Schwärmer erscheint, wird jedoch trotz guter Kritiken kaum aufgeführt.
In den 1980er Jahren wird es von den Autoren Peter Handke und Botho Strauß neu
geschätzt werden.
1923
Der Autor erhält den Kleist-Preis und wird stellvertretender Vorsitzender des
Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich.
1924
Musils Mutter stirbt, einige Monate später der Vater. Die Erzählungen Drei Frauen
erscheinen bei Musils neuem Verleger Ernst Rowohlt: Grigia (hier verarbeitet Musil seine
Begegnung mit einer Bauersfrau im Fersental in den ersten Tagen des Krieges), Die
Portugiesin (hier thematisiert er an Hand einer im Mittelalter spielenden Liebesgeschichte
seine eigene schwere Kriegserkrankung) und Tonka (diese Liebesgeschichte geht auf
Musils langjährige, schuldbeladene Beziehung zu der Ladenverkäuferin Herma Dietz aus
Brünn zurück).
29
Robert Musil, Transkriptionen & Faksimiles/Nachlass:Hefte, Klagenfurter Ausg. 2009, Heft 8, S. 105
14
Cover Drei Frauen 1990 (Rowohlt)
1928
Musil leidet zunehmend unter Schreibhemmungen. Sein opus magnum, Der Mann
30
ohne Eigenschaften, ist schon seit 1903 in Planung , nimmt aber erst nach 1918 konkretere
Formen an. 1928 unterbricht er die Arbeit daran und schreibt die Novelle Die Amsel (1928),
in der er das schwierige Verhältnis zu seiner vier Jahre zuvor gestorbenen Mutter aufgreift.
Musil erleidet nervöse Zusammenbrüche und Herzattacken.
1930
Der Mann ohne Eigenschaften erscheint: 1930 der erste Teil Band I, 1932 die
Teilfortsetzung Band II/1. Beide zusammen umfassen ca. 1600 Seiten. Der Roman bleibt
unvollendet: ca. 6500 Seiten aus dem Nachlass gibt Martha Musil in Teilen nach dem Tode
ihres Mannes 1943 in einem Band III in der Schweiz heraus.
Für seinen Jahrhundertroman hat sich Musil entschieden, eine Reihe separat geplanter
Romanvorhaben aus den 1920er Jahren zu einem einzigen Buch zusammenzufassen. Diese
Entscheidung sichert ihm zwar posthum den Weltruhm, zerstört aber sein Leben, denn
dieses besteht von 1932 bis zu seinem Tode im Jahre 1942 im Wesentlichen nur noch aus
dem Schreiben und Wiederverwerfen neuer Teile des Romans. Wie ein paar Handschellen
31
hänge der Roman an ihm, schreibt Musil 1940. Da er fast nichts anderes mehr
veröffentlicht, wird er von der literarischen Welt zunehmend vergessen.
32
Der Roman umfasst den Zeitraum von einem schöne[n] Augusttag[…] des Jahres 1913 bis
zur Mobilmachung 1914 im kaiserlich-königlichen Österreich, von Musil spöttisch
Kakanien genannt. Der Held Ulrich – er ist der Mann ohne Eigenschaften und das alter ego
Musils – nimmt sich ein Jahr Zeit, um herauszufinden, wer er ist. An der Seite seiner
30
vgl. Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.104
31
Klagenfurter Ausgabe, 2009, Lesetexte 20 vom 23.12.1940
32
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften,(1952) Hamburg 1970 (Rowohlt) S.9
15
Schwester Agathe »auf einer Wiese im Garten liegend, in einem meditativen Zustand, der
für Ulrich dem seligen Reifen einer Traube in der Herbstsonne gleicht.«
33
findet er
Erfüllung. Die Handlung des Romans ist nebensächlich: Es geht Musil um die Utopie vom
34
hundertprozentigen Sein , eine Existenz im Ausnahmezustand jenseits ausgetretener
bürgerlicher Wege und ohne Wiederholungen, um den anderen Zustand.
Der Roman stellt eine wahre Enzyklopädie der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg dar: » […]
erbaut nicht zuletzt aus Reflexionen und Diskursen über Wirklichkeit und Möglichkeit,
Zurechnungsfähigkeit und Wahnsinn, über Geschichte und Politik, Geld und Genialität,
Mode und Moral, Sport und Sexualität, über den Siegeszug des Rationalismus und
veränderte
Bewusstseinszustände,
sogar
über
unerbittlichen Gesetze der Statistik und Entropie.«
1933
Wahrscheinlichkeitslehre
und
die
35
Von 1931-1933 leben die Musils in Berlin. Mit der Machtergreifung Hitlers 1933
kehren sie nach Wien zurück, wohl auch um Martha, die aus einer jüdischen Familie
kommt, zu schützen. Krankheit, Existenzprobleme und Selbstmordabsichten prägen die
Wiener Zeit.
1935
36
Der Nachlaß zu Lebzeiten (1935) erscheint. Mit dem ironisch gesetzten Titel weist
Musil auf die Tatsache hin, dass er zwar noch lebe, sich aber wie ein bereits Gestorbener
fühle. Der Band enthält nur Texte, die er schon in früheren Jahren geschrieben hat: Das
Fliegenpapier (1913) und Die Affeninsel (1913) sowie weitere Prosaarbeiten aus den 1920er
Jahren.
Die schlechte Pressearbeit des Humanitas-Verlags in Wien - Karl Corino, der
Verfasser der maßgeblichen Musil-Biographie, vermutet Geiz oder Beschränktheit
37
verhindert den Erfolg, zudem wird der Band in Nazideutschland verboten.
33
Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.8
34
Karl Corino, Robert Musil. Eine Biographie, Hamburg 2003, S. 1106
35
Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012 S.109
36
vgl. Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.107
37
Karl Corino, a.a.O. S. 1214
16
Cover Nachlaß zu Lebzeiten 2010 (Rowohlt)
1938
Mit dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich verlassen die Musils Wien
und gehen ins Exil nach Zürich. In Nazideutschland wird Der Mann ohne Eigenschaften für
»unzulässig erklärt«. 1939 übersiedelt das Paar nach Genf.
38
Musil ist inzwischen ohne
Verleger, denn der Rowohlt-Verlag, der ihn jahrelang großzügig unterstützt hat, kämpft
ums Überleben.
1940
Musils gesamtes literarisches Werk wird von den Nationalsozialisten dem
»schädlichen und unerwünschten Schrifttum im III. Reich« zugeordnet. Damit wird dem
Schriftsteller seine Existenzgrundlage endgültig entzogen. Der von der Öffentlichkeit
kaum mehr wahrgenommene Musil ist verbittert, empfindlich und krank. Zu seinem 60.
Geburtstag am 6. November 1940 erhält er ein einziges Gratulationsschreiben: Es sieht aus,
als ob ich schon so gut wie nicht da wäre […]
1941
39
Das Ehepaar Musil zieht in ein kleines Gartenhaus im Chemin des Clochettes 1 in
Genf und verliert dort vollends den Kontakt zur Außenwelt:
Wir wohnen jetzt, wie das Romeo und Julia auf einem Puppentheater tun könnten,
ganz allein in einem ‚turmartigen‘ Gebäude, das vier Puppenzimmer enthält, eine
Puppenküche und ein, merkwürdigerweise erwachsen proportioniertes Bad, das an
Rückenschwimmen erinnert, weil man durchs Dach den blauen Himmel sieht und die
38
vgl. Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.147 f.
39
Klagenfurter Ausgabe, 2009, Lesetexte 20 vom 11.11.1940
17
weißen Wolken, die sehr weiß sind. […] Ich glaube, man bereitet sich hier langsam
darauf vor, ein Engel zu werden und das Leben nur durchs Radio zu hören.
1942
40
Musil stirbt am 15. April 1942 in eben dieser Badewanne. Noch am Vormittag hat er
das berühmte Kapitel Atemzüge eines Sommertags aus dem Mann ohne Eigenschaften fertig
geschrieben, das die Kernaussage des unvollendet gebliebenen Romans enthält.
Aufgabenstellung:
40
1.
Welcher Aspekt von Robert Musils Leben erscheint Ihnen am interessantesten zu sein?
2.
Welche Rolle spielt für Musil der Erste Weltkrieg?
Klagenfurter Ausgabe, 2009, Lesetexte 20 vom 4.5.1941
18
2. Tanglefoot – »Das Fliegenpapier«
Musils »Nachlaß zu Lebzeiten«(1936)
Louis Constantin Werkgruppe Sieben Fliegenfänger (Detail)
aus
Robert
41
Über die Entstehung von Das Fliegenpapier schreibt Musil in seinem Vorwort zu dem
42
Nachlaß aus Lebenszeiten von 1936:
Diese kleinen Arbeiten sind fast alle in den Jahren zwischen 1920 und 29
entstanden und zum erstenmal veröffentlicht worden; aber ein Teil von denen, die im
Inhaltsverzeichnis »Bilder« heißen, geht auf ältere Vormerkungen zurück. So das
»Fliegenpapier«, das unter dem Titel »Römischer Sommer« schon 1913 in einer
Zeitschrift erschienen ist; und auch die »Affeninsel« stammt aus dieser Zeit, was ich
erwähne, weil man diese beiden sonst leicht für erfundene Umschreibungen späterer
Zustände halten könnte. In Wahrheit sind sie eher ein Vorausblick gewesen, getan in
ein Fliegenpapier und in ein Zusammenleben von Affen; aber jedermann werden
solche Weissagungen gelingen, der an kleinen Zügen, wo es sich unachtsam darbietet,
das menschliche Leben beobachtet und sich den »wartenden« Gefühlen überläßt, die
41
Louis Constantin, Fliegen.Flies.Mouches, München 2013 (Eigendruck im Selbstverlag) S.68
42
Robert Musil, Nachlaß zu Lebzeiten (1936), Hamburg 2010, S.8ff
19
bis zu einer Stunde, die sie aufrührt, scheinbar »nichts zu sagen haben« und sich
harmlos in dem ausdrücken, was wir tun und womit wir uns umgeben.
Hier der Text:
Das Fliegenpapier
Das Fliegenpapier Tangle-foot ist ungefähr sechsunddreißig Zentimeter lang
und einundzwanzig Zentimeter breit; es ist mit einem gelben, vergifteten Leim
bestrichen und kommt aus Kanada. Wenn sich eine Fliege darauf niederläßt – nicht
besonders gierig, mehr aus Konvention, weil schon so viele andere da sind – klebt sie
zuerst nur mit den äußersten, umgebogenen Gliedern aller ihrer Beinchen fest. Eine
ganz leise, befremdliche Empfindung, wie wenn wir im Dunkel gingen und mit
nackten Sohlen auf etwas träten, das noch nichts ist als ein weicher, warmer,
unübersichtlicher Widerstand und schon etwas, in das allmählich das grauenhaft
Menschliche hineinflutet, das Erkanntwerden als eine Hand, die da irgendwie liegt
und uns mit fünf immer deutlicher werdenden Fingern festhält.
Dann stehen sie alle forciert aufrecht, wie Tabiker, die sich nichts anmerken
lassen wollen, oder wie klapprige alte Militärs (und ein wenig o-beinig, wie wenn man
auf einem scharfen Grat steht). Sie geben sich Haltung und sammeln Kraft und
Überlegung. Nach wenigen Sekunden sind sie entschlossen und beginnen, was sie
vermögen, zu schwirren und sich abzuheben. Sie führen diese wütende Handlung so
lange durch, bis die Erschöpfung sie zum Einhalten zwingt. Es folgt eine Atempause
und ein neuer Versuch. Aber die Intervalle werden immer länger. Sie stehen da, und ich
fühle, wie ratlos sie sind. Von unten steigen verwirrende Dünste auf. Wie ein kleiner
Hammer tastet ihre Zunge heraus. Ihr Kopf ist braun und haarig, wie aus einer
Kokosnuß gemacht; wie menschenähnliche Negeridole. Sie biegen sich vor und zurück
auf ihren festgeschlungenen Beinchen, beugen sich in den Knien und stemmen sich
empor, wie Menschen es machen, die auf alle Weise versuchen, eine zu schwere Last zu
bewegen; tragischer als Arbeiter es tun, wahrer im sportlichen Ausdruck der äußersten
Anstrengung als Laokoon. Und dann kommt der immer gleich seltsame Augenblick,
wo das Bedürfnis einer gegenwärtigen Sekunde über alle mächtigen Dauergefühle des
Daseins siegt. Es ist der Augenblick, wo ein Kletterer wegen des Schmerzes in den
Fingern freiwillig den Griff der Hand öffnet, wo ein Verirrter im Schnee sich hinlegt wie
ein Kind, wo ein Verfolgter mit brennenden Flanken stehen bleibt. Sie halten sich nicht
mehr mit aller Kraft ab von unten, sie sinken ein wenig ein und sind in diesem
Augenblick ganz menschlich. Sofort werden sie an einer neuen Stelle gefaßt, höher
oben am Bein oder hinten am Leib oder am Ende eines Flügels.
20
Wenn sie die seelische Erschöpfung überwunden haben und nach einer kleinen
Weile den Kampf um ihr Leben wieder aufnehmen, sind sie bereits in einer
ungünstigen Lage fixiert, und ihre Bewegungen werden unnatürlich. Dann liegen sie
mit gestreckten Hinterbeinen auf den Ellbogen gestemmt und suchen sich zu heben.
Oder sie sitzen auf der Erde, aufgebäumt, mit ausgestreckten Armen, wie Frauen, die
vergeblich ihre Hände aus den Fäusten eines Mannes winden wollen. Oder sie liegen
auf dem Bauch, mit Kopf und Armen voraus, wie im Lauf gefallen, und halten nur
noch das Gesicht hoch. Immer aber ist der Feind bloß passiv und gewinnt bloß von
ihren verzweifelten, verwirrten Augenblicken. Ein Nichts, ein Es zieht sie hinein. So
langsam, daß man dem kaum zu folgen vermag, und meist mit einer jähen
Beschleunigung am Ende, wenn der letzte innere Zusammenbruch über sie kommt. Sie
lassen sich dann plötzlich fallen, nach vorne aufs Gesicht, über die Beine weg; oder
seitlich, alle Beine von sich gestreckt; oft auch auf die Seite, mit den Beinen rückwärts
rudernd. So liegen sie da. Wie gestürzte Aeroplane, die mit einem Flügel in die Luft
ragen. Oder wie krepierte Pferde. Oder mit unendlichen Gebärden der Verzweiflung.
Oder wie Schläfer.
Noch am nächsten Tag wacht manchmal eine auf, tastet eine Weile mit einem
Bein oder schwirrt mit dem Flügel. Manchmal geht solch eine Bewegung über das
ganze Feld, dann sinken sie alle noch ein wenig tiefer in ihren Tod. Und nur an der
Seite des Leibs, in der Gegend des Beinansatzes, haben sie irgend ein ganz kleines,
flimmerndes Organ, das lebt noch lange. Es geht auf und zu, man kann es ohne
Vergrößerungsglas nicht bezeichnen, es sieht wie ein winziges Menschenauge aus, das
sich unaufhörlich öffnet und schließt.
43
1.
Aufgabenstellung:
Auf welchen historischen Hintergrund spielt Musil in den ersten Sätzen seines Vorworts an?
2.
[…] aber jedermann werden solche Weissagungen gelingen […] – können Sie sich Situationen
vorstellen, in denen Sie selbst das menschliche Leben auf die von Musil in seinem Vorwort
festgehaltene Weise beobachten, so dass Sie eine Prognose für die Zukunft erstellen können?
3.
Die Firma Tanglefoot mit dem sprechenden Namen (to tangle heißt sich verheddern, sich
verwirren) wurde 1880 in den USA gegründet. Die Fliegenpapiere wurden früher, als man sich der
Fliegen und Mücken im Haus noch nicht mit Insektensprays erwehrte, oft an einer über einem
Tisch hängenden Lampe befestigt. Auf diese Weise konnte man die Insekten, die auf dem süßlich
riechenden Klebstreifen landeten, sehr genau beobachten.
Auch Musil beobachtet sehr genau, wie Sie bestätigen werden. Zitieren Sie Stellen, die den
Realismus in Musils Text erkennen lassen.
43
Robert Musil, Das Fliegenpapier in Nachlaß zu Lebzeiten (1936), Hamburg 2010, S.11-13
21
4.
An welcher Textstelle merken Sie zuerst, dass es hier nicht nur um Fliegen geht? Erklären Sie die
Textstelle im Detail.
5.
Suchen Sie Beispiele für die im ganzen Text am meisten verwendete rhetorische Figur und
analysieren Sie deren Funktion.
6.
Wie verstehen Sie den Schlussabsatz?
Louis Constantin Werkgruppe Sieben Fliegenfänger II
44
44
Louis Constantin, Fliegen.Flies.Mouches, a.a.O. S.67
22
3. »Europäertum, Krieg, Deutschtum« - Robert Musils
erstaunlicher Beitrag zum Sommererlebnis 1914
In seinem Essay Europäertum, Krieg, Deutschtum, der in der Septemberausgabe 1914 der
führenden deutschen Monatsschrift Die neue Rundschau erscheint, begrüßt Musil die
Mobilmachung zu Beginn des Ersten Weltkriegs und entschuldigt sich sogar für die zuvor
von ihm vertretene, den Frieden in Europa beschwörende Haltung. Der modern und
europäisch denkende Musil spricht sich nun für den Krieg aus, er will, seine
Kriegsbereitschaft signalisierend, seinen geänderten Standpunkt darlegen und bevor wir
hinausziehn, unser geistiges Testament in Ordnung […] bringen.
Können wir, die Leser des Jahres 2014, angesichts der 17 Millionen Toten, die der Erste
Weltkrieg bedeutete, eine solche Haltung entschuldigen? Was die Sache nicht besser
macht: Musil war nicht allein mit seiner Reaktion - viele Schriftsteller, oft aus den Reihen
der Expressionisten, schwenkten um. War man einfach nur froh, dass »endlich etwas
passierte«? Oliver Pfohlmann, der Verfasser einer Biographie über Musil, bietet dafür
folgende Erklärung:
Man weiß heute, wie sehr die Begeisterung und Faszination, mit der gerade die
Intellektuellen
die
Mobilmachung begrüßten,
einem kollektiven
Unbehagen
gegenüber den zivilisatorischen Modernisierungsprozessen sowie Erfahrungen von
Sinnverlust und Langeweile geschuldet waren.
Für die meisten Vertreter der künstlerischen Avantgarde war der Krieg ein
kulturrevolutionäres, kathartisches Ereignis. Er sollte die langersehnte Wandlung und
soziale Erneuerung bescheren und der Existenz des Einzelnen wie der zur
Schicksalsgemeinschaft geadelten Gesellschaft neuen Sinn geben.
45
Gerade von einem so differenzierten Denker wie Musil hätte man sich eine solche Haltung
aber nicht erwartet, wie Pfohlmann feststellt: Frappierend ist, wie wenig sein Anspruch an
Reflexion Musil davor bewahrte, in diesen kollektiven Todeschor mit einzustimmen.
46
Doch für Musil bedeutet der Krieg, in den ersehnten anderen Zustand des Möglichen, des
Vorstellbaren, auch der Todesfreude zu geraten. Auch nach 1918,
in seinen
Tagebuchaufzeichnungen aus dem Schweizer Exil, revidiert er seine Haltung nicht:
45
Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.67 ff
46
Oliver Pfohlmann, a.a.O. 2012, S.68
23
Ich war 1914 in einer Krise. Die Fortsetzung durch Jugend, die ich bei der »Neuen
Rundschau« sogar fördern sollte, gefiel mir nicht. »Die Vereinigungen«, die Mühe und
der Mißerfolg, lagen mir noch in den Gliedern. […]/ Der Krieg kam wie eine Krankheit,
besser wie das begleitende Fieber, über mich.«
47
Musils Essay in der Septemberausgabe 1914 der Neuen Rundschau ist im Vergleich zu den
anderen Beiträgen in dieser Nummer in einem eher zurückhaltenden Ton geschrieben.
Gleichwohl ist der Aufsatz ein klarer Appell an die damalige Leserschaft, sich der dem
Krieg innewohnenden Urmacht bedingungslos hinzugeben.
Europäertum, Krieg, Deutschtum
Der Krieg, in andren Zeiten ein Problem, ist heute Tatsache. Viele der Arbeiter
am Geiste haben ihn bekämpft, solange er nicht da war. Viele ihn belächelt. Die
meisten
bei
Nennung
seines
Namens
die
Achseln
gezuckt,
wie
zu
Gespenstergeschichten. Es galt stillschweigend für unmöglich, daß die durch eine
europäische Kultur sich immer enger verbindenden großen Völker heute noch zu
einem Krieg gegeneinander sich hinreißen lassen könnten. Das dem widersprechende
Spiel des Allianzensystems erschien bloß wie eine diplomatisch sportliche
Veranstaltung.
Tagelang, da der phantastische Ausbruch des Hasses wider uns und Neides
ohne unsre Schuld Wirklichkeit geworden war, lag es über vielen Geistern noch wie ein
Traum. Kaum einer, der sein Weltbild, sein inneres Gleichgewicht, seine Vorstellung
von menschlichen Dingen nicht irgendwo entwertet fühlte. Man darf vielleicht gerade
diese Erschütterung, die sich jedem so deutlich einprägte, nicht überschätzen; denn
fühlt einer sein letztes Stündlein in der Nähe, denkt er anders über seine Pläne und
faßt Vorsätze, die auszuführen später keinen Sinn hat, weil man wieder für das Leben
lebt und nicht für den Tod.
Trotzdem bleibt ungeheuer, wie die plötzlich erwiesene Möglichkeit eines
Krieges in unser moralisches Leben von allen Seiten umändernd eingreift, und wenn
heute auch nicht der Zeitpunkt ist, über diese Fragen nachzudenken, wollen wir,
vielleicht auf lange hinaus die letzten Europäer, in ernster Stunde doch auch nicht auf
Wahrheiten bauen, die für uns keine mehr waren, und haben, bevor wir hinausziehn,
unser geistiges Testament in Ordnung zu bringen.
47
Robert Musil, Transkriptionen & Faksimiles/Nachlass:Hefte, Klagenfurter Ausg. 2009, Heft 33, S. 105
24
Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit, - Tugenden dieses
Umkreises sind es, die uns heute stark, weil auf den ersten Anruf bereit machen zu
kämpfen. Wir wollen nicht leugnen, daß diese Tugenden einen Begriff von
Heldenhaftigkeit umschreiben, der in unsrer Kunst und unsren Wünschen eine
geringe Rolle gespielt hat. Teils ohne unsre Schuld, denn wir haben nicht gewußt, wie
schön und brüderlich der Krieg ist, teils mit unsrer Absicht, denn es schwebte uns ein
Ideal des europäischen Menschen vor, das über Staat und Volk hinausging und sich
durch die gegenwärtigen Lebensformen wenig gebunden fühlte, die ihm nicht
genügten.
Ein kleines äußerliches Zeichen dafür war, daß die wertvollsten Geister jeder
Nation meist schon in die Sprache anderer Völker übersetzt wurden, bevor sie in ihrem
eigenen eine breite Wirkung erlangten. Geist war die Angelegenheit einer
oppositionellen europäischen Minderheit und nicht das von dem Willen der
Nachfolgenden getragene und mit Dankbarkeit ermunterte Vorausgehn eines Führers
vor seinem eigenen Volke.
Daß die, welche eine neue Ordnung schauten, wenig Liebe für die bestehende
hatten, lag in der Linie ihrer Aufgaben und Pflichten. Die wertvollen der seelischen
Leistungen aus den letzten dreißig Jahren sind fast alle gegen die herrschende
gesellschaftliche Ordnung und die Gefühle gerichtet, auf die sie sich stützt; selten als
Anklage, sehr oft aber als gleichgültiges Darüberwegschauen zu den Problemen für
vorausgeartete Menschen, als Enthaltung vom Gefühlsurteil und desillusionierende
Konstatierung dessen, was ist.
Das Wenden, Durchblicken und zu diesem Zweck Durchlöchern überkommener,
eingesessener und verläßlicher seelischer Haltungen: es besteht kein Grund zu
verschweigen, daß dies eine der Haupterscheinungen unserer Dichtung war. Dichtung
ist im Innersten der Kampf um eine höhere menschliche Artung; sie ist zu diesem
Zweck Untersuchung des Bestehenden und keine Untersuchung ist etwas wert ohne die
Tugend des kühnen Zweifels. Unsere Dichtung war eine Kehrseitendichtung, eine
Dichtung der Ausnahme von der Regel und oft schon der Ausnahmen von den
Ausnahmen. In ihren stärksten Vertretern. Und sie war gerade dadurch in ihrer Art
von dem gleichen kriegerischen und erobernden Geist belebt, den wir heute in seiner
Urart verwundert und beglückt in uns und um uns fühlen.
Als gieriger mit jeder neuen Stunde Todesfinsternis um unser Land aufzog und
wir, das Volk im Herzen Europas und mit dem Herzen Europas, erkennen mußten, daß
von allen Rändern dieses Weltteils eine Verschwörung herbrach, in der unsre
Ausrottung beschlossen worden war, wurde ein neues Gefühl geboren: - die
25
Grundlagen, die gemeinsamen, über denen wir uns schieden, die wir sonst im Leben
nicht eigens empfanden, waren bedroht, die Welt klaffte in Deutsch und
Widerdeutsch, und eine betäubende Zugehörigkeit riß uns das Herz aus den Händen,
die es vielleicht noch für einen Augenblick des Nachdenkens festhalten wollten. Gewiß,
wir wollen nicht vergessen, daß stets auch die andern das gleiche erleben;
wahrscheinlich sind die, welche drüben unsre Freunde waren, genau so in ihr Volk
hineingerissen, vielleicht vermögen sie sogar das Unrecht ihres Volkes zu
durchschauen und es zieht sie doch mit.
Unsre Skepsis verlangt diese Vorstellungen. Wir wissen nicht, was es ist, das uns
in diesen Augenblicken von ihnen trennt und das wir trotzdem lieben; und doch
fühlen wir gerade darin, wie wir von einer unnennbaren Demut geballt und
eingeschmolzen werden, in der der Einzelne plötzlich wieder nichts ist außerhalb seiner
elementaren Leistung, den Stamm zu schützen. Dieses Gefühl muß immer dagewesen
sein und wurde bloß wach; jeder Versuch, es zu begründen, wäre matt und würde
aussehn, als mußte man sich überreden, während es sich doch um ein Glück handelt,
über allem Ernst um eine ungeheure Sicherheit und Freude.
Der Tod hat keinen Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche
sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich: das ist heute
keine Übertreibung, sondern ein Erlebnis, unüberblickbar, aber so fest zu fühlen wie
ein Ding, eine Urmacht, von der höchstens Liebe ein kleines Splitterchen war.
48
Aufgabenstellung:
1.
Wie rechtfertigt Musil die positive Haltung zum Krieg?
2.
Welche Sätze bzw. Formulierungen zeigen Ihrer Meinung nach die Kriegseuphorie am
deutlichsten?
3.
Musil beginnt seinen Essay mit den Worten:
Es galt stillschweigend für unmöglich, daß die durch eine europäische Kultur sich immer
enger verbindenden großen Völker heute noch zu einem Krieg gegeneinander sich hinreißen
48
Robert Musil, Europäertum, Krieg, Deutschtum (in: Die neue Rundschau, September 1914), in: Adolf
Frisé, hg., Robert Musil. Gesammelte Werke, Bd. 2, Hamburg 1978, S.1020-1022
26
lassen könnten. Das dem widersprechende Spiel des Allianzensystems erschien bloß wie eine
diplomatisch sportliche Veranstaltung.
Schon im nächsten Absatz stellt er seine Einschätzung der Zeit vor 1914 als überholt dar.
Angesichts dieses gedanklichen Umschwungs und der entsetzlichen Folgen, die der Erste Weltkrieg
für Europa hatte, die Gretchenfrage für Sie als junge Europäer: – wie halten Sie es mit der EU? Was
bedeutet die Europäische Union für Sie?
27
4. »Und weißt du, wie das war?« Die Darstellung des
Ersten Weltkriegs in Robert
Musils Erzählung »Die Amsel« (1928)
In Musils Tagebuchaufzeichnungen wie auch seinem gesamten literarischen Werk spielt
das tatsächliche Erleben des Ersten Weltkriegs eine erstaunlich untergeordnete Rolle,
obwohl der Autor, der sich bereits im August 1914 als Freiwilliger zum Kriegseinsatz
gemeldet hat, im Laufe des Krieges mehrmals in Todesgefahr gerät und viel zu erzählen
gehabt hätte.
Ein bestimmtes Kriegserlebnis allerdings – 1915 wird Musil im Fersental bei Trient fast von
einem Fliegerpfeil getroffen – hält er in seinen Tagebuchaufzeichnungen fest, denn für
Musil ist es die ersehnte Begegnung mit dem Tod, die ihn in den anderen Zustand, der
Mögliches und Unwirkliches beinhaltet, führen soll. Musil kommentiert seine »Erhörung«
folgendermaßen:
Nachher sehr angenehmes Gefühl. Befriedigung, es erlebt zu haben. Beinahe Stolz;
aufgenommen in eine Gemeinschaft.
49
50
Erst 1928, in der Erzählung Die Amsel , in der es Musil primär um die Bewältigung der
problematischen Beziehung zu seiner verstorbenen Mutter geht (die tote Mutter erscheint
als Vogel), nimmt er das Erlebnis mit dem Fliegerpfeil als einen von drei Erzählsträngen
auf.
Die Amsel
Die beiden Männer, deren ich erwähnen muß – um drei kleine Geschichten zu
erzählen, bei denen es darauf ankommt, wer sie berichtet – waren Jugendfreunde;
nennen wir sie Aeins und Azwei.
51
Mit diesem Satz beginnt der Erzähler. Er beschreibt den eher materialistisch
ausgerichteten, allem Religiösen abgewandten Lebensentwurf der beiden Jugendfreunde,
die viel zusammen erlebt haben, sich aber nicht mehr besonders nahe stehen.
Anschließend erzählt Azwei seinem Freund drei Geschichten, die alle ein Art mythisches
49
Robert Musil, Transkriptionen & Faksimiles/Nachlass:Hefte, Klagenfurter Ausg. 2009, Heft 1 S. 23
50
Robert Musil, Die Amsel in: Nachlaß zu Lebzeiten (1936), Hamburg 2010, S.131-154
51
Robert Musil, a.a.O. 2010, S.131
28
Erlebnis beinhalten. Der Schluss der Erzählung ist offen. Die erste und dritte Geschichte
werden hier nur zusammengefasst, die zweite Geschichte wird vollständig wiedergegeben.
Erste Geschichte
Die erste Geschichte spielt in einer Nacht in Berlin. Azwei liegt schlaflos neben der von ihm
nicht mehr geliebten Frau und denkt an seine Eltern, zu denen er den Kontakt abgebrochen
hat. In den frühen Morgenstunden hört er den Gesang einer Nachtigall, der ihn in eine Art
Zauberwelt entführt. Er ist bereit an ein übernatürliches Geschehen zu glauben und
möchte ihr folgen. Die Nachtigall fliegt jedoch fort. Azwei sieht sich betrogen und kommt
zu dem Schluss, dass es sich wahrscheinlich nur um eine Amsel, die die Nachtigall nur
imitiert habe, gehalten habe. Trotz dieser Desillusionierung verlässt er seine Frau, denn:
Es hatte mich von irgendwo ein Signal getroffen.
52
Zweite Geschichte
Bevor Azwei seinem skeptischen Freund die zweite Geschichte erzählt, fordert er von ihm
einleitend, weiterhin als vernunftbegabter Mensch wahrgenommen zu werden, auch
wenn das darin geschilderte Erlebnis sehr ungewöhnlich sei: Halte also daran fest, daß
meine Vernunft deiner Aufgeklärtheit nichts nachgeben will. […]
Aber zwei Jahre später befand ich mich in einem Sack, dem toten Winkel einer
Kampflinie in Südtirol, die sich von den blutigen Gräben der Cima di Vezzena an den
Caldonazzo-See zurückbog. Dort lief sie tief im Tal wie eine sonnige Welle über zwei
Hügel mit schönen Namen und stieg auf der andern Seite des Tals wieder empor, um
sich in einem stillen Gebirge zu verlieren. Es war im Oktober; die schwach besetzten
Kampfgräben versanken in Laub, der See brannte lautlos in Blau, die Hügel lagen wie
große welke Kränze da; wie Grabkränze, dachte ich oft, ohne mich vor ihnen zu
fürchten. Zögernd und verteilt floß das Tal um sie; aber jenseits des Striches, den wir
besetzt hielten, entfloh es solcher süßen Zerstreutheit und fuhr wie eine Posaunenstoß,
braun, breit und heroisch, in die feindliche Weite.
In der Nacht bezogen wir mitten darin eine vorgeschobene Stellung. Sie lag so
offen im Tal, daß man uns von oben mit Steinwürfen erschlagen konnte; aber man
52
Robert Musil, a.a.O. 2010, S.139
29
röstete uns bloß an langsamem Artilleriefeuer. Immerhin, am Morgen nach so einer
Nacht hatten alle einen sonderbaren Ausdruck, der sich erst nach einigen Stunden
verlor: die Augen waren vergrößert, und die Köpfe auf den vielen Schultern richteten
sich unregelmäßig auf wie ein niedergetretener Rasen. Trotzdem habe ich in jeder
solchen Nacht oftmals den Kopf über den Grabenrand gehoben und ihn vorsichtig
über die Schulter zurückgedreht wie ein Verliebter: da sah ich dann die Brentagruppe
hell himmelblau, wie aus Glas steif gefältelt, in der Nacht stehen. Und gerade in diesen
Nächten waren die Sterne groß und wie aus Goldpapier gestanzt und flimmerten fett
wie aus Teig gebacken, und der Himmel war noch in der Nacht blau, und die dünne,
mädchenhafte Mondsichel, ganz silbern oder ganz golden, lag auf dem Rücken mitten
darin und schwamm in Entzücken.
Du mußt trachten, dir vorzustellen, wie schön das war; so schön ist nichts im
gesicherten Leben. Dann hielt ich es manchmal nicht aus und kroch vor Glück und
Sehnsucht in der Nacht spazieren; bis zu den goldgrünen schwarzen Bäumen, zwischen
denen ich mich aufrichtete wie eine kleine braungrüne Feder im Gefieder des ruhig
sitzenden, scharfschnäbeligen Vogels Tod, der so zauberisch bunt und schwarz ist, wie
du es nicht gesehen hast.
Tagsüber,
in
der
Hauptstellung,
konnte
man
dagegen
geradezu
spazierenreiten. Auf solchen Plätzen, so man Zeit zum Nachdenken wie zum
Erschrecken hat, lernt man die Gefahr erst kennen. Jeden Tag holt sie sich ihre Opfer,
einen festen Wochendurchschnitt, soundsoviel vom Hundert, und schon die
Generalstabsoffiziere der Division rechnen so unpersönlich damit wie eine
Versicherungsgesellschaft. Übrigens man selbst auch. Man kennt instinktiv seine
Chance und fühlt sich versichert, wenn auch nicht gerade unter günstigen
Bedingungen. Das ist jene merkwürdige Ruhe, die man empfindet, wenn man dauernd
im Feuerbereich lebt. Das muß ich vorausschicken, damit du dir nicht falsche
Vorstellungen von meinem Zustand machst. Freilich kommt es vor, daß man sich
plötzlich getrieben fühlt, nach einem bestimmten bekannten Gesicht zu suchen, das
man noch vor einigen Tagen gesehen hat; aber es ist nicht mehr da. So ein Gesicht
kann dann mehr erschüttern, als vernünftig ist, und lang in der Luft hängen wie ein
Kerzenschimmer. Man hat also weniger Todesfurcht als sonst, aber ist allerhand
Erregungen zugänglicher. Es ist so, als ob die Angst vor dem Ende, die offenbar immer
wie ein Stein auf dem Menschen liegt, weggewälzt worden wäre, und nun blüht in der
unbestimmten Nähe des Todes eine so sonderbare innere Freiheit.
30
Über unsere ruhige Stellung kam einmal mitten in der Zeit ein feindlicher
Flieger. Das geschah nicht oft, weil das Gebirge mit seinen schmalen Luftrinnen
zwischen befestigten Kuppen hoch überflogen werden mußte. Wir standen gerade auf
einem
der
Grabkränze,
und
im
Nu
war
der
Himmel
mit
den
weißen
Schrapnellwölkchen der Batterien betupft wie von einer behenden Puderquaste. Das
sah lustig aus und fast lieblich. Dazu schien die Sonne durch die dreifarbigen
Tragflächen des Flugzeugs, gerade als es hoch über unseren Köpfen fuhr, wie durch ein
Kirchenfenster oder buntes Seidenpapier, und es hätte zu diesem Augenblick nur noch
einer Musik von Mozart bedurft. Mir ging zwar der Gedanke durch den Kopf, daß wir
wie eine Gruppe von Rennbesuchern beisammenstanden und ein gutes Ziel abgaben.
Auch sagte einer von uns: Ihr solltet euch lieber decken! Aber es hatte offenbar keiner
Lust, wie eine Feldmaus in ein Erdloch zu fahren.
In diesem Augenblick hörte ich ein leises Klingen, das sich meinem hingerissen
emporstarrenden Gesicht näherte. Natürlich kann es auch umgekehrt zugegangen
sein, so daß ich zuerst das Klingen hörte und dann erst das Nahen einer Gefahr begriff;
aber im gleichen Augenblick wußte ich auch schon: es ist ein Fliegerpfeil! Das waren
spitze Eisenstäbe, nicht dicker als ein Zimmermannsblei, welche damals die Flugzeuge
aus der Höhe abwarfen; und trafen sie den Schädel, so kamen sie wohl erst bei den
Fußsohlen wieder heraus, aber sie trafen eben nicht oft, und man hat sie bald wieder
aufgegeben.
Darum
war
das
mein
erster
Fliegerpfeil;
aber
Bomben
und
Maschinengewehrschüsse hört man ganz anders, und ich wußte sofort, womit ich es zu
tun hätte. Ich war gespannt, und im nächsten Augenblick hatte ich auch schon das
sonderbare, nicht im Wahrscheinlichen begründete Empfinden: er trifft!
Und weißt du, wie das war? Nicht wie eine schreckende Ahnung, sondern wie
ein noch nie erwartetes Glück! Ich wunderte mich zuerst darüber, daß bloß ich das
Klingen hören sollte. Dann dachte ich, daß der Laut wieder verschwinden werde. Aber
er verschwand nicht. Er näherte sich mir, wenn auch sehr fern, und wurde
perspektivisch größer. Ich sah vorsichtig die Gesichter an, aber niemand nahm ihn
wahr. Und in diesem Augenblick, wo ich inne wurde, daß ich allein diesen feinen
Gesang hörte, stieg ihm etwas aus mir entgegen: ein Lebensstrahl; ebenso unendlich
wie der von oben kommende des Todes. Ich erfinde das nicht, ich suche es so einfach
wie möglich zu beschreiben; ich habe die Überzeugung, daß ich mich physikalisch
nüchtern ausgedrückt habe; freilich weiß ich, daß das bis zu einem Grad wie im Traum
ist, wo man ganz klar zu sprechen wähnt, während die Worte außen wirr sind.
31
Das dauerte eine lange Zeit, während derer nur ich das Geschehen näher
kommen hörte. Es war ein dünner, singender, einfacher hoher Laut, wie wenn der Rand
des Glases zum Tönen gebracht wird; aber es war etwas Unwirkliches daran; das hast
du noch nie gehört, sagte ich mir. Und dieser Laut war auf mich gerichtet; ich war in
Verbindung mit diesem Laut und zweifelte nicht im geringsten daran, daß etwas
Entscheidendes mit mir vor sich gehen wolle. Kein einziger Gedanke in mir war von der
Art, die sich in den Augenblicken des Lebensabschiedes einstellen soll, sondern alles,
was ich empfand, war in die Zukunft gerichtet; und ich muß einfach sagen, ich war
sicher, in der nächsten Minute Gottes Nähe in der Nähe meines Körpers zu fühlen. Das
ist immerhin nicht wenig bei einem Menschen, der seit seinem achten Jahr nicht an
Gott geglaubt hat.
Inzwischen war der Laut von oben körperlicher geworden, er schwoll an und
drohte. Ich hatte mich einigemal gefragt, ob ich warnen solle; aber mochte ich oder ein
anderer getroffen werden, ich wollte es nicht tun! Vielleicht steckte eine verdammte
Eitelkeit in dieser Einbildung, daß da, hoch oben über dem Kampffeld, eine Stimme für
mich singe. Vielleicht ist Gott überhaupt nichts, als daß wir armen Schnorrer in der
Enge unseres Daseins uns eitel brüsten, einen reichen Verwandten im Himmel zu
haben. Ich weiß es nicht. Aber ohne Zweifel hatte nun die Luft auch für die anderen zu
klingen begonnen; ich bemerkte, daß Flecken von Unruhe über ihre Gesichter
huschten, und siehst du – auch keiner von ihnen ließ sich ein Wort entschlüpfen! Ich
sah noch einmal diese Gesichter an: Burschen, denen nichts ferner lag als solche
Gedanken, standen, ohne es zu wissen, wie eine Gruppe von Jüngern da, die eine
Botschaft erwarten.
Und plötzlich war das Singen zu einem irdischen Ton geworden, zehn Fuß,
hundert Fuß über uns, und erstarb. Er, es war da. Mitten zwischen uns, aber mir
zunächst, war etwas verstummt und von der Erde verschluckt worden, war zu einer
unwirklichen Lautlosigkeit zerplatzt. Mein Herz schlug breit und ruhig; ich kann auch
nicht den Bruchteil einer Sekunde erschrocken gewesen sein; es fehlte nicht das
kleinste Zeitteilchen in meinem Leben. Aber das erste, was ich wieder wahrnahm, war,
daß mich alle ansahen. Ich stand am gleichen Fleck, mein Leib aber war wild zur Seite
gerissen worden und hatte eine tiefe, halbkreisförmige Verbeugung ausgeführt. Ich
fühlte, daß ich aus einem Rausch erwache, und wußte nicht, wie lange ich fort gewesen
war.
Niemand sprach mich an; endlich sagte einer: ein Fliegerpfeil! und alle wollten
ihn suchen, aber er stak metertief in der Erde. In diesem Augenblick überströmte mich
ein heißes Dankgefühl, und ich glaube, daß ich am ganzen Körper errötete. Wenn einer
32
da gesagt hätte, Gott sei in meinen Leib gefahren, ich hätte nicht gelacht. Ich hätte es
aber auch nicht geglaubt. Nicht einmal, daß ich einen Splitter von ihm davontrug,
hätte ich geglaubt. Und trotzdem, jedesmal, wenn ich mich daran erinnere, möchte ich
etwas von dieser Art noch einmal deutlicher erleben!
53
Dritte Geschichte
Azwei erzählt nun die dritte Geschichte, in der er etwas von dieser Art […], aber nicht
deutlicher erlebt. Seine Mutter stirbt, ohne dass er sie noch einmal gesehen hat. Er kehrt in
das Haus seiner Kindheit zurück, bezieht dort das alte Zimmer und versinkt in seinen
Kinderbüchern. In der Nacht besucht ihn die Amsel ein weiteres Mal und behauptet, seine
Mutter zu sein. Azwei behält den Vogel, hegt und pflegt ihn. Das Ende der dritten
Geschichte bleibt offen.
Auf den Einwurf von Aeins, Azwei habe doch angedeutet, dass alle drei Geschichten einen
gemeinsamen Sinn hätten, antwortet Azwei – und das ist das Ende der ganzen Erzählung:
Du lieber Himmel, - widersprach Azwei - es hat sich eben alles so ereignet; und
wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist,
wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!
54
Aufgabenstellung:
1.
Fassen Sie die Handlung der zweiten Geschichte kurz zusammen.
2.
Wie beschreibt der Erzähler die Kampflinie?
3.
Gesichertes Leben und scharfschnäbeliger Vogel Tod – wie stellt Musil diese beiden Gegensätze
einander gegenüber?
4.
Welche paradoxe Empfindung hat der Erzähler, als der Fliegerpfeil sich nähert?
5.
Warum möchte Azwei etwas von dieser Art noch deutlicher erleben ?
6.
Legen Sie Ihre Meinung zu der ganzen Geschichte dar.
53
Robert Musil, a.a.O. 2010, S.140-146
54
Robert Musil, a.a.O. 2010, S.154
33
5. »In der Geschichte der Menschheit gibt es kein
freiwilliges Zurück« - Auszüge aus Robert Musils »Der
Mann ohne Eigenschaften« (1930/1932/1952)
55
Der Roman umfasst den Zeitraum von einem schöne[n] Augusttag[…] des Jahres 1913 bis zur
Mobilmachung 1914 im kaiserlich-königlichen Österreich., das Musil spöttisch als Kakanien
56
bezeichnet. In den nachgelassenen Fragmenten zu seinem unvollendet gebliebenen
Roman richtet sich Musil an die Jugend:
Ich widme diesen Roman der deutschen Jugend. Nicht der von heute – geistige
Leere nach dem Krieg – ganz amüsante Schwindler -, sondern der, welche in einiger
Zeit kommen wird und genau dort wird anfangen müssen, wo wir vor dem Krieg
aufgehört haben und dergleichen (darauf beruht auch die Berechtigung, heute einen
Vorkriegsroman zu schreiben!!)
Dieser Roman spielt vor 1914, zu einer Zeit also, welche junge Menschen gar
nicht mehr kennen. Und er beschreibt nicht diese Zeit, wie sie wirklich war, so daß man
sie daraus kennenlernen könnte. Sondern er beschreibt sie, wie sie sich in einem
unmaßgeblichen Menschen spiegelt.
57
Dieser unmaßgebliche Mensch heißt Ulrich. Musils Held –- er ist der Mann ohne
Eigenschaften und das alter ego Musils – nimmt sich ein Jahr Zeit, um herauszufinden,
wer er eigentlich ist.
In dieses Jahr fällt Ulrichs Tätigkeit als Sekretär der sogenannten Parallelaktion: Für das
Jahr 1918, in dem zwei große Ereignisse parallel stattfinden werden - nämlich das
30jährige Regierungsjubiläum des deutschen Kaiser Wilhelms II. und das 70jährige
58
Jubiläum der Thronbesteigung Franz Josephs I., des österreichischen Kaisers , plant man in
55
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, (1952) Hamburg 1970, S.9 (Rowohlt Verlag)
56
Robert Musil, a.a.O. 1970, Nachgelassene Fragmente S.1585 ff
57
Robert Musil, a.a.O. 1970, 4. Gedanken zu einem Vorwort, S. 1597
58
Keines der Jubiläen fand in der Realität statt, denn Kaiser Franz Joseph I. verstarb schon 1916 und
Kaiser Wilhelm II. wurde 1918 nicht mehr gefeiert. (Anm. d. Verf.)
34
Wien eine große vaterländische Friedensaktion, mit der man den Deutschen die Schau
stehlen will.
Die folgenden Textausschnitte vermitteln einen faszinierenden Eindruck von der
Stimmung und dem Zeitgeist der Moderne im Europa des Jahres 1913:
1. Patriotismus
Patriotismus war in Österreich ein ganz besonderer Gegenstand. Denn deutsche Kinder
lernten einfach die Kriege der österreichischen Kinder verachten, und man brachte ihnen
bei, daß die französischen Kinder die Enkel von entnervten Wüstlingen seien, die zu
Tausenden davonlaufen, wenn ein deutscher Landmann auf ihn zugeht, der einen großen
Vollbart hat. Und mit vertauschten Rollen sowie wünschenswerten Änderungen lernten
ganz das gleiche die auch oft siegreich gewesenen französischen, russischen und
englischen Kinder. Nun sind Kinder Aufschneider, lieben das Spiel Räuber und Gendarm
und sind jederzeit bereit, die Familie Y aus der Großen X-Gasse, wenn sie ihr zufällig
angehören, für die größte Familie der Welt zu halten. Sie sind also leicht für den
Patriotismus zu gewinnen. In Österreich aber war das ein wenig verwickelter. Denn die
Österreicher hatten in allen Kriegen ihrer Geschichte zwar auch gesiegt, aber nach den
meisten dieser Kriege hatten sie irgend etwas abtreten müssen. (Erstes Buch, Erster Teil,
Kapitel 5 , Ulrich) 59
2. Mathematik und Moderne
[…] alle Leute, die von der Seele etwas verstehen müssen, […] bezeugen es, daß sie von der
Mathematik ruiniert worden sei und daß die Mathematik die Quelle eines bösen
Verstandes bilde, der den Menschen zwar zum Herrn der Erde, aber zum Sklaven der
Maschine mache. Die innere Dürre, die ungeheuerliche Mischung von Schärfe im
Einzelnen und Gleichgültigkeit im Ganzen, das ungeheure Verlassensein des Menschen in
einer Wüste von Einzelheiten, seine Unruhe, Bosheit, Herzensgleichgültigkeit
ohnegleichen, Geldsucht, Kälte und Gewalttätigkeit, wie sie unsre Zeit kennzeichnen,
59
Robert Musil, a.a.O. 1970, S.18
35
sollen nach diesen Berichten einzig und allein die Folge der Verluste sein, die ein logisch
scharfes Denken der Seele zufügt!
Und so hat es auch schon damals, als Ulrich Mathematiker wurde, Leute gegeben, die den
Zusammenbruch der europäischen Kultur voraussagten, weil kein Glaube, keine Liebe,
keine Einfalt, keine Güte mehr im Menschen wohne, und bezeichnenderweise sind sie alle
in ihrer Jugend- und Schulzeit schlechte Mathematiker gewesen. Damit war später für sie
bewiesen, daß die Mathematik, Mutter der exakten Naturwissenschaft, Großmutter der
Technik, auch Erzmutter jenes Geistes ist, aus dem schließlich Giftgase und Kampfflieger
aufgestiegen sind. (Erstes Buch Erster Teil, Kapitel 11 Der wichtigste Versuch) 60
3. Eigendynamik von Systemen
Ein Apparat war da, und weil er da war, mußte er arbeiten, und weil er arbeitete, begann
er zu laufen, und wenn ein Automobil in einem weiten Feld zu laufen beginnt, und es säße
selbst niemand am Steuer, so wird es doch einen bestimmten, sogar sehr eindrucksvollen
und besonderen Weg zurücklegen. (Erstes Buch, Zweiter Teil, Kapitel 56 Lebhafte Arbeit in den
Ausschüssen der Parallelaktion […]) 61
»Lieber Doktor,« sagte er, »in der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges
Zurück!« (Erstes Buch, Zweiter Teil, Kapitel 58, Die Parallelaktion erregt Bedenken. In der
Geschichte der Menschheit gib es aber kein freiwilliges Zurück) 62
4. Krieg
War eigentlich Balkankrieg oder nicht? Irgendeine Intervention fand wohl statt; aber ob
das Krieg war, er wußte es nicht genau. Es bewegten so viele Dinge die Menschheit. Der
Höhenflugrekord war wieder gehoben worden; eine stolze Sache. […] Der Präsident von
Frankreich fuhr nach Rußland; man sprach von Gefährdung des Weltfriedens. Ein
neuentdeckter Tenor verdiente in Südamerika Summen, die selbst in Nordamerika noch
nie dagewesen waren. Ein fürchterliches Erdbeben hatte Japan heimgesucht; die armen
60
Robert Musil, a.a.O. 1970, S.40
61
Robert Musil, a.a.O. 1970, S.224
62
Robert Musil, a.a.O. 1970, S.233
36
Japaner. Mit einem Wort, es geschah viel, es war eine bewegte Zeit, die um Ende 1913 und
Anfang 1914. Aber auch die Zeit zwei oder fünf Jahre vorher war eine bewegte Zeit gewesen
[…]. (Erstes Buch, Zweiter Teil, Kapitel 83, Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht
Geschichte?) 63
Es darf vorausgesetzt werden, daß das Wort ‚Der Herd des Weltkriegs‘, seit es diesen
Gegenstand gibt, zwar oft benützt worden ist, stets jedoch mit einer gewissen
Ungenauigkeit in der Frage, wo dieser Gegenstand seinen Platz habe. Ältere Leute, die
noch persönliche Erinnerungen an diese Zeit besitzen, denken da wohl an Sarajewo, doch
fühlen sie selbst, daß diese kleine bosnische Stadt bloß das Ofenloch gewesen sein kann,
durch das der Wind einfuhr. Gebildete Leute werden ihre Gedanken auf die politischen
Knotenpunkte und Welthauptstädte richten. Noch höher Gebildete dürften mit Sicherheit
außerdem die Namen von Essen, Creuzot, Pilsen und der übrigen Zentren der
Waffenindustrie im Gedächtnis haben. Und ganz Gebildete werden dem etwas aus der
Petroleum-, Kali- und sonstigen Gütergeographie hinzufügen, denn so hat man es oft
gelesen. Aus all dem folgt aber bloß, daß der Herd des Weltkriegs kein gewöhnlicher Herd
gewesen ist, denn er stand an mehreren Orten gleichzeitig. « (Schluss des dritten Teils und
vierter Teil. Aus dem Nachlaß, Kap. 125, Eine Einschaltung über Kakanien. Der Herd des Weltkriegs
ist auch der Geburtsort des Dichters Feuermaul (Fragment)) 64
5. Sehnsucht nach einem Messias
[Die Menschen waren] schließlich überzeugt, daß die Zeit, in der sie lebten, zu seelischer
Unfruchtbarkeit bestimmt sei und nur durch ein besonderes Ereignis oder einen ganz
besonderen Menschen davon erlöst werden könne. Auf diese Weise entstand damals unter
den sogenannten intellektuellen Menschen die Beliebtheit der Wortgruppe Erlösung. Man
war überzeugt, daß es nicht mehr weitergehe, wenn nicht bald ein Messias komme. Das
war je nachdem ein Messias der Medizin, der die Heilkunde von den gelehrten
Untersuchungen erlösen sollte, während deren die Menschen ohne Hilfe krank werden
und sterben; oder ein Messias der Dichtung, der imstande sein sollte, ein Drama zu
schreiben, das Millionen Menschen in die Theater reißen und dabei von
63
Robert Musil, a.a.O. 1970, S.359
64
Robert Musil, a.a.O. 1970, S.1567
37
voraussetzungslosester geistiger Hoheit sein sollte: und außer dieser Überzeugung, daß
eigentlich jede einzelne menschliche Tätigkeit nur durch einen besonderen Messias sich
selbst wieder zurückgegeben werden könne, gab es natürlich auch noch das einfache und
in jeder Weise unzerfaserte Verlangen nach einem Messias der starken Hand für das
Ganze. So war es eine recht messianische Zeit, die damals kurz vor dem großen Kriege, und
wenn selbst ganze Nationen erlöst werden wollten, so bedeutete das eigentlich nichts
Besonderes und Ungewöhnliches. (Erstes Buch, Zweiter Teil, Kapitel 108, Die unerlösten
Nationen und General Stumms Gedanken über die Wortgruppe Erlösen) 65
6. Diplomatie
Tuzzi sprach. […]»Ich vermag nicht zu beurteilen, ob große menschliche und künstlerische
Leistungen heute nicht vorhanden seien; aber das eine darf ich behaupten, daß nirgends
die Außenpolitik so schwierig ist wie bei uns. Es läßt sich einigermaßen voraussehen, daß
die Politik der Franzosen auch im Jubiläumsjahr von den Gedanken der Revanche und des
Kolonialbesitzes geleitet sein wird, die der Engländer von ihrem Bauernschach auf dem
Weltbrett, wie man die Art ihres Vorgehens genannt hat, endlich die der Deutschen von
dem, was sie in einer nicht immer eindeutigen Weise ihren Platz an der Sonne nennen:
aber unsere alte Monarchie ist bedürfnislos, und darum weiß kein Mensch vorher, zu
welchen Auffassungen wir bis dahin gezwungen werden können! […] Wer darf sich heute
[…] denn überhaupt trauen, große politische Ideen zu verwirklichen?! Er müßte ein Stück
Verbrecher und Bankerotteur in sich haben! Das wollen Sie doch nicht? Diplomatie ist
dazu da, um zu konservieren«.
»Das Konservieren führt zum Krieg« erwiderte Arnheim.(Erstes Buch, Zweiter Teil, Kapitel
116, Die beiden Bäume des Lebens und die Forderung eines Generalsekretariats der Genauigkeit und
Seele) 66
7. Spionage
»Das Referat ‚D‘ ist mir außerdem in allen Ehren abgenommen worden. Der Minister hat
mich rufen lassen, um mir selbst mitzuteilen, daß es notwendig ist, weil der Chef des
65
Robert Musil, a.a.O. 1970, S.519 ff
66
Robert Musil, a.a.O. 1970, S.594 ff
38
Generalstabs eine persönliche Berichterstattung über den Weltfriedenskongreß verlangt;
und darum haben sie gleich das Ganze aus dem Militärbildungswesen herausgenommen
und der
Nachrichtenabteilung des Evidenzbüros angegliedert – « »Der Spionage-Abteilung?!«
warf Ulrich ein […] (Schluss des dritten Teils und vierter Teil. Aus dem Nachlaß, Kap. 72, Die
Referate D und L) 67 S. 1268
8. Demokratieverständnis eines Nietzschejüngers
Ulrich wollte Meingast noch einmal sehen; dieser Adler, der sich aus Zarathustras Bergen
in das Familienleben von Walter und Clarisse gesenkt hatte, machte ihn neugierig. […]
»Die materialistische Geschichtsauffassung erzieht zur Passivität! […] Die Demokratie
erzieht weder Denker noch Tatmenschen, sondern Schwätzer. Fragen Sie sich doch, was die
kennzeichnenden Schöpfungen der Demokratie sind? Das Parlament und die Zeitung!
Welch ein Einfall, « rief Meingast aus »aus der ganzen verachteten bürgerlichen Ideenwelt
gerade die lächerlichste Idee, die der Demokratie zu übernehmen! […] Eine neue
Ordnung, Gliederung, Kraftzusammenfassung tut not; das ist richtig. Der pseudoheroische
Individualismus und Liberalismus hat abgewirtschaftet; das ist richtig. Die Masse kommt;
das ist richtig. Aber: ihre Zusammenstellung muß groß, hart und zeugungskräftig sein! «
(Schluss des dritten Teils und vierter Teil. Aus dem Nachlaß, Kap. 82, Schmeißer und Meingast) 68
Aufgabenstellung:
1.
Lesen Sie alle acht Textausschnitte und suchen Sie sich dann einen davon zur Bearbeitung aus. Fassen
Sie zusammen, was gesagt wird und wie es gesagt wird.
2.
Wie stehen Sie zu der Aussage des von Ihnen gewählten Ausschnitts?
Beachten Sie, dass verschiedene Personen sprechen.
67
Robert Musil, a.a.O. 1970, S.1268
68
Robert Musil, a.a.O. 1970, S.1339 ff
39
40
5. Literatur
Primärliteratur
Musil, Robert, Das Fliegenpapier, in Nachlaß zu Lebzeiten (1936), Hamburg 2010 (Rowohlt)
Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, (1952), Hamburg 1970 (Rowohlt)
Musil, Robert, Die Amsel in: Nachlaß zu Lebzeiten (1936), Hamburg 2010 (Rowohlt)
Musil, Robert, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, (1906), Hamburg 2008 (Rowohlt)
Musil, Robert, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Mit einem Kommentar von Oliver
Pfohlmann, Frankfurt a. M. 2013 (Suhrkamp BasisBibliothek)
Musil Robert, Drei Frauen, (1924), Hamburg 1990 (Rowohlt)
Musil, Robert, Europäertum, Krieg, Deutschtum (in: Die neue Rundschau, September 1914),
in: Adolf Frisé, hg., Robert Musil. Gesammelte Werke, Bd. 2, Hamburg 1978 (Rowohlt)
Musil, Robert, Gesammelte Werke. Band 2, Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen,
Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Hg. Adolf Frisé, Hamburg 1978 (Rowohlt)
Musil, Robert, Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe
und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg.
von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt: Robert-Musil-Institut der
Universität Klagenfurt. DVD-Version 2009
Musil, Robert, Klagenfurter Ausgabe, DVD 2009, Lesetexte 20
Musil, Robert, Klagenfurter Ausgabe, DVD 2009, Transkriptionen &
Faksimiles/Nachlass:Hefte, Hefte 1, 5, 8, 33
Musil, Robert, Nachlaß zu Lebzeiten (1936), Hamburg 2010 (Rowohlt)
Sekundärliteratur
Corino, Karl, Robert Musil. Eine Biographie, Hamburg 2003
41
Illies, Florian, 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2012
Pfohlmann, Oliver, Robert Musil, Hamburg 2012
Aufsätze
Giovannini, Elena, Der Parallelkrieg. Zu Musils Arbeit in der ‚Soldatenzeitung‘. In: MusilForum 13/14 (1987/88), S. 88-99
Schaunig, Regina, ‚Viribus unitis‘ – Robert Musils Schreiben in kollektiver Anonymität, In:
Musil-Forum 31 (2009/2010), S. 202-223
Internetadressen
Musil-Gesellschaft, http://www.musilgesellchaft.at/musilforum_online.htm
Musil-Gesellschaft, Bibliographien 1994-2011,
http://www.musilgesellschaft.at/texte/musilforum%20online/MusilBibliographie%201994-2011.pdf
Bildnachweise
S. 4 Robert-Musil-Literatur-Museum Klagenfurt in: Oliver Pfohlmann, Robert Musil, Hamburg 2012,
S. 12
S. 9 in: Oliver Pfohlmann, Robert Musik, Hamburg 2012, S.69
S. 11 in: Oliver Pfohlmann, Robert Musik, Hamburg 2012, S.76
S. 16 Constantin, Louis, Fliegen.Flies.Mouches, München 2013 (Eigendruck im Selbstverlag) S.68
S. 18 Constantin, Louis, Fliegen.Flies.Mouches, München 2013 (Eigendruck im Selbstverlag) S.67
© Maria von Hartmann 2014
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