Theoretische Grundlagen
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Theoretische Grundlagen
Für Nicola 5 6 Inhaltsverzeichnis Vorwort 9 1. Einleitung 11 2. Methodologische Vorbemerkung: Sozial- und kulturwissenschaftlicher Rekonstruktivismus als Ansatz zur Erforschung der Auslandsberichterstattung 15 Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien 24 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3 3.2.3 3.2.3.1 3.2.3.2 3.2.3.3 3.2.3.4 Bilder – Frames – Diskurse – Auslandsbild: Grundlagen der internationalen Perzeption und Kommunikation Nationen-, Völker- und Kulturbilder: Perzeption unter den Bedingungen geokultureller Distanz Die Grenzen der Stereotypenforschung und die basalen Einheiten der Kommunikation Internationale und interkulturelle Darstellungsprozesse in Massenmedien Die Struktur des Auslandsbildes der Massenmedien Die Nachrichtendefinition als Entwicklungsproblem des globalen Informationsflusses Strukturtheoreme und Nachrichtenfaktoren der Auslandsberichterstattung Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung (theoretische Mikroebene): der Journalist im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß Politische Sozialisation: Persönliche Wahrnehmungen und Ideologien als Einflußgröße der Auslandsberichterstattung Berufliche Sozialisation: Rollenmodelle der Auslandsberichterstattung Journalistische Verhaltenskodizes und internationale Berichterstattung Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung (theoretische Mesoebene): Die Medienorganisation im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß Informationelle Rahmenbedingungen der Auslandsberichterstattung Entscheidungshandeln und Steuerung der Auslandsberichterstattung durch externe Informationsgeber Redaktionelle Entscheidungsprogramme und Auslandsberichterstattung Entscheidungshandeln und soziale Beziehungen in der Auslandsberichterstattung 35 35 45 51 51 51 56 72 73 77 86 88 91 94 101 104 7 3.2.4 3.2.4.1 3.2.4.1.1 3.2.4.1.2 3.2.4.1.3 3.2.4.2 3.2.4.2.1 3.2.4.2.2 3.2.4.2.3 3.2.4.3 3.2.4.3.1 3.2.4.3.2 3.2.4.4 3.2.4.4.1 3.2.4.4.2 3.2.4.5 3.2.4.5.1 3.2.4.5.2 3.2.4.5.3 Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung (theoretische Makroebene): Medien, Politik und Gesellschaft im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß der Medien Mediale Thematisierung und öffentliche Themenstrukturierung in der Auslandsberichterstattung Themenagenden als Strukturelemente des medialen Auslandsbildes Entstehungsbedingungen medialer Themenagenden im Kontext des gesellschaftlichen Auslandsdiskurses Gesellschaftliches Wirkungspotential der Auslandsberichterstattung Auslandsberichterstattung, Politik und Gesellschaft: nationale und internationale Systembedingungen Medien und Gesellschaftssystem: eine systemtheoretische Betrachtung Auslandsberichterstattung und nationale Systembeziehungen Auslandsberichterstattung und internationale Systembeziehungen Innergesellschaftliche Anschlußkommunikationen der Auslandsberichterstattung: eine Synopse aus Mediennutzungs- und politikwissenschaftlicher Linkage-Forschung Übergreifende Themenfelder des Inlands- und Auslandsgeschehens Inhaltliche Einflüsse interner Anschlußdiskurse auf die Auslandsberichterstattung Die Massenmedien in internationalen Krisen und Konflikten Wirkungspotentiale der Medien in internationalen Konflikten Rollenmodelle der medialen Konfliktkommunikation Transkulturelle Kommunikation: Der Journalist als „Sinn-Übersetzer“ zwischen den Kulturen Auslandsberichterstattung und „kulturelle Übersetzung“ – die Inhaltsebene Auslandsberichterstattung und globale Interaktion – die Beziehungsebene Auslandsberichterstattung und multikulturelle Gesellschaft 108 109 110 111 118 123 124 130 134 137 140 146 151 152 157 163 164 171 175 Zusammenfassung 178 Literaturverzeichnis (Bd. 1) 189 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis (Bd. 1) 211 8 Vorwort Die vorliegende Arbeit widmet sich der Untersuchung von Strukturen, Entstehungsbedingungen und gesellschaftlichen Wirkungspotentialen des Nahost- und Islambildes in der überregionalen Presse der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus soll ein Beitrag zur theoretischen wie methodischen Erforschung internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien geleistet werden. Die Empirie konzentriert sich auf die großen deutschen Pressemedien im Zeitraum 1946/5594. Theorie und Methodik streben relative Eigenständigkeit als Grundlagen zur Untersuchung von Medieninhalten der Auslandsberichterstattung unterschiedlicher Mediensysteme und geographischer Ausrichtung an. Die Arbeit ist in zwei Bände unterteilt: Band 1 beschäftigt sich nach einigen methodologischen Vorbemerkungen mit der Theorie der Auslandsberichterstattung (Kap. 3); Band 2 beinhaltet sowohl eine quantitative Langzeitstudie (Kap. 5) wie auch qualitative Falluntersuchungen (Kap. 6) zum Nahost- und Islambild in der deutschen überregionalen Presse. Die Habilitationsschrift des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Universität Hamburg (Institut für Politische Wissenschaft) ist aus einem von der VolkswagenStiftung begründeten Forschungsprojekt (1995-97) hervorgegangen und durch ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt worden (1998-2000). Mein besonderer Dank gilt meinen Förderern Prof. Dr. Udo Steinbach, Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg, und Prof. Dr. Hans J. Kleinsteuber vom Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg, die das Projekt seit Mitte der neunziger Jahre mit unermüdlicher Energie begleitet haben. Für ihre vielfältige Ünterstützung möchte ich mich außerdem herzlich bedanken bei: Prof. Dr. Dieter Roß (Institut für Journalistik, Universität Hamburg), Prof. Dr. Gernot Rotter (Seminar für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients, Universität Hamburg), Prof. Dr. Rainer Tetzlaff (Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg) und Dr. Ralph Weiß (Hans-Bredow-Institut für Rundfunk und Fernsehen, Hamburg). Besonderer Dank gilt auch meinen engagierten und akribischen Kodierern Matthias Neureiter und Holger Scheel sowie Dr. Dieter Ludwig von der Staatsbibliothek in Hamburg. Mein Bruder Dan Lohmeyer hat unermüdlich Korrektur gelesen. Frau Barbara Kuhnert (Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart) und dem Presse- und Informtionsamt der Bundesregierung verdanke ich es, daß ich in den letzten Jahren als wissenschaftlicher Berater, Programmgestalter und Referent in zahlreichen Zusammenhängen Gelegenheit hatte, Ergebnisse meiner Forschungsarbeit im politischen Raum publik zu machen. Bundespräsident Johannes Rau und seine Mitarbeiter gaben mir die Gelegenheit, als Leiter der internationalen Konferenz 9 "The Ethics of Journalism – Comparison and Transformations in the IslamicWestern Context" im Schloß Bellevue (Berlin, 29.-30. März 2001) einen Beitrag zum Dialog zwischen der islamischen und der westlichen Welt zu leisten. Den Kollegen des Deutschen Orient-Instituts danke ich für Ihre Unterstützung und meinen zahlreichen Studenten an der Universität Hamburg dafür, daß sie mir die Lust an der Sache erhalten. Kai Hafez 10 1. Einleitung Internationale und interkulturelle Darstellungsprozesse in Massenmedien befinden sich am Kreuzweg zweier großer Paradigmen der Gegenwart, der „Globalisierung“ und dem „Zusammenprall der Kulturen“ ("clash of civilizations"). Während die Globalisierungsthese in der Nachfolge Marshall MacLuhans ("global village") die Massenmedien als Vermittler und Generatoren von Weltwissen mit systemverbindendem und kulturharmonisierendem Charakter begreift, geht die von Samuel Huntington geprägte kulturpessimistische These von einem wachsenden Konfliktpotential zwischen den großen Weltkulturen und insbesondere zwischen der islamischen Welt und dem Westen aus. Beide Paradigmen sind zwar vielfältig im Hinblick auf die Zukunft der internationalen Beziehungen diskutiert worden, jedoch bisher nicht in integrierter Weise, so daß weder Wechselwirkungen noch mögliche Widersprüche zwischen den Grundannahmen aufgedeckt worden sind. So ist beispielsweise zu untersuchen, wie Medien eine globalisierende Wirkung in Richtung auf die Angleichung von Werten, politischen Kulturen und Lebensstilen entfalten können sollen, wenn zugleich angenommen wird, daß sowohl Produzenten als auch Konsumenten der Auslandsberichterstattung in Hochindustriestaaten wie in Entwicklungsländern noch in kultur-differentialistischen Wahrnehmungs- und Denkmustern verharren. Zwar sind die weltweiten Ähnlichkeiten professioneller Nachrichtenwerte nicht zu übersehen, die nicht zuletzt durch die zentrale Stellung großer Nachrichtenagenturen gefördert werden. Dennoch haben komparative Untersuchungen gezeigt, daß verschiedene Mediensysteme selbst auf der Basis identischer Quellen ihre Nachrichten in vielen Fällen völlig unterschiedlich gestalten.1 Dieser Prozeß der „Domestizierung“ von Nachrichten sorgt dafür, daß nationale Medienräume ungeachtet ihrer technischen Erweiterungen auch in Zeiten der Globalisierung Bestand haben. Zunehmende technische Vernetzung und unternehmerische Verflechtung der globalen Kommunikationsstrukturen gehen in vielen Fällen mit einem nach wie vor starken inhaltlichen Partikularismus der Berichterstattung einher. Die Ausprägung einer zweifelsfrei pluralistischen Medienkultur wie der deutschen hat nicht verhindern können, daß in der Auslandsberichterstattung zum Teil vielfaltsgefährdende solipsistische Kapseln entstehen, wie dies etwa Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher bemängeln: „Wie kommt es in einem unbestreitbar freien Land, in dem über die meisten Fragen kontrovers diskutiert (...) zu einer fast ehern durchgehaltenen nachrichtenpolitischen Linie?“2 1 Michael Gurevitch/Mark R. Levy/Itzhak Roeh, The Global Newsroom. Convergences and Diversities in the Globalization of Television News, in: Peter Dahlgren/Colin Sparks (Hrsg.), Communication and Citizenship. Journalism and the Public Sphere, London/New York 1993, S. 195-216. 2 Peter Glotz/Wolfgang R. Langenbucher, Der mißachetete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse, München 1993, S. 13. 11 Die Massenmedien fungieren in der internationalen Kommunikation als zentrale Schalt- und Vermittlungsstellen. Anders als bei Geschehnissen im Nahbereich fehlt den Konsumenten im Fernbereich des Auslandsgeschehens zumeist das kritische Korrektiv eigener Erfahrung oder alternativer Informationsquellen, was das Einflußpotential der Medien auf das gesellschaftliche Auslandsbild vergrößert. Internationale Massenkommunikation erweist sich gleichwohl nicht allein als systemverbindendes Element der Globalisierung, sondern kann ebenso separate politische Identitäten und das perzeptive Konfliktpotential in den internationalen Beziehungen fördern. Eine technikzentrierte Sichtweise der Globalisierung übergeht medieninhaltliche Defizite, sie überdeckt Strukturprobleme der Auslandsberichterstattung hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung und gesellschaftlichen Teilhabe am internationalen Mediendiskurs, ohne deren Kritik und Transformation das Kommunikationspotential in den internationalen und großräumigen interkulturellen Beziehungen unausgeschöpft bleibt.3 Der „Zusammenprall der Kulturen“, der die Globalisierung in und durch Medien behindert, basiert zumindest in Teilen auf „Kommunikationsstörungen“ und Perspektivmängeln im System der internationalen Massenkommunikation, und die Einflußnahme auf internationale Medienbilder ist ein wesentliches Element der „kulturellen Macht“ (im Sinne Stuart Halls), um die Staat und Gesellschaft, nationale wie transnationale Kräfte konkurrieren. Das Zusammenwirken von Medien, Politik und Gesellschaft ist in der Auslandsberichterstattung bisher kaum erforscht worden, was unter anderem einer weitgehenden theoretischen Verengung auf die Sozialpsychologie (Stereotype usw.), auf die Nachrichtenfaktorenlehre und andere etablierte Theoriebereiche geschuldet ist, die trotz ihrer großen Bedeutung allein keine komplexe und homogene Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse ausbilden. Die bedeutsamsten Probleme der Auslandsberichterstattung in Deutschland wie in anderen Staaten bestehen nicht in rassistischer Terminologie, sondern müssen in der Art der Themengestaltung der Medienagenda, der argumentativen Komposition (dem sogenannten Framing), dem Prozeß der Informationsverarbeitung, dem gesellschaftlichen Systemverhalten der Auslandsberichterstattung (etwa in Krisenzeiten), der Stellung der Medien in der transkulturellen Kommunikation und vielen anderen Theoriebereichen lokalisiert werden. Nur eine komplexe theoretische Erörterung ist geeignet, vereinfachende Annahmen, die etwa von der Identität der westlichen Nahostberichterstattung mit westlichen politischen Interessen ausgehen,4 durch eine multiperspektivische Sicht auf die Beziehungen zwischen Medien- und politischem System zu erweitern. Desinformationskampagnen und Bildfälschungen5 stellen nur die „Spitze des Eis3 Kai Hafez, Medien – Kommunikation – Kultur: Irrwege und Perspektiven der Globalisierungsdebatte, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck. Erfahrungen und Antworten aus den Kontinenten, Bonn 2000, S. 93-117. 4 Hamid Mowlana, Images and the Crisis of Political Legitimacy, in: Yahya R. Kamalipour (Hrsg.), The U.S. Media and the Middle East. Images and Perception, Westport 1997, S. 8. 5 Beispielhaft sei hier das Foto des Luxor-Attentats in Ägypten genannt, das im Original die Tempelanlage mit einer davor befindlichen Wasserpfütze zeigt, aus der auf der ersten Seite der BildZeitung durch Rotfärbung eine Blutlache gemacht wurde, die ein blutiges Massaker suggerierte. 12 bergs“ grundlegender Probleme der Auslandsberichterstattung dar. Ungeachtet der Tatsache, daß die deutsche Auslandsberichterstattung im internationalen Vergleich in vielen Bereichen (Zahl der Korrespondenten, Umfang der Berichterstattung usw.) relativ positiv abschneidet, sind auf allen theoretischen Ebenen – von der individuellen Wahrnehmung des Journalisten über die Interessen der Medienorganisation bis zum Verhältnis zwischen Medien, Politik und Publikum – eine Reihe von Strukturfragen zu erörtern. Auch nach der Beendigung der in den siebziger und achtziger Jahren in der UNESCO geführten Debatte über die Neue Weltinformationsordnung bestehen zahlreiche Probleme der internationalen Massenkommunikation fort und werden heute in einem kulturräumlichen Zuschnitt erörtert, der die ältere Sicht der Beziehungen zwischen „Industrie-“ und „Entwicklungsländern“ zwar nicht ersetzt, aber ergänzt, und sie werden mit einem theoretischen Instrumentarium untersucht, das die ehemals vorherrschenden Modernisierungs- und Dependenztheorien funktionalistisch erweitert.6 Innovationsbedarf ist auch im Bereich der Methodologie der Erforschung der Auslandsberichterstattung zu erkennen. Während die Kombination aus quantitativen und qualitativen Verfahren der Inhaltsanalyse heute in hohem Maß wissenschaftlich etabliert ist, bestehen Defizite bei der Formulierung methodischer Leitsätze zur Integration von Inhaltsanalyse und Theorie im Hinblick auf die konkrete regionale Anwendung. Die vorliegende Arbeit basiert auf einem Verfahrensansatz, der als „sozial- und kulturwissenschaftlicher Rekonstruktivismus“ bezeichnet wird und der die Theorie der Auslandsberichterstattung in ein Dreischrittverfahren integriert, das aus Medieninhaltsanalyse, regionalwissenschaftlicher Expertise und angewandter Medientheorie besteht (Kap. 2). Das Erörterung theoretischer Grundlagen der Auslandsberichterstattung ist nach einer einleitenden Verständigung über Grundprobleme der internationalen und interkulturellen Perzeption und Kommunikation (Kap. 3.1) in zwei große Bereiche unterteilt: theoretische Aspekte der Struktur des Auslandsbildes der Medien und Entstehungs- und Wirkungsbedingungen. Hauptziel des Strukturkomplexes ist es, einen dichten Katalog von Theoremen zur Überprüfung der Beschaffenheit der Texte der Auslandsberichterstattung zu erstellen, der es ermöglicht, die quantitativ wie qualitativ gesicherten empirischen Befunde zur Struktur des Nahost- und Islambildes zu erklären (Kap. 3.2.1). Der Entstehungs- und Wirkungskomplex der Theorie ist seinerseits in mehrere Ebenen gegliedert: die theoretische Mikroebene untersucht die Stellung des Journalisten im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß, d.h. die Einflüsse seiner politischen und beruflichen Sozialisation auf die Medieninhalte (Kap. 3.2.2); die Mesoebene elaboriert die Position der Medienorganisation: verlegerische Rahmenbedingungen, Stellung im Informationsfluß sowie Entscheidungshandeln und soziale Interaktion in der Auslandsredaktion (Kap. 3.2.3). Das theoretische Schwergewicht liegt auf der Makroebene der Beziehungen zwischen Bilder, die lügen, Hrsg. vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1998, S. 22. 6 Kai Hafez, Der Nahe Osten und die Neue Weltinformationsordnung, in: Nord-Süd aktuell 10 (1996) 4, S.705-711. 13 Medien, Politik und Gesellschaft, der Bildung der Medienagenda, dem Systemverhalten der Medien, den Beziehungen zwischen Auslandsberichterstattung und Innenpolitik, der Stellung von Medien in internationalen Konflikten und in der globalen Kulturkommunikation. 14 2. Methodologische Vorbemerkung: Sozial- und kulturwissenschaftlicher Rekonstruktivismus als Ansatz zur Erforschung der Auslandsberichterstattung Vor der eigentlichen Beschäftigung mit der Theorie der Auslandsberichterstattung muß die Frage der methodologischen Stellung der Theorie bei der empirischen Erforschung der Medieninhalte der Auslandsberichterstattung erörtert werden. Die Frage des Verhältnisses zwischen Medieninhalt und „Realität“ und damit die Frage danach, wie „realistisch“ Auslandsberichterstattung ihre Konsumenten informiert, ist Gegenstand eines grundlegenden wissenschaftlichen Meinungsstreits, ob überhaupt, und wenn ja, wie der Realitätsbegriff fundiert werden kann. Es wird im Verlauf der Darstellung der bisherigen Forschung zur Auslandsberichterstattung zu zeigen sein, daß große Unterschiede bei der methodologischen Grundlegung bestehen. Der MacBride-Bericht geht bei seiner Aufzählung von häufigen Defiziten der Auslandsberichterstattung implizit davon aus, daß man die Fähigkeit der Medien, die politische und gesellschaftliche „Realität“ eines Landes darzustellen, tatsächlich bewerten und messen kann (Kap. 3.2.1.1). Auch andere Strukturtheoreme etwa über die Eliten- oder Konfliktzentrismus der Medien (Kap. 3.2.1.2) sind auf der Basis eines „realistischen Ansatzes“ entwickelt worden. Sogar die frühe Nachrichtenwerttheorie (Kap. 3.2.1.2) etwa von Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge basiert auf dem Realismus als Forschungsparadigma. Die Nachrichtenwertschule in der Tradition von Winfried Schulz jedoch, die insbesondere für den deutschen Sprachraum maßgeblich ist, hat mit dem Realismus gebrochen und statt dessen die bis heute in der Medieninhaltsforschung einflußreiche Position eines radikalen Konstruktivismus7 formuliert.8 Gemäß der konstruktivistischen Position von Schulz existieren inner- und außermediale Realität nicht als separate Einheiten, sondern Medien sind Institutionen, die quasi als verlängerter Arm der kognitiven Bildkonstruktion eine „Konstruktion der Realität“ vornehmen: Medien 7 Vgl. u.a. Vivien Burr, An Introduction to Social Constructionism, London/New York 1995. 8 Innerhalb der deutschen Nachrichtenwertforschung hat es eine Kontroverse gegeben, wobei vor allem Journalisten als handelnde Subjekte und aktive Bildkonstrukteure in den Vordergrund getreten sind. Joachim Friedrich Staab kritisierte etwa, daß das „Kausalmodell“ der Nachrichtenwerttheorie, bei dem der Nachricht selbst ein bestimmter Wert zugeordnet wird, während es tatsächlich doch die Ziele („Finalmodell“) der professionellen und politischen Interessen der Journalisten, Medieneinrichtungen usw. seien, die einer bestimmten Information einen Nachrichtenwert verliehen (Joachim Friedrich Staab, Entwicklungen der Nachrichtenwerttheorie. Theoretische Konzepte und empirische Überprüfungen, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Fortschritte der Publizistikwissenschaft, München 1990). Die starke Bindung dieses Forschungszweigs an die amerikanischen bias- oder gatekeeper-Forschung kann hier als Versuch einer engeren Bindung der Nachrichtenwerttheorie an die Sozialpsychologie interpretiert werden. Auch die Vertreter des „Finalmodells“ verbleiben gleichwohl paradigmatisch innerhalb des Konstruktivismus, da auch durch die psychologische Deutung der Nachrichtenfaktoren die Erforschung der Beziehung zwischen Medien- und Geschehensrealität unberücksichtigt bleibt. 15 sind Weltbildapparate und liefern kein Abbild der Welt. Schulz führt die Nachrichtenwerttheorie auf Lippmanns Stereotypenforschung zurück. Aus der Perspektive des Konstruktivismus ist die Bindung zur Sozialpsychologie ebenso konsequent wie der Widerstand gegen Versuche, außermediale Realitäten zu objektivieren. Gemäß Schulz ist das Bestreben, „Nachrichten mit dem, ‘was wirklich geschah’, zu vergleichen, prinzipiell unmöglich (...). Denn Realität kann nicht in ‘Reinkultur’ registriert und als Prüfstein der Nachrichtenberichterstattung bereitgestellt werden (...).“9 Die konstruktivistische Nachrichtenwerttheorie gibt daher keine Auskunft über die Art, wie Ereignis- und Geschehensrealität in Medienrealität umgewandelt wird, sondern sie konzentriert sich auf die Untersuchung von inhaltlichen Gewichtungen innerhalb der Medienrealität.10 Die radikal-konstruktivistische Medienforschung hat einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Relativierung normativer Objektivitätsdoktrinen des Journalismus geleistet, indem sie nachgewiesen hat, daß Massenmedien Konstruktions- und Schematisierungsleistungen analog der menschlichen Wahrnehmungsapparate (vgl. Kap. 3.1) vornehmen. Zugleich jedoch stellt der Konstruktivismus der Theorieforschung, zumindest in seiner radikalen Anwendung, geradezu eine Blockade gegen Versuche dar, die Leistungen der internationalen Kommunikation im Bereich der Massenkommunikation hinsichtlich ihrer Realitätsadäquanz zu untersuchen, wie dies etwa im MacBride-Bericht gefordert worden ist. Wie gegen den Realismus lassen sich auch gegen den radikalen Konstruktivismus als Grundlage der Theorie der Auslandsberichterstattung eine Reihe von Einwänden formulieren: • Trotz der letztlichen ontologischen Unbeweisbarkeit der Realität, gibt es Gründe, „die Realität“ weder als Vernunftsgröße noch als Vergleichsgröße der Medienanalyse aufzugeben. Der radikale Konstruktivismus hat nicht hinreichend erklären können, warum Realitätsentwürfe, gleich ob von Journalisten oder anderen gefertigt, scheinbar unterschiedliche Grade der Beliebigkeit – des Konstruktionsgrades – aufweisen können. Als Gradmesser für die Beurteilung solcher Wirklichkeitsgrade muß nicht ein letztlich unerfüllbarer Objektivitätsanspruch fungieren, sondern das Maß ist die intersubjektive Überprüfbarkeit eines Realitätsentwurfs.11 Inwieweit, so ist zu fragen, handelt es sich bei der Medienberichterstat9 Winfried Schulz, Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung, Freiburg/München 1990 (2. Aufl.), S. 25-27; vgl. a. Winfried Schulz, Ein neues Weltbild für das Fernsehen? Medientheoretische Überlegungen zur Diskussion um Regionalisierung und Internationalisierung, in: Media Perspektiven 1/1982, S. 24 f. 10 Schulz, Die Konstruktion, S. 27-29. 11 Lutz M. Hagen: „Wenn Objektivität verstanden wird als Methodensammlung mit dem Anspruch, intersubjektiven Wahrheitsvorstellungen zu genügen, hat sie ihren Platz sowohl in einer kritischrational orientierten als auch in einer konstruktivistisch orientierten Qualitätsforschung“ (Lutz M. Hagen, Informationsqualität von Nachrichten. Meßmethoden und ihre Anwendung auf die Dienste von Nachrichtenagenturen, Opladen 1995, S. 50). Dorothée Kreuzer: „Jedes Angeot einer vermeintlich adäquateren Darstellung bietet lediglich die Möglichkeit, beide Auffassungen als Ansichten kritisch zu vergleichen und ihre Parameter zu konturieren. Ein höheres Maß an Wahrheit für das eine oder andere Bild ist daraus nicht abzuleiten.“ Dorothée Kreuzer, Der elektronische Orientalismus: 16 tung um einen „glaubwürdigen“, weil von anderen Diskursteilnehmern bestätigten Realitätsentwurf? Der radikale Konstruktivismus behauptet zwar zu recht, daß eine solche Überprüfung nur bei faktischen Sachverhalten möglich ist, nicht aber bei Zusammenhangsinterpretationen, die nicht verifizierbar sind (also bei Frames usw.; vgl. Kap. 3.1).12 Auch hier jedoch gilt das Gebot der intersubjektiven Multiperspektivität, d.h. die Frage, inwieweit die eigene (hier: die journalistische) Interpretation von anderen geteilt werden kann und geteilt wird. Eine solche vermittelnde Position zwischen Realismus und radikalem Konstruktivismus nimmt der „Rekonstruktivismus“ Günter Benteles ein. Der rekonstruktivistische Ansatz geht einerseits davon aus, daß natürliche wie auch gesellschaftliche Realität weitgehend unabhängig vom Subjekt (etwa dem Journalisten) existent sind und vom Subjekt rekonstruiert werden können, weil in der Regel Teile der vermittelten Realitätsentwürfe intersubjektiv bestätigt werden können, was überhaupt erst die Basis dafür legt, daß Menschen sich kommunikativ verständigen können, daß jedoch andererseits „Realität“ zu komplex ist, um als Ganzes erfaßbar zu sein und daher selektiert, transformiert und insofern tatsächlich konstruiert wird.13 Während in der Regel nicht explizit auf den Rekonstruktivismus Bezug genommen wird, hat ein zwischen Realismus und Konstruktivismus vermittelnder Ansatz bei der Untersuchung von Auslandsberichterstattung in den neunziger Jahren Zulauf gewonnen. Ein solcher Ansatz ersetzt den naiven Realismus, der noch in den späten siebziger Jahren und zur Zeit des MacBride-Berichts vorherrschte, er modifiziert jedoch zugleich den status quo-affirmativen radikalen Konstruktivismus der Post-MacBride-Dekade.14 • Als Einwand gegen den radikalen Konstruktivismus ist auch geltend zu machen, daß die radikal-konstruktivistische Nachrichtenwerttheorie interne Widersprüche aufweist. Der erkenntnistheoretische Zweifel des radikalen Konstruktivismus Spiegelreflexe im Weltspiegel. Zur Auslandsberichterstattung insbesondere über die arabische Welt in Magazinsendungen des bundesrepublikanischen Fernsehens, in: Helmut Kreuzer/Heidemarie Schumacher (Hrsg.), Magazine audiovisuel. Politische und Kulturmagazine im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1988, S. 226. 12 Vgl. die Diskussion bei: Roland Burkart, Kommunikationswissenschaft: Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, Wien u.a. 1995, S. 294. 13 Günter Bentele, Fernsehen und Realität. Ansätze zu einer rekonstruktiven Medientheorie, in: Knut Hickethier/Irmela Schneider (Hrsg.), Fernsehtheorien. Dokumentation der GFF-Tagung 1990, Berlin 1992, S. 53 ff. Vgl. a. ders., Wie wirklich ist die Medienwirklichkeit? Einige Anmerkungen zum Konstruktivismus und Realismus in der Kommunikationswissenschaft, in: Günter Bentele/Manfred Rühl (Hrsg.), Theorien öffentlicher Kommunikation, München 1993, S. 166-171. Nach Bentele existieren auch Bereiche der medialen Bildkonstruktion ohne intersubjektive Verifikationsmöglichkeit, namentlich die sogenannten „Pseudorealitäten“ der von Medien selbst bewußt inszenierten Ereignisse, die unter dem Begriff der Nachrichtenfälschung firmieren können. Bentele, Fernsehen, S. 60 f. Diese Realitäten ohne Dokumentationscharakter sind auch in der allgemeinen Wahrnehmungstheorie unter dem Begriff der „Imaginationen“ beschrieben worden (vgl. Kap. 3.1.1). 14 Gadi Wolfsfeld beispielsweise grenzt sich bei seiner Untersuchung amerikanischer, israelischer und palästinensischer Berichterstattung über den Nahostkonflikt vom radikalen Konstruktivismus ab, indem er dem Ereignis einen Stimulus-Charakter („Events matter“) für den darauf folgenden, durch zahlreiche subjektive Einflüsse geprägten Prozeß des medialen Framing zuschreibt. Gadi Wolfsfeld, Media and Political Conflict. News from the Middle East, Cambridge 1997, S. 34 ff. 17 müßte sich im Grunde auch auf die Nachrichtenwerttheorie selbst erstrecken. Wie aufzuzeigen sein wird (Kap. 3.2.1.2 und Kap. 4.2.1) geht man beispielsweise bei der Definition von Nachrichtenfaktoren wie „Nähe“ von einem bestimmbaren Verhältnis zwischen Medien- und Geschehensrealität aus: Ein Urteil darüber, ob eine Nachricht aus einem kulturell nahen oder fernen Kontext entnommen wird, ist in letzter Instanz erst auf der Basis einer (im radikalen Konstruktivismus eigentlich unzulässigen) Realitätsannahme möglich. Die Ausführungen über „essentialistische“ oder „synkretische“ Kulturmodelle (vgl. Kap. 3.1.1) werden verdeutlichen, daß auch in diesem Bereich nicht von einem Konsens ausgegangen werden kann. Tatsächlich kommt also auch die Nachrichtenwertforschung nicht ohne Realitätsdefinitionen als „kaschierte“ Hintergrundbedingungen aus, was auch an Aussagen wie denen von Schulz deutlich wird, daß die Massenmedien „in der Regel die Wirklichkeit nicht repräsentieren“, sondern Stereotype und Interessen von Journalisten das Nachrichtenwesen dominieren.15 Die Feststellung, daß etwas nicht in Übereinstimmung mit der Realität steht ebenso wie die Vorstellung, daß etwas in Übereinstimmung mit der Realität steht, setzt eine Vorstellung von „Realität“ selbst voraus, was im Widerspruch zur radikalkonstruktivistischen Grundauffassung steht.16 • Ein zweiter Widerspruch besteht zwischen radikalem Konstruktivismus und der konstruktivistischen Wissenschaftstheorie. Wenn ein Realitätsbeweis ebensowenig führbar ist wie ein Beweis der Nicht-Realität, dann ist die zentrale Prämisse des radikalen Konstruktivismus unbeweisbar. Ulrich Saxer weist zu Recht auf die „solipsistische Vernachlässigung einer beobachtungsabhängigen Realität“ durch den radikalen Konstruktivismus hin.17 Gerade die Unwiderlegbarkeit des Konstruktivismus offenbart einen Schwachpunkt der radikal-konstruktivistischen Theorie, die modellartig geschlossen, nicht falsifizier-, aber auch nicht verifizierbar ist. Dies bedeutet, daß der radikale Konstruktivismus entweder als Para15 Winfried Schulz, Massenmedien und Realität. Die „ptolemäische“ und die „kopernikanische“ Auffassung, in: Max Kaase/Winfried Schulz (Hrsg.), Massenkommunikation: Theorien, Methoden, Befunde, S. 139. 16 Niklas Luhmann hat im Konstruktivismusstreit eine vermittelnde Position eingenommen, in der er einerseits auf den Konstruktionscharakter jeglicher sinnlich vermittelter Realitätswahrnehmung und -vermittlung hinweist, andererseits jedoch auch darauf, daß kein kognitives System – also auch nicht der Konstruktivismus oder eine andere Wissenschaft – auf Realitätsannahmen verzichten kann. Wenn die Unterschiede zwischen (kognitiven) Systemen und (realer) Umwelt gänzlich aufgelöst werden, entfällt auch die sinnstiftende Referenz der Konstruktivismusthese: „Das vielleicht wichtigste Ergebnis dieser Überlegungen ist, daß die Massenmedien zwar die Realität, aber eine nicht konsenspflichtige Realität erzeugen. Sie lassen die Illusion einer kognitiv zugänglichen Realität unangetastet. Zwar hat der ‘radikale Konstruktivismus’ recht mit der These, daß kein kognitives System, mag es als Bewußtsein oder als Kommunikationssystem operieren, seine Umwelt operativ erreichen kann. (...) Zugleich gilt aber auch, daß kein kognitives System auf Realitätsannahmen verzichten kann. Denn wenn alle Kognition als eigene Konstruktion geführt (...) würde, würde diese Unterscheidung selbst als paradox erscheinen und kollabieren.“ Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996 (2., erw. Aufl.), S. 164 f.; vgl. a. S. 15 ff. 17 Ulrich Saxer, Thesen zur Kritik des Konstruktivismus, in: Communicatio Socialis 25 (1992) 2, S. 179. Zur Kritik des radikalen Konstruktivismus in der Medienwissenschaft vgl. a. Hermann Boventer, Der Journalist in Platons Höhle. Zur Kritik des Konstruktivismus, in: ebenda, S. 157-167. 18 Theorie die Erkenntnisbildung aller oder keiner der mit sozialen Realitätsentwürfen beschäftigten Geistes- und Gesellschaftswissenschaften in Frage stellt, daß entweder jegliche Form kritisch-empirischer Wissenschaft als struktureller Widerspruch abgelehnt oder aber die empirische Wissenschaft – im Sinne des Rekonstruktivismus – als intersubjektiver Annäherungsversuch an Realität akzeptiert werden muß. In keinem Fall jedoch kann ein einzelner Wissenschaftsbereich, wie die Medienforschung, als Sonderzone unzulässiger Realitätsvergleiche definiert werden. „Rekonstruktivismus“ als solcher ist ein unvollständiges methodologisches Paradigma und insofern in der Anwendung auf die Auslandsberichterstattung der Medien keine befriedigende Alternative zum radikalen Konstruktivismus. Rekonstruktivismus im Sinne Benteles besagt, daß Medienrealität und außermediale Realität auf der Basis eines intersubjektiven Realitätsverständnisses vergleichbar sind, ohne zu erklären, wie und von wem derartige Vergleiche vorgenommen werden können. Verschiedene Qualifikationen sind erforderlich, um den Vergleich Realität-Medienrealität durchführen zu können: medienanalytische Qualifikationen und gegenstandsanalytische Qualifikationen. Als „medienanalytische Qualifikation“ muß hier zunächst die Befähigung bezeichnet werden, durch quantitative und qualitative Verfahren der Inhaltsanalyse die Struktur des Auslandsbildes von Massenmedien zu rekonstruieren und die Befunde theoretisch zu deuten. „Gegenstandsanalytische Qualifikation“ bezeichnet die Befähigung, die Diskrepanz zwischen medialer und außermedialer Realität durch eine auf nichtmedialer Kenntnis basierenden Anschauung und Analyse des „Auslandes“ – also dem Gegenstand der Auslandsberichterstattung – beurteilen zu können. Sprachlich ist letzterer ein Teil eines Rekonstruktivismuskonzepts wie dem Benteles, obwohl dieser Prozeß treffender als „Dekonstruktion“ zu bezeichnen wäre, da zwar „Realität“ rekonstruiert werden soll, aber doch nur mit dem Ziel, den gleichfalls rekonstruierten Textsinn zu überprüfen und zu kritisieren, also zu dekonstruieren. Benteles Antwort auf die Frage, wer die Glaubwürdigkeit der Medienrealität beurteilen kann, ist notwendigerweise allgemein formuliert, da er den Rekonstruktivismus als eine generelle methodologische Prämisse ohne Spezifikation für die Theorie der Auslandsberichterstattung entwickelt hat. Er beschreibt „Vorwissen“ und „direkte Information“ als Bestandteile einer zur Medienkritik notwendigen Primärerfahrung bzw. Diskrepanzerfahrung (gemeint ist die Diskrepanz zwischen Realität und Medienrealität).18 Primär- und Diskrepanzerfahrung können nicht als identisch betrachtet werden, auch wenn Bentele keine Unterscheidung trifft, denn die Primärerfahrung muß auf die direkte sinnliche Wahrnehmung von Ereignissen oder Teilen von Ereignissen beschränkt bleiben, während die Diskrepanzerfahrung auch Erfahrung der Diskursdiskrepanz sein kann. Diese Form der Diskrepanz ist etwa gegeben, wenn Medien- und wissenschaftlicher Diskurs stark unterschiedliche Erkenntnisse vermitteln, wobei der wissenschaftliche Diskurs sich in der Regel weniger dadurch auszeichnet, daß Wissenschaftler über Primärerfahrung verfügen, sondern daß sie in 18 Bentele, Fernsehen, S. 64. 19 systematischer und umfassender Weise die Primärerfahrung anderer untersuchen und vergleichen (z.B. Memoiren) und durch die verschiedenen nicht-(massen-)medialen Quellen eigenständige Realitätsentwürfe rekonstruieren, die der Medienrealität als Vergleichsgröße entgegengehalten werden können. Da der Kreis derjenigen, die unter den Bedingungen geokultureller, politischer wie räumlicher Distanz (vgl. Kap. 3.1.1) über Diskrepanzerfahrungen verfügen, tendenziell kleiner ist als bei der (nationalen, regionalen oder lokalen) Inlandsberichterstattung, gehören die Außenpolitik, die Außenwirtschaft, andere mit internationalen Fragen beschäftigte Institutionen und Organisationen sowie die international orientierte Wissenschaft zu den wichtigsten Kreisen von Medienrezipienten mit einem Potential an Diskrepanzerfahrung. In Anlehnung an Benteles Rekonstruktionsansatz, der hier aus besagtem Grund als Rekonstruktions-Dekonstruktions-Ansatz bezeichnet wird, muß ein Ansatz zur Erforschung der Auslandsberichterstattung auf drei Qualifikationen basieren: • Inhaltsanalytische Qualifikation: Die Erfassung der Medienrealität ist kein Prozeß sui generis, denn Medienberichterstattung existiert nicht als homogenes Ganzes, sondern ist im Gegenteil gerade durch die großen Mengen der Texte – und bei elektronischen Medien auch durch deren Flüchtigkeit – nicht leicht zu rekonstruieren. Die Basis zur Re-Rekonstruktion der Medienrealität ist nicht allein der einzelne Medientext, sondern der Mediendiskurs bzw. definierte Teile dieses Diskurses (z.B. überregionale Tageszeitungen), d.h. eine Vielzahl von Textkörpern, die mit den Mitteln der quantitativen wie qualitativen Medieninhaltsanalyse untersucht werden müssen (Kap. 4.2.1, 4.2.2 und 4.2.3). • Gegenstandsanalytische Qualifikation: Zur Anwendung der Theorie der Auslandsberichterstattung bedarf es der Einbettung der Theorie in eine interdisziplinäre sozial- und kulturwissenschaftliche Methode. Es muß davon ausgegangen werden, daß ohne die Mithilfe solcher Disziplinen wie der Politikwissenschaft, der Orientalistik und anderen Wissenschaftsdisziplinen, die eine diskrepante Rekonstruktion der Gegenstandsrealität vornehmen, ein Vergleich zwischen Realität und Medienrealität nicht gelingen kann, da sie innerhalb der Wissenschaften diejenigen Fächer sind, die über ihren Zugriff auf außermediale Quellen alternative Entwürfe zu der in Massenmedien entwickelten Realität des Auslandsgeschehens vorlegen können.19 Bisher geäußerte kritische Positionen gegen den radikalen Konstruktivismus in der Medienanalyse scheiterten möglicherweise daran, daß die Medienwissenschaft kaum „glaubwürdig“ war, wenn es um die Interpretation der außermedialen Realität (und die Kritik der Medien) ging, da dies nicht das angestammte Feld der Disziplin ist. Eine textanalytische Herangehensweise wie beispielsweise die Teun van Dijks verfügt zwar über die medienanalytische 19 Die Installation der Sozial- und Kulturwissenschaften als Instanz der Glaubwürdigkeitsprüfung soll nicht als Monopolposition verstanden werden. Gerade in der Auslandsberichterstattung können hochqualifizierte Publikumseliten, die aus der einen oder anderen Perspektive über Primär- und Diskrepanzerfahrung verfügen (z.B. Handlungsreisende), einer rezipientenorientierten Medienkritik sinnvoll zuarbeiten, wie sie Gregor Halff generell gefordert hat. Gregor Halff, Wa(h)re Bilder? Zur Glaubwürdigkeit von Fernsehnachrichten, in: Klaus Kamps/Miriam Meckel (Hrsg.), Fernsehnachrichten. Prozesse, Strukturen, Funktionen, Opladen 1998, S. 127-134. 20 Kompetenz, Frames und Diskurse der Medienwissenschaft zu erfassen, operiert in der Regel jedoch auf einem sehr vorwissenschaftlichen Level gegenständlicher Sachkenntnis.20 Der rekonstruktivistische Ansatz der Medienforschung kann daher sinnvoll nur im Zusammengehen mit anderen Sozial- und Kulturwissenschaften realisiert werden.21 • Medientheoretische Qualifikation: Die Tatsache, daß Inhaltsanalyse und intersubjektive Gegenentwürfe der außermedialen Realität eine Vorstellung von Leistungen und Defiziten der Auslandsberichterstattung schaffen können, weist noch nicht aus, daß man Aussagen über textuelle Tiefenstrukturen (Stereotype, Diskurse, Frames usw.) oder über den gesellschaftlichen Entstehungs- und Wirkungsprozeß der Medientexte treffen kann. Dazu ist die Anwendung der Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse auf die Befunde von Rekonstruktion und Dekonstruktion erforderlich (wobei eine diskurstheoretisch wie sozialpsychologisch orientierte Analyse der Textstrukturen mit einer kausalen Medientheorie verbunden wird; Kap. 3).22 Einflüsse auf den Medieninhalt machen sich lange vor der Publikation eines Zeitungsartikels in der Orientierung des 20 Als beliebiges Beispiel kann hier van Dijks Analyse der Medienberichterstattung über die unmittelbar vor Amtsantritt erfolgte Ermordung des gewählten libanesischen Präsidenten Bashir Gemayel (1982) genannt werden, wobei die Grenzen einer (ansonsten akribisch durchgeführten) linguistischen und diskurstheoretischen Untersuchung der Auslandsberichterstattung erkennbar werden. Bei dem Versuch einer Erklärung der arabischen Reaktionen auf die Ermordung heißt es: „The only surprising element is the opinion in the Third World, and especially in the Arab countries, about Gemayel and his political position. Logic would predict that those who are anti-Israel are also antiGemayel and anti-Falange. This is, however, not necessarily the case, which shows how complex political attitudes and positions may be in the Middle East: Political realism, and the hope that even the controversial Gemayel might contribute to a peaceful solution of the Lebanese conflict are more relevant at this moment than the Moslem opposition against the Christian Maronites and their traditional allies“ (Teun A. van Dijk, News Analysis. Case Studies of International and National News in the Press, Hillsdale 1988, S. 126). Van Dijks Überraschung über arabische Medienreaktionen war die Folge der Tatsache, daß ihm die Geschichte arabisch-falangistischer Querallianzen, die bereits 1976 ihren vorläufigen Höhepunkt in der Deckung eines falangistischen Massakers an Palästinensern in Tal Al-Zaatar durch den syrischen Präsidenten Hafez al-Asad fand (Patrick Seale, Asad of Syria. The Struggle for the Middle East, London 1988, S. 284 f.), nicht bekannt war und daher auch die Erklärung empirisch ermittelter Medieninhalte auf Grenzen stieß, da die „Gegenstandsqualifikation“ begrenzt blieb. 21 Die Fächer-Fragmentierung der auslandsorientierten Medienforschung ist bereits Anfang der achtziger Jahre kritisiert worden. Birgit Scharlau: „Unter den Medienforschern hat sich eine Art Arbeitsteilung eingebürgert – die einen untersuchen nur die großen Zusammenhänge, die anderen nur den Mikrokosmos der Medienprodukte – unter gegenseitiger Ausschließlichkeit der Arbeitsbereiche, wie es scheint. Die Ergebnisse werden nicht aufeinander bezogen, miteinander vermittelt, sondern einfach ‘zusammengeklebt’; denkt man diesen theoretischen Hiatus zu Ende, kommt man zu einer Vorstellung, bei der die denunzierten Inhalte direkt aus der Abstraktheit globaler Dimensionen hervorzugehen scheinen: Die ganze Materialität des Produktionsprozesses bleibt dabei ausgeblendet.“ Birgit Scharlau, Kritik? Kritik!, in: medium 10 (1980) 6, S. 23. 22 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird zwar keine im engeren Sinn linguistische Diskursanalyse durchgeführt, wie sie etwa Siegfried Jäger ausgearbeitet hat (Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung (2. überarb. u. erw. Aufl.), Duisburg 1999). Gleichwohl dient das Konzept des Diskurses der Erweiterung der basalen Kategorien der Erforschung von Textstrukturen über den Rahmen der Soziopsychologie hinaus (Kap. 3.1.2). 21 Journalisten, der Medienorganisation und im Zusammenspiel zwischen Medien, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bemerkbar. Dabei muß im Interesse der Theorie-Empirie-Bindung darauf geachtet werden, welche Einfluß- und Wirkungsfaktoren mit den Mitteln der Inhaltsanalyse eliminiert werden können und welche nicht. Wenn in einer gesellschaftlichen Krisensituation sich die Presse unisono der Position der Regierung des Heimatlandes anpaßt und ihre vorherige Kritik an dieser Politik aufgibt, dann kann man davon ausgehen, daß weder der einzelne Journalist noch die Medieninstitution prägend ist, sondern das Verhalten des politischen Systems und das Interesse am Systemerhalt, das die Medien zur Anpassung bewegt. Diese Beobachtung ist – außer in Zeiten manifester Zensur und Informationskontrolle (etwa in Kriegen) – unabhängig davon, ob direkte Einflüsse der Politik nachgewiesen werden können, die als Extra-Medien-Daten mit den Resultaten von Rekonstruktion/Dekonstruktion verglichen werden. Es ist vielmehr die Anpassungsleistung der Medien als solche bzw. das „Fließgleichgewicht“ zwischen Medien und Politik (vgl. Kap. 3.2.4.2.1), das zur Bestimmung von Einflußfaktoren auf Medieninhalte von Interesse ist. In anderen Fällen allerdings muß hinsichtlich der Erklärungsfähigkeit der Theorie auf der Basis der durch Inhaltsanalyse gewonnenen Empirie Vorsicht walten. Medieninhaltsanalyse kann, auch wenn sie theoriegeleitet ist, per se keine Aussagen über Medienwirkung oder -nutzung treffen, da Wirkdaten fehlen. Erkennbar wird lediglich die „Wirkungspotenz“23 der Medien, d.h. aus dem Inhalt der Auslandsberichterstattung können Schlußfolgerungen über denkbare gesellschaftlich-politische Wirkungen gezogen werden. Wenn bestimmte Inhalte in Medien nicht erscheinen – z.B. Beiträge über Mauretanien – dann ist auch nicht denkbar, daß die Medien eine mobilisierende Wirkung auf den Leser in bezug auf diesen Sachverhalt – z.B. hinsichtlich der deutsch-mauretanischen Beziehungen – ausüben. Zusammenfassend ergibt sich für die Analyse der Strukturen, Entstehungsbedingungen und Wirkungspotenzen der Auslandsberichterstattung auf der Grundlage des sozial- und kulturwissenschaftlichen Rekonstruktivismus-Dekonstruktivismus folgendes anwendungsbereite Verfahrensschema: a) Re-Rekonstruktion: Rekonstruktion der „Medienrealität“ (sie ist ihrerseits eine Rekonstruktion der außermedialen Realität) durch quantitative und qualitative inhaltsanalytische Verfahren (z.B. Re-Rekonstruktion der Kontext-Frames der medialen Darstellung eines Auslandsereignisses) b) Dekonstruktion I: Erstellen eines alternativen Realitätsentwurfs und kritischrationaler Vergleich der Medienrealität mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen über den Berichterstattungsgegenstand (z.B. Aufzeigen alternativer Kontext-Frames) 23 Projektbericht: Medienwirkungen in der internationalen Politik, in: ZUMA-Nachrichten 6/1980, S. 49. 22 c) Dekonstruktion II: Erklärung des durch Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I gewonnenen Diskrepanzmodells mit Hilfe der Theorie der Auslandsberichterstattung (z.B. Erklärung für die Abweichung oder Deckungsgleichheit der medialen von den wissenschaftlich präferierten Frames). 23 3. Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien Unter Auslandsberichterstattung soll im folgenden jedes System der journalistischen Informationsübermittlung verstanden werden, in dessen Verlauf Informationen und Nachrichten staatliche Grenzen überschreiten. Diese Definition ist die einfachste, weil staatsrechtlich verankerte. Die Terminologie des Titels des folgenden Kapitels – internationale und interkulturelle Darstellungsprozesse – weist gleichwohl darauf hin, daß die Theorie weniger die staatliche als vielmehr die nationale und kulturelle Grenzüberschreitung zu erfassen versucht, wobei die Entitäten dieses Prozesses – Nationen und Kulturen – nicht leicht zu definieren sind. Der Nationenbegriff stützt sich auf unterschiedliche Definitionen historischer, kultureller, religiöser und insbesondere sprachlicher Gemeinsamkeiten, die nicht deckungsgleich mit Staatsgrenzen sein müssen. Dies ist nicht allein in der arabischen Welt der Fall, wo der nationale Kleinstaat erst im 20. Jahrhundert supranationale Loyalitäten staatsrechtlich ersetzt hat, ohne sie allerdings als Basis der Ideologiebildung (z.B. arabischer Nationalismus) gänzlich zu verdrängen. Dies ist beispielsweise auch in Asien der Fall, wo etwa außerhalb Chinas in vielen Staaten chinesische Minderheiten mit teilweise nationaler Bindung an China leben, oder in Afrika, wo stämmisch-ethnische Bindungen eine Reihe von Staaten mit Zerfallsprozessen bedrohen. Internationale Berichterstattung findet daher bei genauer Betrachtung gar nicht ausschließlich als Auslandsberichterstattung – also über Staatsgrenzen hinweg – statt, sondern erfolgt auch innerhalb von Staaten oder zwischen Staatengruppen mit nationalen Bindungen. Für den vorliegenden Theorieentwurf allerdings bezeichnet „internationale Medienberichterstattung“ zwischenstaatliche Vermittlungsprozesse. Dies gilt analog auch für „interkulturelle Medienberichterstattung“, zumal sich die Theorie weniger auf Interkulturalität im interpersonalen oder gesellschaftlichen Gruppenkontext (Minderheiten) bezieht, sondern vielmehr auf die sogenannte public-to-public-Kommunikation zwischen kulturellen Großräumen mit Hilfe von Massenmedien.24 Staatliche, nationale und kulturelle Grenzüberschreitungen der Auslandsberichterstattung müssen nicht nur durch die Pole des Informationsflusses definiert, sondern auch durch die Beschreibung der „Informationskanäle“ differenziert und eingegrenzt werden: • Die vorliegende Theoriematrix beschäftigt sich nicht mit Kommunikationsverfahren, die nicht eindeutig zur Massenkommunikation gezählt werden können, also etwa mit dem Internet, das auf spezifische Weise Elemente der Individualkommunikation (z.B. E-mail) und der Massenkommunikation (z.B. Online-Versionen von Printmedien) verbindet, und im Massenmediensegment eigene Formen der interaktiven Kommunikation (z.B. Chat-Foren) entwickelt hat, die bei den Printund elektronischen Medien (Radio/TV) kaum vorhanden sind, da es sich um Me24 Eine Ausnahme stellt Kapitel 3.2.4.5.3 dar. 24 dien der Ein-Weg-Kommunikation handelt. Die vorliegende Theoriematrix bezieht sich nur auf letzteren, klassischen Bereich des „vermittelnden“ Journalismus, der, so eine grundlegende Theorieprämisse, auch in Zeitalter des Internet nicht an Bedeutung verlieren wird, da Informationsmengen zunehmen und daher ein fortdauernder Bedarf an einer Reduktion der Informationskomplexität vorhanden sein wird.25 • Der vorliegende Theorieentwurf beschäftigt sich auch nicht mit Formen der Grenzüberschreitung, wie sie in den letzten Jahrzehnten vor allem durch direktempfangbare Rundfunksatelliten möglich geworden sind. Hier handelt es sich in der Regel um nationale Programme, die zusätzlich zu ihrer primären Orientierung auf den nationalen Raum ins Ausland gesendet und dort empfangen werden können. Nationale, kulturelle oder staatliche Grenzüberschreitung ist für die vorliegende Theorie aber nur dort als „Auslandsberichterstattung“ gekennzeichnet, wo diese Grenzüberschreitung im Prozeß der Nachrichten- und Informationsbeschaffung, -verarbeitung und -verbreitung mindestens zweimal erfolgt und wo ein Informationsrücktransfer stattfindet: Nachrichten aus dem Ausland werden von nationalen Medien zum heimischen Publikum rücktransferiert und Berichte über das Ausland für dieses Publikum aufbereitet. Dabei ist der Idealtyp der Auslandsberichterstattung (zumindest aus Sicht einer rekonstruktiven Realitätssicht; vgl. Kap. 2), daß Staat und Gesellschaftssystem A über Staat und Gesellschaftssystem B Informationen erhält (B' in Abb. 3.1).26 25 Jo Bardoel, Beyond Journalism: A Profession between Information Society and Civil Society, in: Howard Tumber (Hrsg.), News. A Reader, Oxford 1999, S. 379-391; Miriam Meckel, Perspektiven der globalen Informationsgesellschaft, in: dies./Markus Kriener (Hrsg.), Internationale Kommunikation. Eine Einführung, Opladen 1996, S. 299-321. 26 Die grenzübergreifende Überlappung staatlicher Medienräume, die insbesondere durch die Satellitentechnologie gefördert worden ist, ist in den Abbildungen 3.1 – 3.3 als Schnittfeld C ausgewiesen. 25 26 Was diesen vermittelnden Prozeß der auf nationale Publika zugeschnittenen Auslandsberichterstattung betrifft, so ist bisher keine homogene Theorie vorgelegt worden, die die internationalen und interkulturellen Darstellungsprozesse in ihren einzelnen Facetten erfaßt und derart anwendungsbezogen aufbereitet, daß die Theorie zur Erklärung empirisch-inhaltsanalytischer Befunde der Auslandsberichterstattung dienen kann. Die vorhandenen Theorien und Theoreme der internationalen Kommunikation wenden sich der medialen Auslandsberichterstattung nur am Rande zu: • Zentrum-Diffusions-Ansatz (Modernisierungstheorie): Der Zentrum-DiffusionsAnsatz basiert (im Gegensatz zum Zentrum-Peripherie-Ansatz; s.u.) auf der Annahme, daß sich der Nachrichten- und Informationsfluß durch globale Kommunikation aus den Zentren in die Peripherien verlagert und hierdurch neue Informationszentren entstehen, die den Modernisierungsprozeß fördern.27 Dabei wird zum Teil konzediert, daß die Berichterstattung des vermittelnden Journalismus fragmentarisch ist und einer Reihe von Störfaktoren unterliegt, d.h. die durch Massenmedien erfolgende Informationsdiffusion gilt als in Teilen disfunktional im Sinne der übergeordneten Modernisierungsziele.28 Probleme der Auslandsberichterstattung sind allerdings in der modernisierungstheoretisch orientierten internationalen Kommunikationsforschung nicht systematisch verfolgt worden, da sie angesichts der angenommenen überwiegenden Modernisierungseffekte des bestehenden Systems globaler Massenkommunikation als eine quantité négligeable gelten. • Zentrum-Peripherie-Ansatz (Dependenztheorie): Aus Sicht des ZentrumPeripherie-Ansatzes stellt internationale Kommunikation in ihrem gegenwärtigen Zustand nur eine sehr begrenzte Entwicklungsressource für die „Dritte Welt“ dar, da die globale Medienordnung – wie die politische und ökonomische Weltwirtschaftsordnung insgesamt – asymmetrisch ist und in dieser Form geradezu zur Vertiefung bestehender Entwicklungsunterschiede beiträgt.29 Probleme der globalen Massenkommunikation werden als ein Sonderfall der Kombination aus Kommunikations- und Kulturimperialismus betrachtet, denn zur Dominanz der 27 Ithiel de Sola Pool, Technologies without Boundaries. On Telecommunications in a Global Age, Cambridge 1990, S. 137 ff. Zum diffusionistischen Ansatz vgl. a. Everett H. Rogers, The Diffusion of Innovations, Glencoe, Il 1962. 28 Wilbur Schramm: „We must conclude that the flow of news among nations is thin, that it is unbalanced, with heavy coverage of a few highly developed countries and light coverage of many lessdeveloped ones, and that, in some cases at least, it tends to ignore important events and to distort the reality it presents.“ Wilbur Schramm, Mass Media and National Development. The Role of Information in the Developing Countries, Stanford/Paris 1964, S. 65. 29 Johan Galtung, Eine strukturelle Theorie des Imperialismus, in: Dieter Senghaas (Hrsg.), Imperialismus und strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion, Frankfurt 1972, S. 29-104. Zum Dependenz- oder Imperialismusansatz im Hinblick auf globale (Massen-)Kommunikation vgl. a. Herbert Schiller, Mass Communications and American Empire, New York 1969; ders./Kaarle Nordenstreng, National Sovereignty and International Communication, Norwood 1979; Thomas L. McPhail, Electronic Colonialism. The Future of International Broadcasting and Communication, Newbury Park u.a. 1987; Gerald Sussman/John A. Lent, Critical Perspectives on Communication and Third World Development, in: dies. (Hrsg.), Transnational Communications. Wiring the Third World, Newbury Park u.a. 1991, S. 1-26. 27 Kommunikationsmittel durch die Zentrumsnationen (Hochindustriestaaten) tritt deren Beherrschung der berichterstatteten Inhalte, etwa über die Kontrolle der wichtigsten Nachrichtenagenturen. Während daher aus Sicht des ZentrumPeripherie-Ansatzes die Konditionen des Auslandsjournalismus in den Peripherieländern in hohem Maß von den westlichen Zentrumsstaaten bestimmt werden können, werden in der Auslandsberichterstattung der Zentrumsstaaten Ereignisse dermaßen selektiv wahrgenommen und vermittelt, daß sie sich in das allgemeine imperialistische Interaktionsschema fügen, wobei Bedürfnisse der Peripherienationen in den Medien der Zentrumsnationen wenig Berücksichtigung finden.30 Die strukturelle Theorie des Imperialismus (Galtung) ist eine der wenigen Makrotheorien der internationalen Beziehungen, die die globalen Informationsbeziehungen und insbesondere die Darstellungsprozesse der Massenmedien (in der Auslandsberichterstattung) zu einem Bestandteil macht. Zu einem theoretischen Erklärungsmodell, das differenziert genug wäre, um für empirische Untersuchungen dienlich zu sein, gelangt sie gleichwohl nicht. • Globalisierungstheorie: Als theoretischen Leitbegriff der internationalen Kommunikationsforschung hat „Globalisierung“ ältere Paradigmen der Modernisierung oder Dependenz in den neunziger Jahren weitgehend abgelöst. Dennoch ist die grundlegende Polarität der Theorien erhalten geblieben, mit dem Unterschied allerdings, daß sich die Globalisierungstheorie weniger mit den durch Kommunikationsprozesse induzierten Entwicklungen in Nationalstaaten als mit supranationalen Strukturen beschäftigt. Zu unterscheiden sind grundsätzlich zwei Gattungen von Globalisierungstheoremen mit sehr unterschiedlichen Implikationen für die internationale Medienberichterstattung. Sie können unter den Begriffen „Konversionstheorie“ und „Domestizierungstheorie“ gruppiert werden. Der locus classicus der Konversionstheorie ist Marshal McLuhans Ansatz des „globalen Dorfes“ (global village), wonach insbesondere die Massenmedien als eine derart perfektionierte Form der technischen Erweiterung des menschlichen Sinnesapparates betrachtet werden, daß für das 21. Jahrhundert die Realisierung eines kollektiven globalen Bewußtseins prognostiziert wird.31 In diesem Ansatz sind Störungen der internationalen Medienberichterstattung, wie sie in der Modernisierungstheorie ansatzweise und in der Dependenztheorie mit Schwerpunkt erörtert werden, ohne Belang, zumal die radikal-konstruktivistische Basis des McLuhan’schen Denkens gar keinen Raum für funktionalistische Betrachtungen der Auslandsberichterstattung läßt. McLuhans Arbeit hat auch in späten Werken der Modernisierungstheorie konversionstheoretische Spuren hinterlassen, etwa wenn dort angenommen wird, daß mit dem quantitativen Ausbau globaler Kommunikationsbeziehungen das Informationsniveau in den Medien steigt, partikulare Auslands- und Weltbil- 30 Galtung, Eine strukturelle Theorie, S. 58-60. Galtung konzeptionalisiert sogar die später im MacBride-Bericht angedeutete Rückwirkung der westlichen Auslandsberichterstattung auf die interne politische Kultur der Entwicklungsländer, wenn er davon spricht, daß die globale Massenkommunikation eigene „Bedürfnisse“ wecke. Ebenda, S. 60 f. 31 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle/“Understanding Media“, Düsseldorf u.a.1992. 28 der abgebaut und internationale Konflikte minimiert werden.32 Eine differenzierende Fortsetzung findet die Konversionstheorie in Roland Robertsons Konzept der „Glokalisierung“, wobei lokale, regionale, nationale und globale Perspektiven der Gesellschaftswahrnehmung als zunehmend verschmelzend betrachtet werden.33 Kritiker der Konversionstheorie haben moniert, daß sie die Globalisierungstendenzen der Massenkommunikation überbewertet, indem sie die zunehmende technische Vernetzung und ökonomische Transnationalisierung mit der Universalisierung von Medieninhalten gleichsetzt und politische, ideologische oder kulturelle Partikulareinflüsse der Auslandsberichterstattung lokal, national wie international operierender Medien unterbewertet.34 Dabei hat sich die An32 Pool, Technologies, S. 132-137. 33 Roland Robertson, Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt 1998, S. 192-220; ders., Mapping the Global Condition, in: Annabelle Sreberny-Mohammadi/Dwayne Winseck/Jim McKenna/Oliver Boyd-Barrett (Hrsg.), Media in Global Context. A Reader, London 1997, S. 2-10. 34 Hedley Bull weist darauf hin, daß eine quantitative Ausweitung von Kommunikation nicht zu einem Abbau von Konflikten in den internationalen Beziehungen führen muß, sondern daß gerade die Intensivierung der Kommunikation Spannungen durch das Gewahrwerden partikularer (subjektiver) Identitäts- oder Interessenunterschiede vergrößern kann (Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, London/Basingstoke 1977, S. 273-276; vgl. a. Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995, S. 273). Zbigniew Brzezinski meint, daß sich die internationalen Beziehungen weitaus geeigneter durch das Modell der „globalen Stadt“ („global city“) verdeutlichen lassen, durch ein nervöses und fluktuierendes Netz, das mehr durch Interaktion als durch Kenntnis und Übereinstimmung zu betrachten ist (Zbigniew Brzezinski, Between two Ages, New York 1970). Michael Kunzcik hat darauf hingewiesen, daß McLuhan keinen Begründungszusammenhang für sein Konzept einer quasievolutionären Entwicklung der Weltgesellschaft aus der Kommunikation herstellt (Michael Kunczik, Massenmedien und Entwicklungsländer, Köln/Wien 1985, S. 197). Annabelle SrebernyMohammadi konzediert einen Widerspruch zwischen der These McLuhans vom „globalen Dorf“ und den Ergebnissen der empirischen Berichterstattungsforschung, die in hohem Maße Domestizierungstendenzen der Auslandsberichterstattung belegt (Annabelle Sreberny-Mohammadi, Global News Media Cover the World, in: John Downing/Ali Mohammadi/Annabelle SrebernyMohammadi (Hrsg.), Questioning the Media. A Critical Introduction, Thousand Oaks u.a. 1995 (2. Aufl.), S. 429). Thomas Schuster verbindet die Kritik an McLuhans Techno-Idealismus, der Machteinflüsse und den Widerspruch zwischen der Entwicklung technischer Reichweiten und programminhaltlichem Partiklarismus ausblendet, mit einer Kritik an McLuhans radikal-konstruktivistischem Denken. Das Global-Village-Modell ist demnach selbst ein Ideologem, da es einerseits den status quo des westlich dominierten free flow of information fordert, dies jedoch anders als die mainstream-Modernisierungstheorie durch seine Leugnung von Wirklichkeitsmaßstäben nicht mit den leicht angreifbaren westlich-modernen Inhalten, sondern mit der Utopie eines durch Kommunikation erzeugbaren Globalbewußtseins begründet (Thomas Schuster, Staat und Medien. Über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit, Frankfurt 1995, S. 41, 76-97). Die Ungleichzeitigkeit von technischer Globalisierung und inhaltlichem Partikularismus im Bereich der Massenmedien ist von einer Reihe von Autoren als ein Grundwiderspruch der derzeitigen globalen Kommunikation erkannt worden. Thomas L. McPhail hat moniert, daß ungeachtet der wachsenden technischen Kommunikationsmöglichkeiten der Informationsstand in den Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern abnimmt (McPhail, Electronic Colonialism, S. 285). Esther Krumbholz und Kerstin Reishus weisen darauf hin, daß sich die Berichterstattung über die „Dritte Welt“ seit der Kolonialzeit nicht entsprechend den technologischen Möglichkeiten entwickelt hat (Esther Krumbholz/Kerstin Reishus, Standbild Ausland, in: Die Entwickler. Der Blick der Medien auf die Dritte Welt (Trickster 18), München 1990, S. 65). Zum Zusammenhang zwischen Auslandsberichterstat- 29 nahme einer „Domestizierung“ der Auslandsberichterstattung als idealtypisches Gegenbild zur (konversiven) Globalisierung herauskristallisiert. Die empirisch gestützte Erkenntnis, daß dasselbe Ereignis, aufbereitet auf der Basis derselben Informationsquellen, in unterschiedlichen nationalen Mediensystemen in stark abweichenden und teilweise sogar gegensätzlichen Darstellungen münden kann, spricht dafür, daß partikulare politische, gesellschaftliche, organisatorische, religiös-kulturelle Einflüsse auf die Auslandsberichterstattung einer Homogenisierung der Weltbilder, wie sie der Konversionstheorie vorschwebt, grundsätzlich 35 im Wege stehen. Während also aus Sicht der Konversionstheorie die Vermittlungsleistung der Auslandsberichterstattung in einem Auslandsbild mündet, das Aspekte des Ursprungs- und des Ziellandes der Auslandsberichterstattung vereint (A/B in Abb. 3.2), spiegeln sich aus Sicht der Domestizierungstheorie in hohem Maß Einflüsse der Journalisten und des Medien- und Gesellschaftssystems des Ziellandes wider (A' in Abb. 3.3). Um aus solchen theoretischen Ansätzen eine anwendungsbezogene Theoriematrix der Auslandsberichterstattung zu gewinnen, muß an einer anderen Entwicklung der Medientheorie angeknüpft werden: der in letzten Jahren zunehmenden Systematisierung und Homogenisierung von Spezialtheorien der Medieninhaltsforschung,36 die zum Teil auch unter dem Begriff der „Qualitätssicherung“ von Medieninhalten firmiert.37 Die vorliegende Theoriematrix versteht sich – trotz zahlreicher inhaltlicher Abweichungen und Differenzen – als Pendant zur Theorieentwicklung nach Pamela J. Shoemaker und Stephen D. Reese für den Bereich der Auslandsberichterstattung, wo eine solche Systematisierung bisher nicht erfolgt ist. Shoemaker und Reese haben Aspekte der Auslandsberichterstattung nahezu gänzlich außer acht gelassen und haben statt dessen ihr Theoriengebäude zur Entstehung, Struktur und Wirkung von Medieninhalten nahezu ausschließlich anhand empirischer Befunde und Theoreme entwickelt, die im nationalen (US-amerikanischen) Raum entstanden sind.38 Aspekte der internationalen und interkulturellen Grenzüberschreitung und die damit einher- 35 36 37 38 30 tung und Globalisierung vgl. a. Markus Kriener/Miriam Meckel, Internationale Kommunikation. Begriffe, Probleme, Referenzen, in: dies. (Hrsg), Internationale Kommunikation. Eine Einführung, Opladen 1996, S. 15 f.; Kai Hafez, Gestörte Globalisierung. Gegentrends auf dem Weg zu einer internationalen Medienkultur, in: Blätter des Informationszentrums 3. Welt 228/1998, S. 20 f; ders., International News Coverage and the Problems of Media Globalization. In Search of a „New Global-Local Nexus“, in: Innovation. The European Journal of Social Sciences 12 (1999) 1, S.4762. Gurevitch/Levy/Roeh, The Global Newsroom. Pamela J. Shoemaker/Stephen D. Reese, Mediating the Message. Theories of Influence on Mass Media Content, New York 1996. Hagen, Informationsqualität. Daß die Arbeit von Shoemaker und Reese Fragen der internationalen Kommunikation und Auslandsberichterstattung nicht berücksichtigt, wird nicht zuletzt daran deutlich, daß zentrale Eckpfeiler der vorliegenden Theoriematrix wie Stereotypentheorie, Nationenbildforschung, Systemtheorie, transkulturelle Kommunikation und Krisen- und Konfliktkommunikation bei den amerikanischen Autoren nicht in Erscheinung treten. Eine praxisorientierte Einführung in die verschiedenen Aspekte der Auslandsberichterstattung bietet: Jaap van Ginneken, Understanding Global News. A Critical Introduction, London et al. 1998. gehenden spezifischen Probleme der menschlichen Wahrnehmung, der medialen Informationsbeschaffung und der Einflüsse durch und auf Politik und Gesellschaft werden nicht konzeptionalisiert, da sie nicht konstitutiv für den Entwicklungsprozeß der meisten verwendeten Theorien und Theoreme – z.B. agenda-setting- oder gatekeeper-Hypothesen – gewesen sind. Mit der spezifischen Wirkung des AgendaSetting im internationalen Rahmen, mit den besonderen Systemkonfigurationen des Mediensystems im Hinblick auf die internationale Berichterstattung, mit den Beziehungen zwischen Auslands- und Inlandsberichterstattung, um nur einige Beispiele zu nennen, haben sich nur sehr wenige Arbeiten beschäftigt. Bei einer Systematisierung des theoretischen Wissens über Prozesse der Auslandsberichterstattung zeigen sich eine Reihe von Leerstellen der Forschung in Theoriebereichen wie der transkulturellen Kommunikation durch Massenmedien, die noch in einem geradezu vorparadigmatischen Zustand sind.39 Der Aufbau der Theoriematrix zu internationalen und interkulturellen Darstellungsprozessen in Massenmedien (Abb. 3.4) ist das Resultat des Versuchs, die Inhaltsstrukturen, ihren Verursachungs- und Entstehungsprozeß sowie deren gesellschaftlichen Wirkungshorizont gleichermaßen zu erfassen: • Wahrnehmung und Kommunikation: Einleitend werden Grundkategorien der menschlichen Wahrnehmung und Kommunikation, insbesondere im Hinblick auf internationale und interkulturelle Sachverhalte definiert. Dabei sind verschiedene theoretische Richtungen eingeflossen, die ihrerseits in unterschiedlichen akademischen Disziplinen und Teildisziplinen entstanden sind (Soziopsychologie, Soziolinguistik usw.). Die Bestimmung von Grundkategorien der Wahrnehmung und Kommunikation wie „Bild/Nationenbild“, „Stereotyp/Nationenstereotyp“, „Diskurs,“ „Frame“ oder „Phasenstruktur“ ist zur Analyse von Medientexten in Presse und Rundfunk erforderlich. Eine Eingrenzung auf den ein oder anderen theorieleitenden Begriff – etwa auf Stereotype – würde den Geltungsbereich der gesamten Theoriematrix im Hinblick auf ihre Gültigkeit zur Erklärung von Strukturen, Ursachen und Wirkungen der Theorie erheblich einschränken und wird daher vermieden. 39 Frühzeitige Plädoyers für neue Forschungsanstrengungen auf dem Gebiet der Auslandsberichterstattung haben Claus Eurich und Herbert Kluge sowie Ansgar Skriver gehalten. Claus Eurich/Herbert Kluge, Auslandsberichterstattung im Deutschen Fernsehen, in: Rundfunk und Fernsehen 24 (1976) 1-2, S. 97-108; Ansgar Skriver, Auslandsberichterstattung – eine Entwicklungs- und Forschungsaufgabe, in: Jörg Aufermann/Hans Bohrmann/Rolf Sülzer (Hrsg.), Gesellschaftliche Kommunikation und Information. Forschungsrichtungen und Problemstellungen. Ein Arbeitsbuch zur Massenkommunikation II, Frankfurt 1973, S. 695-713. 31 • Medientheorie: Wahrnehmungs- und kommunikationstheoretische Annahmen werden aus heuristischen Gründen von der Medientheorie getrennt, denn die vorliegende Theorie behauptet, daß bei der in der Wissenschaft häufig praktizierten Ableitung der Medien- aus der Wahrnehmungs- und Kommunikationstheorie – etwa Stereotypentheorie als Paradigma zur Erforschung der Auslandsberichter- 32 stattung – die Spezifika des Mediensystems und des Zusammenspiels zwischen Journalist, Medien und Politik/Gesellschaft verloren gehen. Begrifflichkeiten der Wahrnehmungs- und Kommunikationstheorie finden sich gleichwohl auf allen Ebenen der vorliegenden Medientheorie wieder: Sie gehen in die Analyse von Inhaltsstrukturen ein (Welchen Stellenwert besitzen beispielsweise Frames und Stereotype in Texten der Auslandsberichterstattung?), ebenso wie in die Mikrotheorie (Wie wirken etwa persönliche Stereotype des Journalisten?) und in die Mesotheorie (Wie wirkt sich beispielsweise das Verhältnis NachrichtenagenturRedaktion auf die Formierung von Diskursen aus?). Sie werden jedoch in eine kommunikationswissenschaftlich, politologisch, soziologisch und kulturwissenschaftlich fundierte Theorie eingeordnet, die keinem Primat der Soziopsychologie folgt. • Strukturkomplex der Medientheorie: Im Strukturkomplex der Theorie werden Strukturaspekte der Schrift- und Bildtexte der Auslandsberichterstattung systematisch erfaßt. Im Vordergrund stehen die Herauskristallisierung, der Vergleich und die Synthetisierung von Kriterien und Kriterienkatalogen der bisherigen Forschung über Medieninhalte, insbesondere der Nachrichtenwertforschung und verwandter Untersuchungen über das Auslands- und Dritte-Welt-Bild in Massenmedien. Die Ergebnisse dieser Forschungsrichtungen sind teilkongruent, jedoch bisher nicht ausreichend vernetzt worden. Als Schwierigkeit für die gesamte Theoriematrix erweist sich, daß Nachrichtenfaktoren sich nur bedingt unter den Strukturaspekt ordnen lassen, da die Nachrichtenwertforschung nominell beansprucht, die Ursachen-Faktoren zu nennen (journalistische Routine), die zu einer bestimmten Textstruktur führen, weswegen sie auch zum Teil als medienwissenschaftliches Pendant zur Soziopsychologie betrachtet wird. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß Nachrichtenfaktoren gar nicht in einem Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang verortet werden, sondern es wird von einem einheitlichen Begriff der „Medienrealität“ ausgegangen, wobei die Strukturen außermedialer Ereignisse und ihre Konstruktion in den Medien nicht als Vermittlungsprozeß, sondern als Entität behandelt werden (Welche dem Ereignis immanenten Faktoren wirken sich in der Nachrichtenroutine aus?). Nachrichtenfaktoren lassen sich daher aus der Perspektive ihres theoretischen Geltungsanspruchs sowohl in den Struktur- wie auch im Ursachen- und Wirkungskomplex der Theorie der Auslandsberichterstattung integrieren. Die methodologische Beschränkung nahezu aller Nachrichtenfaktorenanalysen auf die Inhaltsanalyse von Medientexten zeigt jedoch, daß sich ihre eigentliche Aussagekraft auf Textstrukturen beschränkt, während weder ein Vergleich Medienrealität/Ereignisrealität noch die Analyse von Einflußfaktoren zwischen diesen Polen geleistet wird (was gemäß der radikal-konstruktivistischen Schule auch gar nicht gewünscht wird). Ein Nachklang der Verortungsproblematik ist, daß Nachrichtenfaktoren als routines der medialen Redaktionsarbeit auf der Mesoebene der Theorie nochmals in Erscheinung treten. • Entstehungs- und Wirkungskomplex: Die Untersuchung von Entstehungs- und Wirkungsbedingungen medialer Textstrukturen ist unter anderem aus den ge33 nannten Gründen in den letzten Jahren zunehmend nicht mehr allein in der Kommunikations-, sondern auch in den Politik- und anderen Sozialwissenschaften erfolgt.40 Der Ursachen- und Wirkungskomplex der Theorie der Auslandsberichterstattung läßt sich in drei Ebenen unterteilen: die Ebenen der Mikro-, Mesound der Makrotheorie. Auf der Mikroebene werden sozialisationsbedingte Einflüsse des Auslandsjournalisten auf den Medientext untersucht; auf der Mesoebene werden die Texte als Endprodukt der Medienorganisation als einem Informationsverarbeitungs- und organisierten Sozialsystem betrachtet; und auf der Makroebene werden die Beziehungen zwischen Medien und Gesellschaftssystem untersucht. - - - Mikroebene: Das Schwergewicht liegt hier zum einen auf der individuellen und politischen Sozialisation des Auslandsjournalisten, in deren Verlauf sich die kognitiven und affektiven Grundlagen internationaler Wahrnehmung herausbilden, die später Einfluß auf die Auslandsberichterstattung nehmen können. Zum anderen werden journalistische Rollenkonzepte der Auslandsberichterstattung als operationale Komponente eingeführt (Im Hinblick auf welche nationalen oder internationalen Handlungen und Anwendungen gestaltet der Journalist seinen Text?). Mesoebene: Zu den theoretisch konzeptionalisierbaren Einflüssen der Medienorganisation auf internationale und interkulturelle Rahmenbedingungen zählen die informationellen Rahmenbedingungen, das Verhältnis von Agenturmaterial zu journalistischer Eigenleistung, die durch verlegerische (oder andere hierarchische) Interessen sowie soziale Interaktionsprozesse gesteuerten Entscheidungsprogammierungen der Auslandsredaktionen, die sozialen Beziehungen zwischen Zentral- und externen Redaktionen (Auslandskorrespondenten) sowie die Struktur der innerjournalistischen Meinungsführermilieus. Makroebene: Die vorliegende Theoriematrix legt das Schwergewicht auf die Makroebene der Theorie, da das Zusammenspiel von Medien, Politik und Gesellschaft als Kernbereich der Medienforschung im Rahmen der Politikund Sozialwissenschaften betrachtet wird. Die Makrotheorie ist so angelegt, daß sie abschnittsweise von „innen“ nach „außen“ fortschreitet – von der Strukturierung der nationalen öffentlichen Themenagenda und Debatte (über internationale Fragen) als Grundfunktion der Medien (a) und den Einflußfaktoren auf die Auslandsberichterstattung im nationalen System (b) über die Interaktionen zwischen nationalem und internationalem Diskurs (c) bis zu den Grundfunktionen der Medien im internationalen Raum, d.h. im Rahmen der internationalen Krisen- und Konfliktkommunikation (d) sowie der inter- bzw. transkulturellen Kommunikation (e). 40 Vgl. Frank Marcinkowski, Publizistik als autopoietisches System. Politik und Massenmedien: Eine systemtheoretische Analyse, Opladen 1993, S. 11. 34 3.1 Bilder – Frames – Diskurse – Auslandsbild: Grundlagen der internationalen Perzeption und Kommunikation Einige der wesentlichen Grundlagen der Perzeptionstheorien, die für die politikwissenschaftlich orientierte Erforschung der Darstellungsprozesse in Massenmedien von Bedeutung sind, gehören in den Bereich der angewandten Sozialpsychologie (z.T. auch als „politische Psychologie“ bezeichnet). Die angewandte Sozialpsychologie kann als ein theoretisches Schnittfeld von Politikwissenschaft, Sozialwissenschaften und Psychologie betrachtet werden,41 das die psychologische Deutung politischer Denk- und Verhaltensweisen erforscht. Zu den Kernbereichen zählt die Bild-, Vorurteils- und Stereotypenforschung, die – ergänzt durch Ergebnisse der Kulturanthropologie und Ethnologie – häufig in die Nationen-, Völker-, Kultur- und Religionsbildforschung, d.h. in die Untersuchung der perzeptiven Beziehungen sozialer Großgruppen und politischer Verbände übergeht. Insofern kann die angewandte Sozialpsychologie zugleich als Teilbereich der Theorie der internationalen Beziehungen bezeichnet werden, da weder die Entscheidungsprozesse im internationalen politischen System noch die zwischengesellschaftlichen Beziehungen von den Nationenund Kulturbildern unbeeinflußt bleiben.42 Zur begrifflichen Grundlegung einer Theorie der Auslandsberichterstattung ist die soziopsychologische Vorgehensweise allein unzureichend. Da es sich hierbei in hohem Maß um die Untersuchung von Textstrukturen handelt, ist es nicht verwunderlich, daß gerade in den letzten Jahren analytische Ansätze in die Medienforschung eingeflossen sind, deren Ursprünge auf die Linguistik-, Literatur- sowie auf die Kommunikationswissenschaften zurückgehen, also auf Wissenschaften, deren locus nicht psychogene Perzeptionsphänomene sind, die im Text verifiziert werden, sondern die Gesamtheit des kommunizierten Textes selbst. Es findet eine Verlagerung von der Perzeptions- zur Kommunikationsforschung statt. Im folgenden werden vor allem die Framing- und die Diskursanalyse mit der Soziopsychologie gekoppelt, um einen komplexen Begriffsapparat zur Strukturbestimmung der internationalen Kommunikation aufzubauen. 3.1.1 Nationen-, Völker- und Kulturbilder: Perzeption unter den Bedingungen geokultureller Distanz Der Begriff „Bild“ (image) ist von Kenneth E. Boulding in die Politikwissenschaft eingeführt worden. Er definiert das Bild als Summe der kognitiven und affektiven Perspektiven und Urteile eines Handelnden in Bezug auf sich selbst und auf seine Umwelt.43 In der deutschen Bildforschung hat sich diese Definition etwa bei Werner 41 Ernst-August Roloff, Politische Psychologie, in: Wolfgang W. Mickel (Hrsg.), Handlexikon der Politikwissenschaft, Bonn 1986, S. 402 f. 42 Vgl. Henning Behrens/Paul Noack, Theorien der internationalen Politik, München 1984, S. 96 ff. 43 Kenneth E. Boulding, The Image. Knowledge in Life and Society, Ann Arbor 1969 (7. Aufl.). 35 K. Ruf ebenfalls durchgesetzt: „Ein Bild wird im allgemeinen definiert als die Gesamtheit der Charakteristika, die einem Objekt von einem Individuum – oder auch einer Gruppe – zugeschrieben wird (...). Demnach ist ein Bild zu verstehen als ein Element, welches konstitutiv ist für die Vorstellung von der Wirklichkeit, welche ein Individuum oder eine Gruppe sich zu eigen macht.“44 Zwar basiert die Bildforschung nicht auf einer radikalen erkenntnistheoretischen Infragestellung der außerhalb des menschlichen Bewußtseins existierenden Realität wie bei George Berkeley oder Bertrand Russell,45 doch geht man davon aus, daß die kognitive Realitätsaneignung ein Transformationsprozeß ist, bei dem nicht die Realität selbst, sondern ein durch Wahrnehmung gefiltertes Desiderat dieser Realität abgebildet wird. Die Prinzipien der kognitiven Realitätsaneignung lassen sich auf drei verschiedenen Ebenen ansiedeln: • Bild-Realitäts-Problematik: Zwischen Realität und kognitiver Abbildung besteht kein Identitätsverhältnis, sondern die Beziehungen sind vielfach gebrochen. Bilder sind entweder das Ergebnis von Vereinfachungsprozessen zur sinnhaften Aneignung komplexer Informationsangebote, d.h. Bilder sind Formen der Wahrnehmungsreduktion und der Reduktion von Umweltkomplexität mit dem Zweck der adäquaten Umweltbewältigung.46 Oder Bilder sind Imaginationen ohne jeden Hinweis auf intersubjektiv überprüfbare Realität (vgl. Kap. 2), so daß selbst die Vorstellung von einem „Körnchen Wahrheit“ (kernel of truth) eines jeglichen Abbildungsvorgangs unzutreffend ist. Die Neigung zu realitätsfremder Imagination ist um so größer, je abstrakter das abzubildende Objekt ist; sie ist damit etwa im Fall von „Nationen“ und „Nationenbildern“, um die es im Fortlauf der Darstellung primär gehen wird, als strukturell relativ groß einzustufen.47 Zur Einschätzung des Bild-Realitäts-Verhältnisses sind daher Bildtypisierungen erforderlich, wobei etwa Boulding zwischen spatial images (räumliche-geographische Vorstellungen), temporal images (Zeitvorstellungen), relational images (Weltordnung der Kulturen usw.), personal images (individuelle Bilder) und images of value (Wertvorstellungen) unterscheidet.48 Der Bildbegriff hebt nicht allein die „Versagensleistungen“ der Perzeption hervor, er ist nicht identisch mit realitätsfremder Imagination, sondern Bilder können ebenso Elemente der intersubjektiven Realitätskohärenz aufweisen (vgl. Kap. 2). • Bild-Struktur-Problematik: Bilder existieren nicht isoliert, sondern sie werden in komplexe Bildstrukturen eingedeutet, so daß komplementär zur Reduktion von 44 Werner K. Ruf, Der Einfluß von Bildern auf die Beziehungen zwischen Nationen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 23 (1973) 3, S. 21. 45 George Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, nach einer Übersetzung von Friedrich Überweg mit Einleitung, Anmerkungen und Registern neu herausgegeben von Alfred Klemmt, Hamburg 1979; Bertrand Russell, Probleme der Philosophie, Frankfurt 1978 (7. Aufl.). 46 Eckhard Marten, Das Deutschlandbild in der amerikanischen Auslandsberichterstattung. Ein kommunikationswissenschaftlicher Beitrag zur Nationenbildforschung, Wiesbaden 1989, S. 11 47 Otto Klineberg, The Human Dimension in international Relations, New York u.a. 1964. 48 Boulding, The Image, S. 47 f . 36 Komplexität die sinnstiftende Konstruktion von Realität durch die Organisation von Informationen stattfindet; ein konstitutiver Prozeß der Weltbildkonstruktion.49 Leon Festinger hat in seiner Theorie der „kognitiven Dissonanz“ darauf hingewiesen, daß die Einbettung neuer Information vor allem nach den Maßgaben einer notwendigen kognitiven Balance erfolgt, in die sich das neue Bild einfügt oder die es in einem neuen Equilibrium stabilisiert, wobei im Zweifelsfall das etablierte Bildsystem ein strukturelles Übergewicht gegenüber neuen Bildern geltend macht, was eine Art Sekundäranpassung der Wahrnehmung nach sich ziehen kann (s.u.: Stereotype).50 Das Bildsystem entsteht im Verlauf der primären Sozialisation (soziales Milieu) und der sekundären Sozialisation (Schule, Universität, Medien usw.) sowie durch direkte Erfahrung (ohne Vermittlung der Sozialisationsinstanzen).51 Als ein Sonderproblem der Erforschung von Abbildungsvorgängen im internationalen Kontext erweist sich, daß die Sekundärvermittler wie etwa die Massenmedien gegenüber der primären Sozialisation und der direkten Erfahrung eine im Vergleich zu anderen Bildbereichen dominierende Stellung einnehmen. • Individuum-Kollektiv-Problematik: Wie der Hinweis auf die Sozialisationsinstanzen beispielsweise verdeutlicht, können Bilder und Bildstrukturen neben der individuellen auch eine kollektive Dimension beinhalten, denn auch die Einordnung der individuellen Bildproduktion in größere soziale Zusammenhänge erweist sich als eine Frage der Umweltbewältigung. Das Individuum bildet die Realität auf seine eigene Weise ab, es findet eigene Formen der Wahrnehmungsselektion und -organisation. Im sozialen Zusammenhang jedoch können die Erfahrungen kumuliert werden und das Bildspektrum insofern über den Horizont direkter sinnlicher Erfahrung erweitert werden. Zudem ist prinzipiell das Vorhandensein oder die Entstehung kollektiver Bilder eine Voraussetzung für Kommunikation und soziale Integration, so daß abweichende Bildvorstellungen zu Faktoren der sozialen Desintegration werden können.52 Kollektivbilder lassen sich, wie Bilder im allgemeinen, typisieren, wobei Siegfried Quandt zwischen Expertenbildern in Politik, Wirtschaft und Kultur, Bildern von Massenmedien und Volksvorstellungen unterscheidet.53 Die Einordnung von Medienbildern als reinen Kollektivbildern ist jedoch fragwürdig, da, wie zu zeigen sein wird, individuelle Einflüsse des Journalisten, der Medienorganisation oder gesellschaftlicher Partikularkräfte auf die Medien einwirken. Allerdings existieren kollektivistische Einflüsse, etwa bei der Vereinheitlichung von Medienbildern in bestimmten Krisenund Konfliktsituationen. 49 Marten, Das Deutschlandbild, S. 17. 50 Leon Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, Hrsg. von Martin Irle und Volker Möntmann, Bern u.a. 1978. 51 Ruf, Der Einfluß, S. 22. 52 Marten, Das Deutschlandbild, S. 26-28; Pütz, Wolfgang, Das Italienbild in der deutschen Presse. Eine Untersuchung ausgewählter Tageszeitungen, München 1993, S. 39. 53 Siegfried Quandt, Zur Wahrnehmung der Deutschen im Ausland. Images als Produkt und Faktor der Geschichte, in: Völker und Nationen im Spiegel der Medien, Bonn 1989, S. 37. 37 Die genannten Problembereiche der Bildproduktion beziehen sich auf die Frage der kognitiven Realitätsaneignung und -verarbeitung. Bildern werden neben der kognitiven in der Regel auch eine affektive (emotional-wertende) und eine konative (handlungsorientierte) Dimension zugeschrieben. Dabei wird zumeist davon ausgegangen, daß sich die Bildkomponenten – vor allem der Übergang zwischen Kognition und Affektion – weder analytisch noch experimentell deutlich unterscheiden lassen.54 Hinsichtlich der Beurteilung der Bildproduktion im Kontext der sozialen Wahrnehmung lassen sich in der Sozialpsychologie zwei Meta-Paradigmen unterscheiden. Eine Reihe von Autoren hat darauf hingewiesen, daß die Vereinfachungs- und Schematisierungsvorgänge der Wahrnehmung grundsätzlich keine pathologischen Erscheinungen sind, sondern notwendige Orientierungsleistungen darstellen.55 Änne Ostermann ordnet diese Positionen unter die Rubrik der „Gleichheitshypothese“, wonach es sich bei den genannten Prozessen um reguläre, allgemein-menschliche Vorgänge handelt. Die Gegenposition subsumiert Ostermann unter der „Ausnahmehypothese“, wobei die Vereinfachungen von Umweltinformation als wahrnehmungspathologisch betrachtet und die gesellschaftliche Deformation der Realitätsverarbeitung betont wird.56 Es scheint sinnvoll, den beiden Bild-Paradigmen ein drittes hinzuzufügen, das den Bildwandel konzeptionalisiert. Als „Entwicklungshypothese“ könnte eine Position bezeichnet werden, in der zwischen der Notwendigkeit der Orientierungsleistung vereinfachender, schematisierter und kollektivierter Bilder im allgemeinen und der Wandelbarkeit jedes einzelnen Bildes unterschieden wird. Eine gezielte, aus den politischen, sozialen oder sonstigen normativen Ansätzen abgeleitete Differenzierung einzelner Bildbereiche ist ohne den Verlust der primären Orientierungsfunktion des Bildkomplexes insgesamt möglich.57 Zu den wichtigsten Bedingungen des Bild54 Ruf, Der Einfluß, S. 23. Für eine Medienanalyse, die sich auf die Untersuchung der Darstellungsprozesse in den Medien selbst konzentriert, statt durch einen Vergleich mit sogenannten ExtraMedien-Daten (Meinungs-umfragen usw.) das Affekt- und Handlungspotential von Medienbildern zu erforschen, spielt die Dreiteilung nur eine untergeordnete Rolle. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, daß Bilder handlungsleitend sein können, dies jedoch nicht müssen. Der BildHandlungs-Bezug läßt sich gemäß Robert K. Merton zu vier Charaktertypologien verdichten. Er unterscheidet a) den vorurteilsfreien Nichtdiskriminierer (all-weather liberal), b) den vorurteilsfreien Diskriminierer (fair-weather liberal), c) den vorurteilsbehafteten Nichtdiskriminierer (fair-weather illiberal) und d) den vorurteilsbehafteten Diskriminierer (all-weather illiberal). Robert K. Merton, Discrimination and the American Creed, in: Robert M. MacIver (Hrsg.), Discrimination and National Welfare, New York 1949, S. 99-126. 55 Vgl. u.a. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1957, S. 48 f.; Rheinhold Bergler/Bernd Six, Stereotype und Vorurteile, in: K. Gottschaldt/Ph. Lersch/F. Sander/H. Thomae (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Bd. 7: C.F. Graumann (Hrsg.), Sozialpsychologie, Göttingen 1972, S. 1371-1432; H.C. Duijker/N.H. Frijda, National Character and National Stereotypes, Amsterdam 1960, S. 125. 56 Änne Ostermann, Zu Analyse außenpolitisch relevanter Feindbilder in der Bundesrepublik 19491971, Bd. 2: Das Freund-Feind-Schema als stereotypes Perzeptionsmuster internationaler Politik. Eine inhaltsanalytische Untersuchung von Schulgeschichtsbüchern: Zum Problem stereotyper Muster in der Darstellung von Geschichte und Politik, Frankfurt 1977, S. 121 ff. 57 Hans J. Kleinsteuber, Stereotype, Images und Vorurteile. Bilder und Feindbilder in den Köpfen der Menschen, in: Wissenschaft und Fortschritt 42 (1992) 2, S. 53. 38 wandels zählen: a) Es muß ein differenziertes Informations- und Bildungsangebot zur Verfügung gestellt werden, das die empirisch nachgewiesene Korrelation zwischen Informations- und Bildarmut (je geringer die formale Bildung, um so größer die Vorurteile) berücksichtigt;58 b) Wandel ist um so leichter zu realisieren je früher in der individuellen Sozialisation eine entsprechende Entwicklung eingeleitet wird, da sich Bilder nach den Regeln der kognitiven Dissonanzlehre im Lauf der Zeit verfestigen können;59 c) Bildwandel ist nicht allein das Resultat von Aufklärung oder Erziehung, sondern Wandlungsfähigkeit ist unter anderem eine Funktion der individuellen oder, im Fall von Kollektivbildern, der soziopolitischen Interessenlage. Die Revision einmal verfestigter Bilder und Bildstrukturen ist in der Regel nur dann vielversprechend, wenn eine positive Übereinstimmung mit der Motivationsstruktur (affektive Ebene) des Bildträgers besteht.60 Der Bildbegriff ist sowohl ein terminus technicus der Sozialpsychologie in der oben dargelegten Weise als auch ein Oberbegriff für eine Reihe anderer, teilkongruenter Konstruktionen, darunter „Stereotyp“, „Feindbild“ und „Vorurteil“. Die Entstehungsgeschichte der Begriffe in unterschiedlichen, in die Sozialpsychologie hineinwirkenden Fachdisziplinen von der Kommunikationswissenschaft61 bis zur Werbepsychologie hat dazu geführt, daß zwischen den Begriffen keine definitorisch klare und konsensuale Abgrenzung besteht.62 Im folgenden wird der Stereotypenbegriff als eine Teilmenge des Bildbegriffs betrachtet, der die Aspekte der Einflusses kognitiver Schemata (Bild-StrukturProblematik) sowie die Kollektivität (Individuum-Kollektiv-Problematik) von Bildern hervorhebt. Stereotype sind wie Bilder insgesamt Produkte der kognitiven Realitätsumformung, die das Übergewicht des Bildsystems gegenüber dem Einzelbild ausdrücken, oder anders formuliert, bei dem die Wahrnehmung das Resultat vorangegangener Wahrnehmungen und etablierter Bildstrukturen ist. Walter Lippmann beschreibt diesen Vorgang als Grundregel der Perzeption: „For the most part we do not first see, and then define, we define first and then see.“63 Die Unterscheidung zwischen „Bild“ und „Stereotyp“ besteht in der Schwerpunktverlagerung des Bedeutungsinhalts von der Bild-Realitäts- zur Bild-Struktur-Problematik. Hinzu kommt, wie bei einigen Autoren so auch im vorliegenden Fall, eine Verschiebung zum Kollektivbild, wobei ein Bild individuelle wie kollektive Einflüsse beinhaltet, Stereotype 58 John Harding/Bernard Kutner/Harold Proshansky/Isidor Chein, Prejudice and Ethnic Relations, in: Gardner Lindzey (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Bd. 2: Special Fields and Applications, Reading/London 1954, S. 1046 f. 59 Ebenda, S. 1034 ff. 60 Vgl. die Darstellung zu Rosecrance in Kap. 3.2.4.4.1. 61 Der Stereotypenbegriff wurde von Walter Lippmann eingeführt und war eine drucktechnische Metapher. Walter Lippmann, Public Opinion, New York 1949 (Orig. 1922), S. 79 ff; vgl. a. Peter R. Hofstätter, Die Psychologie der öffentlichen Meinung, Wien 1949. 62 Diese Tatsache ist von einer Reihe von Autoren moniert worden; vgl. a. Susanne von Bassewitz, Stereotype und Massenmedien. Zum Deutschlandbild in französischen Tageszeitungen, Wiesbaden 1990, S. 22. 63 Lippmann, Public Opinion, S. 81. 39 hingegen immer Kollektivbilder sind.64 Wie zu zeigen sein wird, wäre es insofern sinnvoller statt von „Nationenbildern“ von „Nationenstereotypen“ zu sprechen, da in diesem Bereich durch geringe Eigenerfahrung und die Wirkung der geographischen Distanz die Bedeutung sekundärer gesellschaftlicher Vermittlungsinstanzen (wie der Massenmedien) nachhaltig ist, was wiederum zur Kollektivierung von Bildvorgängen beiträgt.65 Als eine Sonderform und sinnvolle theoretische Ergänzung des Bildbegriffs kann das Feindbild betrachtet werden. Der Schwerpunkt des Feindbildbegriffs liegt, anders als beim Stereotyp, im Bereich der Bild-Realitäts-Problematik. Sieht man von der zusätzlichen besonderen Verankerung des Begriffs in der konativen Dimension ab (Feindbilder als Motiv für perzipierte und antizipierte Handlungen des Wahrnehmenden wie des Wahrgenommenen; das Feindbild geht von einem feindlichen Handlungspotential und von feindlichen Handlungsabsichten aus und legt damit eigene Handlungskonsequenzen näher als jede andere Bildgattung), so steht weniger die Frage nach der Schematisierung und Gemeinschaftlichkeit der Wahrnehmung als vielmehr die Frage der authentischen, oder präziser: intersubjektiv überprüfbaren (vgl. Kap. 2) Realitätsabbildung im Vordergrund. Was die Einschätzung des Verhältnisses Bild-Realität betrifft, bezeichnen Hans Nicklas und Änne Ostermann das Feindbild als die inadäquate Hervorhebung des Aspekts der Feindschaft.66 Ostermann hat darauf hingewiesen, daß die Inadäquanz dabei nicht zwangsläufig bedeuten muß, daß der Feind real nicht existent ist, da Feindbilder Bilder realer wie imaginärer Feinde sein können. Ostermann ordnet das Verhältnis Bild-Realität daher auf einem Kontinuum zwischen 0 und 100 an, wobei 0 das Feindbild eines Paranoikers, 100 hingegen eine intersubjektiv bestätigte Bedrohungswahrnehmung erkennen läßt: „Der gängige Feindbildbegriff, der eine nicht 64 von Bassewitz, Stereotype, S. 6 f. 65 Ähnlich wie das Stereotyp ist das Vorurteil ein Urteil a priori, das einer individuellen Tatsachenüberprüfung nicht standhält. Das Vorurteil wird häufig, wenn in der Literatur auch nicht durchgängig, als affektiv-wertendes Pendant zum kognitiven Bild oder Stereotyp bezeichnet. Dabei wird überwiegend davon ausgegangen, daß zwar die Vereinfachungen und Verzerrungen von Bildern und Stereotypen prinzipiell unvermeidlich sind, daß jedoch die latente Wahrnehmungsverweigerung, die mit dem Vorurteil einhergeht, sich einem möglichen und eventuell gewünschten Bildwandel irrational-affektiv widersetzt. Die Abgrenzung zwischen Bild/Stereotyp und Vorurteil ist insofern definitorisch nicht stringent, als auch Bildern und Stereotypen in der Regel nicht nur eine kongnitive, sondern auch eine affektiv-wertende Dimension zugeschrieben wird, so daß das Vorurteil als Begriff für die affektiv-emotionale Dimension von Bildern und Stereotypen verwendet werden kann. Da dies überflüssig erscheinen muß und andererseits, wie oben gezeigt, die Frage des Bildwandels ohne ein Verständnis für die Mehrdimensionalität des Bildbegriffs – kognitiv, affektiv, konativ – nicht erreicht werden kann, so daß eine Herausnahme nicht-kognitiver Bestandteile aus der Definition von Bild/Stereotyp nicht sinnvoll erscheint, stellt sich der Umgang mit dem Vorurteilsbegriff aus der Perspektive der sozialpsychologischen Bildtheorie als ein definitorisches Abgrenzungsproblem dar. 66 Hans Nicklas/Änne Ostermann, Die Rolle von Images in der Politik. Die Ideologie und ihre Bedeutung für die Imagebildung am Beispiel des Ost-West-Konflikts, in: Völker und Nationen im Spiegel der Medien, Bonn 1989, S. 27. 40 realitätsangemessene Perzeption meint, wäre dann ein engerer Feindbildbegriff, der nur die eine Seite des Kontinuums erfaßt.“67 Nationen, Völker, Kulturen und Religionen entstehen als Resultat von Bildkonstruktionsvorgängen: „A nation is some complex of the images of the persons who contemplate it, and as there are many different persons, so there are many different images.“68 Kollektive Selbstbilder von Nationen, also Auto-Nationenstereotype, unterliegen in der Regel einem starken kollektiven Konsens- und Vereinheitlichungsdruck. Sie sind, darauf hat Kenneth E. Boulding hingewiesen, im Kern Traditionsbilder (folk images), die zumeist über die Primärgruppe vermittelt werden, die sich jedoch auch in der Wechselbeziehung zwischen politischen Eliten und der politischen Kultur einer Gesellschaft entwickeln können. Auto-Nationenstereotype sind in der Regel eng mit der Frage politischer Legitimität verbunden, wobei Eliten- und Massenbilder nicht zu weit voneinander abweichen dürfen, da sonst ein Legitimationsverlust der Herrschaft droht.69 Neben den nationalen (kulturellen, religiösen usw.) Selbstbildern existieren entsprechende Fremdbilder oder Hetero-Stereotype.70 Bildkonstruktionsvorgänge unterliegen im internationalen Kontext dem Sonderproblem einer weitgehenden Trennung der Nah- und Fernwelt des Perzipienten. Während Bilder der gesellschaftlichen Nahwelt durch eine Synthese aus Primär-, Sekundärsozialisation und direkter Erfah67 Ostermann, Zur Analyse, S. 100. Problematisch bleibt auch bei Ostermann, daß „Realitätsinadäquanz“, wie die Autorin selbst bemerkt, nicht nur die Folge von Imagination (Mißinterpretation im Sinne der Feindschaft), sondern auch eine von Realitätsvereinfachung (unvollständige Wahrnehmung des Gegners, der ausschließlich in seinen negativen Eigenschaften wahrgenommen wird; Schwarz-Weiß-Zeichnung) sein kann. Dies bedeutet zugleich, daß auch die Wahrnehmung real existierender Feindschaft insoweit realitätsinadäquat ist, als sie sich allein oder vornehmlich auf die Feindlichkeit als Wesenszug des anderen kapriziert. Selbst der Feind kann freundschaftliche Beziehungen zu anderen pflegen, und er kann über ein Potential zum Einstellungswandel verfügen. Da dies nichts anderes bedeutet, als daß Feindbilder tatsächlich immer mehr oder weniger realitätsinadäquat sind, ist auch Ostermanns Kontinuummodell unvollständig, denn die verschiedenen Typen des Feindbildes müßten unterhalb des 100-Punktes angesiedelt werden, während der 100-Punkt selbst eine komplexe Bildstruktur jenseits von Feindbildern markiert. Daniel Freis Feindbildtypologie beispielsweise beschränkt sich daher auch nicht auf die Frage des „richtig“ oder „falsch“ der Feindwahrnehmung und konzentriert sich vielmehr auf eine genaue Beschreibung der Realitätsannahmen im Rahmen des Feindbildes, etwa auf Nullsummen-Denken, die Vorstellung vom „Ausnahmecharakter gegnerischer positiver Handlungen“ oder „Zweifel an Reziprozität“ (Entgegenkommen des Gegners). Daniel Frei, Feindbilder und Abrüstung: Die gegenseitige Einschätzung der UdSSR und der USA. Eine Studie des Instituts der Vereinten Nationen für Abrüstungsforschung (UNIDIR), München 1985; ders., Wie Feindbilder entstehen, in: Günther Wagenlehner (Hrsg.), Feindbild. Geschichte – Dokumentation – Problematik, Frankfurt 1989, S. 222-226. 68 Kenneth E. Boulding, National Images and International Systems, in: James N. Rosenau (Hrsg.), International Politics and Foreign Policy. A Reader in Research and Theory, New York/London 1969, S. 423. 69 Ebenda, S. 424. 70 Zur Einführung in die Theoriediskussion über Nationenbilder vgl. Marten, Das Deutschlandbild, S. 9-118; von Bassewitz, Stereotype, S. 3-50; Rosario Ragusa, Der Medien-Stiefel. Italienberichterstattung in der deutschen Presse, Frankfurt/Bern 1981, S. 9 ff.; Michael Rehs, Nationale Vorurteile – ein Problem internationaler Verständigung, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 23 (1973) 3, S. 3-9; Pütz, Das Italienbild, S. 46-49; Völker und Nationen im Spiegel der Medien, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1989. 41 rung entstehen, fehlt bei der Verarbeitung von Informationen über andere Nationen oder Kulturen in der Regel direkte Erfahrung und die Primärgruppe ist weitgehend auf die soziale Qualifikation in der Nahwelt ausgerichtet, so daß die Rolle der sekundären Sozialisationsinstanzen von der Schule bis zu den Massenmedien wächst.71 Das Problem geopolitischer und -kultureller Distanz ist damit zugleich eines der sekundären Realitätsvermittlung durch Medien. Mit den Entstehungsbedingungen von Auto- und Hetero-Stereotypen von Nationen, Völkern, Kulturen oder Religionen hat sich eine Reihe von theoretischen Ansätzen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen beschäftigt. Die Ethnozentrismustheorie betont das ideologische Abgrenzungsbedürfnis sozialer Gruppen;72 die Psychoanalyse bzw. „Ethnopsychoanalyse“ deutet sie zum Teil als „Narzismus der kleinen Differenz“;73 aus Sicht der politikwissenschaftlichen Perzeptionsforschung sind Nationenbilder das Resultat von individuellen Perzeptionsleistungen und -fehlleistungen im politischen Entscheidungsprozeß oder Ausdruck von Werteeinflüssen der politischen Handlungsträger (Perzeption/Fehlperzeption);74 sie werden 71 Verschiedene Autoren haben auf die Distanzerfahrung als Sonderproblem der Nationenbildund/oder Medienforschung hingewiesen: Ostermann, Zur Analyse, S. 114; von Bassewitz, Stereotype, S. 23 f.; Jürgen Osterhammel, Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: Hans-Joachim König/Wolfgang Reinhard/Reinhard Wendt (Hrsg.), Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung, Berlin 1989, S. 9-42. 72 Locus classicus des Ethnozentrismusansatzes sind die Arbeiten von William Graham Sumner sowie von Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford. William Graham Sumner, Folkways. A Study of the Sociological Importance of Usages, Manners, Customs, Mores and Morals, New York 1906; Daniel J. Levinson, The Study of Ethnocentric Ideology, in: Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/ Daniel J. Levinson/R. Nevitt Sanford, The Authoritarian Personality, New York 1950, S. 150. Zur Ethnozentrismustheorie vgl. a. Robert LeVine/Donald T. Campell, Ethnozentrismus: Theories of Conflict, Ethnic Attitudes and Group Behavior, New York 1972; Roy Preiswerk/Dominique Perrot, Ethnocentrisme et histoire: l’Afrique, l’Amérique indienne et l’Asie dans les manuels occidentaux, Paris 1975. Zur Entwicklung der Ethnozentrismusforschung vgl. Jean-Francois Bürki, Der Ethnozentrismus und das Schwarzafrikabild. Eine Begriffsbestimmung, gefolgt von einer Analyse des Schwarzafrikabildes in drei großen europäischen Tageszeitungen: Neue Zürcher Zeitung, Die Welt, Le Monde, Bern u.a. 1977, S. 5 f. 73 Dieser auf Sigmund Freud zurückreichenden Vorstellung liegt die Einsicht zugrunde, daß Regression zu Religion und Kultur als wichtige Faktoren des Weltbildes dazu beitragen können, daß selbst kleinen Differenzen größte Bedeutung beigemessen wird, um den kulturdefinierten Narzismus der eigenen Person oder Gruppe zu befriedigen. James M. Youakim, Psychodynamic Perspectives on the „Clash of Civilizations,“ in: Mind & Human Interaction 6 (1995) 3, S. 141 f. 74 Robert Jervis’ Arbeiten sowie die gesamte vom Ost-West-Konflikt stimulierte Perzeptionsforschung ist häufig als Relativierung der sogenannten realistischen Schule der Außenpolitik (Morgenthau u.a.) verstanden worden, insofern als sie den Einfluß von Perzeptionsvorgängen, kollektiven wie individuellen Bildkonstruktionen als zum Teil höher eingestuft hat als die Wirkung ökonomischer und politischer Machtressourcen: „A desired image (...) can often be of greater use than a significant increment of military or economic power. An undesired image can involve costs for which almost no amount of the usual kinds of power can compensate and can be a handicap almost impossible to overcome.“ (Robert Jervis, The Logic of Images in international Relations, New York/Oxford 1989 (Repr. von 1970), S. 6). Jervis definiert das „Bild eines Staates“ (image of a state) in der internationalen Politik als „beliefs about the other that affect his predictions of how the other will behave under various circumstances“ (S. 5). Nationenbilder können demnach als das Resultat aller Bilder der Vergangenheit und Gegenwart über einen anderen Staat/eine andere Nation 42 der voluntaristischen Nutzung zum Zweck der Legitimation oder Massenmobilisierung zugeschrieben (Kalkulation/Fehlkalkulation);75 oder sie werden als Grundbedürfnis politischer Systeme betrachtet, die durch externe Abgrenzung ihre Autonomie sichern und Existenzberechtigung demonstrieren.76 Fremdbilder von Nationen, Kulturen, Völkern oder Religionen sind, wie die entsprechenden Selbstbilder, traditionsträchtige Massenbilder.77 Sie zeichnen sich durch eine ungewöhnliche historische Persistenz aus: „(S)uch systems of beliefs tend to be relatively stable, in the sense that it requires unusual political, economic, or social events to modify them on a wide scale.“78 Gleichwohl unterscheidet Franz W. Dröge zwischen drei historischen Periodizitäten des Nationenbildes: a) kultur-dauernden Stereotypen (z.B. religiöse Vorstellungen); b) kultur-epochalen Stereotypen (z.B. 75 76 77 78 zur Antizipationsgrundlage zukünftiger Handlungen werden. Dadurch daß auf diese Art auch Stereotype zum Tragen kommen, die vom politischen Akteur unzureichend reflektiert und durch alternative Wahrnehmungskonzepte ergänzt werden, kommt es nach Jervis zu Fehlperzeptionen (misperceptions) im politischen Entscheidungsprozeß (Robert Jervis, Perception and Misperception in International Politics, Princeton 1976; vgl. a. Michael MccGwire, The Genesis of Soviet Threat Perception, Hrsg. von The Brookings Institution, Washington, D.C. 1987, S. 1-62; Richard B. Parker, The Politics of Miscalculation in the Middle East, Bloomington/Indianapolis 1993 sowie Kai Hafez, Rezension zu Richard B. Parker, The Politics of Miscalculation in the Middle East, Bloomington/Indianapolis 1993, in: Orient 36 (1995) 2, S. 331-332). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Ole R. Holsti, in dessen Modell sich allerdings Nationenbilder mit den Wertvorstellungen des politischen Akteurs (images of what ought to be) zu einem einheitlichen handlungsleitenden „Glaubenssystem“ (belief system) verbinden, das seinerseits in Wechselbeziehung mit realen Interessen und Motiven den Entscheidungsprozeß mitbestimmt. Ole R. Holsti, The Belief System and National Images: a Case Study, in: The Journal of Conflict Resolution 6/1962, S. 244-252. Im Unterschied zu Jervis geht etwa Jochen Hippler von einem Modell aus, das zwar Fehlperzeptionen der Eliten nicht ausschließt, vor allem jedoch den kalkulierten Einsatz eines Feindbildes zum Zweck der politischen Legitimation und Massenmobilisierung betont. Jochen Hippler, Islam und westliche Außenpolitik, in: ders./Andrea Lueg (Hrsg.), Feindbild Islam, Hamburg 1993, S. 180 ff. Bei Jean-Christophe Rufin dienen Feindbilder der internationalen Beziehungen als äußeres Korrelat der innergesellschaftlichen Konsensbildung, der Annäherung institutioneller Subsysteme und Aufrechterhaltung der politischen Handlungsfähigkeit der pluralistischen Gesellschaft. Dabei sind aus der Sicht Rufins Auto-Stereotype der Demokratie als einer „friedlichen“ Politikform, die vor allem auf Grund des relativen Mangels an innerer Repression entstehen, im Kontext des internationalen Systems zu relativieren. Rufin spricht statt dessen von einer paradoxalen „Diktatur des Liberalismus“, wobei jeder Grad an innerer Freiheit mit globaler Repression – zumindest auf der Wahrnehmungsebene – verbunden ist (Jean-Christophe Rufin, Die Diktatur des Liberalismus, Deutsch von Hainer Kober, Reinbek bei Hamburg 1994 (frz. Orig. 1994), S. 11-22). Bereits Kenneth E. Boulding hat darauf hingewiesen, daß die idealtypische Unterscheidung zwischen dem autoritären System als Form der hierarchischen Bildmanipulation (Agitation, Propaganda) und dem demokratischen System als System der offenen, pluralistischen Bildproduktion, in dem eine stereotype Verfestigung von kollektiven Bildern und Feindbildern durch pluralistische Mechanismen der Bildoffenheit und des permanenten Bildwandels verhindert wird, relativiert werden muß. Kenneth E. Boulding, The Image, S. 97-114. Kenneth E. Boulding: „(T)he national image is essentially a historical image.“ Boulding, National Images, S. 424. Harding/Kutner/Proshansky/Chein, Prejudice, S. 1024. 43 Vorstellungen über „die Juden“) und c) zeitgeschichtlich determinierten Stereotypen (z.B. Vorstellungen über „die Franzosen“).79 Wie die Sozialpsychologie hat auch das Wissen über Nationen-, Völker-, Kulturund Religionsbilder erweitert. Die komparative Stärke kulturwissenschaftlicher Ansätze besteht darin, daß sie Erkenntnisse über menschliche Wahrnehmungsprozesse mit Aussagen über das Erkenntnisobjekt in Verbindung bringen kann und derart vor allem Fragen im Bereich der Bild-Realitäts-Problematik in den internationalen Beziehungen zu vertiefen geeignet ist.80 In der Kulturanthropologie ist in den neunziger Jahren, nach dem Ende des Ost-West- und ideologischen KommunismusKapitalismus-Konflikts, eine wachsende „Kulturalisierung und Ethnisierung sozialer, ökonomischer und politischer Zusammenhänge“ registriert worden.81 Für diese These spricht die zunehmende Popularität ethnischer Identitätsmuster in zahlreichen Staaten (ehemaliges Jugoslawien, Zentralasien, Kaukasus/Transkaukasus, Québec usw.) ebenso wie das Vordringen des essentialistisch-differentialistischen Kulturbegriffs in die Politikwissenschaft, die etwa in Form der These Samuel P. Huntingtons vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ (clash of civilizations) zu den meistdiskutierten Paradigmen der neunziger Jahre gehört hat,82 während sie in früheren Jahrzehnten überwiegend in der Kultur- und Geschichtswissenschaft angesiedelt war. 79 Franz W. Dröge, Publizistik und Vorurteil, Münster 1967, S. 151. Manfred Koch-Hillebrecht hat vier „Gesetze“ der Konstruktion von Nationen-, Kultur- und sonstigen Großgruppenbildern ermittelt: a) Gesetz der Nachbarschaft: durch Grenzkriege und -konflikte entstehende Hetero-Stereotype (z.B. Deutschland und seine Nachbarn Niederlande, Polen, Tschechien); b) Nord-Süd-Gesetz: Sowohl innerhalb als auch zwischen Staaten und Großräumen haben sich gemäß Koch-Hillebrecht seit dem Altertum Vorstellungen der Nüchternheit, Kühlheit, Steifheit und Zurückhaltung im Norden und Lebhaftigkeit, Leidenschaftlichkeit, Triebhaftigkeit und Faulheit im Süden entwickelt; c) WestOst-Gesetz: Vorstellungen einer größeren Kultiviertheit der West- und größeren Einfachheit der Ostvölker (v.a. in Europa); d) Gesetz der Ähnlichkeit: Tendenz zu positiveren Hetero-Stereotypen dort, wo historische Verwandtschaft oder Ähnlichkeit vermutet wird (Manfred Koch-Hillebrecht, Das Deutschenbild. Gegenwart, Geschichte, Psychologie, München 1977, S. 235-242). Zahlreiche Beispiele für das Versagen der Gesetze ließen sich entweder als Gegenbeispiele anführen, sie können jedoch auch, was sinnvoller wäre, als zeitgeschichtliche Schwankungen im Sinne Dröges verstanden werden. Um nur ein Gegenbeispiel gegen das Gesetz der Nachbarschaft anzuführen: Japanische Studien haben gezeigt, daß in Japan die als kulturell sehr entfernt geltenden USA als freundliche Nation, das kulturell verwandte China hingegen als feindliche Nation eingestuft wird, obwohl zu beiden ein Nachbarschaftsverhältnis mit jüngerer Kriegserfahrung besteht (vgl. José Miguel Salazar/Gerardo Marin, National Stereotypes as a Function of Conflict and Territorial Proximity: a Test of the Mirror Image Hypothesis, in: The Journal of Social Psychology 101/1977, S. 15 f.). Das Bild der USA als normatives Modernisierungsvorbild des 20. Jahrhunderts ist in der Lage gewesen, gleich mehrere Gesetze der Nationenbildkonstruktion zu relativieren und aufzuzeigen, daß eine Gesetzesnormierung in Wahrheit einer flexiblen Theorieformulierung weichen muß. 80 Vgl. Ina-Maria Greverus/Konrad Köstlin/Heinz Schilling, Kulturkontakt – Kulturkonflikt: Zur Erfahrung des Fremden. 26. Deutscher Volkskundekongreß in Frankfurt vom 28. September bis 2. Oktober 1987, 2 Bde., Frankfurt 1988. 81 Dieter Haller, Die Wiederkehr des biologisch-kulturalistischen Denkens, in: epdEntwicklungspolitik 14/1996, S. d10. 82 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72 (1993) 3, S. 22-49; ders., Der Kampf der Kulturen/The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996. Zur Diskussion der These Huntingtons vgl. Zusammenprall der Kulturen?, Sonderheft der Zeitschrift Die Brücke 88/März-April 1996/2; Christoph Butterwegge, 44 Die Bild-Realitäts-Problematik sowie die Sonderprobleme der Distanzerfahrung und der Nationen- und Kulturbilder werden in der Kulturanthropologie unter dem Begriff der „Essentialisierung“ gefaßt. Essentialisierung beschreibt den Vorgang, bei dem Kulturen (oder Zivilisationen) als geschlossene Sinnsysteme verstanden werden, denen definierbare Kerneigenschaften (Essenzen) zugeordnet werden. Von essentialistischen Ansatz unterscheidet sich der synkretistische Ansatz, wonach die unter anderem von Irenäus Eibl-Eibesfeldt konzedierte Reinheit von Kulturen real nicht existent ist.83 Das Konzept des Kultursynkretismus ließe sich etwa durch folgende Grundannahmen kennzeichnen: a) Nationen, Völker, Kulturen und Religionen sind Konzepte, die historischen Wandlungsprozessen unterliegen, sie sind dynamisch, nicht statisch; b) es sind Oberbegriffe für eine Vielzahl heteromorpher Subsysteme; c) unterschiedliche Systeme hoher Ordnung (z.B. Zivilisation als Oberbegriff für verschiedene kulturelle Subsysteme) besitzen im Verhältnis zueinander Zonen größerer und geringerer Kongruenz.84 3.1.2 Die Grenzen der Stereotypenforschung und die basalen Einheiten der Kommunikation Hans J. Kleinsteuber hat darauf hingewiesen, daß die Stereotypenbildung unter globalen Distanzbedingungen besonders ausgeprägt ist, der Einfluß von Sekundärvermittlern wächst und daher Stereotypenforschung in vielen Fällen zugleich Medienforschung ist.85 Tatsächlich wird die Untersuchung des Mediators „Massenmedien“ im Prozeß der Bildaneignung, -verfestigung oder des Bildwandels zu einem eigenen turen?, Sonderheft der Zeitschrift Die Brücke 88/März-April 1996/2; Christoph Butterwegge, Kampf oder Dialog der Kulturen? Samuel P. Huntingtons These vom „Zusammenprall der Zivilisationen, in: Zeitschrift für Migration und soziale Arbeit 2/1996, S. 44-47; Kai Hafez, Der Islam und der Westen – Kampf der Zivilisationen?, in: ders. (Hrsg.), Der Islam und der Westen. Anstiftung zum Dialog, Frankfurt 1997, S. 15-27. 83 Haller, Die Wiederkehr, S. d 10. 84 Nach James G. Carrier besteht die Wirkung der Essentialisierung in der Konstruktion von nationalen, kulturellen oder religiösen Differenzkriterien (James G. Carrier, Occidentalism: the World Turned Upside-Down, in: American Ethnologist 19 (1992) 2, S. 203). Ähnlich den Vertretern der „Gleichheitshypothese“ in der sozialpsychologischen Stereotypenforschung weist auch James G. Carrier darauf hin, daß Essentialisierungsvorgänge insofern nicht grundsätzlich zu vermeiden sind, als sie eine Form der strukturellen Wahrnehmungs- und Verständniserleichterung darstellen und die Realität nach bestimmten Merkmalen gruppieren. Die vollständige Ersetzung nationaler, kultureller Differenzbegriffe durch theoretische Überbaukonstruktionen wie „Weltsystem“, „Globalisierung“ oder „Das Eigene und das Andere“ stellt aus Carriers Sicht keine hinreichende Alternative zur Essentialisierung dar, da die Verwendung von Kategorien der Sozialstruktur wie „Klasse“ gezeigt haben, daß hier neue Zwänge der universellen Vereinheitlichung entstehen können, die regionalen oder kulturellen Eigenarten nicht gerecht werden. Vgl. exepemplarisch die Auseinandersetzung mit dem marxistischen Klassenbegriff in: Kai Hafez, Orientwissenschaft in der DDR. Zwischen Dogma und Anpassung, 1969-1989, Hamburg 1995, S. 163-180. 85 Kleinsteuber, Stereotype, Images und Vorurteile, S. 51. Vgl. a. Hans J. Kleinsteuber, Stereotype, Images und Vorurteile: Die Bilder in den Köpfen der Menschen, in: Günter Trautmann (Hrsg.), Die Häßlichen Deutschen? Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn, Darmstadt 1991, S. 60-68. 45 Forschungsgebiet. Zugleich ist die Erforschung von Darstellungsprozessen in Massenmedien nicht mit soziopsychologischer Stereotypenforschung gleichzusetzen. Medienberichterstattung beinhaltet neben Stereotypen und Feindbildern auch andere, zum Teil komplexere und prozeßorientiertere Bildstrukturen, die mit dem Stereotypenbegriff nicht erfaßbar sind. Die Untersuchung der Auslandsberichterstattung der Medien muß daher, trotz ihrer nachhaltigen Verankerung in der Stereotypenforschung, zur Offenheit des Bildbegriffs zurückkehren und ihr Arsenal an basalen analytischen Begriffen der Kommunikation und Perzeption erweitern. Andernfalls besteht die Gefahr, daß die Theorie der Auslandsberichterstattung sich zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (self-fulfilling prophecy) entwickelt, in der das Nicht-Stereotype, da es nicht untersucht wird, keine Beachtung findet. Das zentrale Untersuchungskonzept würde auf diese Weise selbst zu einem stereotypen Schema, denn auch die Wissenschaft unterliegt prinzipiell den gleichen Regeln der Bildkonstruktion – etwa verwendet sie apriorische Postulate zur Erklärung empirischer Befunde – wenngleich ihre Aufgabe idealiter darin besteht, sachliche Widersprüche nicht zu nivellieren, sondern sie aufzuzeigen und zu ergründen. Da der Begriff des „Nationenbildes“ in der angewandten sozialpsychologischen Forschung überwiegend als Äquivalent zum Nationenstereotyp oder nationalen Vorurteil verwandt wird, d.h. im Sinn der klassischen Stereotypenforschung, eignet er sich nicht mehr als Oberbegriff zur Erforschung interkultureller und internationaler Perzeption. Gerhard Prinz hat den Begriff des „Auslandsbildes“ geprägt, und ihn wie folgt definiert: „Der Begriff des Bildes (image) ist von den in der Einstellungsforschung unter anderen verwendeten Begriffen – Vorurteil, Stereotype und Bild – der neutralste. (...) ‘Mit ihm bleibt sowohl der Inhalt (kognitiver Aspekt) wie auch die affektive Ladung (affektiver Aspekt) und die tatsächliche Verhaltensweise (konativer Aspekt) der anderen Gruppe gegenüber offen.’ So kann etwa ein Auslandsbild richtig sein oder falsch, differenziert oder vage, es kann positiv oder negativ gefärbt sein und einer feindseligen oder freundlichen Haltung entsprechen. Es kann auch, ja es wird meist vorurteilsvolle und stereotype Vorstellungen enthalten.“86 Da das „Auslandsbild“ tatsächlich lediglich als teilidentisch mit Stereotypen (oder Feindbildern) bezeichnet werden kann, müssen andere Bildelemente durch andere basale Analyseeinheiten der Perzeption und Kommunikation beschrieben werden, wobei im vorliegenden Theorieentwurf neben Bild, Stereotyp oder Feindbild folgende Kategorien verwandt werden: • frame • Thema • Diskurs 86 Gerhard Prinz, Heterostereotype durch Massenkommunikation, in: Publizistik 15 (1970) 3, S. 201. Der Begriff des „Auslandsbildes“ ist von verschiedenen Autoren, unter anderem von Prinz, verwendet worden, allerdings ohne erkennbaren theoretischen Bezug. Vgl. a. von Bassewitz, Stereotype, S. 25-27. 46 Ein frame (Rahmen, im folgenden: Frame) ist die kleinste Texteinheit, die ein Ereignis/eine Handlung erklärt, es/sie von anderen Deutungsmöglichkeiten abgrenzt (Rahmen-Setzung) und dem Ereignis dadurch einen spezifischen Sinn verleiht. Robert M. Entman: „To frame is to select some aspects of a perceived reality and make them more salient in a communicating text, in such a way as to promote a particular problem definition, causal interpretation, moral evaluation, and/or treatment recommendation (Hervorheb. d. Autors) for the item described.“87 Die Abgrenzung zum Stereotypenbegriff ist schwierig und wird in der Literatur entweder gar nicht oder nur sehr uneinheitlich geleistet.88 Bei Stereotypen und Frames handelt es sich nach Erving Goffman um Schemata, die sozial geteilt werden und die Wahrnehmung von Ereignissen organisieren.89 Der Begriff des Frames grenzt sich allerdings in der Forschungspraxis vom Stereotypenbegriff in der Regel dadurch ab, daß er nicht für Subjekt-Perzeptionen oder attributive Zuschreibungen („der Schwarze“, „der brutale Russe“, „der ordentliche Deutsche“ usw.), sondern für Handlungsabläufe verwendet wird.90 Frames sind also Schemata, mit deren Hilfe die Ursachen, der Verlauf und die Folgen von Ereignissen interpretiert werden. Mit dem FramingKonzept lassen sich daher nicht allein einige Grundcharakteristika ermitteln, die anderen Nationen, Völkern usw. in Medientexten zugeschrieben werden, sondern es läßt sich rekonstruieren, wie Handlungsabläufe der internationalen Politik oder anderer Bereiche der Auslandsberichterstattung medial konstruiert werden. Wenn Frames ein hohes Maß an Organisiertheit aufweisen, spricht man von „Ideologien“.91 Frames lassen sich mehrdimensional beschreiben. Zhongdang Pan und Gerald M. Kosicki unterscheiden hinsichtlich der narrativen Funktion im Gesamttext syntaktische, dramaturgische (Argumentationsaufbau) und rhetorische (z.B. Metaphern) Frames.92 Frames können sich formal zudem als Hypothesen, Fakten, Episoden, Kontextinformationen oder Zitate niederschlagen.93 Robert Entman nimmt eine funktional-inhaltliche Gliederung vor. Durch Frames werden demnach a) Probleme definiert (define problems), b) ihre Ursachen bestimmt (diagnose causes), c) moralische 87 Robert M. Entman, Framing: Toward Clarification of a Fractured Paradigm, in: Journal of Communication 43 (1993) 4, S. 52. 88 Dhavan V. Shah/David Domke/Daniel B. Wackman, „To Shine One Self Be True“: Values, Framing, and Voter Decision-Making Strategies, in: Communication Research 23 (1996) 5, S. 511. 89 Erving Goffman, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, New York u.a. 1974, S. 10 f. 90 Auch der Zeithorizont von Frames und Stereotypen unterscheidet sich in der Regel insofern, als Frames weniger zeitunabhängig sind als Stereotype („Für das Massaker auf dem Tienanmen-Platz muß China international boykottiert werden“ (Frame) im Unterschied zur „gelben Gefahr“ (Stereotyp)). Dennoch gibt es ebenso langlebige Frames wie es kurzfristige Schwankungen im Gefüge von Nationenstereotypen geben kann, wie Dröges Kategorie der zeitgenössischen Stereotype verdeutlicht hat (Kap. 3.1.1), so daß die Zeitdimension sich nicht zur Abgrenzung von Stereotyp und Frame eignet. 91 Jürgen Gerhards, Neue Konfliktlinien in der Mobilisierung öffentlicher Meinung. Eine Fallstudie, Opladen 1993, S. 128. Vgl. a. Kap. 3.2.2. 92 Zhongdang Pan/Gerald M. Kosicki, Framing Analysis: An Approach to News Discourse, in: Political Communication 10/1993, S. 59 ff. 93 Ebenda, S. 61. 47 Wertungen abgegeben (make moral judgments) und d) Problemlösungen vorgegeben (suggest remedies).94 Zu den zentralen Frames des Kalten Krieges gehörte es, daß bei internationalen Ereignissen (etwa Kriegen) grundsätzlich kommunistische Einwirkung als Hauptkriegsursache galt, diese als „atheistische“ Aggression moralisch gedeutet und der gegnerischen Seite amerikanische Hilfe zur Problembeseitigung angeboten wurde. Framing während des Golfkriegs von 1991 war auf der Ebene der Problemlösungen (Framing-Kategorie d) durch die Kernbegriffe „Krieg“ und „Sanktionen“ geprägt; Verhandlungen – etwa zwischen Kuwait und Irak – lagen außerhalb des medialen Framings. Die Erweiterung der Frames durch die Einführung entsprechender neuer Argumente zu einem Zeitpunkt, als die bestehenden Frames bereits etabliert waren, hätte gemäß Entman leicht dazu führen können, daß entweder das Publikum Verständigungsschwierigkeiten gehabt und/oder der Kommunikator an Glaubwürdigkeit verloren hätte.95 Frames sind Kleinstbestandteile von Texten, die sich ihrerseits größeren Einheiten unterordnen: den „Themen“.96 Das Thema (engl. theme oder topic) wird alltagssprachlich als das zentrale und wichtigste Konzept eines Textes erachtet. Themen können nicht aus den Einzelteilen eines Textes – also etwa aus Stereotypen oder Frames – gewonnen werden, sondern sie sind semantische Makrostrukturen, die den Gesamttext oder zumindest Textteile und damit mehrere Mikrostrukturen (wie Frames oder Stereotypen) umfassen.97 Bei sorgfältig gebauten Texten ist zudem eine Themenhierarchie erkennbar, wobei einzelne Absätze Themenbezüge enthalten, die dem abstrakteren Thema des Gesamttextes untergeordnet werden. Jedes Unterthema besteht seinerseits aus Mikrostrukturen wie Frames und Stereotypen. Die Mechanismen zur Themenformierung sind Generalisierung (der erste und der zweite Golfkrieg gehören etwa zum Thema „Regionalkonflikte am Persischen Golf“), Zusammenfassung (die „islamische Revolution in Iran“ faßt die politischen Ereignisse in Iran in den Jahren 1978-80 zusammen und ist insofern eine thematische Kompilation 94 Entman, Framing: Toward Clarification, S. 52. Vgl. a. Robert M. Entman/Andrew Rojecki, Freezing out the Public: Elite and Media Framing of the U.S. Anti-Nuclear Movement, in: Political Communication 10/1993, S. 155-173. 95 Entman, Framing: Toward Clarification, S. 55. Gemäß Entman sollte „Objektivität“ im Journalismus weniger darin bestehen, Tatsachen und Meinungen ausgewogen zu präsentieren als vielmehr „den dominierenden Frame herauszufordern“ (Ebenda, S. 57). Entmans Framing-Konzept zielt damit im Grunde auf die Füllung einer Lücke journalistischer Rollenmodelle, die sich an Informations-, Kritik- oder Advokatismusfunktionen orientieren. Das Informationsmodell konzentriert sich auf die objektiv-ausgewogene Medienvermittlung bereits eingeführter Frames; die Kritik- und Kontrollfunktion fordert die Kritik der Frames, die von den politischen Machthabern verwendet werden; das advokative Journalismusmodell verlangt die Protektion der Frames sozialer Minderheiten. Eine normative Verpflichtung, etablierte Frames zu erweitern und so den öffentlichen Diskurs zu qualifizieren, besteht nur im begrenzten Sinn des – umstrittenen – investigativen Journalismus, womit vor allem die Aufdeckung politischer Skandale im Sinne der Medien als „vierter Gewalt“ gemeint ist. Entmans Hinweis jedoch führt zu einer Verlagerung des journalistischen Rollenkonzepts vom Vermittler nicht zum Politiker oder Minderheitenanwalt, sondern zum meinungsführenden Experten. 96 In der Literatur werden Frames und Themen auch als Mikro- und Makropositionen abgegrenzt. Teun A. van Dijk, News as Discourse, Hillsdale 1988; vgl. a. ders., News Analysis. Case Studies of International and National News in the Press, Hillsdale 1988. 97 Van Dijk, News as Discourse, S. 31 ff. 48 eines komplexen politischen Handlungsablaufs) und Löschung (Details können ausgelassen werden, wenn sie zur Weiterentwicklung des Themas nicht relevant erscheinen). Von zentralem Interesse für die Medienanalyse ist, daß sich Frame- und Themenkonstruktionen nicht nur auf einzelne Texte beziehen müssen, sondern intertextual – also in Form von „Diskursen“ – in Erscheinung treten. Ähnlich wie Stereotype, wenngleich auf komplexere Prozesse und größere Sinnkomplexe bezogen als sie in der Soziopsychologie üblicherweise untersucht werden, fügen sich Frames und Themen zu öffentlichen Diskursen: ein Ausschnitt dieser Diskurse ist der Mediendiskurs. Dabei ist zu beobachten, daß sich bestimmte Frames und Themen in stärkerem Maße in den Medien durchsetzen als andere. Während diese Tatsache bei den Themen bereits länger bekannt ist, ist das eigentlich Neue und Interessante, daß die scheinbar (den Themen) untergeordneten Bestandteile, die Frames, eigenständige Konkurrenzkämpfe führen, eigene Behauptungskräfte entwickeln und Karrieren durchleben,98 die für die Analyse der Mediendiskurse ebenso bedeutsam sind wie die Themen. Während die erfolgreiche Durchsetzung eines Nationenstereotyps in den Medien primär einer ungerichteten öffentlichen Emotionalisierung dient, deren Handlungsrelevanz unklar bleiben muß, wirkt die Durchsetzung eines handlungs- und prozeßorientierten Frames als master frame, also das Zur-Geltung-Bringen eines spezifischen Handlungsmoments in bezug auf ein bestimmtes Thema, in weitaus stärkerem Maß operativ. Ein dominanter Nationenstereotyp mag Aversionen der Mehrheit einer nationalen (Medien-)Öffentlichkeit gegenüber einer anderen Nation ausdrücken – diese Aversion bleibt folgenlos, sofern sich kein master frame zu ihrer Umsetzung finden läßt. Vor allem in akuten Krisen- und Konfliktzeiten ist die Tendenz zur Framing-Vereinheitlichung und -Verengung besonders stark (vgl. Kap. 3.2.4.1.2 und 3.2.4.4.2). Beim Beispiel des Golfkriegs von 1991 war die Tatsache allein, daß sich das Bild des irakischen Diktators Saddam Hussein als dem „Irren von Bagdad“ an ältere Bilder des arabisch-islamischen Despoten anlehnte, nicht ausreichend zur Kriegsmobilisierung. Vielmehr bedurfte es operativer Frames wie dem NaziVergleich, um Verhandlungslösungen als appeasement-Politik grundsätzlich zu diskreditieren. Grundsätzlich muß der Zusammenhang zwischen Text und Diskurs derart beschrieben werden, daß mit der Durchsetzungskraft eines Frames in verschiedenen Medientexten auch die Wahrscheinlichkeit wächst, daß nachfolgend produzierte Texte sich an die außerhalb des Textes bereits bestehende Diskursstruktur anpassen. Dabei muß davon ausgegangen werden, daß die Durchsetzung von Frames in Diskursen kein beliebiger Prozeß ist, sondern Diskursformationen zeigen gerade im Bereich der internationalen Kommunikation Regelmäßigkeiten, die in Anlehnung an Teun van Dijk99 wie folgt formuliert werden können: a) sprachliche Verständlichkeit: Mediendiskurse sind, mehr als andere Diskurse, beispielsweise Wissenschaftsdiskurse, nationalsprachlich, in der Regel sogar national begrenzt und werden über 98 Wolfsfeld, Media and Political Conflict, S. 41 ff. 99 Van Dijk, News as Discourse, S. 107. 49 Staatsgrenzen hinaus nur in Ausnahmen rezipiert; b) Erfahrungsübereinstimmung: Durch solche Diskurse entstehen Erfahrungsübereinstimmungen, nationale Diskursmuster und Charakteristika, die mit anderen Diskursen allenfalls teilkongruent sind und sich historisch zu Diskurskulturen verfestigen können (bestimmte Frames und Themen werden in Medien und Öffentlichkeit mancher Länder traditionell nachhaltiger aufgegriffen als in anderen); c) soziale Integration: Gemeinsame Diskurserfahrungen fördern – zumindest auf der Inhaltsebene100 – die soziale Integration, denn Diskurse sind Teile der sozialen Wissensweitergabe im Rahmen des Sozialisationsprozesses. Die verschiedenen basalen Einheiten der Textanalyse – Stereotyp, Feindbild, Nationenbild/-stereotyp, Frame, Thema, Diskurs – werden in der vorliegenden Theoriematrix unter dem Oberbegriff des „Auslandsbildes“ zusammengefaßt, um auch terminologisch die Unterscheidung von der soziopsychologischen Nationenbildforschung und dem Begriff des Nationenbildes/-stereotyps zum Ausdruck zu bringen. Abbildung 3.5 zeigt eine Auswahl der Bestandteile des Auslandsbildes, wobei die Pyramide (das Dreieck) von oben nach unten den zunehmenden Geltungsbereich der Analyseeinheiten angibt (z.B. sind Stereotype und Frames Bestandteile von Diskursen, nicht umgekehrt). Für die weitere Theoriebildung gilt der Satz: Auslandsberichterstattung ist massenmedial erzeugtes und vermitteltes Auslandsbild. 100 Zur Unterscheidung zwischen Inhalts- und Beziehungsebene der Kommunikation vgl. Kap. 3.2.4.5. 50 3.2 Internationale und interkulturelle Darstellungsprozesse in Massenmedien Die Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien kann nicht durch Ableitung aus der Wahrnehmungs- und Kommunikationstheorie gewonnen werden. Das Vorhandensein bestimmter Auslandsbilder in der Öffentlichkeit sagt nur sehr bedingt etwas über Strukturen, Entstehungsbedingungen und Wirkungen der spezifischen Auslandsbilder der Massenmedien aus. Die verbreitete Tendenz, internationale Perzeption und Massenkommunikation als theoretische Einheit zu behandeln, ist einer der Gründe für die Stagnation in der Forschung, die seit etwa Mitte der achtziger Jahre – nach dem Abklingen der Debatte über die Neue Weltinformationsordnung (NWIO) – konzediert worden ist.101 Hinzu kommen Rückstände bei der Präzisierung und Systematisierung der Theorie, die hauptsächlich durch die Aufteilung der Forschung in zahlreiche Disziplinen und sich getrennt entwickelnde Forschungsbereiche verursacht worden sind. 3.2.1 Die Struktur des Auslandsbildes der Massenmedien Eines der Hauptprobleme der Theorie der Inhalts- bzw. Textstrukturen der Auslandsberichterstattung ist, daß zwar eine große Zahl empirischer Untersuchungen aus einer Reihe nationaler Mediensysteme existieren, ohne daß jedoch eine theoretische Generalisierung erfolgt ist. Der im folgenden entwickelte Strukturkatalog der Auslandsberichterstattung ist nicht erschöpfend, stellt jedoch einen Versuch der Vernetzung bisher isolierter Forschungsdesiderata, insbesondere des MacBride-Berichts der UNESCO, empirischer Forschungen und der Nachrichtenwerttheorie, dar. Dadurch können paradigmatisch Eckwerte der Strukturtheorie wie auch Problemzonen der bisherigen Theoretisierungsversuche aufgezeigt werden. 3.2.1.1 Die Nachrichtendefinition als Entwicklungsproblem des globalen Informationsflusses Im Rahmen der UNESCO wurde an der Wende zu den achtziger Jahren eine Debatte über eine Neue Internationale Informationsordnung (NIIO) bzw. Neue Weltinformationsordnung (NWIO) oder Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung (NWICO) geführt. In einer UNESCO-Mediendeklaration von 1978 wurde auf Betreiben der Entwicklungsländer das Konzept des „free flow of information“ durch das Konzept des „free and balanced flow of information“102 ersetzt.103 In der Ge101 Jörg Becker, Internationaler Nachrichtenfluß: Eine Stellungnahme zum Aufsatz von Birgit Schenk, in: Rundfunk und Fernsehen 36 (1988) 1, S. 45-55. 102 Eine 1978 von der UNESCO verabschiedete Deklaration spricht von „free flow and a wider and better balanced dissemination of information“ (Art. 1; Art. 10). Declaration of Fundamental Principles Concerning the Contribution of the Mass Media to Strengthening Peace and International Un- 51 schichte politischer Doktrinen der Weltorganisationen fand damit eine Verlagerung vom Recht auf ungehinderte Suche, Empfang und Verbreitung von Informationen zum Prinzip „ausgewogener“ (balanced) Kommunikation statt, wobei sich die in der UNESCO organisierten Entwicklungsländer mehrheitlich gegen die Dominanz westlicher Nachrichtenagenturen und Massenmedien im internationalen Informationsund Kommunikationsstrom wandten. Programmatisch konsolidiert wurde das Projekt der NIIO durch den im Auftrag der UNESCO erstellten sogenannten MacBrideBericht von 1980.104 Während auf politischer Ebene das Projekt einer Neuordnung der Nord-Süd-Informations- und Kommunikationsbeziehungen durch den Ost-WestKonflikt überlagert wurde,105 erfährt die Debatte über die NIIO in jüngerer Zeit in der wissenschaftlichen Fachdiskussion ein Revirement.106 Zu den Grundannahmen der Befürworter einer neuen Weltinformationsordnung gehörte es, daß der internationale Informations- und Kommunikationsfluß nicht einheitlich ist, sondern unterschiedliche Zonen und Flußrichtungen hoher und geringer Intensität aufweist. Zwischen den westlichen Industrie- und den Entwicklungsländern besteht demnach eine „Einbahnstraße“ oder „Nord-Süd-Ausrichtung“ des Flusses von „Daten, Botschaften, Medienprogrammen und kulturellen Erzeugnissen“, wobei Informationen primär von Industrieländern in die Entwicklungsländer und von den dortigen Metropolen und Eliten in die strukturschwächeren Gebiete und zu den politisch nur bedingt partizipierenden Bevölkerungen fließen.107 Als Bestandteil der „Einbahnstraße“ des Informationsflusses wurde im MacBride-Bericht das 103 104 105 106 107 52 derstanding, to the Promotion of Human Rights and to Countering Racialism, Apartheid and Incitement to War, adopted by Acclamation on 22 November, 1978, at the Twentieth Session of the General Conference of UNESCO held in Paris, in: George Gerbner/Hamid Mowlana/Kaarle Nordenstreng (Hrsg.), The Global Media Debate: its Rise, Fall, and Renewal, Norwood, NJ 1993, S. 173-178. Zur Debatte über die Neue Weltinformationsordnung vgl. a. Jörg Becker, Massenmedien im NordSüd-Konflikt, Frankfurt 1985. Viele Stimmen – eine Welt: Kommunikation und Gesellschaft heute und morgen. Bericht der internationalen Kommission zum Studium der Kommunikationsprobleme unter dem Vorsitz von Sean MacBride an die UNESCO, Konstanz 1981 (engl. Orig. 1980). Die ideologisch durch den Ost-West-Konflikt vorgeprägte Konfrontation zwischen „Freiheits-“ und „Gleichheitsrechten“ schlug sich bei sozialistischen Staaten im Versuch einer ordnungspolitischen Regelung zentralistischer Informationskontrollansprüche nieder. Die meisten westlichen Industrienationen, vor allem die USA und Großbritannien, wandten sich gegen eine Veränderung der freeflow-Doktrin. Dabei war im MacBride-Bericht mehrfach darauf hingewiesen worden, daß das Konzept des „balanced flow“ eine Ergänzung, nicht jedoch eine regulative Alternative zum „free flow“ darstellte. Hinsichtlich der zeitgenössischen politischen Debatte unterscheidet der Bericht vier Gruppen: die Befürworter des „free flow“, von denen ein Teil Informationsfreiheit anstrebte, ohne Information monopolisieren zu wollen, ein anderer Teil jedoch Veränderungen der free-flowDoktrin bemängelte, um Informationsmonopole zu sichern; und die Gegner des „free flow“, von denen ein Teil autoritär-zentralistische Ordnungsvorstellungen hegte, ein anderer Teil jedoch eine neue, universelle Informations- und Kommunikationsfreiheit anstrebte. Vgl. Viele Stimmen – eine Welt, S. 185 f. Vgl. George Gerbner/Hamid Mowlana/Kaarle Nordenstreng (Hrsg.), The Global Media Debate: its Rise, Fall, and Renewal, Norwood, NJ 1993; Hafez, Der Nahe Osten und die Neue Weltinformationsordnung. Viele Stimmen – eine Welt, S. 189. von Nachrichtenagenturen108 und Massenmedien in westlichen Industrieländern erzeugte Bild der Entwicklungsländer moniert, das „häufig falsch und verzerrt ist, weil ein Großteil der Informationsinhalte in den wichtigsten entwickelten Ländern hergestellt wird“.109 Wie im folgenden zu zeigen sein wird, betrachtet der MacBrideBericht jedoch, trotz dieser stark am Zentrum-Peripherie-Modell (vgl. Einleitung zu Kap. 3) angelehnten Kritik, Probleme der Auslandsberichterstattung als Entwicklungsproblem aller globalen Mediensysteme, also auch der der Entwicklungsländer. Probleme des globalen Informationsflusses, wie sie im MacBride-Bericht definiert worden sind, lassen sich, abhängig von der Flußrichtung des globalen Informations- und Kommunikationsstroms, in zwei Teilbereiche gliedern: • Probleme des Informationsflusses von den Entwicklungsländern in die Industriestaaten • Probleme des Informationsflusses von den Industriestaaten in die Entwicklungsländer. Der Informationsstrom läßt sich zudem in Anlehnung an das Sender-EmpfängerKommunikationsmodell in drei Teilbereiche gliedern: • Informationssuche • Informationsempfang • Informationsweitergabe. Der MacBride-Bericht erkannte zwar auch Probleme im Bereich des Empfangs globaler Information – also auf der Stufe des Endverbrauchs durch den Konsumenten, bei der Verteilung von Hardware (Radio, TV), der Zugänglichkeit zu Pressemedien und der Alphabetisierung –, er konzentrierte sich jedoch auf die typischen Betätigungsfelder der Massenmedien: die Informationssuche und -weitergabe.110 Informationsfreiheit wurde bewußt als Freiheit definiert, Informationen zu empfangen, zu suchen und weiterzugeben.111 Problemzonen des globalen Informationsflusses nach dem MacBride-Bericht lassen sich in der tabellarischen Gesamtschau (Tabelle 3.1) mit Hilfe von Wertungspunkten („minus“ für Entwicklungsdefizite; „plus“ für Entwicklungsfortschritte) verdeutlichen. 108 Zur Kritik der Nachrichtenagenturen vgl. Kap. 3.2.3.2. 109 Viele Stimmen – eine Welt, S. 64. 110 In ihrer Bilanz einiger Aussagen des MacBride-Berichts weist Susan Beam nach, daß in den meisten Staaten der Erde zumindest im Radiobereich die Minimalvorgabe der UNESCO von 50 Radios pro 1000 Einwohnern erreicht wird, während größere Probleme noch beim Fernsehen (Minimum 20 Geräte pro 1000 Einwohner) und bei der Presse (Minimum 100 Ausgaben pro 1000 Einwohner) zu verzeichnen sind. Die Verfügbarkeit von Radio- und Fernsehgeräten sowie Zeitschriften und Zeitungen zeigt insgesamt noch erhebliche Nord-Süd-Differenzen, die gleichwohl in den letzten Jahrzehnten kleiner geworden sind. Susan Beam, Surveying the Territory: Re-Examining MacBride and Theories of Development, in: Gazette 50 (1992) 2/3, S. 116, 128. 111 Viele Stimmen – eine Welt, S. 181. 53 54 - Fortschritte der Nachrichtenzirkulation (bez. Genauigkeit, Aktualität usw.) + - - Technische Fortschritte der Nachrichtensammlung (bez. Genauigkeit, Aktualität usw.) - Verzerrungen und Informationslücken Entwicklungsländer geben Informationen über Industriestaaten weiter: + - - Fortschritte der Nachrichtenzirkulation (bez. Genauigkeit, Aktualität usw.) - Ungenauigkeiten und Mängel der Informationsverbreitung (Öffentlichkeit in Entwicklungsländern unzureichend informiert über Industriestaaten) + - Entwicklungsländer suchen Informationen über Industriestaaten: - Technische Fortschritte der Nachrichtensammlung (bez. Genauigkeit, Aktualität usw.) - Verzerrungen und Informationslücken - Ungenauigkeiten und Mängel der Informationsverbreitung (Öffentlichkeit in Industriestaaten unzureichend informiert über Entwicklungsländer) + Industriestaaten geben Informationen über Entwicklungsländer weiter: Sender-Empfänger-Modell Informationsverbreitung Industriestaaten suchen Informationen über Entwicklungsländer: Informationssuche Quelle: Zusammenstellung nach Viele Stimmen - eine Welt, S. 181, 203. InformationsFluß von den Industriestaaten in die Entwicklungsländer InformationsFluß von den Entwicklungsländern in die Industriestaaten Flußrichtung der Information Informationsempfang - wachsende Kapazitäten des Informationsempfangs Entwicklungsländer empfangen Informationen über Industriestaaten: - relativ große Kapazitäten des Informationsempfangs Industriestaaten empfangen Informationen über Entwicklungsländer: Tabelle 3.1 - Problemzonen der Nord-Süd-Kommunikation nach dem MacBride-Bericht + + Die Symmetrie der Zuordnung von Problemzonen zu Industriestaaten und Entwicklungsländern steht im Gegensatz zur These von der „Einbahnstraße“ und „Nord-SüdAusrichtung“ des globalen Informationsflusses. Tatsächlich nehmen gerade diejenigen Teile des MacBride-Berichts, die sich mit Fragen von Auslandsbildern in der globalen Kommunikation112 beschäftigen, keine Zuordnung im Rahmen des NordSüd-Konflikts vor, so daß die Verbesserung des Auslandsbildes prinzipiell als Entwicklungsgaufgabe für alle Teilnehmer der internationalen Kommunikation betrachtet wird. In diesen Passagen ist ein Spannungsverhältnis zu den oben zitierten anderen Teilen des Berichts zu erkennen, in denen insbesondere Verzerrungen des Bildes der Entwicklungsländer in den westlichen Hochindustriestaaten bemängelt werden. Als politisches Dokument eignet sich der MacBride-Bericht, der unterschiedlichen Einflüssen Rechnung tragen mußte, nur bedingt als Grundlage für eine stringente Theoriebildung. Als bedeutsame Orientierungshilfe für den Wissenschaftsdiskurs haben sich gleichwohl die Überlegungen des Berichts zur Qualität der Kommunikationsinhalte erwiesen. Sie lassen sich in zwei Bereiche gliedern: • Kritik der Definition der „Nachricht“ und des Nachrichtenwertes • Kritik der Praxis der Nachrichtenvermittlung. Die Definition der Nachricht durch Kernbegriffe wie Aktualität, Neuigkeit und Universalität (allgemeines Interesse) muß nach Auffassung des Berichts durch zusätzliche Kriterien erweitert werden.113 Nachrichten im globalen Kommunikationsprozeß werden als Informationen betrachtet, die Problembewußtsein und -interesse wecken sollen, indem Ereignisse im Kontext ihrer Entstehung und Entwicklung weitergegeben werden. Nachrichten werden zudem als informationelle nationale Ressource und als Bestandteil der politischen Bildungsarbeit eingestuft. Die Definition der Nachricht als einem von der „Normalität“ abweichenden, aktuellen und für den Botschaftsempfänger (z.B. deutsche Leser) relevanten Informationssachverhalt wird nicht aufgegeben, sondern durch einen komplementären Nachrichtenbegriff der sozio-politischen Relevanz der Nachricht für die Gesellschaftsentwicklung in dem Land, über das berichtet wird, erweitert. In der Kritik der globalen Nachrichtenpraxis schlagen sich die Grundannahmen über die Nachrichtendefinition nieder. Sie basiert zudem auf dem Konzept eines Vergleichs der Medien- mit der außermedialen Realität.114 Eine Folge der Anormalitätsdefinition war demnach, daß Negativereignisse (Krisen, Katastrophen und Konflikte) im Prozeß der internationalen Nachrichtenvermittlung im Vergleich zum globalen Realgeschehen überrepräsentiert sind.115 Des weiteren werden folgende allgemeine Defizite von Auslandsbildern aufgezählt: 112 113 114 115 Kapitel „Herrschaft über die Kommunikationsinhalte“ im MacBride-Bericht. Ebenda, S. 203 f. Zu den Problemen des Medien-Realitätsabgleichs vgl. Kap. 2. Viele Stimmen – eine Welt, S. 204. 55 • Überbetonung irrelevanter Ereignisse (overemphasizing news116) • Zusammenfügen disparater Tatsachen zu einem artifiziellen Ganzen (making news) • interessengeleitete Suggestion fehlerhafter Schlußfolgerungen (misinterpretation by implication) • Feindbildproduktion als Legitimation und Handlungsanleitung von Individuum, Gesellschaft und Politik • Nichtdarstellung bedeutsamer Entwicklungen und Probleme.117 In der konzeptionellen Anlage der Kritik der Nachrichtendefinition und der Kommunikationsinhalte des MacBride-Berichts sind zahlreiche Parallelen zu dem oben eingeführten Konzept des „Auslandsbildes“ zu erkennen. Der Bericht geht von einem komplexen Modell des Auslandsbildes aus, wobei erst aus dem Verhältnis des einzelnen zum Ganzen (wie Frame-Thema-Diskurs), der Ereignisse zu ihrer Entwicklung und der Kommunikationsinhalte zur kommunizierten Realität ein Kriterienkatalog zur Bestimmung der Inhaltsstruktur der globalen (Massen-)Kommunikation entsteht. Stereotype werden als Teilbereiche der Nachrichtenvermittlung genannt,118 im Vordergrund jedoch steht die komplexe Strukturanalyse medial kommunizierter Auslandsbilder. 3.2.1.2 Strukturtheoreme und Nachrichtenfaktoren der Auslandsberichterstattung Eine Reihe quantitativer und qualitativer Inhaltsanalysen der Print- und elektronischen Massenmedien haben reguläre oder häufige Strukturmerkmale der Dritte-WeltBerichterstattung in westlichen Massenmedien zu Tage gefördert. Der Aussagewert der Studien ist abhängig von den untersuchten Mediensektoren, der Zusammenstellung der Medien, der zeitlichen Anordnung der Stichproben und der Art der Kodierung unterschiedlich hoch einzustufen. Ihre Vergleichbarkeit ist auf Grund der methodischen Heterogenität der Untersuchungen von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen begrenzt. Die größte Untersuchung ist bis heute die „Foreign News“-Studie, die die International Association of Mass Communication Research (IAMCR) im Auftrag der UNESCO bis 1980 durchgeführt hat, geblieben.119 Presse und Rundfunk von 29 116 Die englischen Begriffe stammen aus der englischen Originalversion des MacBride-Berichts: Many Voices – One World. Communication and Society Today and Tomorrow, London u.a. 1980. 117 Viele Stimmen – eine Welt, S. 204 f. 118 Ebenda, S. 205. 119 Annabelle Sreberny-Mohammadi/Kaarle Nordenstreng/Robert Stevenson/Frank Ugboajah (Hrsg.), Foreign News in the Media: International Reporting in 29 Countries. Final Report Undertaken for UNESCO by the International Association for Mass Communication Research, Paris 1985; vgl. a. die vorläufige Version des Berichts: dies. (Hrsg.), The World of the News: The News of the World, Final Report of the „Foreign Images“ Study Undertaken by the International Association of Mass Communication Research for UNESCO, London 1980. Zur Entstehungsgeschichte der „Foreign News“-Studie und dem deutschen Forschungsteam vgl. Winfried Schulz, Nachrichtengeographie. 56 Ländern120 wurden dabei von Forscherteams aus 13 Nationen ausgewertet. Die Länder repräsentierten unterschiedliche soziale Systeme und Entwicklungsstufen. Mittlerweile ist der Versuch einer Neuauflage der „Foreign News“-Studie gestartet worden, deren Ergebnis gleichwohl erst in Teilen vorliegt.121 Eine Reihe größerer Studien hat sich auf die Dritte-Welt-Berichterstattung deutschsprachiger Massenmedien konzentriert. Das Zentrum für Kulturforschung in Bonn untersuchte im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit Presse, Hörfunk und Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland;122 der Westdeutsche Rundfunk untersuchte Fernsehsendeprotokolle;123 Beatrix Mühlethaler erstellte eine Inhaltsanalyse deutschschweizerischer Tageszeitungen hinsichtlich ihres Dritte-Welt-Bildes;124 Daniel Glass analysierte das Bild der Dritten Welt in deutschen Tages- und Wochenzeitungen aus ideologiekritischer Perspektive;125 Werner A. Meier systematisierte in einer komparativen Meta-Untersuchung 104 Inhaltsanalysen des Auslandsbildes;126 Manfred Wöhlcke sowie Susanne RoemelingKruthaup untersuchten das Lateinamerikabild europäischer Presseorgane;127 Manfred Paeffgen erforschte das Afrikabild deutscher Massenmedien;128 verschiedene Auto- 120 121 122 123 124 125 126 127 128 Untersuchungen über die Struktur der internationalen Berichterstattung, in: Manfred Rühl/HeinzWerner Stuiber (Hrsg.), Kommunikationspolitik in Forschung und Anwendung. Festschrift für Franz Ronneberger, Düsseldorf 1983, S. 281-291. USA, Argentinien, Brasilien, Mexiko, Algerien, Elfenbeinküste, Kenia, Nigeria, Tunesien, Zaire, Zambia, Ägypten, Iran, Libanon, Australien, Indien, Indonesien, Malaysia, Thailand, Ungarn, Polen, UdSSR, Jugoslawien, Bundesrepublik Deutschland, Finnland, Griechenland, Island, Niederlande, Türkei. Lutz M. Hagen, Ausländische Berichterstattung über Deutschland. Erste Ergebnisse der „ForeignNews-Studie“ über Umfang und Themen von Nachrichten über Deutschland in verschiedenen Ländern, in: Siegfried Quandt/Wolfgang Gast (Hrsg.), Deutschland im Dialog der Kulturen. Medien – Images – Verständigung, Konstanz 1998, S. 203-211. Dritte Welt und Medienwelt. Entwicklungspolitik und das Bild der Dritten Welt in Presse, Hörfunk, Fernsehen, Eigenerhebungen und Sekundäranalysen des Zentrums für Kulturforschung/Bonn, im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Bonn 1983; vgl. a. die Vorstellung von Projektergebnissen in: Kommunikationspolitische und kommunikationswissenschaftliche Forschungsprojekte der Bundesregierung (1978-1985). Eine Übersicht über wichtige Ergebnisse, T. 1, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1986, S. 275-288. Josef Eckhardt, Berichterstattung über die Dritte Welt im ARD-Programm und im Westdeutschen Fernsehen, in: Media Perspektiven 12/1982, S. 767-775. Beatrix Mühlethaler, Die Dritte Welt im Spiegel der Schweizerpresse. Eine Aussagen-Analyse deutschschweizerischer Tageszeitungen, Freiburg/Schweiz 1976. Daniel Glass, Die Dritte Welt in der Presse der Bundesrepublik Deutschland. Eine ideologiekritische Fallstudie, Frankfurt 1979. Werner A. Meier, Ungleicher Nachrichtenaustausch und fragmentarische Weltbilder. Eine empirische Studie über Strukturmerkmale in der Auslandsberichterstattung, Bern u.a. 1984. Manfred Wöhlcke, Lateinamerika in der Presse. Inhaltsanalytische Untersuchung der Lateinamerika-Berichterstattung in folgenden Presseorganen: Die Welt, FAZ, NZZ, Handelsblatt, Le Monde, Neues Deutschland, Der Spiegel, Stuttgart 1973; Susanne Roemeling-Kruthaup, Politik, Wirtschaft und Geschichte Lateinamerikas in der bundesdeutschen Presse. Eine Inhaltsanalyse der Quantität und Qualität von Hintergrundberichterstattung in überregionalen Qualitätszeitungen am Beispiel der Krisengebiete Brasilien, Chile, Mexiko und Nicaragua, Frankfurt 1991. Manfred Paeffgen, Das Bild Schwarz-Afrikas in der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik Deutschland 1949-1972, München1976. 57 ren haben sich dem Nahost- und Islambild deutscher Medien genähert (vgl. Kap. 4.2.1). Hinzu kommen Sammelbände mit Fachaufsätzen zum Bild der „Dritten Welt“ in Massenmedien.129 Eine theoretische Verallgemeinerung der Forschungsarbeiten ist bisher an grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Bewertung empirischer Daten gescheitert.130 Dennoch sind die folgenden Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung theoretisch bedeutungsvoll: • • • • • • Regionalismus (und Metropolenorientierung) Konfliktperspektive Politikzentrierung Elitenzentrierung Dekontextualisierung Nichtdarstellung von Strukturproblemen der internationalen Beziehungen. Die „Foreign News“-Studie der UNESCO hat ergeben, daß der Umfang der Auslandsberichterstattung der Massenmedien in der Bundesrepublik Deutschland relativ hoch ist, höher etwa als in den USA oder in den benachbarten Niederlanden.131 Während diese Vergleichsangaben nicht als hinreichend gesichert betrachtet werden können, um eine Rangordnung des Umfangs der Auslandsberichterstattung in einzelnen nationalen Mediensystemen zu erstellen, hat die Studie Aufschlüsse über die regionale Verteilung der Berichterstattung gegeben, in denen nahezu alle Forscherteams übereinstimmten. In fast allen untersuchten Systemen war der Anteil des regionalen Auslandes an der Berichterstattung besonders hoch, so daß Regionalismus (geographical proximity) als ein universelles Merkmal der Auslandsberichterstattung zu bezeichnen ist. Nichtsdestotrotz sind auch deutliche Akzentverschiebungen im Vergleich zu der Nachrichtengeographie der westlichen Industrie- und der Entwicklungsländer zu erkennen. Der ebenfalls ausgeprägte Regionalismus in den Medien der Entwicklungsländer wird von relativ hohen Aufmerksamkeitswerten für die westlichen Industriestaaten begleitet, d.h. neben dem Regionalismus ist eine starke Metropolenorientierung erkennbar.132 Westeuropa und die USA finden mehr Beachtung in den Mediensystemen der Welt als Kontinente wie Asien, Afrika und Lateinamerika, obwohl diese die höchsten Einwohnerzahlen, die meisten Staaten und die größten geographischen Flächen beherbergen. Interessanterweise gibt es eine einzige Ausnahme, die 129 Die Dritte Welt in den Massenmedien, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg, Salzburg 1985; Helmut Asche (Hrsg.), Dritte Welt für Journalisten. Zwischenbilanz eines Weiterbildungsangebotes, im Auftrag des Modellversuchs JournalistenWeiterbildung an der Freien Universität Berlin, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1984. 130 Birgit Schenk, Die Struktur des internationalen Nachrichtenflusses: Analyse der empirischen Studien, in: Rundfunk und Fernsehen 35 (1987) 1, S. 36-54; Becker, Internationaler Nachrichtenfluß; Birgit Schenk, Internationaler Nachrichtenfluß: Einige Anmerkungen zur Stellungnahme von Jörg Becker, in: Rundfunk und Fernsehen 36 (1988) 2, S. 247-249. 131 Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 33. 132 Ebenda, S. 39-43. 58 aus dem Zahlenwerk der „Foreign News“-Studie hervorgeht, ohne daß sie selbst von den Autoren der Studie erkannt worden wäre: auf den Nahen und Mittleren Osten entfallen im Durchschnitt der untersuchten 29 Mediensysteme der Welt höhere Aufmerksamkeitswerte als auf Nordamerika, und die Region rangiert nach Westeuropa auf Rang 2. In Tabelle 3.2, einer um eine Gesamt-Rangordnung ergänzten Übersicht der Ergebnisse der „Foreign Images“-Studie, wird erkennbar, daß Westeuropa die meiste Beachtung in den Medien findet, gefolgt von dem Nahen und Mittleren Osten, Nordamerika, Asien, Afrika, Osteuropa, Lateinamerika und den übergeordneten internationalen Fragen ohne Möglichkeit der regionalen Zuordnung.133 Die starke Präsenz Westeuropas und Nordamerikas weist auf die Nord-Süd- bzw. Metropolenorientierung der meisten Länder, die auf Kosten der Süd-Süd-Kommunikation in der Auslandsberichterstattung geht. Verursacht wird Metropolenorientierung durch eine Reihe von Faktoren, wie der politischen und wirtschaftlichen Ausstrahlungskraft Westeuropas und der USA, nachwirkender Bindungen aus der Kolonialzeit usw. Ob geographische, historische, politische, wirtschaftliche oder kulturelle Faktoren dafür verantwortlich sind, daß Asien ungeachtet seiner Bevölkerungszahlen und territorialen Ausdehnung nur eine mittlere Position einnimmt und daß Lateinamerika sich als in hohem Maß medial isoliert erweist, ist nur durch thematisch aufgeschlüsselte empirische Untersuchungen zu verifizieren (vgl. analog Kap. 5.2.2). 133 Birgit Schenk hat zu Recht darauf hingewiesen, daß der Regionalismus als das primäre universelle Merkmal der Auslandsberichterstattung zu gelten hat. Ihre Behauptung jedoch, die „thematische und geographische Struktur der Auslandsberichterstattung in der Dritten Welt“ unterscheide sich „kaum von der in den Medien der Industrienationen“ und von einem „überproportionalen Anteil von Nachrichten aus den westlichen Industrienationen“ könne nicht gesprochen werden (Schenk, Die Struktur, S. 42), ist nicht korrekt, zumal sie ihre Interpretation auf die „Foreign News“-Studie stützt (ebenda, S. 38). In der Studie heißt es: „Geographical proximity and former colonial orientations have (...) been established as the two leading criteria [of news selection/K.H.].“ SrebernyMohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 42. 59 Tabelle 3.2 – Rangfolge der Beachtung von Weltregionen in der Auslandsberichterstattung Quelle: 1 6 5 2 4 7 2 8 3 1 6 4 5 6 2 8 5 8 1 2 5 7 3 5 3 6 4 1 5 7 2 8 3 8 5 4 1 6 2 7 Rang gesamt Westeuropa Osteuropa Asien Afrika Nordamerika Nordamerika Lateinamerika Afrika Nahost Asien Osteuropa Westeuropa Internationales, allgem. Nahost berichtende Mediensysteme Latein-amerika Regionen, über die berichtet wird 6 8 7 4 3 1 2 4 2 8 5 3 5 4 1 7 3 7 5 2 4 6 1 8 Bearbeitete Tabelle auf der Basis von Sreberny-Mohammadi et al., Foreign News, S. 42 Nahezu alle empirischen Untersuchungen der Auslandsberichterstattung weisen auf eine ausgeprägte Konfliktperspektive hin. Über politische und soziale Krisen, Konflikte und Kriege sowie über natürliche wie menschlich verursachte Katastrophen wird relativ nachhaltig berichtet. Die Konflikthaftigkeit eines Geschehens ist demzufolge ein wesentlicher Faktor zur Überwindung der Nachrichtenschwelle.134 Einige Vergleichsdaten größerer empirischer Studien zur deutschen und europäischen Auslandsberichterstattung sind in Tabelle 3.3 aufgelistet: 134 Die Konfliktperspektive ist das wohl am häufigsten in der Fachliteratur erwähnte Strukturmerkmal der Auslandsberichterstattung. Vgl. u.a. Helmut Asche, Öffentliche Meinung und Berichterstattung über die Dritte Welt, in: ders. (Hrsg.), Dritte Welt für Journalisten. Zwischenbilanz eines Weiterbildungsangebotes, im Auftrag des Modellversuchs Journalisten-Weiterbildung an der Freien Universität Berlin, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1984, S. 15 f.; Kurt Luger, Dritte-Welt-Berichterstattung: eine einzige Katastrophe? Die Konstruktion von Wirklichkeit in Theorie und Praxis, in: Die Dritte Welt in den Massenmedien, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg, Salzburg 1985, S. 8 f.; Rudi Holzberger, Zeitungsdämmerung: Wie Journalisten die Welt verpacken. Eine Kritik der journalistischen Praxis, München 1991, S. 119; Kurt Luger, Zwischen Katastrophen und Shangri La: Bilder von der Dritten Welt, in: Dialog 16 (1989) 3, S. 19-29; Heinrich von Nussbaum, UN-Ordnung mit System, in: medium 9 (1979) 2, S. 9; Glass, Die Dritte Welt, S. 227-253. Die Katastrophenperspektive ist zudem Bestandteil der Intra-Medienkritik. Vgl. u.a. Tilmann P. Gangloff, Ruhiger Redefluß, taz 2.8.1995; Caroline Schmidt-Gross, Bonbons und Barbecue, taz 11.11.1996. Eine Gegenposition ist in der Untersuchung der ARD-/WDRBerichterstattung zu finden: Eckhardt, Berichterstattung über die Dritte Welt, S.768. Die Auffassungsunterschiede resultieren dabei zum Teil aus einer unklaren Definition des Begriffs „Konflikt“, der sowohl auf offene Aggressionen und Kriege beschränkt als auch auf soziale und politische Krisen erweitert werden kann (vgl. Kap. 5.1.4), was jedoch in keiner der genannten Arbeiten erörtert wird. 60 Tab. 3.3 – Untersuchungen zum Negativismus Studie Untersuchungsanlage Untersuchungsart Wöhlcke 7 europäische Tages- Lateinamerikabild zeitungen 1970 19731 BMZ 19832 25 dt. Printmedien, ARD, WDR 1982/83 Schulz 19903 je 5 dt. Print- und elektron. Medien 1975 Pütz 19934 6 dt. Zeitungen Negativismus Konfliktbetonte Berichterstattung: 56% BRD, 59% Schweiz, 51% Frankreich, 20% DDR Dritte-Welt-Bild Überregionale Tagespresse: 25% Kriege und Katastrophen (ohne gewaltfreie Konflikte) Bild der internationalen Durchschnittlicher Anteil der Politik Nachrichtenfaktoren: "Konflikt" 31,8%; "Schaden" 3%; "Kriminalität" 8,7% Italienbild Durchschnittlicher Anteil von "Konflikt, Aggression, Zerstörung": 13,5 % 1 Wöhlcke, Lateinamerika, S. 30. Dritte Welt und Medienwelt (BMZ), S. 49. 3 Schulz, Die Konstruktion, S.84. 4 Pütz, Das Italienbild, S. 44. 2 Es könnte die These formuliert werden, daß die Konfliktperspektive der Auslandsberichterstattung in diametralem Gegensatz zur Harmonieperspektive in der Lokalberichterstattung135 steht und daher die Konstruktion einer negativ-chaotischen Fernwelt mit der Konstruktion einer positiv-harmonischen Nahwelt korreliert. Allerdings lassen die empirischen Daten unterschiedliche Interpretationen zu. Das Problem der bisherigen Diskussion ist gewesen, daß zwar eine Konfliktperspektive häufig behauptet worden ist, daß jedoch das dieser These zu Grunde liegende Realitätsmodell – also die Vorstellung von einer realitätsadäquaten Konstruktion der affektiven Dimension (positiv-negativ-neutral) des Auslandsbildes – kaum reflektiert worden ist. Eine Konfliktperspektive kann jedoch aus den Inhaltsdaten der Medien nur interpretiert werden, wenn diese in Beziehung zu einer theoretischen Vergleichsgrundlage, zu einem Realitätsmodell, stehen. Zwei unterschiedliche Modellebenen sind denkbar: • Berichterstattungsanteil an Negativismus: Häufigkeit und Prozentanteil von Negativberichten, in der inhaltsanalytischen Forschung häufig als „Negativismus“ bezeichnet, lassen sich mit Hilfe von Ereignisvalenzen, Wortfeldern (Kriege, Terrorakte usw.) und anderen Methoden für jedes einzelne Land quantitativ bestimmen (vgl. Kap. 4.2.2). Die „Foreign News“-Studie hat darauf hingewiesen, daß es dabei weniger die absolute Häufigkeit negativer Berichte, sondern die relative Unterrepräsentiertheit positiver Berichte in der Auslandsberichterstattung (insbesondere über die Entwicklungsländer) ist, die berechtigt, von einer Kon- 135 Vgl. Günther Rager, Publizistische Vielfalt im Lokalen, Tübingen 1982. 61 fliktperspektive zu sprechen.136 Die Studie zeigt beispielsweise, daß der Nahe und Mittlere Osten in der internationalen Berichterstattung besonders stark mit militärischen Fragen, Kriminalität und anderen Konfliktbereichen in Verbindung gebracht wird, während andere Lebensbereiche „unsichtbar“ (invisible) bleiben.137 Kritik der vorstehenden Art liegt häufig die implizite Annahme zu Grunde, daß sich „Realität“ durch ein dreiteiliges paritätisches Modell – ein Drittel negative, ein Drittel neutrale und ein Drittel positive Ereignisse – beschreiben läßt, und daß die Massenmedien anstreben sollten, dieser Dreiteilung zu entsprechen. Problematisch ist jedoch, daß ein solches Drittelmodell der Realität zu stark in erkenntnistheoretischen und ethischen Prämissen verhaftet ist, um für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung tragbar zu sein, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß im folgenden behauptet werden wird, daß Realitätsrekonstruktion bedingt möglich und zur Theoriebildung erforderlich ist (vgl. Kap. 2). Es ist daher folgerichtig, die Frage der medialen Konfliktperspektive nicht an einer idealen Drittelverteilung messen zu wollen, sondern vielmehr ein flexibleres Modell der Dominanzvermeidung zur Prämisse zu erheben. Wenn man die Dreiteilung der Valenzen nicht letztlich beweisen kann, so ist doch davon auszugehen, daß die gesellschaftliche Realität eines jeden Landes komplex genug ist, um nicht ausschließlich oder ganz überwiegend aus Negativereignissen zu bestehen. Ein Wert von mehr als 50 Prozent solcher Ereignisse in den Medien müßte demnach mit einer medialen Konfliktperspektive erklärt werden. • Vergleich von Ländern und Ländergruppen: Bei der Frage der Konfliktperspektive hat es sich auf Grund der Schwierigkeiten bei der Konstruktion eines kohärenten Wirklichkeitsmodells als sinnvoll erwiesen, nicht nur einzelne Länder zu untersuchen, sondern die Berichterstattung über verschiedene Länder und Ländergruppen zu vergleichen. Ein Hinweis auf Konfliktperspektiven der Medien wäre demnach weniger, wenn über ein Land bis zu 50 Prozent Negatives berichtet wird, sondern vielmehr, wenn etwa über Entwicklungsländer negativer berichtet würde als über Industriestaaten, was Untersuchungen tatsächlich belegen.138 Der Vorteil der vergleichenden Herangehensweise ist, daß hier keine Realitätsprämisse über die Gleichverteilung positiven, negativen oder neutralen Geschehens aufgestellt wird, sondern die sehr viel begrenztere Prämisse, daß keine si136 Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 52. Für den amerikanischen Medienkontext hat C.B. Pratts Untersuchung von sechs amerikanischen Zeitschriften (Time, Newsweek, U.S.News, Nation, New Republic, National Review) starke Evidenz für die Existenz einer Konfliktperspektive aufgezeigt. Zwischen 52 Prozent (Nation) und 93 Prozent (Time) der Afrikaberichterstattung beschäftigte sich mit Konflikten, zwischen 4 Prozent (Time) und 48 Prozent (Nation) mit Regierungen und Politik Afrikas. Berichte über soziale Entwicklungen, Kultur/Kunst, Wissenschaft und Sport fehlten ganz. Afrika war in der amerikanischen Presse ein „konfliktgeschüttelter Kontinent“ und ein „Schachbrett“ der Supermachtpolitik. C.B. Pratt, The Reportage and Images of Africa in six U.S. News and Opinion Magazines: A Comparative Study, in: Gazette 26/1980, S. 40, 42, 43. 137 Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 46. 138 Robert L. Stevenson/Gary D. Gaddy, Bad News and the Third World, in: Robert L. Stevenson/Donald Lewis Shaw (Hrsg.), Foreign News and the New World Information Order, Ames 1984, S. 88-97. 62 gnifikanten Unterschiede hinsichtlich des Vorhandenseins von Konflikten in einzelnen Ländern und Kontinenten bestehen. Auch beim komparativen Ansatz stellt sich allerdings die Frage, ob es sinnvoll ist, von einem Gleichheitsparadigma auszugehen: Ist der Anteil von Konflikten, Krisen, Kriegen und Katastrophen in Entwicklungsländern nicht größer als in westlichen Industriestaaten?139 Zumindest was die Bereiche der Naturkatastrophen, der Kriege und der politischen Gewalt angeht, hat die vergleichende Friedens- und Konfliktforschung diesen Einwand bestätigt.140 Er läßt sich allerdings dort entkräften, wo der Konfliktbegriff über die genannten Bereiche hinaus auf reguläre Formen der Gewalt – etwa die allgemeine Kriminalität, die in vielen Entwicklungsländern geringer ist als in westlichen Staaten – sowie auf gewaltfreie Konflikte ausgedehnt wird und somit alle politischen, sozialen und kulturellen Konfliktbereiche einschließt. Es kann als Prämisse gelten, daß in dieser weiten Definition Konflikte in allen Ländern in der ein oder anderen Form existieren und somit auch in einer ähnlichen Gesamtbilanz von positiver, negativer und neutraler Berichterstattung der Medien münden müßten. Von einer Konfliktperspektive und von einer unberechtigten Identifizierung der Gewalt als Wesensmerkmal insbesondere der außereuropäischen Welt durch die Auslandsberichterstattung141 wäre hingegen zu sprechen, wenn bei bestimmten Ländern oder Ländergruppen Negativismus generell stärker ausgeprägt wäre als bei anderen Ländern und Regionen. Die Prämisse läßt sich im Bedarfsfall empirisch stützen (Beispielsweise durch den Vergleich von Verbrechensstatistiken in den USA und Ägypten mit der Kriminalitätsberichterstattung über die Länder) und eignet sich in ihrer sozialwissenschaftlichen Handhabbarkeit weitaus eher zur Fundierung der Theorie der Auslandsberichterstattung (im Sinne des Rekonstruktivismusansatzes; vgl. Kap. 2) als das erkenntnistheoretische Drittelmodell. Politikzentrierung stellt ein weiteres Strukturmerkmal der Auslandsberichterstattung dar. Handlungen der politischen Akteure und Systeme werden von der Medienberichterstattung als primäre gesellschaftliche Triebkräfte betrachtet und stellen daher einen großen Teil der Informationsvermittlung in den allgemein orientierten Printund elektronischen Medien dar.142 Wie die Elitenzentrierung (s.u.) wird die Politikzentrierung von mehreren Faktoren begünstigt. Die redaktionelle Knappheit der 139 Jürgen Wilke/Birgit Schenk, Nachrichtenwerte in der Auslandsberichterstattung: Historische Erfahrungen und analytische Perspektiven, in: Jürgen Wilke/Siegfried Quandt (Hrsg.), Deutschland und Lateinamerika. Imagebildung und Informationslage, Frankfurt 1987, S. 29. 140 Vgl. u.a. Thomas Scheffler, West-östliche Angstkulturen. Gewalt und Terrorismus im Islam, in: Kai Hafez (Hrsg.), Der Islam und der Westen. Anstiftung zum Dialog, Frankfurt 1997, S. 80-93. 141 Peter Dahlgren und Sumitra Chakrapani. „In the Third World, it [violence/K.H.] expresses a basic essence. In the West, it signals imperfection, deviance, a lapse of the Wests’s genuine tradition and destiny. The West stands for rationality: science over magic, purpose over activity, Man over Nature. Against this idealization looms the arationalty of the primitive: magic, activity without purpose, Nature dominant over Man.“ Peter Dahlgren/Sumitra Chakrapani, The Third World on TV News: Western Ways of Seeing the „Other“, in: William C. Adams (Hrsg.), Television Coverage of International Affairs, Norwood 1982, S. 53. 142 Eckhardt, Berichterstattung über die Dritte Welt, S. 768. 63 Auslandsberichterstattung hat einen Primat des Politischen gefördert; das qua Nachrichtendefinition erforderliche allgemeine Interesse ist bei politischen Ereignissen gesichert; und strategische Öffentlichkeitsarbeit politischer Institutionen erleichtert den Informationszugang im Ausland. Zu wenig untersucht worden ist bislang, welcher Zusammenhang zwischen den einzelnen Strukturaspekten des Auslandsbildes besteht. Als Hypothese läßt sich formulieren, daß die Negativberichterstattung und Konfliktperspektive häufig keine Phänomene sui generis sind, sondern die Folge der übergeordneten Politikzentrierung der Medien (vgl. Kap. 5.2.1.1 und 5.2.1.2). Die Konzentration auf die autoritäre Politikgestaltung eines Landes wird nahezu zwangsläufig eine negativere Färbung des Medienbildes nach sich ziehen als eine stärker kulturell oder sozial akzentuierte Berichterstattung. Erneut stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Realitätsmodell, an dem Medienleistungen gemessen werden sollen. Und erneut scheint es nicht sinnvoll, von einem einfachen Paritätsmodell auszugehen, wonach alle Lebensbereiche – von der Politik bis zum Sport – in gleichem Umfang existent sind und medial transportiert werden können (oder gar – normativ – müßten). Eine Dominanz des Politikbereichs von mehr als 50 Prozent der Auslandsberichterstattung kann jedoch andererseits als medialer Politikzentrismus betrachtet werden. Elitenzentrierung143 bezeichnet die Tendenz der Auslandsberichterstattung, sich auf offizielle Eliten oder Gegeneliten (etwa Rebellen/Putschisten) zu konzentrieren, während soziale Gruppen und Bewegungen, politische Parteien und die Bevölkerungen insgesamt in der Berichterstattung marginalisiert werden.144 Politik- und Elitenzentrierung kombiniert ergeben eine nachhaltige Konzentration der Berichterstattung auf politische Eliten, was zum Teil zur Folge hat, daß die Darstellung dieser in den westlichen Industriestaaten bekanntesten Vertreter der Entwicklungsländer zugleich Unterhaltungselemente (soft news) aufweist (z.B. der Hofstaat des Shahs von Persien; der Sadismus Idi Amins; die Verschwendungssucht Bokassas; die Unberechenbarkeit Muammar Gaddafis). Helmut Asche hat darauf hingewiesen, daß Elitenzentrierung der Berichterstattung in den westlichen Industriestaaten nicht zuletzt ein Reflex der realen Situation mangelnder Partizipationsmöglichkeiten in den Entwick143 In der Literatur wird neben der Konzentration der Medien auf Eliten auch die Konzentration auf Personen bzw. eine begrenzte Zahl bekannter Persönlichkeiten als Strukturmerkmal der Auslandsberichterstattung bezeichnet. Beide Begriffe und Konzepte werden häufig nicht differenziert, obwohl sie ganz verschiedene Sachverhalte beschreiben: die Konzentration auf Macht, Ressourcen usw. (Eliten) oder die Konzentration auf das Individuum (Personen). Gemeinsam ist beiden Orientierungen die relative Vernachlässigung von Massenphänomenen und sozialen Bewegungen. Harald Rohr: „Durch die Hervorhebung von Randgeschehnissen werden die tatsächlichen Ursachen und Wirkungen eines Ereignisses verdeckt und für den Leser nicht erkennbar. Das heißt: Politische Ereignisse werden auf agierende und nicht agierende Personen projiziert, die Probleme also personalisiert. Mit Hilfe dieser Praxis wird dann zu den die politischen Ereignisse flankierenden, unwichtigen, nichtssagenden human-interest-Geschichten übergeleitet, deren politischer und sozialer Aussagewert im Verhältnis zum eigentlichen Ereignis gleich null ist.“ Harald Rohr, Idi-, Scheich- und Thaimädchen Stories. Die Dritte Welt in der Bild-Zeitung, Dortmund 1976, S. 33 f. 144 Luger, Zwischen Katastrophen, S. 22 f.; Glass, Die Dritte Welt, S. 207 ff.; von Nussbaum, UNOrdnung, S. 9; Luger, Dritte Welt-Berichterstattung, S. 8; Rohr, Idi-, Scheich- und Thaimädchen Stories, S. 33 f. 64 lungsländern ist.145 Dennoch existieren auch in nahezu allen Entwicklungsländern politische und andere Organisationen, wenngleich sie überwiegend mit begrenzten Artikulations- und Handlungsspielräumen der politischen Betätigung ausgestattet sind. Es muß berücksichtigt werden, daß aus der Sicht des Konzepts der „Einbahnstraße“ des globalen Informationsflusses des MacBride-Berichts die politische Marginalisierung von Bevölkerungsmehrheiten nicht nur die Ursache, sondern auch die Folge ihrer Unterrepräsentiertheit in den westlichen Nachrichtenagenturen und Massenmedien ist, da entsprechende Auslandsbilder in die Entwicklungsländer zurückwirken und auf diese Weise zu einer systemaffirmativen und demokratiefeindlichen Stabilisierung der herrschenden Eliten beitragen können (vgl. Kap. 5.2.2.5). Martin Shaw hat daher darauf hingewiesen, daß die Entwicklung der Zivilgesellschaft insbesondere in der außereuropäischen Welt davon beeinflußt werden kann, inwieweit zivilgesellschaftliche Fragen in der Auslandsberichterstattung der Industriestaaten repräsentiert sind, da über den Umweg der internationalen Medienöffentlichkeit häufig heimische Informationskontrolle und politische Marginalisierung umgangen und politisch-transformatorische Prozesse verstärkt werden können.146 Als Folge der ereigniszentrierten Nachrichtendefinition kann die Dekontextualisierung, d.h. die Vernachlässigung von politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen betrachtet werden, die häufig an der Auslandsberichterstattung kritisiert worden ist.147 Dekontextualisierung steht im engen Zusammenhang mit dem Diskursbegriff der Formierung von Auslandsbildern, wobei die zum Verständnis erforderliche Vermittlung von Bildern, Stereotypen, Frames und anderen Mikropropositionen im übertextlichen Diskurs-Kontext verloren geht oder als isoliertes Frame-Fragment unreflektiert in Erscheinung tritt (vgl. Kap. 3.2.1). Kontextdefizite sind eng mit der Elitenzentrierung und Personalisierung des Auslandsbildes verbunden, wobei es in der Auslandsberichterstattung, gemäß der „Foreign News“-Studie, häufig zu einer „Reduktion komplexer internationaler Prozesse auf das psychologische Profil einiger zentraler Akteure“ kommt.148 Dekontextualisierung ist auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln: Sie ist das Resultat von Raum-, Zeit- und Relevanzvorgaben der Medienorganisationen sowie dem Prozeß der Informationsbeschaffung und der unterschiedlich ausgeprägten Kontextkompetenz des Journalisten (Kap. 3.2.3). Sie ist darüber hinaus das Resultat eines in der Regel geringen Kontextwissens des Konsumenten über Auslandskontexte (vgl. Kap. 3.2.4.1.2), so daß von einem weit höheren Bedarf an Kontextinformation in der Auslands- im Vergleich zur Inlandsberichterstattung auszugehen ist. 145 Asche, Öffentliche Meinung, S. 17. 146 Martin Shaw, Civil Society and Media in Global Crises. Representing Distant Violence, London/New York 1996. 147 Glass, Die Dritte Welt, S. 162-206; Luger, Zwischen Katastrophen, S. 23. Zur strukturalistischen Deutung journalistischer Kontextsysteme vgl. Tom Koch, The News as Myth. Fact and Context in Journalism, New York u.a. 1990. 148 Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 29. 65 Die beiden Pyramiden in Abbildung 3.6 sollen dies verdeutlichen. Die linke, kleinere umgekehrte Pyramide eines Inlandsberichts repräsentiert in klassischer Weise den Aufbau eines Medienberichts, wie er in den meisten journalistischen Lehrbüchern vermittelt wird. Der Bericht schreitet vom Aktuellen zum Hintergründigen fort. In den ersten Sätzen steht die eigentliche Ereignismeldung, es folgen mit abnehmender Aktualität und Dringlichkeit Kontextinformationen, die eine Einordnung des Meldungssachverhalts erlauben. Für die Meldung über einen Streik im Inland sind Informationen über vorausgegangene Lohnverhandlungen nahezu unerläßlich, um die Ursachen des Streiks zu verdeutlichen. Ein weiterer Rückgriff auf die LohnNullrunde des vorangegangenen Jahres stellt eine zusätzliche, aber nicht unerläßliche Kontextnachricht dar, die, wird sie vermittelt, die Motivlage der Gewerkschaften zu verdeutlichen in der Lage ist, die zu einem drastischen Mittel des Arbeitskampfes gegriffen haben. Die rechte, größere umgekehrte Pyramide über einen Streik im Ausland entspricht in weiten Teilen der Inlandspyramide, ist allerdings auffällig größer und verliert das wohlgeformte Bauprinzip der gleichseitigen Pyramide (Dreieck). Dies ist deshalb der Fall, da zur Erklärung eines Streiks im Ausland grundsätzliche Informationen über die Stellung der Gewerkschaften im Berichterstattungsland, über die Beziehungen von Gewerkschaften und anderen Eliten im politischen und sozialen System u.a.m. vermittelt werden müssen. Insbesondere in vielen Entwicklungsländern, aber auch in Staaten wie den USA, verfügen Gewerkschaften nicht 66 über eine vielen westeuropäischen Ländern vergleichbare Machtfülle, die Institutionenbildung ist instabil, und Gewerkschaften sind nicht allein Vertreter der werktätigen Bevölkerung, sondern weisen ausgedehnte klientelistische Bindungen zu politischen und wirtschaftlichen Eliten auf. Als Grundsatz muß also formuliert werden, daß die journalistische Kontextvermittlung der Auslandsberichterstattung historischen und soziokulturellen Wissensdefiziten der Medienkonsumenten Rechnung tragen muß, die einerseits kompensiert werden müssen, um ein diskursiv gestütztes Auslandsbild zu vermitteln, die jedoch andererseits leicht zu einer strukturellen Überforderung der Medienberichterstattung führen können.149 Politische und ökonomische Strukturkonflikte im System der Weltpolitik und Weltwirtschaft – etwa Zusammenhänge zwischen Fortschritt und Unterentwicklung im Kontext der Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern – sind selten Teil der Medienberichterstattung.150 Diese Nichtdarstellung von Strukturproblemen der internationalen Beziehungen ist in weiten Teilen ein Unteraspekt der Dekontextualisierung von Auslandsberichterstattung und der Tatsache, daß Medienberichterstattung häufig ereignis- und weniger prozeßorientiert ausgerichtet ist. Insofern ist nicht verwunderlich, daß im Unterschied zu den Strukturkonflikten die Gewaltkonflikte zwischen Staaten (z.B. Nahostkonflikt) in der Berichterstattung stark präsent sind.151 Auslandsberichterstattung sucht, dies belegen empirische Untersuchungen, in der Regel einen deutlichen geographischen Bezug – ein Land oder eine Region, über die berichtet wird – oder internationale Beziehungen zwischen diesem Land und einem anderen Land.152 Politologische oder kulturwissenschaftliche Raumordnungen – die „Erste“ und die „Dritte Welt“ oder „die islamische Welt“ und „der Westen“ – sind analytische, zum Teil ideologisch geprägte Größen, die im Framing-Konzept eines geographisch lokalisierten Artikels in Erscheinung treten können, jedoch nur selten das Hauptthema eines Beitrags definieren. Der einzige bedeutsame Versuch einer homogenen Theoriebildung von Strukturmerkmalen der Medienberichterstattung ist bisher im Bereich der Nachrichtenwertforschung entstanden. Sie untersucht vor allem die Beziehungen zwischen Informationsselektion und Nachrichtenvermittlung, d.h. sie konzeptionalisiert die Schnittstelle der vom MacBride-Bericht als problematisch eingestuften Prozesse der 149 Alexander von Hoffmann hat darauf hingewiesen, daß die Dekontextualisierung nicht allein ein Problem für das Dritte-Welt-Bild darstellt, sondern auch für die westlichen Industrieländer, denn ihrer Aufmerksamkeit entziehen sich zum Teil bedeutsame Entwicklungen, wofür der unerwartete Ausbruch der Iranischen Revolution ein Beispiel ist. Alexander von Hoffmann, Neue internationale Informationsordnung – ein erledigtes Thema?, in: Helmut Asche (Hrsg.), Dritte Welt für Journalisten. Zwischenbilanz eines Weiterbildungsangebotes, im Auftrag des Modellversuchs JournalistenWeiterbildung an der Freien Universität Berlin, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1984, S. 30. 150 Glass, Die Dritte Welt, S. 254-278; Luger, Zwischen Katastrophen, S. 23; Luger, Dritte-WeltBerichterstattung, S. 7; Erhard Meueler, Neger und Co: Die Dritte Welt in Medien und Gegenmedien, in: Pädagogik Extra 13/1974, S. 23. 151 Glass, Die Dritte Welt, S. 279-317; Asche, Öffentliche Meinung, S. 25 f. 152 Die Analyse der Nachrichtengeographie der „Foreign News“-Studie der UNESCO hat gezeigt, daß die Häufigkeit, mit der Themen von überregionaler Bedeutung aufgegriffen werden, noch hinter der Zahl der Beiträge über Lateinamerika liegt, also dem Kontinent, über den durchschnittlich am wenigsten berichtet wird. Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 42. 67 Informationssuche und -weitergabe. Welche Faktoren (Nachrichtenfaktoren) muß eine Nachricht aufweisen, um selektiert und vermittelt zu werden? Der Nachrichtenwert wird auf der Basis quantitativer Inhaltsanalysen der Massenmedien durch Korrelationskoeffizienten der Beziehungen zwischen Nachrichtenfaktoren und Beachtungsgrad sowie Umfang der Nachrichtenfaktoren in der Medienberichterstattung ermittelt.153 Da news value ursprünglich wie „Stereotyp“ eine Begriffsprägung von Walter Lippmann ist,154 auch wenn dieser selbst keine Nachrichtenwertforschung betrieben hat, wird diese zum Teil als Weiterentwicklung der Stereotypenforschung im Bereich der Medienanalyse betrachtet. Wie die Sozialpsychologie den Selektions- und Konstruktionsprozeß der kognitiven Wahrnehmung untersucht, richtet sich die Nachrichtenwertforschung analog auf die Ermittlung der Konstruktionsprozesse des medialen Texts.155 Zu einer theoretischen Synthese beider Forschungsrichtungen kommt es hingegen lediglich bei jenem Teil der Nachrichtenwertforscher, die unter dem Begriff des „Finalmodells“ Nachrichtenwerte nicht als Ausdruck einer immanenten Beschaffenheit der Nachricht („Kausalmodell“), sondern der individuellen und politischen Orientierung der journalistischen Selektionsinstanzen betrachten.156 Im vorliegenden Zusammenhang ist die Bedeutung der Nachrichtenwerttheorie vor allem in der Differenzierung des theoretischen Strukturkonzepts des Auslandsund Dritte-Welt-Bildes der Massenmedien anzusiedeln. Joachim Friedrich Staab unterscheidet zwischen einer mit wenigen theoretischen Kriterien arbeitenden und experimentell orientierten (Befragung von Journalisten) nordamerikanischen und einer theoretisch komplexen und quantitativ-inhaltsanalytischen europäischen Forschungstradition.157 Zur europäischen Tradition zählen vor allem die im Laufe der Jahrzehnte verfeinerten Nachrichtenfaktoren-Kataloge von Einar Östgaard, Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge sowie Winfried Schulz. Exemplarisch wird hier der die zeitlich früheren Arbeiten von Östgaard und Holmboe/Ruge integrierende 18 Nachrichtenfaktoren in sechs Dimensionen umfassende Katalog von Schulz zu Grunde gelegt.158 Die Nachrichtenfaktoren von Schulz tragen Hypothesencharakter und sind nach mehreren Seiten offen. Ihre Wirkung wird auf einer Skala von hohen bis niedrigen Intensitätsstufen gemessen:159 153 Schulz, Die Konstruktion, S. 70 ff. 154 Lippmann, Public Opinion, S. 348. 155 Winfried Schulz, Das Weltbild der Nachrichtenmedien, in: Walter Gagel (Hrsg.), Massenkommunikation in der Demokratie 13 (1980) 1, S. 40. 156 Staab, Entwicklungen der Nachrichtenwerttheorie, S. 161-172. 157 Ebenda, S. 161-164. 158 Schulz, Die Konstruktion, S. 32-34, 40-45. Zu Östgaard bzw. Galtung/Ruge vgl. Einar Östgaard, Factors influencing the Flow of News, in: Journal of Peace Research 2/1965, S. 39-63; Johan Galtung/Mari Holmboe Ruge, The Structure of Foreign News, in: Journal of Peace Research 2/1965, S. 65-91. 159 Die folgende Auflistung nennt in der Regel nur die höchsten Intensitätsstufen. Sofern ein Beitrag nicht diesen Kriterien entspricht – also im Fall der kulturellen Nähe ein Beitrag über ein kulturell „fernes“ Land –, so wäre hier im Sinne Schulzes eine niedrige Intensitätsstufe zu veranschlagen. 68 • Dimension „Zeit“; Nachrichtenfaktoren „Dauer“ und „Thematisierung“: Medien bevorzugen Ereignisse, deren Anfang und Ende klar abgrenzbar und deren Dauer sich nicht länger als über einige Studien erstreckt (höchste Intensitätsstufe). Allerdings werden auch Themen bevorzugt, die langfristig eingeführt worden sind und die journalistische Aufmerksamkeitsschwelle bereits überwunden haben (niedrigste Intensitätsstufe). • Dimension „Nähe“; Nachrichtenfaktoren „räumliche Nähe“, „politische Nähe“, „kulturelle Nähe“ und „Relevanz“: Massenmedien selektieren bevorzugt Nachrichten, die räumliche, politische oder kulturelle Nähe erkennen lassen, die also beispielsweise aus dem Nachbarstaat, aus der Europäischen Union/NATO oder dem westlichen Kulturraum stammen, oder die deshalb von Relevanz sind, weil ein größerer Kreis der Medienproduzenten und/oder -konsumenten sich von einer Nachricht individuell betroffen fühlt (hohe Intensitätsstufe). • Dimension „Status“; Nachrichtenfaktoren „regionale Zentralität,“ „nationale Zentralität,“ „persönlicher Einfluß“ und „Prominenz“: Die Wahrscheinlichkeit einer Selektion wächst in dem Maß, wie eine Nachricht ein Geschehen von regionaler (Bedeutung einer Region) oder nationaler Zentralität (politische, wirtschaftliche und militärische Bedeutung eines Landes) betrifft oder wie einflußreiche Persönlichkeiten (v.a. Politiker) oder andere Prominente beteiligt sind (höchste Intensitätsstufe). • Dimension „Dynamik“; Nachrichtenfaktoren „Überraschung“ und „Struktur“: In der Medienberichterstattung werden überraschende, d.h. unerwartete, unvorhersehbare und ungewöhnliche Ereignisse und Entwicklungen bevorzugt (hohe Intensitätsstufe). Über strukturell weniger komplexe Ereignisse wird häufiger berichtet als über komplexe Entwicklungen (hohe Intensitätsstufe). • Dimension „Valenz“; Nachrichtenfaktoren „Konflikt“, „Kriminalität“, „Schaden“ und „Erfolg“: Nachrichten werden begünstigt, die ein konflikthaftes (d.h. offen aggressives) oder kriminelles Geschehen beinhalten, in denen durch Unfälle oder Katastrophen Schaden entsteht oder die im Gegenteil einen weitreichenden, qualitativen Durchbruch auf einem bestimmten Gebiet beschreiben (hohe Intensitätsstufe). • Dimension „Identifikation“; Nachrichtenfaktoren „Personalisierung“ und „Ethnozentrismus“: Die Tatsache, daß ein Geschehen personalisiert ist (ein handelndes Subjekt steht im Mittelpunkt) oder daß es ethnozentrisch ist (ein Ereignis findet im eigenen Land statt), kann die Nachrichtenauswahl begünstigen (höchste Intensitätsstufe). Vernetzt man die genannten Strukturkriterien des MacBride-Berichts mit den Ergebnissen der empirischen Forschung zum Auslandsbild in Massenmedien und den Nachrichtenfaktoren (nach Schulz), so lassen sich Zonen der Übereinstimmung und Unterschiede der verschiedenen Forschungsrichtungen sowie Vor- und Nachteile der Ansätze zu erkennen. Abbildung 3.7 zeigt exemplarisch einige Vernetzungsmöglichkeiten. Ein Beispiel: Der Hinweis des MacBride-Berichts, die Auslandsberichterstattung sei ein Feld virulenter Feindbildproduktion, steht mit der durch eine Reihe em69 pirischer Studien ermittelten Konfliktperspektive der Medien in Einklang; beide Aspekte werden hypothesenhaft durch die Nachrichtenfaktoren „Konflikt“, Kriminalität, Schaden und Erfolg erfaßt. Auffällig ist das hohe Maß an häufig multipler Vernetzbarkeit der Strukturtheoreme, was darauf hinweist, daß tatsächlich große Übereinstimmung zwischen den Forschungsrichtungen hinsichtlich zentraler theoretischer Annahmen über die Struktur des Auslandsbildes in Massenmedien besteht. 70 71 Allerdings wird auch ein erkenntnistheoretischer Bruch zwischen dem MacBrideBericht und den Strukturtheoremen der Auslandsberichterstattung auf der einen Seite und der Nachrichtenwertforschung (nach Schulz) auf der anderen Seite erkennbar, denn das Theorem der „Nichtdarstellung internationaler Strukturprobleme“ erweist sich als unvernetzbar mit der Nachrichtenwerttheorie, weil die Behauptung der „Nichtdarstellung“ einen Realitätsentwurf internationaler Beziehungen zu Grunde legt – bestimmte Probleme existieren, die die Medien nicht thematisieren –, der für die konstruktivistische Medienwissenschaft keine Relevanz besitzt. Das in der vorliegenden Untersuchung erarbeitete Methodenparadigma des sozial- und kulturwissenschaftlichen Rekonstruktivismus (Kap. 2) ermöglicht es hingegen, Probleme der „Nichtdarstellung“ zu berücksichtigen. 3.2.2 Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung (theoretische Mikroebene): der Journalist im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß Individuelle Einflüsse auf die Auslandsberichterstattung sind auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln.160 Normen, Wertbezüge, Stereotype, Feindbilder, Frames, Theorien und Ideologien, die der Journalist im Laufe seiner politischen Sozialisation mit primären und sekundären Instanzen (Elternhaus, Schule, Universität usw.) ausgebildet hat, können zu Einflußgrößen des medialen Darstellungsprozesses werden. Die politische Sozialisation des (späteren) Journalisten findet in einem gesellschaftlichen Rahmen statt und stellt ein Bindeglied zwischen Journalist und Medienkonsument insofern dar, als die gesellschaftliche Bedingtheit der Wahrnehmung, wie sie in Kapitel 3.1.1 theoretisch aufbereitet worden ist, sowohl Journalisten als auch Konsumenten erfaßt. In einem in jedem Einzelfall zu bestimmenden Umfang und Ausmaß teilt der Auslandsjournalist (etwa durch die Nutzung von kollektiven Nationenstereotypen) kognitive und affektive Bestandteile des Auslandsbildes mit seinem Publikum oder mit Teilen seines Publikums, die die Art seiner Auslandsberichterstattung beeinflussen können. Um den Grad an Übereinstimmung und Differenz, an Anpassung und Freiräumen des Journalismus gegenüber anderen Gesellschaftsgrößen wie dem Publikum in ein sinnvolles theoretisches Erklärungsmodell fügen zu können, wird dieser Theoriekomplex aus heuristischen Gründen in einzelne Einflußgrößen aufgespalten: die individuellen politischen Wahrnehmungen und Orientierungen des Auslandsjournalisten (Mikroebene) und die Interaktionsprozesse zwischen Auslandsberichterstatter und Konsumenten (Makroebene161). Durch die Verbindung der allgemeinen Wahrnehmungs- mit der Einstellungsforschung (als Teilbereich der Sozialisationsforschung) ist die Mikrotheorie der Auslandsberichterstattung keine Dopplung der allgemeinen Wahrnehmungstheorie (vgl. Kap. 3.1.1), sondern stellt, wie zu zeigen sein wird, vor allem in methodischer Hinsicht ein eigenständiges 160 Zur Einführung vgl. Shoemaker/Reese, Mediating the Message, S. 63-103. 161 Vgl. Kap. 3.2.4.1.2 und Kap. 3.2.4.2.2. 72 Forschungsgebiet dar, dem gleichwohl teilweise noch immer die fachliche Anerkennung fehlt. Als individueller Einfluß auf die Berichterstattung kann sich zudem die zeitversetzt zur Primär- und Sekundärsozialisation erfolgende berufliche Sozialisation des Journalisten bemerkbar machen. Verinnerlichte Rollenmodelle der Auslandsberichterstattung und journalistische Verhaltenskodizes können internationale und interkulturelle Darstellungsprozesse beeinflussen. Berufsrollen und Verhaltenskodizes beinhalten distinkte Werthaltungen des Journalisten, die er anders als die individuelle Sozialisation in der Regel nicht mit seinem Publikum teilt, und die sowohl für sich als auch in ihrer Wechselwirkung mit individuellen politischen Orientierungen untersucht werden müssen. Erst das Zusammenwirken von politischer und beruflicher Sozialisation – einschließlich möglicher Konflikte zwischen persönlichen Einstellungen und beruflichen Erwartungen – bildet das Gesamt mikrotheoretischer Einflüsse auf die Auslandsberichterstattung. 3.2.2.1 Politische Sozialisation: Persönliche Wahrnehmungen und Ideologien als Einflußgröße der Auslandsberichterstattung Im Rahmen der individuellen politischen Sozialisation werden Werte und Wahrnehmungen zu Einstellungen unterschiedlichen Komplexitätsgrades – von einfachen Bildern und Stereotypen zu komplexeren Frames, Theorien und Ideologien – verarbeitet. Es ist kaum bestreitbar, daß persönliche Prädispositionen ihren Niederschlag in der Medienberichterstattung finden können. Themeninteressen führen oft zu verstärkter Thematisierung, Desinteresse zur Nicht-Thematisierung. Frames und andere Realitätstheorien können zur selektiven Hinwendung zu bestimmten Themenaspekten führen. Die Verbindung aus solchen (kognitiven) Bildkonstrukten mit (in hohem Maße affektiven) Normen und Werten münden teilweise in Meinungen, Ideologemen und Ideologien, die in Kommentare und Kommentierungen einfließen können. In dem Standardwerk „The Press and Foreign Policy“ von Bernard C. Cohen werden die potentiellen Einflüsse des Journalisten auf die Auslandsberichterstattung als Mischung aus alltagstheoretischen Annahmen über internationale Fragen und individuellen Wertbezügen gedeutet.162 In dieser Verbindung kommen zwei der drei Ebenen des soziopsychologischen Konzepts der Auslandsbilder – die affektive und kognitive, nicht jedoch die operationale Ebene – zum Tragen. Affektive wie kognitive Komponenten können zu Eckwerten unterschiedlicher Bereiche des individuellen Meinungs- und Ideologiespektrums werden. Einige der für die Auslandsberichterstattung zentralen Ideologiebereiche werden in Tabelle 3.4 als Gegensatzpaare aufgelistet: 162 Bernard C. Cohen: „It is not merely that a correspondent’s theory of foreign policy tells him that something is important because of its impact on other variables; he is also concerned about its impact on particular values.“ Bernhard C. Cohen, The Press and Foreign Policy, Princeton 1963, S. 74. 73 Tabelle 3.4 – Relevante Bereiche individueller politischer Ideologiebildung (Auswahl) Rassismus Ethnozentrismus Nationalismus missionarische Religiosität Isolationismus Militarismus Multi-/Inter-/Transkulturalismus „Kosmopolitanismus“ Internationalismus Religionsdialog Internationalismus Pazifismus Dieser Katalog ließe sich beliebig erweitern, etwa um Rechts-Links-Ideologien. Jeder einzelne Bereich kann zudem, wie dies etwa in der Feindbildforschung gemacht worden ist, auf Intensitätsskalen verortet werden. Dabei wäre auf einer Skala von 0 bis 100 der Rassist mit 0, der Transkulturalist mit 100 und der Multikulturalist mit einem Mittelwert einzuordnen (vgl. Kap. 3.2.4.5.1). 0 und 100 beschreiben maximal unvereinbare Weltsichten, während es bei allen Mittelwerten neben Gemeinsamkeiten auch Unterschiede zu benennen gibt. Anhänger sehr unterschiedlicher kognitiver Modelle über die internationalen Beziehungen können durchaus etwa ähnliche Wertbezüge aufweisen, beispielsweise wenn der Multikulturalist – anders als der Rassist – zwar die friedliche Koexistenz von Rassen und Kulturen wünscht (affektiv), den Rassenbegriff jedoch grundsätzlich als kognitives Modell zur Beschreibung der Realität akzeptiert. Oder ein Isolationist ist der Auffassung, die Außenpolitik sei grundsätzlich amoralisch (affektiv) und interessengeleitet, weswegen man von internationalem Engagement absehen solle (kognitiv), während der Internationalist von derselben Prämisse außenpolitischer Amoralität ausgehen kann, dies jedoch für einen unhaltbaren Zustand hält, der stärkeren internationalen Einsatz erfordert. Die Mikrotheorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien, die Frage also, inwieweit die in der politischen (und später auch der beruflichen) Sozialisation entstehenden Bilder und Ideologien den Inhalt der Auslandsberichterstattung beeinflussen, hat ein grundsätzliches Problem zu bewältigen, das als Ungleichgewicht von Inhalts- und Einstellungsforschung bezeichnet werden kann. Die soziopsychologische Erforschung von Stereotypen, Feindbildern usw. oder andere stärker linguistisch orientierte Forschungsrichtungen wie die Framing- und Diskursanalyse haben durch ihre starke Stellung bei der Erforschung internationaler Medieninhalte die Sensibilität für Wahrnehmungs- und Ideologieeinflüsse gefördert. Zugleich sind diese Forschungsrichtungen fast ausnahmslos textorientiert und verwenden inhaltsanalytische Verfahren. Die Inhaltsforschung (Wie sieht das Medienbild aus?) ist aber nur ein Bestandteil der Erforschung mikrotheoretischer Inhaltseinflüsse (Welchen Einfluß hat der Journalist auf die Medieninhalte?), da aus den Texten selbst nicht auf den Journalisten als Verursacher bestimmter Textmerkmale geschlossen werden kann, d.h. es ist nicht zu erkennen, ob diese wirklich das Resultat sozialisationsbedingter Dispositionen des Journalisten sind oder aber beispielsweise durch Einfluß der Medienorganisation entstanden sind. Die Ermittlung der verschiedenen, einen Text konstituierenden Einflußgrößen wird um so schwieriger, je weni- 74 ger sich diese unterscheiden, zum Beispiel wenn das persönliche Auslandsbild und die Weltanschauung eines Journalisten mit den ideologischen Prägungen (den „Entscheidungsprogrammen“; vgl. Kap. 3.2.3) der Medieninstitutionen und ihrer Routine der Nachrichtenselektion (Nachrichtenfaktoren) identisch sind. Entgegen solcher Linien verfaßte Texte können zwar die Organisation als Einflußgröße ausschließen und steigern die Wahrscheinlichkeit mikrotheoretischer Einflüsse, makrotheoretische Einflußgrößen wie etwa momentaner Druck seitens des Publikums oder des politisch-wirtschaftlichen Komplexes (vgl. Kap. 3.2.4.2) lassen sich jedoch nicht ausschließen. Politische Sozialisationseinflüsse sind empirisch nur durch integrierte Untersuchungen zu ermitteln, die die Inhaltsanalyse mit der Ermittlung individueller journalistischer Einstellungen verbindet. Solche Untersuchungen sind bisher nur selten angefertigt worden.163 Eine Studie von Ruth C. Flegel und Steven H. Chaffee hat beispielsweise gezeigt, daß Medienberichte mehr durch die persönlichen Einstellungen von Journalisten als durch die der Herausgeber (Mesoebene) und Zeitungsleser (Makroebene) beeinflußt werden.164 Dennoch ist die Zahl empirisch aussagekräftiger Paralleluntersuchungen bisher zu gering und sind die Ergebnisse der bisherigen Studien zu heterogen, um generelle Aussagen treffen zu können. Für die Untersuchung von Auslandsberichterstattung gilt dies in besonderem Maß, so daß aus theoretischer Perspektive lediglich ein methodischer Imperativ der Paralleluntersuchungen formuliert werden kann, um die Mikrotheorie für die Untersuchung internationaler Darstellungsprozesse fruchtbar zu machen.165 In Ermangelung integrierter Untersuchungen von Medientexten und journalistischen Einstellungen bietet sich eine Form der Paralleluntersuchung als Alternative an: der Vergleich zwischen verschiedenen Publikationsformen der Auslandsberichterstatter. Gerade Auslandsjournalisten sind häufig in hohem Maß auch auf den Buchmärkten präsent, d.h. sie beliefern durch Medienberichte und Bücher verschiedene publizistische Märkte und erweisen sich in diesem Sinn als multiple öffentliche Meinungsführer.166 Wenn davon ausgegangen werden kann, daß die Kontrolle des Journalisten über den Inhalt dieser Buchtexte strukturell größer ist als über die Medientexte, die sie in Rundfunk und Presse veröffentlichen, wo die Medienorganisationen einen wichtigen Einflußfaktor darstellen, dann nimmt hier auch der Einfluß persönlicher Einstellungen auf die Textinhalte zu. Buchpublikationen von Auslandsjournalisten sind daher eine verläßlichere Quelle zur Ermittlung von individuellen Wahrnehmungs- und Ideologiemustern als die Texte der Massenmedien. Für den Fall, daß sich ähnliche oder gleiche ideologische Einflüsse auch in der Auslandsbe163 Zum Überblick über die amerikanische Literatur vgl. Shoemaker/Reese, Mediating the Message, S. 90 f. 164 Ruth C. Flegel/Steven H. Chaffee, Influences of Editors, Readers, and Personal Opinions on Reporters, in: Journalism Quarterly 48 (1971) 4, S. 645-651. 165 Shoemaker und Reese: „Whether personal values (...) are responsible for these differences [in media contents/K.H.] is an empirical question. Much more research needs to be done to isolate variables such as personal values in the context of a very complex media environment.“ Shoemaker/Reese, Mediating the Message, S. 85. 166 Hafez/Hörner/Klemm, The Rise and Decline. 75 richterstattung nachweisen lassen, kann behauptet werden, daß diese zumindest teilweise auf Mikroeinflüsse zurückzuführen sind. Einige exemplarische Beispiele für Ideologiemuster in Parallelpublikationen der deutschen Auslandsberichterstattung: der Glaube an eine rassische oder ethnische Typologisierbarkeit des Individuums im Orient ist eine Ideologie, die man als krypto-rassistisch bezeichnen und der in den Werken mehrerer deutscher Auslandsjournalisten belegt werden kann. Die Autoren pflegen keinen nordischen Rassismus, der Semiten und andere Orientalen ausdrücklich als minderwertig betrachtet; aber sie entwickeln in ihren Büchern zahlreiche Annahmen einer festgefügten Typologie des Orientalen, die den essentialistischen Kern solcher Rassismen bilden kann. • Harald Vocke (Frankfurter Allgemeine Zeitung) vermutet, die Tötungshemmschwelle liege bei Arabern niedriger als bei Europäern („Auch haben Araber insgesamt weniger Hemmungen gegenüber dem Mord als gemeinhin der moderne Europäer.“167). Sein Verweis auf die orientalische Blutrache geht in der Generalisierung weit über die Praxis im Orient hinaus. Die Vorstellung eines das Gewaltmonopol des Staates brechenden, mordbereiten Arabers trifft etwa auf den Durchschnittsbewohner Kairos ebensowenig zu wie auf den New Yorker, wobei in der amerikanischen Metropole die Rate der Kapitalverbrechen, insbesondere Mord, weitaus höher liegt. Völkerstereotype basieren bei Vocke auf einer entsprechenden Abstammungslehre („Die Perser (...) sind dem Europäer viel näher verwandt als die semitischen Araberstämme.“168). Begründet werden solche Theorien etymologisch. Farsi zählt demnach zur indogermanischen, Arabisch hingegen zur semitischen Sprachfamilie, was richtig ist, aber wenig aussagekräftig zur Charakterisierung der ethnisch-kulturellen Beziehungen zwischen Europa und dem Vorderen Orient, denn die Juden Israels oder die Christen im Libanon sprechen ebenfalls semitische Sprachen, ohne deswegen Europa weniger „verwandt“ zu sein als die „Perser“. • Rassische Typologien sind auch in den Arbeiten Peter Scholl-Latours (u.a. Sonderkorrespondent des ZDF) zahlreich, wenn er ältere Orientalinnen als „fett wie Nilpferde“, Kabylenfrauen als „häßlich wie die Nacht“ beschreibt oder eine ausgeprägte Tiermetaphorik auf Orientalen anwendet (Gaddafi bewegte sich „mit der Geschmeidigkeit einer Katze“), die keine Entsprechung bei der Charakterisierung von Europäern findet.169 Andere Typologisierungen kennzeichnen nicht das Individuum, sondern Kultur und Gesellschaft: 167 Harald Vocke, Im Duft der Zeit. Begegnung mit dem Morgen, Frankfurt/Berlin 1988, S. 145. 168 Ebenda, S. 147. 169 Karin Hörner, Peter Scholl-Latours Buch Allah ist mit den Standhaften. Die Lage war noch nie so ernst, in: Verena Klemm/Karin Hörner (Hrsg.), Das Schwert des „Experten“. Peter Scholl-Latours verzerrtes Araber- und Islambild, Heidelberg 1993, S. 84-90; Kappert, Petra, Peter Scholl-Latour und das „Reich des Bösen“: Kritische Lektüre des Buches Den Gottlosen die Hölle, in: Verena Klemm/Karin Hörner (Hrsg.), Das Schwert des „Experten“. Peter Scholl-Latours verzerrtes Araberund Islambild, Heidelberg 1993, S. 129-142 76 • Gerhard Konzelmann (ARD) stereotypisiert Korruption zu einem Wesenszug der arabischen Gegenwartskultur („Es ist keine Schande in Arabien, wenn sich der einzelne kaufen läßt.“170); die häufige Kritik an Korruption in arabischen Medien und in der Öffentlichkeit wird nicht berücksichtigt. Konzelmann erklärt, die arabische Politik neige zu irrationaler Gewalt („Der Rausch zum Töten und Getötetwerden löscht in Abständen die Ansätze zu vernunftorientierter stabiler Staatenbildung aus.“171). Andere mögliche Erklärungen für die Entstehung politischer Gewalt – Instabilität des Nationalstaats und des staatlichen Gewaltmonopols, Autoritarismus, Staatsterrorismus und ethnisch-religiös motivierter Terrorismus usw. – werden durch die Annahme einer kulturimmanenten Irrationalität ersetzt. • Wolfgang Günter Lerch (Frankfurter Allgemeine Zeitung) legt seiner Analyse der Politik Libanons das Modell einer religiösen Determinierung zu Grunde, die er von politologischen Erklärungsmodellen für westliche Politik abgrenzt („Bezeichnungen wie ‘links’ und ‘rechts’ müssen in einer Welt versagen, die noch in anderen, archaischen Kategorien des Religiösen wie Politischen denkt und lebt als der säkularisierte Westen.“172). Lerchs Theorie ist durch eine religiöskulturalistische Essentialisierung der komplexen religiös-konfessionellen, ethnischen, sozialen, demographischen, verfassungsrechtlichen usw. Einflußfaktoren der Innen- und innenpolitisch motivierten Außenpolitik Libanons gekennzeichnet, wobei im Libanon auch die Rechts-Links-Polarisierung über lange Jahre eine herausragende Rolle für die Bündnisbildung gespielt hat. • Gerhard Dambmann (ZDF) geht ebenfalls von einer kulturellen Differenz zwischen dem Westen und Japan bzw. einer „elementaren Andersartigkeit der ostasiatischen Kultur“ aus, die er unter anderem darin zu erkennen glaubt, daß demokratische Prinzipien der Mehrheitsbildung in der japanischen Politik hinter dem kulturgeprägten Konsensdenken zurücktreten –173 eine kulturalistischessentialistische Annahme, die verkennt, daß auch Japans politisches System in wesentlichen Teilen – etwa Wahlgesetzgebung – auf dem Prinzip der Mehrheitsbildung, nicht aber auf dem Konsens basiert. 3.2.2.2 Berufliche Sozialisation: Rollenmodelle der Auslandsberichterstattung Die berufliche Sozialisation im Bereich der Massenmedien ist unter anderem durch drei zentrale Faktoren gekennzeichnet: 170 Vgl. Aziz Alkazaz, Rezension zu: Gerhard Konzelmann, Die Reichen aus dem Morgenland. Wirtschaftsmacht Arabien, München 1975, in: Orient 17 (1976) 3, S. 110 f. 171 Gerhard Konzelmann, Die Araber und ihr Traum vom Großarabischen Reich, München 1976, S. 389. 172 Wolfgang Günter Lerch, Halbmond, Kreuz und Davidstern. Nationalitäten und Religionen im Nahen und Mittleren Osten, Frankfurt 1992, S. 14. 173 Gerhard Dambmann, Fremde Tradition vermitteln. Berichtsort Tokio: Ereignisberichterstattung verhindert Verständnis, in: Rupert Neudeck (Hrsg.), Den Dschungel ins Wohnzimmer. Auslandsberichterstattung im bundesdeutschen Fernsehen, Frankfurt 1977, S. 117. 77 • Individuelle Nachrichtenfaktorenroutine: Die Routine der Nachrichtenselektion und -verarbeitung wird innerhalb der Medienorganisationen erlernt und unterliegt daher starken mesotheoretischen, durch die Austauschbeziehungen zwischen Organisation und Gesellschaft auch makrotheoretischen Einflüssen. Gleichwohl verbleiben Spielräume der individuellen Interpretation dessen, was als „Nachrichtenwert“ bezeichnet werden kann, nach dem Motto: „Was denke ich, das die anderen denken, was berichtenswert ist?“ • Adaptation journalistischer Rollenmodelle: Journalisten formulieren implizit oder explizit berufliche Handlungsmaximen. Sie bilden das fehlende operationale Element (neben den oben genannten kognitiven und affektiven Grundlagen persönlicher Weltanschauungen) einer individuellen Einstellungsmatrix mit möglichem Einfluß auf Medieninhalte. • Adaptation professioneller Verhaltenscodes: Berufsständische (in vielen Staaten auch staatliche) Professionalitätsnormen werden formuliert, um den Einfluß individueller politischer wie beruflicher Sozialisationseinflüsse durch eine (gleichwohl individuell zu interpretierende) Medienethik einzudämmen. Der Einfluß von Rollenvorstellungen auf die Auslandsberichterstattung ist nahezu ebensowenig gründlich erforscht wie der individueller Ideologien. Grundsätzlich sagt Bernard C. Cohen über die Einflüsse individueller Rollenbilder auf die Auslandsberichterstattung: „(I)t seems useful to make the point explicitly that in their creative moments or creative aspects or opportunities (and nearly all of them have these moments), the foreign affairs reporters may deem important the kinds of news stories that reflect their dominant images of what the press ought to be contributing to the foreign policy-making process.“174 Die Einschätzung Cohens, daß das Berufsrollenverständnis des Journalisten die Nachrichtenselektion im Bereich der Auslandsberichterstattung beeinflussen kann, läßt sich zu einer Grundhypothese erweitern: Berufsrollen sind im Bereich der internationalen Darstellungsprozesse in Massenmedien Antizipationen der gesellschaftlichen Wirkung und Bedeutung von Auslandsbildern und Auslandsberichterstattung. Die aus diesen Wirkungsannahmen abgeleiteten Intentionen (Wirkungsabsichten) können auf den Produktionsprozeß der Auslandsberichterstattung zurückwirken und die Beschaffenheit des Auslandsbildes mitbestimmen. Im Sinne dieser These sind Berufsrollenbilder eine operationale Ergänzung zu den im Kontext der individuellen politischen Sozialisation entwickelten kognitiv und affektiv fundierten Einstellungen. Sie beschreiben eine potentielle Wirkungssphäre des Auslandsjournalisten, ohne deren Formulierung individuelle Einstellungen zwar Einfluß auf die Medientexte ausüben können, ihre gesellschaftliche Wirkung gleichwohl nichtintentional bleibt. Suchen Journalisten jedoch nach Möglichkeiten, ihre individuellen Wahrnehmungen und Theorien an den Konsumenten zu vermitteln und ihnen hierdurch gesellschaftliche Relevanz zu verleihen, wird dies in der Regel über den Umweg einer Formulierung von Berufsrollen erfolgen. 174 Cohen, The Press, S. 80. 78 Verschiedene idealtypische Rollenvorstellungen der Auslandsberichterstattung lassen sich unterscheiden: • Neutraler Informant: Die Vorstellung, als „neutraler Informant“175 der internationalen Berichterstattung zu wirken, ist eng an die Objektivitätsnorm des demokratischen Journalismus gebunden. Das Rollenmodell knüpft teilweise an das problematische Konzept der „Realität“ als einer wahrnehm-, abbild- und vermittelbaren Größe an, wobei der Konstruktionscharakter der Realität unbeachtet bleibt. In abgemilderter Form kann das Rollenbild jedoch auch dazu dienen, Medieninformationen ein Höchstmaß an intersubjektiver Überprüfbarkeit zu verleihen und zu berichtende Diskurse Dritter in pluralistischer Form (pro und contra) zu vermitteln. Die Neutralitätsnorm ist prinzipiell der beste Garant dafür, daß die eigenen politischen Orientierungen – beispielsweise krypto-rassistische Ideologeme wie oben vorgestellt – im Zustand der Selbstkontrolliertheit verbleiben. Der Journalist vermeidet entweder bewußt ihr Vordringen in den von ihm verfaßten Text, da er sich selbst als (meinungsloser) Mittler eines faktischen Weltgeschehens betrachtet, und er vermittelt die Ansichten Dritter (Politiker, Intellektueller usw.). Die Neutralitätsnorm eignet sich jedoch auch zur Manipulation: zur (oft unbewußten) Selbstmanipulation, indem die eigenen Orientierungen in einer bevorzugten Hinwendung zu ähnlich gelagerten Ansichten Dritter indirekt in den Text einfließen, oder zur externen Funktionalisierung etwa durch Propaganda und staatliche Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen, die sich der Nachrichtenagenturen und Medien als Vermittler ihrer Außenpolitik bedienen (vgl. Kap. 3.2.3.2). • Mitgestalter der Außenpolitik: Hier handelt es sich um einen ganzen Komplex von Rollenbildern im Bereich der internationalen Berichterstattung.176 Anders als das Neutralitätsgebot ermöglicht die Vorstellung einer Mitwirkung des Journalisten in den internationalen Beziehungen prinzipiell die Kopplung der kognitiven und affektiven individuellen Orientierungen (politische Sozialisation) mit der operationalen Sphäre (berufliche Sozialisation). Da die außenpolitische Mitgestaltung zumindest im demokratischen Journalismus westlicher Prägung eine sekundäre Stellung hinter dem Neutralitätsgebot einnimmt, ist in der Regel nicht zu erwarten, daß Mitgestaltungsversuche im Widerspruch zu individuellen Orientierungen erfolgen. Bei Cohen ist die politische Mitgestaltung des Journalisten in mehrere Unterrollen unterteilt, die alternativ oder komplementär zum Tragen kommen können: - Repräsentant der Öffentlichkeit: Politiker erhalten bei internationalen Fragen in der Regel nur sehr wenig Rückmeldung aus der Bevölkerung. Stärker als bei innenpolitischen Fragen sind es kleine Eliten und eine vergleichsweise schwach ausgebildete Organisationslandschaft, die sich – mit Ausnahme von Krisenzeiten – in den außenpolitischen Diskurs einschalten. Die Medienreak- 175 Ebenda, S. 22-30. 176 Ebenda, S. 31-47. 79 - - tion auf Außenpolitik, insbesondere die der großen überregionalen Zeitungen, ist daher für die Politiker von besonderem Interesse (vgl. Kap. 3.2.4.1.3). Für den Auslandsjournalismus bedeutet dies, daß die relative Konkurrenzlosigkeit der Auslandsberichterstattung bei der Konstituierung öffentlicher Meinung als Aufforderung einer tendenziellen Verlagerung von der neutralen Informations- zur politischen Mitgestaltungsrolle verstanden werden kann, wobei insbesondere die internationalen Themen, Ansichten und Interessen der Bevölkerung bzw. der interessierten Öffentlichkeiten aufgegriffen werden müßten. Diese Verlagerung ist auch im amerikanischen Kontext nicht unumstritten. Dennis: „(S)ome of our most able journalistic talents come to see themselves not so much as reporters and observers but as foreign policy experts, writing not for the public at large but for policymakers in Washington and elsewhere.“177 Alle anderen Teilrollen des Mitgestaltungsdenkens (s.u.) basieren auf dieser demokratischen Repräsentationsvorstellung der Auslandsberichterstattung. Kritiker der Außenpolitik: Ein Verständnis der Medien als „vierte Gewalt“ und Kritiker der nationalen Außenpolitik ist insbesondere in den USA ausgeprägt.178 Diese Rollenvorstellung ist allerdings nach Untersuchungen Robert M. Batschas unter Radio- und Fernsehjournalisten umstrittener als im Bereich der von Cohen untersuchten Presse. Batscha meint, daß etwa die Hälfte der Journalisten der Kritikrolle zuneigen, während Cohen noch behauptet hatte, diese sei ebenso konsensual wie die Informationsrolle.179 Die Adaptation des Rollenbildes eines Kritikers der Außenpolitik durch den Journalisten fördert die Darstellung von Fehlentwicklungen der internationalen Politik, insbesondere der nationalen Außenpolitik. Advokat der Außenpolitik: Kehrseite der Kritik ist die Anregung alternativer Politikrichtungen. Batscha hat darauf hingewiesen, daß anders als in dem von Cohen untersuchten Bereich der privaten Presse die bewußte Initiierung von Außenpolitik im Rundfunk- und Fernsehbereich von weniger Journalisten als Rollenmodell anerkannt wird als die Kritikfunktion.180 Bereits ein kursorischer Einblick in einige Selbstdarstellungen deutscher Auslandsjournalisten – wie die politischen Einstellungen ist dies noch nicht systematisch erforscht – zeigt, daß diese im amerikanischen Journalismus entstandenen Rollenkonzepte zwar teilidentisch mit deutschen Rollenvorstellungen sind, daß jedoch die Liste unvollständig ist: • Heinrich von Jaenecke (stern) kennzeichnet seine Berichterstattung über Länder wie China, Spanien und Rußland als Bestandteil eines erweiterten politischen Handlungsprozesses („‘Politik ist wie eine Droge – man kann nicht wieder aus177 Everette E. Dennis, Of Media and People, Newbury Park 1992, S. 42. 178 Cohen, The Press, S. 33-36. 179 Robert M. Batscha, Foreign Affairs News and the Broadcast Journalist, New York u.a. 1975, S. 38-43. 180 Ebenda, S. 44. 80 steigen, wenn man einmal drin ist.’ Der alte Spruch gilt für den Reporter nicht weniger als für den Akteur auf der Bühne. Sie brauchen sich gegenseitig: Was wäre der Politiker ohne den Spiegel des Reporters – ein armseliges Nichts.“181) Dieses Verständnis geht über das neutrale Informationsmodell hinaus und impliziert eine Mitgestaltung der Auslandsberichterstattung in der Politik, ohne allerdings Rollenfacetten wie Repräsentanz, Kritik und Advokatismus zu spezifizieren. • Peter Scholl-Latour (u.a. Sonderkorrespondent ZDF) weist darauf hin, daß seine politischen Voraussagen sowohl in bezug auf die Politik de Gaulles wie auch auf das Scheitern der Amerikaner in Vietnam sich als richtig erwiesen hätten und beklagt, daß junge Journalisten im westdeutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem zu wenig Freiräume zur politischen Kommentierung besäßen.182 Auch Haltungen, die wie die Scholl-Latours, dem politischen Mitgestaltungsgedanken zuneigen, richten sich jedoch nicht speziell auf die deutsche Außenpolitik, sondern vielmehr auf die kritische Begleitung der internationalen Politik und Kommentierung von Außenpolitik, die in hohem Maß in den USA, Frankreich usw. gemacht wird, während der deutschen, lange Jahrzehnte weniger bedeutsamen Außenpolitik nicht das Hauptaugenmerk gilt – was einen Mitgestaltungswillen im Einzelfall nicht ausschließt. • Rudolf Radke (ZDF) äußert sich kritisch gegenüber einer durch politische Gestaltungsinteressen gelenkten Auslandsberichterstattung und verweist auf „autonome Strukturen“ in den Bericherstattungsländern, die im Zentrum journalistischer Arbeit stehen müßten.183 Radke bestätigt exemplarisch Batschas Hinweis darauf, daß Rundfunkjournalisten häufig ein stärker an der neutralen Informationsfunktion der Medien orientiertes Rollenbild vertreten als Pressejournalisten. Politisches Gestaltungsinteresse oder dessen Ablehnung spiegeln sich ebenso in der berufsbegleitenden Fachliteratur. Hinsichtlich der politischen Gestaltungsrolle der Auslandsjournalisten läßt sich in der Literatur ein Trend von Zustimmung in Werken der Nachkriegszeit zu stärkerer Ablehnung in späteren Zeiten erkennen: • Walter Hagemann hat die klassische Position des Auslandskorrespondenten als „inoffizieller Botschafter“ des eigenen Landes formuliert. In Hagemanns Rollenbeschreibung tritt zum einen die neutrale Informationsfunktion hinter die politische Mitgestaltung zurück, und zum anderen wird die politische Gestaltung in erster Linie als Advokatismus nationaler Interessen des Heimatstaates gedeutet: Man hat den Auslandskorrespondenten einen inoffiziellen Botschafter seines Landes genannt. Dieser anspruchsvolle Vergleich ist durchaus zutreffend (...). 181 Der Stern – Das Medium, Gruner + Jahr AG und Co., Hamburg 1992, S. 66. 182 Peter Scholl-Latour, Leistung, zum Prinzip erhoben. Konzepte für die Zukunft der Auslandsberichterstattung, in: Rupert Neudeck (Hrsg.), Den Dschungel ins Wohnzimmer. Auslandsberichterstattung im bundesdeutschen Fernsehen, Frankfurt 1977, S. 57. 183 Rudolf Radke, Kontinuität als Hauptproblem. Wachsende Interdependenz des Weltgeschehens und abnehmende Möglichkeiten der Berichterstattung, in: Rupert Neudeck (Hrsg.), Den Dschungel ins Wohnzimmer. Auslandsberichterstattung im bundesdeutschen Fernsehen, Frankfurt 1977, S. 44. 81 Bedenkt man, daß ihre Berichte die Vorstellungen von Millionen über ein fremdes Land beeinflussen und formen, daß ihre politischen Urteile häufig wie diplomatische Erklärungen bewertet werden, daß sie nicht selten vertrauliche Aufträge ihrer Regierungen und Botschaften ausführen, daß sie hinter den Kulissen der Politik des fremden Landes oft besser Bescheid wissen als die amtlichen Missionschefs, so kann man ermessen, welche Bedeutung die richtige Auswahl und die verantwortungsbewußte Arbeit dieser Korrespondenten besitzt! (...) Inmitten von widerspruchsvollen Informationen, von Intrigen, Interessen, Beeinflussungsversuchen, muß das höchste Streben des Korrespondenten darauf gerichtet sein, der Wahrheit und den Interessen seines Landes zu dienen, die Beziehungen von Volk zu Volk zu fördern und zu entgiften (...).184 • H.G. von Studnitz argumentiert ebenfalls im Jahr 1950 im selben Tenor über die beruflichen Pflichten des Auslandsredakteurs. Aus der Tatsache, daß im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Presse und Medien für die Außenpolitik gestiegen sei, leitet er die Notwendigkeit ab, von seiten der Politik die Medien als Mitgestalter der Außenpolitik zu akzeptieren und von seiten der Medien, sich für nationale außenpolitische Interessen einzusetzen.185 • Das normative Konzept des Journalisten als eines „Botschafters“ wird spätestens seit den siebziger Jahren von verschiedenen Journalisten und Autoren als „Botschafterkomplex“ kritisiert. Die Vorstellung, der Auslandsberichterstatter sei den nationalen Interessen des Heimatlandes verpflichtet, wird als eurozentrische Position abgelehnt.186 Die Kritiker des Mitgestaltungskonzeptes haben es jedoch versäumt, die Frage zu diskutieren, ob und wie sich ein Mitgestaltungsverständnis der Auslandsberichterstattung mit der Grundverpflichtung zur Neutralität verbinden läßt, d.h. wie man eine normative Verpflichtung zur politischen Mitwirkung (etwa zum Abbau internationaler Krisen) übernehmen kann, ohne dabei national oder bündnispolitisch gebunden zu sein. Wo ein solches Rollenverständnis des Journalisten als internationalem Vermittler – wie sie gerade die Krisenforschung gefordert hat (vgl. Kap. 3.2.4.4.2) – nicht existiert, ist nicht verwunderlich, daß in den neunziger Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung ein nationales Be- 184 Walter Hagemann, Die Zeitung als Organismus, Heidelberg 1950, S. 92. 185 H.G. von Studnitz, Presse und auswärtige Politik, in: Aussenpolitik 1 (1950) 4, S. 292-299. 186 Georg Jürgens, Politische Auslandsberichterstattung im deutschen Fernsehen, am Beispiel der Korrespondentenberichterstattung über die USA, Berlin 1974, S. 39 f.; Ekkehard Launer, Das Weltbild der Fernsehredakteure. Über die Schwierigkeiten, „objektiv“ zu recherchieren, in: Fritz Michael (Hrsg.), Die tägliche Mobilmachung oder: Die unfriedlichen Strukturen der Massenmedien, Göttingen 1984, S. 85 ff. Herbert von Borch charakterisiert im Jahr 1963 die Beziehung zwischen Korrespondenten und der nationalen Diplomatie einerseits als ein Vertrauensverhältnis, andererseits betrachtete er den Korrespondenten als „von nationalpolitischen Weisungen freier“ als den Diplomaten. Herbert von Borch, Der Auslandskorrespondent, in: Merkur 17 (1963) 179, S. 386 f. 82 rufsverständnis erneut Einzug in die beruflichen Selbstdefinitionen deutscher Journalisten gefunden hat.187 Neben dem auf staatliche Außenpolitik bezogenen Rollenverständnis kommen im deutschen Auslandsjournalismus Vorstellungen zum Tragen, die nach einer Positionierung des Journalisten im kulturellen Umfeld seiner Tätigkeit verlangen: • Robert Hetkämper (ARD) beschreibt die Aufgabe des Auslandskorrespondenten als die eines Vermittlers zwischen den Kulturen und „Übersetzers“ fremder Phänomene für das heimische Publikum.188 Während sich Cohens Interesse an Rollenkonzepten auf die Haltung der Journalisten zur staatlichen Außen- und internationalen Politik beschränkt, ist Hetkämpers Rollenmodell eine Reaktion auf die Kritik am Bild der „Dritten Welt“ im Rahmen der Debatte über die Neue Weltinformationsordnung der siebziger und achtziger Jahre. Dort angesprochene Mängel wie die Dekontextualisierung der Ereignisberichterstattung werden bei Hetkämper zu einer Forderung nach journalistischer Aufarbeitung des kulturellen Kontextes umgesetzt. Bisher fehlt allerdings eine stringente Untersuchung, die der Fragestellung nachgeht, inwieweit Defizite des Strukturbildes der internationalen Medienberichterstattung (vgl. Kap. 3.2.1) auf breiter Basis in positive berufliche Rollenbilder umgewandelt worden sind. • Gerhard Friedl (ARD) begründet die Tatsache, daß Korrespondenten der ARD für drei oder maximal fünf Jahre an einen Korrespondentenplatz entsandt werden, damit, daß andernfalls die nötige „Distanz“ zum Berichterstattungsland verloren gehe.189 Wie für Hetkämper und viele andere deutsche Korrespondenten ist der kulturelle Transfer für Friedl ein wesentlicher Teil der normativen Berufsauffassung, wird jedoch als Transfer zwischen wesensmäßig ungleichen Polen – ganz im Sinne kultureller Differenz- und Essentialisierungsannahmen (vgl. Kap. 3.2.2.1) – betrachtet. Zur Bestimmung von Mikroeinflüssen (des Journalisten) auf den Inhalt der Auslandsberichterstattung ist es nicht allein erforderlich, Vergleichsuntersuchungen von a) individuellen politischen Orientierungen und Inhaltsanalysen sowie b) beruflichen Rollenbildern und Inhaltsanalysen durchzuführen. Es ist darüber hinaus erforderlich, das Zusammenwirken von individuellen und beruflichen Sozialisationseinflüssen zu ergründen. Mikroeinflüsse (politische Orientierungen oder Rollenbilder) konkurrieren in ihrem Einfluß auf den Textinhalt nicht allein mit Meso- und Makrofaktoren des Darstellungsprozesses. Auch auf der Mikroebene selbst können Konflikte zwischen individuellen und beruflichen Sozialisationsanforderungen zum Tragen kommen, etwa zwischen individuellen Werten und beruflichen Rollenimperativen. 187 Robert Hetkämper, Der fremde Blick. Auslandskorrespondenten in einer sich wandelnden Welt, in: ARD Jahrbuch 95, Hamburg 1995, S. 131. 188 Ebenda, S. 125. 189 Gerhard Friedl, Rund um die Uhr aus aller Welt. Hörfunkkorrespondenten der ARD, in: ARDJahrbuch 1995, Hamburg 1995, S. 48. 83 Zwar wird man in der Regel erwarten können, daß die Freiräume, die die Meso- und Makroeinflüsse dem Journalisten lassen, von diesem dazu genutzt werden, die ohnehin sehr diffusen Rollenkonzepte des Journalismus im Sinne seiner individuellen Neigungen zu interpretieren, also im Sinne Festingers „kognitive Dissonanz“ (vgl. Kap. 3.2.1) zu vermeiden. Individuelle politische Orientierungen werden früher erworben als die professionellen Rollen, die auf diese Weise selektiv angepaßt werden, so daß sie als operationale Fortsetzung kognitiver und affektiver Einstellungen interpretiert werden können. Dennoch ist ein Konflikt zwischen individueller und beruflicher Sozialisationserfahrung nicht auszuschließen, beispielsweise wenn das journalistische Neutralitätsgebot die eigene politische Meinung, die im Sinne des außenpolitischen Mitgestaltungsdenkens ventiliert werden könnte, kontrolliert. Zugleich werden in der beruflichen Sozialisation auch journalistische Normen mit dem Ziel vermittelt, die individuelle Ethik des Journalisten in ein produktives Spannungsverhältnis zur Berufsethik zu überführen. Berufsethik und weltanschauliche Orientierung müssen nicht harmonieren, sondern können als Dissonanz und als Rollenkonflikt erlebt werden (vgl. den Kreislauf in Abb. 3.8). Ein solcher Konflikt kann etwa im Fall Hetkämpers entstehen. Er geht vom Grundsatz kultureller Differenz, also von der Unmöglichkeit eines letztlichen Verstehens „fremder“ Kulturen durch den Journalisten aus; eine Haltung, wie sie oben auch bei anderen Auslandsjournalisten als ideologischer Eckwert ermittelt worden ist.190 Hetkämper weist also dem Auslandskorrespondenten die „Übersetzung“ kultureller Phänomene (Berufsrolle) zu, von denen er auf Grund seiner individuellen Einstellung annimmt, daß sie in letzter Instanz wegen mangelnder Akkulturationsfähigkeit des Journalisten nicht verstanden werden können. 190 Hetkämper, Der fremde Blick, S. 124. 84 85 3.2.2.3 Journalistische Verhaltenskodizes und internationale Berichterstattung Ob es gelingt, berufliche und individuelle Verhaltensnormen, die Einfluß auf die Auslandsberichterstattung ausüben können, in Übereinstimmung zu bringen, hängt auch davon ab, inwieweit eine berufsethische Normierung als Professionalitätsnorm institutionalisiert werden kann. Vergleichende Analysen europäischer Medienkodizes haben ergeben, daß in Deutschland und den meisten anderen westeuropäischen Ländern internationale Fragen weniger Beachtung finden als in den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas. „Respekt vor anderen Staaten und Nationen“ ist demnach in den neunziger Jahren in 9 von 31 untersuchten Verhaltenskodizes (29%) erwähnt worden, nämlich in Finnland, Frankreich, Griechenland, Kroatien, Litauen, Portugal, der Slowakei, Ungarn und der Türkei. Nicht erwähnt wird diese Norm in Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Katalonien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Rußland, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz und Tschechien.191 Da die Kodizes der sozialistischen Ära in der Regel Aspekte der internationalen Verständigung, des Friedens, der Völkerfreundschaft und der Kooperation stärker hervorhoben als die meisten westeuropäischen Normenkataloge,192 kann die gegenwärtige stärkere Beachtung internationaler Fragen in osteuropäischen Ländern als Nachklang der sozialistischen Ära betrachtet werden. Westliche Normenkataloge hingegen legen den Schwerpunkt auf individuelle Pflichten (faktische Richtigkeit der Nachricht usw.) und den Schutz individueller Rechte bis hin zum Schutz der Privatheit. Allerdings wenden sich 87 Prozent aller untersuchten Normenkataloge – also auch die meisten westeuropäischen – gegen Rassenhaß und religiöse Diskriminierung.193 Der Entwurf einer internationalen Medienethik-Charta der Vereinten Nationen schrieb bereits 1952 das Prinzip der auf dem notwendigen Sachwissen beruhenden ausgewogenen Berichterstattung über andere Staaten und Nationen fest.194 Die „International Principles of Professional Ethics in Journalism“ von 1983 heben unter anderem den Respekt vor universellen Werten wie vor der Diversität der Kulturen hervor.195 Seit Anfang der neunziger Jahre hat vor allem die Kritik an der internationalen Berichterstattung über den Golfkrieg von 1991 Forderungen nach einer gemeinsamen europäischen Mediencharta im Europäischen Parlament und auf Ministerkonferenzen forciert.196 Eines der Hauptargumente für eine europäische oder 191 Tiina Laitila, Codes of Ethics in Europe, in: Kaarle Nordenstreng (Hrsg.), Reports on Media Ethics in Europe, Tampere 1995, S. 45. Die Angaben auf S. 62, wonach 13 Prozent der Kodizes die genannte Norm enthalten, sind falsch. Kategorie IV.F (Nr. 52, S. 62) ist bei der Umrechnung in Prozentangaben offensichtlich mit Kategorie IV.G (Nr. 37, S. 61) verwechselt worden. 192 Walery Pisarek, Overview, in: Kaarle Nordenstreng/Hifzi Topuz (Hrsg.), Journalist: Status, Rights and Responsibilities, Prag 1989, S. 105 f. 193 Laitila, Codes, S. 60. 194 Clement J. Jones, Mass Media Codes of Ethics and Councils, Paris 1980, S. 14. 195 Kaarle Nordenstreng/Hifzi Topuz (Hrsg.), Journalist: Status, Rights and Responsibilities, Prag 1989, S. 311 f. 196 Laitila, Codes, S. 68 f. 86 erweiterte internationale197 Charta ist die zunehmende Internationalisierung/Globalisierung der Medien.198 Internationale und interkulturelle Aspekte, die in nationalen Normenkatalogen häufig wenig Beachtung finden, sollen in multinationalen Kodizes aufgewertet werden. Die Absenz internationaler und interkultureller Normen in den meisten europäischen Normenkatalogen hat zur Folge, daß Auslandsberichterstattung faktisch unter einem Gesinnungsvorbehalt steht. Zwar existieren, wie gesehen, vereinzelt Rollenvorstellungen der internationalen Berichterstattung, die diese zu einer demokratisch neutralen (neutraler Informant, kultureller Übersetzer) oder auch partizipierenden (Mitgestalter der Außenpolitik) Berichterstattung verpflichten. Hier ist der Übergang von einer Gesinnungspublizistik, die den Einfluß individueller Wahrnehmungen, politischer Orientierungen und Ideologien auf die Auslandsberichterstattung fördert, zu einer demokratisch-repräsentativen Publizistik (etwa nach H. Prakke199), die den Journalisten als Repräsentanten der Gesellschaft betrachtet, vollzogen. Gleichwohl ist das eher sporadische Auftreten spezifischer Berufsrollenvorstellungen über internationale Berichterstattung, wobei Hinweise auf Neutralität, politische Gestaltungsansprüche und Kulturvermittlungsinteressen nach individueller Neigung oder gemäß bestimmter Interessen etwa von Kirchen oder NGO-Zusammenschlüssen formuliert werden,200 ein Hinweis auf die schwache Institutionalisierung international und interkulturell ausgerichteter journalistischer Verhaltensnormen, auf geringe Impulse zur Initiation gesinnungskorrigierender Rollenkonflikte und auf eine letztliche Unterordnung beruflicher unter individuelle Sozialisationsanforderungen. 197 Im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft infolge der Mittelmeerkonferenz von Barcelona von 1995 wird zudem die Abfassung eines „White Paper on the Media in the Mediterranean“ angestrebt, in dem unter anderem ein Hinweis auf die Notwendigkeit zur Vermeidung von Stereotypen verankert werden soll. Fòrum Civil Euromed/Barcelona 1995, S. 203 f. 198 Laitila, Codes, S. 71. 199 Vgl. Klaus Klenke, Das journalistische Selbstverständnis in seinem soziologischen Bedeutungszusammenhang. Dargestellt an einer Abteilung des Westdeutschen Rundfunks Köln, Diss. Universität Bochum 1970, S. 73. 200 Einen umfangreichen Katalog zur Schaffung einer europäischen Rundfunkordnung, die analog auch auf erweiterter internationaler Ebene verabschiedet werden soll, hat die Evangelische Kirche in einer Stellungnahme von 1987 entworfen: 1.) Wahrung und Förderung der Kultur unter nationalen und transnationalen Gesichtspunkten; 2.) Abrücken vom Markt als Steuerungsinstrument; 3.) staatsferne Organisation gesellschaftlicher Kontrolle; 4.) Sicherung eines Höchstmasses an Vielfalt, 5.) Sicherung der Freiheit der Berichterstattung; 6.) Werberegulierung nach kulturellen und gesellschaftlichen Interessen; 7.) Schutz von Kindern und Jugendlichen; 8.) Schutz von Minderheiten; 9.) Sicherung von Menschenrechten, Frieden und Völkerverständigung; 10.) Achtung religiöser Gefühle unter nationalen und transnationalen Gesichtspunkten und Anprangerung ihres ideologischen Mißbrauchs; 11.) Repräsentanz weltanschaulicher Gruppierungen unterschiedlicher Kulturtraditionen im Mediendiskurs. Vgl. Hans-Wolfgang Heßler, Über die Mühsal einer globalen Verständigung. Zum Stand der Diskussion über eine neue Welt-Informations- und Kommunikationsordnung, in: Wolfgang Wunden (Hrsg.), Medien zwischen Markt und Moral. Beiträge zur Medienethik, Frankfurt 1989, S. 243; Bilder und Botschaften, Praktische Leitlinien, Hrsg. von dem Bensheimer Kreis, einem Zusammenschluß verschiedener Nichtregierungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit, Bensheim 1991. 87 3.2.3 Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung (theoretische Mesoebene): Die Medienorganisation im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß Auf der theoretischen Mesoebene internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien werden organisatorische und soziale Einflüsse innerhalb des darstellenden Mediums und des erweiterten Medien- und journalistischen Systems konzeptionalisiert. Eine allein auf der Nachrichtenwerttheorie und anderen Theoremen der Struktur medialer Auslandsbilder beruhende Theorie müßte auf der Annahme basieren, daß es die Weltereignisse selbst sind, denen eine bestimmte Qualität anhaftet, die sie entweder zur Nachricht werden lassen oder auch nicht. Hierbei würde ein abstrakter Journalist konzipiert, der als black box den Informationsstrom filtert und kanalisiert, ohne daß die black box selbst – also etwa die Persönlichkeits- und Wahrnehmungseinflüsse – untersucht würde. Strukturanalysen des Auslandsbildes in Massenmedien leisten im wesentlichen Kategorisierungen des Nachrichten-Outputs. Auf der theoretischen Mikroebene werden persönliche Ideologien und journalistische Rollenmodelle als Einflußfaktoren auf die Textgestaltung untersucht. Die Mesotheorie untersucht die organisatorischen und sozialen Einflüsse auf die Input-Output-Relation. Ihr Fundament bezieht die Mesotheorie von sehr unterschiedlichen theoretischen Forschungsrichtungen. Der ausgeprägten allgemeinen organisatorischen Journalismus- bzw. Redaktionsforschung201 sowie der Nachrichtenagenturforschung202 stehen nur sehr wenige Versuche einer systematischen Untersuchung organisatorisch-sozialer Einflüsse auf die Auslandsberichterstattung in Massenmedien, Redaktionen und bei Auslandskorrespondenten gegenüber.203 Gerade in letzterem 201 Leon V. Sigal, Reporters and Officials. The Organization and Politics of Newsmaking, Lexington u.a. 1973; Manfred Rühl, Die Zeitungsredaktion als organisiertes soziales System, Freiburg 1979 (überarb. u. erw. 2. Aufl.); Lars Engwall, Newspapers as Organizations, Hampshire 1986. Einen Überblick über die allgemeine Organisationsliteratur im Bereich der Massenmedien geben: Manfred Rühl, Organisatorischer Journalismus. Tendenzen der Redaktionsforschung, in: Max Kaase/Winfried Schulz (Hrsg.), Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde, Opladen 1989, S. 253-269; Shoemaker/Reese, Mediating the Message, S. 139-174; vgl. a. Herbert J. Gans, Deciding What’s News. A Study of CBS Evening News, NBC Nightly News, Newsweek, and Time, New York 1979, S. 78-115; Siegfried Weischenberg, Journalismus als soziales System, in: Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 427-454. 202 Vgl. u.a. Jürgen Wilke/Bernhard Rosenberger, Die Nachrichtenmacher. Zu Strukturen und Arbeitsweisen von Nachrichtenagenturen am Beispiel von AP und dpa, Köln u.a. 1991; Jürgen Wilke (Hrsg.), Agenturen im Nachrichtenmarkt. Reuters, AFP, VWD/dpa, dpa-fwt, KNA, epd, Reuters Television, Worldwide Television News, Dritte-Welt-Agenturen, Köln u.a. 1993; Oliver Boyd-Barrett, The International News Agencies, London/Beverly Hills 1980. 203 Alfred C. Lugert, Auslandskorrespondenten im internationalen Kommunikationssystem. Eine Kommunikator-Studie, Pullach 1974; John T. McNelly, Intermediary Communicators in the International Flow of News, in: Journalism Quarterly 36 (1959) 1, S. 23-26; Sophia Peterson, Foreign News Gatekeepers and Criteria of Newsworthiness, in: Journalism Quarterly 56 (1979) 1, S. 116125; Gertrude J. Robinson, Foreign News Selection is Non-Linear in Yugoslavia’s Tanjug Agency, in: Journalism Quarterly 47 (1970) 2, S. 340-351. 88 Bereich überragt die Zahl der erzählenden Insider-Berichte systematische Theorieentwürfe um ein vielfaches. Ältere Versuche, organisatorische Prozesse der Auslandsberichterstattung etwa durch die Distanztheorie zu erklären, wonach sich die Selektionsleistungen, Nachrichtenverdichtungen, aber auch Störeinflüsse auf die Nachrichten mit größerer Distanz und der im Vergleich zur Inlandsberichterstattung größeren Zahl an „Schleusenwärtern“ (gatekeepers), die jeweils ihre individuellen Kanalisierungspräferenzen einbringen, vergrößern,204 verharren im Grunde bei einem Individualmodell der Informationskanalisation: der in seinen individuellen Normen und Funktionen beschriebene Journalist (der mikrotheoretischen Forschung) wird dabei lediglich durch die Vorstellung einer Addition individueller Nachrichteneinflüsse ersetzt. Dieses Kumulationsmodell von Mikroeinflüssen ist jedoch zu vereinfachend, denn es blendet die sozialen Interaktions-, Konflikt- und Verhandlungsprozesse innerhalb der Medien und des Journalismus aus, ohne deren Analyse nicht beurteilt werden kann, welche individuellen Neigungen sich in der Kette des Informationsflusses letztlich durchsetzen und inwieweit diese Neigungen erst im sozialen Kontakt entstehen oder beeinflußt werden. Die Struktur des Auslandsbildes und der Auslandsberichterstattung ist nicht allein ein Ergebnis individuellen Handelns, sondern zum Teil auch Resultat eines sozialen Prozesses, in dessen Verlauf die Organisation als solche oder Teile der sozialen Organisation die nachrichtenwertliche Interpretation gesammelter oder zu sammelnder Informationen steuern. Das „Ganze“ der Auslandsberichterstattung ist häufig mehr als die „Summe der Einzelteile“ individueller journalistischer Auslandsbilder. Abbildung 3.9 erfaßt einige der sozialen Einflußgrößen: • die Beziehung zwischen Verlag und Redaktion, die vor allem durch die Frage der informationellen und inhaltlichen Rahmenbedingungen und deren bedeutsamen Einfluß auf die Qualität der Berichterstattung geprägt ist • die Stellung der Medienorganisation im Informationsfluß und die (Un-)Abhängigkeit von vorgeordneten Informationsgebern (wie den Nachrichtenagenturen) • „programmierte“ Entscheidungen, d.h. durch eine spezifische Routine, die sich in jeder Organisation als Ergebnis verlegerischer Leitlinien oder redaktioneller Erfahrungswerte herausbildet • formale Hierarchien und Funktionsteilungen sowie informelle soziale Beziehungen innerhalb der Zentralredaktion und zwischen Zentrale und Auslandsmitarbeitern sowie informelle innerjournalistische Meinungsführerschaften, die oft über das einzelne Medium hinaus weitere Teile des Mediensystems einbeziehen. 204 Vgl. Malcolm MacLean/Luca Pinna, Distance and News Interest: Scarperia, Italy, in: Journalism Quarterly 36 (1959) 1, S. 36-48; Susan Welch, The American Press and Indochina, 1950-1956, in: Richard L. Merritt (Hrsg.), Communication in International Politics, Urbana 1972, S. 227 f. 89 90 3.2.3.1 Informationelle Rahmenbedingungen der Auslandsberichterstattung Die informationellen Rahmenbedingungen journalistischen Arbeitens charakterisiert Leon V. Sigal mit den Kernbegriffen time, space und staff.205 Das Arbeiten unter begrenzten Zeit-, Platz- und Personalvorgaben wirkt sich auf die Auslands- ebenso wie auf die Inlandsberichterstattung aus. Die vom Verleger oder der Leitung einer Medienorganisation festgelegten Rahmenbedingungen sind derartig bedeutsam für den internationalen Darstellungsprozeß, daß eine Reihe von Nachrichtenfaktoren und strukturellen Kennzeichen der Auslandsberichterstattung wie auch weite Teile der Kritik an dieser (etwa im Rahmen der Debatte über die Neue Weltinformationsordnung) mit ihrer Hilfe begründet werden können. Eliten- oder Konfliktkonzentration oder ein Mangel an Hintergrundkontexten im Auslandsjournalismus, in verschiedenen Untersuchungen konzediert, wären demnach keine individuell-journalistischen Bestimmungsgrößen, sondern entsprängen professionellen Optimierungsversuchen unter den Bedingungen knapper Ressourcen,206 wobei eine Ausweitung derselben existierende Ungleichgewichte beseitigen würde. Der Versuch, Medieninhalte allein vor dem Hintergrund informationeller Rahmenbedingungen zu erklären, muß jedoch insofern unzureichend bleiben, als eine Reihe der Medieninhaltsanalysen für sehr unterschiedliche Medien mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen – z.B. stehen dem Fernsehen in der Regel weitaus geringere Platzkapazitäten für die Auslandsberichterstattung zur Verfügung als der überregionalen Presse – durchaus ähnliche Inhaltstendenzen ermittelt hat. Eine vollständige Verschiebung standardisierter Nachrichtenwerte ist demzufolge auch unter verbesserten Ressourcenbedingungen nicht wahrscheinlicher als die Multiplikation bereits vorhandener Inhaltstendenzen (der sogenannte more-of-the-same-Effekt). Die informationellen Rahmenbedingungen stellen gleichwohl eine Grenzbedingung insofern dar, als unterhalb eines Mindestniveaus der Ressourcenausstattung und des Publikationsraums eine Berichterstattung über zahlreiche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens unmöglich wird und insofern die Frage des „wie“ der Berichterstattung hinter das „ob“ zurücktritt. Pamela J. Shoemaker und Stephen D. Reese haben in diesem Zusammenhang zwischen „Beschränkungen“ (constraints) und „Zwängen“ (dictates) unterschieden. Während Beschränkungen der journalistischen Rahmenbedingungen journalistische Entscheidungsfreiheit (bei der Themensetzung und -gestaltung) nicht ausschließen, sind Zwänge definiert als Rahmenbedingungen, die ebenfalls im ökonomischen Interesse des Verlags liegen, jedoch zwangsläufig mit Folgen für den Medieninhalt behaftet sind.207 Im Kontext der Auslandsberichterstattung könnte der Unterschied zwischen Zwängen und Beschränkungen beispielsweise in folgende Hypothese gekleidet werden: Zu den Beschränkungen zählen bei den meisten Massenmedien die begrenzten Platzkapazitäten (Seitenzahlen, Sendeplätze usw.) oder die Ausstattung der Redaktionen mit Nachrichtenagenturdiensten 205 Sigal, Reporters, S. 10-13. 206 Susanne Bassewitz weist etwa darauf hin, daß der Arbeitsprozeß der Medien die Verwendung von Stereotypen im Journalismus begünstigt. Bassewitz, Stereotypen, S. 3. 207 Shoemaker/Reese, Mediating the Message, S. 146. 91 und Korrespondenten, wobei es im Ermessen des Journalismus liegt, die vorhandenen Kapazitäten für die Berichterstattung über einzelne Länder, Ereignisse und Themen flexibel zu nutzen. Diese Nutzungsspielräume finden ihre Grenzen („Zwänge“) dort, wo etwa ein deutsches Massenmedium, das sich dem Regionalismusprinzip (vgl. Kap. 3.2.1.2) entzöge und seine Berichterstattung statt auf die europäischen und nordamerikanischen Elite-Nationen auf Asien, Afrika und Lateinamerika konzentrieren würde, unter rapide nachlassendem Konsuminteresse zu leiden hätte und hierdurch in Existenzschwierigkeiten geriete. Grundsätzlich können sich Verleger, Eigentümer oder Leiter einer Medienorganisation über „Beschränkungen“ hinwegsetzen und auch einen Teil der „Zwänge“ ignorieren. Auch ihnen sind jedoch durch die Bedingungen des Marktes und die Interessen der Medienkonsumenten Grenzen gesetzt. Eine Reihe von Indikatoren weist darauf hin, daß sich die informationellen Rahmenbedingungen der westlichen Auslandsberichterstattung spätestens seit den achtziger Jahren verschlechtert und die auf den Prozeß der internationalen Mediendarstellung wirkenden ökonomischen „Beschränkungen“ und „Zwänge“ im allgemeinen zugenommen haben: • Platzkapazitäten: Die relative Kostenintensität der Auslandsberichterstattung bei gleichzeitig sinkender Nachfrage (s.u.) hat in den Medien westlicher Staaten in unterschiedlicher Weise zu einer Verringerung der Platzkapazitäten im Bereich der Auslandsnachrichten geführt. Die großen Fernsehnetworks der USA (ABC, CBS, NBC) haben den Umfang ihrer Auslandsberichte zwischen den achtziger und neunziger Jahren um ein bis zwei Drittel verringert, von den Jahren 1990/91 abgesehen, als das Interesse am Zusammenbruch des Ostblocks kurzfristig das Interesse am Ausland steigen ließ.208 In der Bundesrepublik Deutschland haben sich kommerzielle Gesichtspunkte vor allem beim privaten Fernsehen durch das weitgehende Fehlen spezifischer Programmplätze für Auslandssendungen bemerkbar gemacht, während solche Angebote im öffentlich-rechtlichen System stabil geblieben sind. Auch hier jedoch kam es zu Sendungskürzungen und Programmplatzverlegungen, denn auch im dualen Rundfunksystem wirkt sich der hohe Kostenfaktor der Auslandsberichterstattung aus.209 • Nachfrage- und Konsumstrukturen: Die Verschlechterung der Rahmenbedingungen bei den Platzkapazitäten steht in engem Zusammenhang mit der in den USA wie auch in der Bundesrepublik Deutschland scheinbar gleichermaßen nachlassenden Publikumsnachfrage nach Auslandsberichterstattung. Da Medien in Beziehung zu sogenannten Systemumwelten stehen (vgl. Kap. 3.2.4.2.1), würde eine Verschlechterung von Nachfragebedingungen als makrotheoretische Größe in den (mesotheoretischen) Bereich der Organisations- und Eigentümergewalt bei der Festlegung informationeller Rahmenbedingungen wirken und zu deren Ver208 Pippa Norris, The Restless Searchlight: Network News Framing of the Cold War World. Cambridge 1995; Garrick Utley, The Shrinking of Foreign News. From Broadcast to Narrowcast, in: Foreign Affairs 75 (1997) 3-4, S. 2-10. 209 Meckel, Internationales als Restgröße? 92 schlechterung führen. Über das Konsumverhalten hinsichtlich der Auslandsberichterstattung lassen sich widerstreitende Annahmen in der Literatur finden. Auslands- und insbesondere Entwicklungsländerberichte fänden nur geringes Interesse beim Publikum,210 besagt die eine Position, der die Gegenthese gegenübersteht, das Interessenpotential werde unterschätzt und nicht ausgeschöpft.211 Tatsächlich sind beide Thesen vertretbar, denn das Konsumverhalten des Publikums bei Auslandsfragen ist keine statische Größe, sondern entwickelt sich scheinbar im Einklang mit bestimmten weltpolitischen Zäsuren. Zwar kann generell gesagt werden, daß Inlandsberichterstattung auf größeres Interesse trifft als Auslandsberichterstattung.212 Ein Vergleich der historischen Entwicklung des Publikumsinteresses an verschiedenen Ressorts deutscher Tageszeitungen seit den fünfziger Jahren zeigt gleichwohl Schwankungen im Publikumsinteresse. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich gegen Ende der neunziger Jahre das Interesse an internationalen Fragen auf das Niveau der fünfziger Jahre zurückentwickelt (Abb. 3.10). 210 Tapio Varis/Kurt Luger, Der Handel mit Fernsehprogrammen: Die Zementierung der Einbahnstraße. Ergebnisse einer Studie über internationalen Informations- und Kommunikationsaustausch, in: Die Dritte Welt in den Massenmedien, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg, Salzburg 1985, S. 18. 211 Daniel Glass, „Die Pygmäen sind ein hartgesottenes Völkchen.“ Das Bild der Dritten Welt in bundesdeutschen Zeitungen, in: medium 10 (1980) 6, S. 13. 212 Akiba A. Cohen/Mark R. Levy/Itzhak Roeh/Michael Gurevitch, Global Newsroom, Local Audiences. A Study of the Eurovision News Exchange, London u.a. 1996. Vgl. a. Abb. 3.10. 93 Sämtliche in einer Medienorganisation existierenden Einflußgrößen, die im folgenden zu beschreiben sein werden – Nachrichtenagenturen, Entscheidungsprogramme, soziale Beziehungen und Meinungsführerschaften – müssen die „Zwänge“ der informationellen Rahmenbedingungen berücksichtigen und ihre „Beschränkungen“ umgehen. Sowohl funktionale Aspekte des Informationsflusses als auch organisatorisch-soziale Parameter der Auslandsberichterstattung sind unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Sicherung möglichst großer und stabiler Anteile grundsätzlich knapper Ressourcen zu betrachten. 3.2.3.2 Entscheidungshandeln und Steuerung der Auslandsberichterstattung durch externe Informationsgeber Die Informationsbeschaffung durch die Sicherung von Informationsquellen gehört zu denjenigen Teilen des medialen Darstellungsprozesses, die nicht allein von individuellen Präferenzen des Journalisten, sondern von organisatorischen Bedingungen geprägt werden. Vor dem Hintergrund der gerade im kostenintensiven Bereich der Auslandsberichterstattung in der Regel knappen Ressourcen, gewinnen Quellen, die organisationsextern erstellt werden – insbesondere die Dienste der Nachrichtenagenturen und die Produkte der Öffentlichkeitsarbeit von Staaten und Organisationen – an Bedeutung. 94 Im Blick auf die Beziehung Medienredaktion-Nachrichtenagenturen geht eine Reihe von Autoren von einer tendenziell passiven Stellung der Redaktion aus, wobei der Informationsgeber, d.h. die Nachrichtenagentur, als die ausschlaggebende Instanz weiter Teile (s.u.) der Auslandsberichterstattung betrachtet wird. Das grundsätzliche Urteil, daß das Verhalten der Nachrichtenurheber für den Kommunikationsprozeß bedeutsamer ist als das der Redakteure in den Massenmedien, insoweit diese in schriftlicher Form aufbereitete externe Quellen wie Nachrichtenagenturen nutzen, hat sich in der Forschungsliteratur der letzten zwanzig Jahre konstant gehalten.213 Der Medieninstitution selbst wird in bezug auf das Material der Nachrichtenagenturen vor allem die Rolle eines sekundären gatekeepers zugewiesen, wobei die Hauptaufgabe in einer an die jeweiligen informationellen Rahmenbedingungen angepaßten Mengeneingrenzung und Textkürzung besteht. Der inhaltlich prägende Einfluß der Nachrichtenagenturen basiert vor allem auf zwei Einflußgrößen: • Vorstrukturierung von Ereignissen und Themen: Nachrichtenagenturen üben in hohem Maß eine Themenstrukturierungsfunktion (agenda setting; vgl. Kap. 3.2.4.1) aus, und da ihre Dienste von zahlreichen Medien simultan bezogen werden, bedeutet Strukturierung zugleich eine Eingrenzung von Berichterstattungsvielfalt; • Einflußnahme auf die Textgestaltung: Der inhaltlich prägende Einfluß der Nachrichtenagenturen geht über die Vorauswahl von Ereignissen und Themen hinaus und schlägt sich auch in der Textgestaltung nieder.214 Zu erklären ist die „Passivität“ der Redaktionen in Anbetracht des Agenturmaterials insbesondere damit, daß das von Nachrichtenagenturen übermittelte Material an die bekannten Nachrichtenfaktoren vorangepaßt ist. Im Fall des Bezugs von nationalen Diensten der großen Weltagenturen findet sogar eine zweistufige Vorselektion statt. Winfried Schulz hat ermitteln können, daß sowohl bei der deutschen nationalen wie bei der internationalen Berichterstattung Massenmedien und Nachrichtenagenturen ein hohes Maß an Übereinstimmung aufweisen.215 Die Passivität der Redaktionen wäre dann eine Passivität in bezug auf Routinevorgänge, die auch in den Redaktionen bei direktem Zugriff auf Quellen (durch Interviews, Eigenrecherche usw.) ähnli213 Peter Nissen/Walter Menningen, Der Einfluß der Gatekeeper auf die Themenstruktur der Öffentlichkeit, in: Publizistik 22 (1977) 2, S. 173; vgl. a. Wilke/Rosenberger, Die Nachrichtenmacher, S. 12 f.; Hagen, Informationsqualität, S. 18-22. 214 Christian Kristen: „In unserem strukturellen Ansatz sprechen die Resultate dafür, daß – sei es unbewußt oder bewußt, willentlich oder zufällig – die Agenturen nicht nur die Arbeitsbereiche, sondern auch die Arbeitsformen und schließlich sogar die als eigenständig journalistisch angesehene Redaktionsarbeit (Schreiben von Artikeln, Einrichten) weitgehend steuern.“ Christian Kristen, Nachrichtenangebot und Nachrichtenverwendung. Ausgewählte Aspekte aus einer empirischen gate-keeper-Studie über die Verhältnisse in Österreich, in: Publizistik 14 (1969) 4, S. 430; vgl. a. Walter Sturm/Roland Angerer/Hans Bachinger, Lateinamerika in der Tagespresse. Eine ideologiekritische Fallstudie, in: Die Dritte Welt in den Massenmedien, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg, Salzburg 1985, S. 45 f. 215 Schulze, Die Konstruktion, S. 107-114. 95 che Resultate zeitigen würden. Natürlich darf diese Interpretation nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade auf Grund der begrenzten Ressourcen und informationellen Rahmenbedingungen der Journalismus in der Regel gezwungen ist, einen mehr oder weniger großen Teil seiner Quellen von den Agenturen zu beziehen und daß insofern die heutige Ähnlichkeit journalistischer Standards auch ein Resultat eines historischen Prozesses der jüngeren Entwicklung der modernen Massenmedien ist, in der durchaus nicht von vornherein eine Ähnlichkeit der Nachrichtenstandards vorhanden gewesen sein muß, sondern die Nachrichtenagenturen vermittels ihrer für die Ökonomie der Medien wichtigen Stellung im Nachrichtenfluß die Medienredaktionen zu einem Lernprozeß und zur Anpassung bewogen haben, der mittlerweile zu einer Situation der weitgehenden Angebots-Nachfrage-Angepaßtheit geführt hat. Untersuchungen über die Bedeutung von Agenturquellen in der Auslandsberichterstattung konsolidieren sich bei Werten von mindestens 50 Prozent Anteil der Nachrichtenagenturen an den Quellen der Auslandsberichterstattung. Werner Meier und Michael Schanne urteilen 1989: „In der globalen Beschaffung, Bearbeitung und Vermittlung von Auslandsnachrichten sind die fünf großen internationalen Nachrichtenagenturen (AP, UPI, Reuter, AFP, TASS) die zentralen und dominanten Akteure. Die Abhängigkeit von diesen Agenturen ist global ausgeprägt.“216 Sie stützten sich dabei auf Untersuchungen, wonach die Zeitungen in den USA in der Auslandsberichterstattung zu durchschnittlich etwa 80 Prozent,217 in Schweden wie in der Schweiz zwischen 50 und 70 Prozent218 und in Asien zu 75 Prozent219 auf Agenturmaterial zurückgreifen.220 Die „Foreign News“-Studie der UNESCO, die nicht zuletzt auf Grund eingeräumter methodischer Probleme enorme Schwankungen zwischen einzelnen Mediensystemen suggeriert (zwischen < 10% und > 80%), veranschlagt für die Bundesrepublik Deutschland einen Wert von 49,6 Prozent221 Anteil des Agenturmaterials an der Auslandsberichterstattung. Der Anteil der lange Jahre dominierenden „großen Vier“ (AP, AFP, Reuters, UPI) wird im Durchschnitt der untersuchten Länder mit 20 bis 50 Prozent angegeben.222 Auch für Deutschland ist anzunehmen, daß der Anteil der Agenturquellen in vielen elektronischen und Printmedien eher über 50 Prozent liegt und sich insofern den Daten für die USA, Schwe216 Werner Meier/Michael Schanne, Nachrichtenagenturen im internationalen System, Zürich 1981, S. 94. 217 Jim A. Hart, The Flow of News between the United States and Canada, in: Journalism Quaterly 40 (1963) 1, S. 70-74; James W. Markham, Foreign News in the United States and South American Press, in: Public Opinion Quarterly 25 (1961) 2, S. 249-262; Petra E. Dorsch, Isolationismus oder Weltoffenheit? Zur Auslandsberichterstattung von „Boston Globe“ und „Süddeutscher Zeitung“, in: Publizistik 20 (1975) 4, S. 901-924. 218 Karl Erik Rosengren/Gunnel Rikardsson, Middle East News in Sweden, in: Gazette 20 (1974) 2, S. 99-116; Roland Burkhardt, Die Tessiner Presse – eine publizistikwissenschaftliche Struktur- und Problemanalyse, Diss. Universität St. Gallen 1977. 219 Wilbur Schramm u.a., International News Wires and Third World News in Asia, Edward R. Murrow Center of Public Diplomacy, The Fletcher School of Law and Diplomacy, Tufts University, Oxford 1978. 220 Vgl. Meier/Schanne, Nachrichtenagenturen, S. 80 ff. 221 Errechnet aus Tabelle 10: Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News in the Media, S. 49. 222 Ebenda, S. 50. 96 den und die Schweiz annähert, da in der Untersuchung der UNESCO die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die über sehr ungewöhnlich niedrige Agenturwerte verfügt (vgl. Kap. 5.1.7), den Durchschnittswert gesenkt hat. In einer nicht-repräsentativen Auswertung der Berichterstattung der tageszeitung aus Berlin im Zeitraum 1994-97 deutet sich an, daß diese Annahme auch für die neunziger Jahre Gültigkeit besitzt (Tabelle 3.5). Zu erkennen ist zudem, daß Nachrichtenagenturen in der Auslandsberichterstattung eine etwas größere Rolle spielen als in der Inlandsberichterstattung:223 Tabelle 3.5 – Nachrichtenagenturen in der In- und Auslandsberichterstattung: die tageszeitung, 1994-97* Agenturberichte Eigenberichte Dokumentationen Interviews Kommentare Portraits Ressort „Inland“ Artikel Prozent 8508 58,4% 5439 37,4% 120 0,8% 420 2,9% 41 0,3% 30 0,2% 14432 100% Ressort „Ausland“ Artikel Prozent 10432 67,2% 4856 31,3% 42 0,3% 115 0,7% 40 0,3% 43 0,3% 15528 100% * 1. April 1994 bis 31. August 1997 Quelle: Volltextdatenbank „taz compact: 11 Jahre taz auf CD-Rom,“ 2.9.1986 bis 31.8.1997, Le Monde Diplomatique / taz, die tageszeitung Die Annahme einer relativ starken Steuerung der Inhalte der Auslandsberichterstattung durch Nachrichtenagenturen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich auch bei den Nachrichtenagenturen um Medienorganisationen handelt, die ihrerseits einer Reihe von autonomiebegrenzenden Einflüssen unterliegen. Die meisten Mikro-, Meso- und Makroeinflüsse wirken auf die Agenturen in analoger Weise wie auf die Massenmedien. Einflüsse auf die Auslandsberichterstattung über die Nachrichtenagenturen schlagen sich also in einem mehrstufigen und jeweils mehrdimensionalen Prozeß nieder: • mikrotheoretisch werden individuelle Einflüsse bei den für die Agenturen arbeitenden Journalisten wirksam; • mesotheoretisch machen sich soziale und organisatorische Einflüsse in den Redaktionen und der Gesamtorganisation der Agenturen geltend, etwa wenn Agenturen bei der Quellenbeschaffung ähnlich wie die Massenmedien auf ungünstige 223 Die in Tabelle 3.5 angeführten Artikelzahlen lassen keine gültigen Rückschlüsse auf den Umfang von In- und Auslandsberichterstattung zu, da gerade die Inlandsberichterstattung in einer Reihe anderer Spezialressorts – von „Wirtschaft/Umwelt“ bis zu „Leibesübungen“ – stark vertreten ist. Die Zahl der Kommentare zum In- wie zum Auslandsgeschehen liegt real höher, da hierfür eine eigene Meinungsseite vorhanden ist. 97 informationelle Rahmenbedingungen stoßen, die sie letztlich vom Informationsgeber abhängig machen (s.u.); • makrotheoretisch müssen die Nachrichtenagenturen sich mit dem politischwirtschaftlichen System ihrer jeweiligen Heimatbasis und den inhaltlichen Anforderungen ihrer Absatzmärkte auseinandersetzen. Was letztere Ebene betrifft, so haben eine Reihe von Autoren darauf hingewiesen, daß bei einem Teil der vier großen internationalen Nachrichtenagenturen, insbesondere bei AFP und Reuters, finanzielle Subventionen den Einfluß der jeweiligen nationalen Regierungen nachhaltig gestärkt und die Unabhängigkeit der Agenturen gefährdet haben.224 Bei den amerikanischen Agenturen AP und UPI wird die Abhängigkeit vom amerikanischen Markt – 75 Prozent der Einnahmen von AP und UPI stammten Anfang der achtziger Jahre von dort – ein nachhaltig nationales Element darstellen.225 Sowohl Oliver Boyd-Barrett als auch Jeremy Tunstall sprechen daher auch davon, daß die internationalen Nachrichtenagenturen aus organisationstheoretischer Sicht im Grunde als nationale Einrichtungen anzusehen seien.226 Diese Annahme ist jedoch insofern zu relativieren, als sowohl die amerikanischen Agenturen mit 25 Prozent nicht-amerikanischen Kunden als auch eine regierungsnahe Agentur wie Reuters mit ihrem internationalisierten Markt, wobei der britische Markt nur eine untergeordnete Rolle spielt, stärker in das internationale System integriert sind als die meisten nationalen Print- und elektronischen Medien, die staatliche Eigentumsstrukturen aufweisen oder nahezu ausschließlich vom heimischen Markt leben. Diese besondere Stellung internationaler Agenturen hat sich auch inhaltlich niedergeschlagen. Verschiedene Autoren gehen davon aus, daß sich Einflüsse nationaler Politik und des nationalen Marktes auf Nachrichteninhalte nur schwer nachweisen lassen.227 Andere hingegen sprechen von einem „nationalistische(n) Bias“ der Nach224 Oliver Boyd-Barrett korrigiert in diesem Zusammenhang Mitte der neunziger Jahre seine fünfzehn Jahre früher getroffene Aussage, die Agenturen seien regierungsunabhängig. Oliver Boyd-Barrett, Global News Wholesalers as Agents of Globalization, in: Annabelle Sreberny-Mohammadi/Dwayne Winseck/Jim McKenna/Oliver Boyd-Barrett (Hrsg.), Media in Global Context. A Reader, London 1997, S. 138 ff. Vgl. a. Jim Richstad, Transnational News Agencies: Issues and Policies, in: Jim Richstad/Michael H. Anderson (Hrsg.), Crisis in International News: Policies and Prospects, New York 1981, S. 248. 225 Jeremy Tunstall, Worldwide News Agencies – Private Wholesalers of Public Information, in: Jim Richstad/Michael H. Anderson (Hrsg.), Crisis in International News: Policies and Prospects, New York 1981, S. 260. 226 Tunstall: „The four Western news agencies are ‘international’ only in their sphere of operations; each is securely based in, and controlled from, a single country“ (Ebenda, S. 260; Boyd-Barrett, The international News Agencies, S. 31). Auch infolge der Kritik an den großen westlichen Nachrichtenagenturen entstandenen Agenturen und Nachrichtenpools der Entwicklungsländer können sich in der Regel aus solchen nationalen Bindungen nicht befreien. Oliver Boyd-Barrett/Daya Kishan Thussu, Contra-Flow in Global News. International and Regional News Exchange Mechanisms, London u.a. 1992. 227 Boyd-Barrett, The International News Agencies, S. 35; Sigrun Schmid, Weltagentur auf dem deutschen Nachrichtenmarkt: Agence France-Presse, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Agenturen im Nachrichtenmarkt. Reuters, AFP, VWD/dpa, dpa-fwt, KNA, epd, Reuters Television, Worldwide Television News, Dritte Welt-Agenturen, Köln 1993, S. 65. 98 richtenagenturen (Meier/ Schanne)228 oder weisen den nationalen Diensten der Agenturen eine entsprechende nationale Tendenz zu.229 Zwar haben internationale Nachrichtenagenturen ihre Kapazität zur kritischen Berichterstattung auch über die Heimatstaaten demonstriert.230 Zum einen ist diese Kapazität aber sehr unterschiedlich ausgeprägt, und zum Beispiel AFP wird von vielen Kritikern als pro-französisch eingestuft.231 Zum anderen bezieht sich diese Kritikfähigkeit auf die jeweilige Innenpolitik, nicht jedoch zwangsläufig auch auf die Außenpolitik des Heimatlandes, für die ganz andere makrotheoretische Systembedingungen zu veranschlagen sind. Inhaltsanalysen haben gezeigt, daß etwa AP weniger Kritik an der Lateinamerikapolitik der USA verbreitet hat als andere Agenturen.232 Reuters veröffentlichte zum Teil einen höheren Anteil negativer Berichte über die Irisch-Republikanische Armee (IRA) als andere Agenturen.233 Als Grund für diese Befunde könnte angeführt werden, daß es zu den Systembedingungen der nationalen Außenpolitik gehört, daß der gesellschaftliche Konsens hier zumindest in Krisenzeiten höher ist als bei innergesellschaftlichen Fragen (die organisierte öffentliche Meinung ist in der Regel schwächer ausgebildet als bei der Innenpolitik; vgl. Kap. 3.2.4.1.2). Dies bedeutet, daß sowohl von der Seite des Marktes als auch vom politisch-wirtschaftlichen System der Anpassungsdruck für die Nachrichtenagenturen bei außenpolitischen Fragen besonders hoch ist und die Tendenz zur Verbreitung nationaler Sichtweisen stärker ist als bei allen anderen innergesellschaftlichen oder internationalen Fragen. Verbindet man die semi-nationale Grundstruktur etwa der großen internationalen Agenturen mit ihren informationellen Rahmenbedingungen, so wird erkennbar, daß die Nachrichtenagenturen ein großes strukturelles Potential der Permeabilität gegenüber nationalen Positionen und offizieller westlicher Informationspolitik im Bereich der jeweiligen nationalen Außenpolitik der Heimatbasis der Agenturen, in vielen Fällen auch allgemein gegenüber westlicher Politik, aufweisen; eine Permeabilität, die sich auf Grund der oben beschriebenen bedeutsamen Stellung der Agenturen als Informationsgeber des Journalismus („Passivität“ der Redaktionen) unmittelbar auf internationale Darstellungsprozesse der Massenmedien auswirken kann. Wenn einerseits das Potential der inhaltlichen Beeinflußbarkeit der Nachrichtenagenturen auf dem Gebiet der heimatlichen Außenpolitik relativ groß ist, und wenn 228 Meier/Schanne, Nachrichtenagenturen, S. 100. Mark D. Alleyne: „The agencies have patterned their international reporting very closely to the contours of power of their governments (...) (T)he European agencies and UPI have at various times in their histories not had the adversarial relationship with their governments that is the liberal-democratic ideal.“ Mark D. Alleyne, International Power and International Communication, New York 1995, S. 80. 229 Robert Peck, Nachrichtenagenturen in der Bundesrepublik Deutschland. Eine vergleichende Analyse von Associated Press, Deutsche Presse-Agentur und United Press International anhand ihrer die Berlin-Krise betreffenden Meldungen im August/September 1961, Diss. Berlin 1967. 230 Tunstall, Worldwide News, S. 262. 231 Mort Rosenblum sagt über AFP: „However, some editors say they prefer to rely on the other three main agencies in some cases, particularly when French interests are involved.“ Mort Rosenblum, Reporting from the Third World, in: Jim Richstadt/Michael H. Anderson (Hrsg.), Crisis and International News: Policies and Prospects, New York 1981, S. 225. 232 Hagen, Informationsqualität, S. 252-264. 233 Ebenda, S. 151. 99 andererseits die Agenturen heute nur zum geringeren Teil mit eigenen Korrespondenten und durch eigene Recherche Quellen erschließen, sondern größtenteils Produkte der Öffentlichkeitsarbeit in- wie ausländischer Regierungen und Organisationen in ihren Zentralen weiterverarbeiten, dann ist insbesondere die Durchlässigkeit der Agenturen für die „öffentliche Diplomatie“ der eigenen Regierungen als sehr groß einzustufen. Interne Erfahrungsberichte aus Nachrichtenagenturen zeigen, daß auch diese sich gegenüber offiziellen/offiziösen Quellen ähnlich passiv verhalten wie die Medien gegenüber den Nachrichtenagenturen. Peter Zschunke, der Leiter der Auslandsabteilung von AP-Deutschland, weist darauf hin, daß es zwei Basiskriterien zur Weitergabe entsprechender Informationen gebe: Qualifikation der Quelle – die Pflicht zur Weitergabe von Informationen von „anerkannten“ Institutionen wie etwa dem Außenministerium des eigenen Landes wird hervorgehoben – und die Kennzeichnung der Quelle, so daß Medien und Konsumenten sich ein eigenes Urteil über den Nachrichtenwert der Information bilden können.234 Da in dieser Form definiert Agenturen für große Mengen offizieller Quellen transparent sind, die lediglich mit Quellenhinweisen versehen (z.B. „Wie der Regierungssprecher verlauten ließ, ...“) weitergegeben werden, sind die gatekeeper-Mechanismen insbesondere gegenüber offiziellen Quellen schwach ausgebildet. Diese Tatsache ist von seiten der Medien kritisiert worden.235 Es besteht die Gefahr, daß insbesondere Exekutivkräfte, und vor allem die Heimatregierungen der Agenturen, sich der Nachrichtenagenturen zur Verbreitung offizieller Standpunkte bedienen, während auf der anderen Seite die Möglichkeiten des Medienkonsumenten zur kritischen Einordnung entsprechender Nachrichten auf Grund ihrer Distanz zu den Ereignissen im Vergleich zur Inlandsberichterstattung begrenzt sind. Letztlich besteht aus theoretischer Sicht eine deutlich erkennbare Tendenz, daß sich Steuerungsimpulse der staatlichen und öffentlichen Public Relations236 (insbesondere im Bereich der nationalen Außenpolitik der Heimatstaaten der Nachrichtenagenturen) über die hohe Steuerungskapazität der Agenturen im Mediensystem auf den Inhalt der Auslandsberichterstattung auswirken. „Andere Quellen“ erreichen die Medien direkt oder aber, wie oben geschildert, indirekt über die Nachrichtenagenturen. Eine Verteilung über Nachrichtenagenturen ist für die Instanzen der „öffentlichen Diplomatie“ weitaus effektiver, da mit geringem Aufwand große Teile der Weltöffentlichkeit erreicht werden können. Allerdings stellt auch hier die nationale Außenpolitik des Stammlandes der Agentur eine Ausnahme dar, denn zumindest den großen nationalen Medien werden von Regierung und nationalen Organisationen ihres Landes auf direktem Weg Quellen übermittelt. 234 Peter Zschunke, Agenturjournalismus. Nachrichtenschreiben im Sekundentakt, München 1994, S. 124 ff. zu „Vertrauenswürdigkeit“ und „Autorität“ als Merkmale der Quellensicherung vgl. a. Herbert J. Gans, Deciding What’s News, in: Howard Tumber (Hrsg.), News. A Reader, Oxford 1999, S. 246. 235 Gerhard Schwinghammer, Nachrichtenagenturen – Was erwarten wir von ihnen? in: Zeitungstechnik 1992/April, S. 11-16. 236 Vgl. Michael Kunczik, Images of Nations and International Public Relations, Bonn 1990. 100 Damit ergibt sich insgesamt, daß die Quellen der medialen Auslandsberichterstattung, sofern sie nicht durch journalistische Eigenleistungen zustande kommen, sondern von Nachrichtenagenturen und/oder PR-Stellen empfangen werden, je nach dem betroffenen Problem der Auslandsberichterstattung (nationale Außenpolitik oder andere Fragen internationaler Politik) mit verschiedenen quellenkritischen Akzenten versehen werden müssen. Aus der Häufigkeit und Art der Verwendung von Nachrichtenagenturen lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, in welchem Ausmaß die Maßstäbe der Quellenkritik in der internationalen Berichterstattung der Medien Berücksichtigung finden. 3.2.3.3 Redaktionelle Entscheidungsprogramme und Auslandsberichterstattung Entscheidungsprozesse innerhalb der Massenmedienorganisation spielen weniger bei der Verarbeitung der von Nachrichtenagenturen und Öffentlichkeitsarbeit erhaltenen Quellen eine Rolle, sondern vor allem bei journalistischen Eigenleistungen eines Mediums. Während beim Agenturmaterial die relative Passivität der Medienredaktionen die Ähnlichkeit inhaltlicher Standards fördert, entsteht bei den Eigenleistungen Raum für ein spezifisches Profil der Medien im Bereich der Auslandsberichterstattung. Redaktionelle Entscheidungsprogramme werden von Manfred Rühl wie folgt beschrieben: „Verglichen mit den ständig ausgeübten Einzelentscheidungen im Redaktionsalltag stellt die Herstellung des Entscheidungsprogramms selbst ein vorweggenommenes Entscheidungshandeln dar. Das Entscheidungsprogramm wird sozusagen auf einer Vorstufe der Alltagsentscheidungen festgelegt. Entscheidungsprogramme sind redaktionelle Selbstprogramme, d.h., sie werden von der Redaktion selbst hervorgebracht, haben jedoch gegenüber der Einzelentscheidung als Prämissen allgemeine Gültigkeit.“237 Entscheidungsprogramme werden in der Regel nicht schriftlich fixiert, sondern sind medien- und redaktionsspezifische Erfahrungswerte der jeweiligen Redaktionen – routines in der englischsprachigen Wissenschaft –, nach denen Informationen beschafft und verarbeitet werden. Diese Erfahrungswerte können sich von denen anderer Redaktionen unterscheiden und einen spezifischen Einfluß auf das Medienbild ausüben. Differenziert werden muß zwischen allgemeinen Redaktionsprogrammen und redaktionellen Teilprogrammen, die für jedes Ressort bestehen können,238 sowie für einzelne Ressortteile wie den Bereich „Ausland“. Grundsätzlich lassen sich verschiedene Typen von Entscheidungsprogrammen unterscheiden, die eine integrierte Wirkung entfalten: • Zweck- und Ideologiekomponente von Entscheidungsprogrammen in der Auslandsberichterstattung: Die Zweckprogrammierung einer Redaktion oder Abteilung wie dem „Ausland“ ist an der Ausrichtung der Berichterstattung an bestimmten von der Redaktion gewünschten Wirkungen ihrer internationalen Be237 Rühl, Die Zeitungsredaktion, S. 280. 238 Ebenda, S. 278. 101 richterstattung orientiert.239 Die Redaktion verfolgt einen Selbstzweck, der ihrer Arbeit ein spezifisches Profil verleiht, das über die einfache Weitergabe von Agentur- und anderem Material hinausreicht. Zielsetzungen der Zweckprogrammierung sind im Kern normativ und ideologisch und können innerhalb des Mediums verschiedenen Quellen entspringen. Zur ideologischen Komponente überindividuellen Entscheidungshandelns gehören zum einen entsprechende Vorgaben des Verlags hinsichtlich der Rechts-Links-Ausrichtung („liberal“, „links“, „linksliberal“, „konservativ“ usw.) oder anderer weltanschaulicher Eckwerte wie national vs. internationalistisch/multikulturell, religiös orientiert vs. religionskritisch usw.240 Ein bezeichnendes, wenngleich in seiner ausdrücklichen und schriftlichen Fixierung seltenes Zweckprogramm waren und sind die Maßgaben des Verlagshauses Axel Springer für die internationale Berichterstattung, wobei unter anderem die Einheit Deutschlands und die besondere Beziehung Deutschlands zu Israel zu berücksichtigen sind.241 Weder der einzelne Redakteur noch eine einzelne Redaktion des Verlags sind in der Regel in der Lage, diese Prämissen Springers in der Auslandsberichterstattung zu ignorieren. Die Wirkung weltanschaulicher Zweckprogramme auf die Auslandsberichterstattung hängt eng mit anderen Komponenten der Theorie der Auslandsberichterstattung zusammen: a) hinsichtlich der Struktur der Auslandsbilder sind es vor allem bestimmte Frames, aber auch Stereotype und Feindbilder die durch Zweckprogramme vorgeprägt werden können; b) ideologische Programme stehen eng mit der redaktionellen Konsensfähigkeit individueller Rollenkonzepte (Auslandskorrespondenten als „Mitgestalter der Außenpolitik“ usw.; vgl. Kap. 3.2.2.2) in Beziehung, in deren Rahmen sich weltanschauliche Programme in unterschiedlicher Intensität entfalten. • konditionale und Erfahrungskomponente von Entscheidungsprogrammen in der Auslandsberichterstattung: Rühl hat darauf hingewiesen, daß Zweckprogramme lediglich generelle Verhaltensschemata für Mitglieder der Redaktion darstellen, die nur einige Grundzüge der Berichterstattung prägen.242 Um die Steuerungsfähigkeit nicht gänzlich dem einzelnen Redaktionsmitglied (Mikrotheorie), dem täglichen sozialen Verhandlungsprozeß (s.u.) oder externen Einflüssen (Makrotheorie) zu überlassen, müssen daher zusätzlich zu den Zweck- auch Konditionalprogramme entwickelt werden.243 Diese bezeichnen informelle und elastische Entscheidungsprämissen einer Redaktion, auf bestimmte Ereignisse der Umwelt in bestimmter Weise zu reagieren. Durch Umweltstimuli wird eine Verhaltensroutine ausgelöst. Wesentlicher Bestandteil dieser Konditionierung sind erlernte Nachrichtenfaktoren und andere Strukturmerkmale des Medienbildes, und zwar 239 Ebenda, S. 279-281. 240 Zum politischen Einfluß von Verlegern und Herausgebern im deutsch-amerikanischen Vergleich vgl. Hans J. Kleinsteuber, Deutsch-amerikanische Wechselwirkungen in den Massenmedien, in: Sebastian Lorenz/Marcell Machill (Hrsg.), Transatlantik. Transfer von Politik, Wirtschaft und Kultur, Opladen 1999, S. 199-201. 241 Vgl. u.a. Claus Jacobi, 50 Jahre Axel Springer Verlag, 1946-1996, Broschüre des Axel Springer Verlags, Hamburg o.J., S. 121 ff. 242 Rühl, Die Zeitungsredaktion, S. 279. 243 Ebenda, S. 276-278. 102 nicht in individueller Ausprägung, sondern als Redaktionsroutine. Ob ein mit Menschenrechtsfragen in China in Zusammenhang stehendes Ereignis thematisiert wird und auf welche Weise dies geschieht, ist nicht allein eine Folge individueller Einschätzungen, die im Alltag häufig vorkommen, noch sind ideologische Entscheidungsprogramme unbedingt ausschlaggebend, denn die Menschenrechtsthematik ist ein Anliegen vieler weltanschaulicher Ausrichtungen, konservativer ebenso wie linker und liberaler. Ob und wie über das Ereignis berichtet wird, hängt auch mit den Erfahrungen einer Redaktion in bezug auf Ereignisse dieser Art zusammen und ob es eine „Tradition“ innerhalb der jeweiligen Redaktion gibt, Menschenrechtsfragen in China zu thematisieren oder nicht. Man könnte Konditionalprogramme auch als überindividuelle und durch spezifische Organisationserfahrungen verdichtete und konkretisierte Nachrichtenfaktorenkataloge bezeichnen. Auch wenn die Ausprägung von Nachrichtenfaktoren eine ähnliche Grobstruktur in vielen (westlichen) Medien in bezug auf das Auslandsbild aufweist, wie viele Ergebnisse von Inhaltsanalysen belegen, bestehen gerade im Bereich der journalistischen Eigenleistungen auch redaktionstypische Unterschiede, die gleichwohl nicht hinreichend mit ideologischen oder anderen Zweckdeutungen zu erklären sind, sondern im Laufe der Jahre kumulierte Reaktionswerte eines Mediums darstellen, die unter anderem durch hausinterne Archive und das Rekurrieren auf Texte und Sendungen, die eine Redaktion in der Vergangenheit zu einem Thema verfaßt hat, in ein „redaktionelles Gedächtnis“ eingehen. Trotz der Entscheidungsprogramme bleiben soziale Verhandlungsspielräume bestehen, wo verschiedene Mitglieder der Redaktion oder Korrespondenten das informelle Entscheidungsprogramm unterschiedlich deuten oder wenn die zu deutende internationale Problematik sich nicht oder schwerlich mit den programmierten Kategorien erklären läßt (vgl. Kap. 3.2.3.4). Dabei ist allerdings Herbert J. Gans’ Prämisse, daß „die Nachricht die Nachrichtenorganisation stärker beeinflußt als die Nachrichtenorganisation die Nachricht“244 zu allgemein und zu wenig empirisch gestützt, um als theoretische Maxime zu dienen, wonach die Aufrechterhaltung des Nachrichtenstroms an sich für den Prozeß der medialen Informationsverarbeitung bedeutsamer ist als die Interessen und Ziele der Medienorganisation. Gans’ Leitsatz läßt sich nach den Ergebnissen des vorstehenden Kapitels für den (großen) Bereich von Nachrichtenagenturen oder andere offizielle bzw. etablierte Standardquellen in Anwendung bringen, wo die Informationsgeber dominieren. Im Bereich der journalistischen Eigenleistungen eines Mediums – beginnend mit Kommentaren des über Agenturen bezogenen Materials bis zu eigenrecherchierten journalistischen Berichten, Features oder Reportagen – können Medienorganisationen einen prägenden Effekt auf die Auslandsberichterstattung erzielen. 244 Gans, Deciding What’s News, S. 93. 103 3.2.3.4 Entscheidungshandeln und soziale Beziehungen in der Auslandsberichterstattung Die Redaktion eines Massenmediums ist für die Umsetzung der Entscheidungsprogramme zuständig, fungiert als Bindeglied zum Verlag und ist insofern verantwortlich für die Sicherung informationeller Rahmenbedingungen, gewichtet den Einsatz von Nachrichtenagenturen und sonstigen Quellen und muß zugleich eine Balance zwischen den individuellen inhaltlichen Darstellungspräferenzen innerhalb der Zentral- sowie zwischen Zentral- und externen Redaktionen (Auslandskorrespondenten) herstellen. Kompromiß- und Konsensbildung in der Redaktion ist neben den existierenden formalen Hierarchien ein zentrales Moment der Durchsetzung von Interessen,245 ist aber auch ein Sicherungselement für den einzelnen Journalisten.246 Dies betrifft weniger diejenigen Fälle, die im Rahmen der vorhandenen Entscheidungsprogramme eindeutig geklärt sind, als vielmehr diejenigen, die diskursiver Deutung bedürfen, da sie weder von ideologischen Grundpositionen abgedeckt sind noch zum Erfahrungsschatz der Redaktion gehören. McNelly hat eines der sehr wenigen Modelle über Entscheidungshandlungen konzipiert, das Modell der „vermittelnden Kommunikatoren“ im internationalen Nachrichtenfluß. Dabei beschäftigen sich vom Ereignis bis zum publizistischen Produkt (und darüber hinaus bis zum Konsumenten) eine Kette von „Schleusenwärtern“ mit der Informationsverarbeitung, wobei unter anderem mehrere Redaktionsstufen vom Auslandskorrespondenten über den Nachrichtenredakteur bis zur Schlußredaktion und zum Blattmacher zu überwinden sind.247 McNelly sieht zwar soziale Rückkopplungen, also Kompromiß- und Konsensbildungsprozesse im Sinne Sigals vor, erwähnt diese jedoch nur am Rande. Er ist damit ein Vertreter der Distanztheorie – er weist auf MacLean und Pinna (s.o.) hin –, so daß auch hier die Vorstellung von einer Addition individueller gatekeeper-Mechanismen an die Stelle der in der Mesotheorie gleichfalls bedeutsamen sozialen Verhandlungsprozesse tritt. Auf der anderen Seite muß eingeräumt werden, daß sich gerade die Auslandsberichterstattung bei allgemeinen Massenmedien im Rundfunk- wie im Printmedienbereich in der Regel durch eine striktere journalistische Arbeitsteilung auszeichnet als die Inlandsberichterstattung und daß dadurch soziale Interaktionsprozesse innerhalb der Redaktion, d.h. sich in den Medieninhalten niederschlagende Diskussionen, wahrscheinlich eher die Ausnahme als die Regel darstellen, zumindest innerhalb der Zentralredaktionen. Sieht man von Spezialzeitschriften und anderen Spezialmedien ab, für die viele theoretische Erkenntnisse ohnehin anders formuliert werden müßten, 245 Leon V. Sigal: „Newsmaking is a consensual process. The forming of consensus takes place within a context of shared values – conventions about news as well as conceptions for the newsman’s role. The organization of newspapers and the location of newsmen structure the process. Hierarchical lines along which men communicate and action channels along which news copy flows within the organization determine who is in a position to make choices and to intervene and reverse them, and thereby to influence the content of the paper.“ Sigal, Reporters, S. 180; vgl. a. Rühl, Die Zeitungsredaktion, 292-295. 246 Zur Frage der Sicherung vgl. Sigal, Reporters, S. 39. 247 McNelly, Intermediary Communicators, S. 25; vgl. a. Lugert, Auslandskorrespondenten, S. 19. 104 und konzentriert sich auf den allgemeinen Medienmarkt, so ist festzustellen, daß selbst in großen überregionalen Zeitungen, die – wie die deutschen Zeitungen – dem Ausland mehr Raum geben als regionale Abonnementsmedien, in der Regel Zuständigkeitsbereiche für Länder- und/oder Themenkomplexe definiert werden, die jeweils auf einen einzelnen Nachrichtenredakteur zugeschnitten sind. Dabei werden verantwortliche Redakteure etwa für „Nahost“ oder für „Großbritannien“ eingesetzt, die häufig mit Auslandskorrespondenten, Fremdautoren und den Kollegen anderer Medien mit ähnlicher Zuständigkeit in engerer Austauschbeziehung stehen als mit anderen Angehörigen der eigenen Redaktion. Mit Kollegen anderer Medien wird häufig nicht auf direktem Wege, sondern indirekt durch die Rezeption ihrer Publikationen kommuniziert, was für jeden Journalisten zum Eröffnungsritual der täglichen Arbeit gehört. Kollegen von außerhalb der Medienorganisation werden auf diese Weise zu innerjournalistischen Meinungsführern.248 Meinungsführerimpulse von außerhalb des Mediensystems, etwa durch das politische System oder die organisierte Öffentlichkeit, existieren ebenfalls, sind aber Gegenstand der Makrotheorie (vgl. Kap. 3.2.4.1 und 3.2.4.2). Von Bedeutung ist zudem die Beziehung Redakteur-Auslandskorrespondent, denn zwischen beiden Redaktionsteilen kann es auf Grund der speziellen Arbeitsteilungsbeziehungen zu Abstimmungsprozessen kommen. Auslandsredakteur und -korrespondent verfügen über teilkongruente Länder-, Regionen und Themenorientierungen, die in verschiedenen Wirkungsbereichen (Heimatredaktion bzw. externe Redaktion) zum Tragen kommen. Das Verhältnis von Redaktion und Auslandskorrespondenten ist dabei a) hinsichtlich Entscheidungs- und Steuerungsmöglichkeiten der Redaktion anders einzuschätzen als die Beziehung Redaktion-Nachrichten-agentur, und es existieren b) spezifische Bindungen an zumindest teilweise unterschiedliche Meinungsführermilieus. Zu a): Das normative Rollenkonzept des Auslandskorrespondenten, zumindest im Journalismus westlicher Prägung, basiert auf dem Prinzip der externen Selbstkontrolle. Mit der räumlichen Nähe des Journalisten (Korrespondenten) zum Gegenstand der Auslandsberichterstattung wächst demnach dessen Fähigkeit und Verpflichtung zur eigenverantwortlichen Themenwahl und -darstellung. Die externe Redaktion soll nach den Prinzipien der Selbststeuerung funktionieren und dadurch innovative Impulse an das heimatliche Mediensystem weiterleiten. Stimmt diese normative Sicht mit der theoretisch bestimmbaren Funktion des Auslandskorrespondenten überein? Zunächst ist grundsätzlich festzustellen, daß sich der Auslandskorrespondent von den Nachrichtenagenturen dadurch unterscheidet, daß er auch als Repräsentant einer externen Redaktion an das Entscheidungsprogramm seines Mediums vorangepaßt sein muß. Abbildung 3.9 weist Auslandskorrespondenten daher auch nicht als eigenes Subsystem des Mediensystems, sondern als Teil des Redaktionssystems aus. Die Aushandlung von Programminterpretationen verschafft der Redaktion prinzipiell größere Steuerungsmöglichkeiten in bezug auf die Inhalte der Korrespondentenlei248 Siegfried Weischenberg/Martin Löffelholz/Armin Scholl, Merkmale und Einstellungen; vgl. a. die Darstellung in Kapitel 4.2. 105 stungen (Berichte zu bestimmten Ereignissen und Themen können angefordert werden, inhaltliche Leitlinien angedeutet werden usw.) als dies gegenüber den Nachrichten der Agenturen der Fall ist, wo, wie oben geschildert, Steuerungsimpulse vor allem von außen auf die Redaktion einwirken. Zwischen den Beiträgen der Korrespondenten und den Erwartungshaltungen der Zentralredaktion muß Übereinstimmung bestehen, zumindest jedoch ein inhaltlicher Mindestkonsens formuliert werden können, der sich zum einen auf die Entscheidungsprogramme („Was will unser Medium berichten?“/Zweckprogramme bzw. „Was muß unser Medium berichten?“/ Konditionalprogramme) und zum anderen auf die Aushandlung einer Meinungs- und Interessenbalance zwischen individuellen Präferenzen des Redakteurs und des Korrespondenten bezieht.249 Wie diese Steuerungsmöglichkeiten genutzt werden, hängt nicht zuletzt von den informellen Verhandlungspositionen von Redakteuren und Korrespondenten und deren Initiative und Durchsetzungsfähigkeit ab. In der Beziehung Redaktion-Korrespondenten bestehen Verhandlungsspielräume, d.h. soziale Konflikte sind Bestandteil der Auslandsberichterstattung. Eine auf Umfragen basierende Untersuchung von Alfred C. Lugert weist aus, daß etwa 70 Prozent der Beiträge von Auslandskorrespondenten von den untersuchten (österreichischen) Redaktionen akzeptiert werden.250 Lugert deutet dieses Ergebnis als Hinweis darauf, daß die potentiell vorhandenen Steuerungsmöglichkeiten der Redaktion in bezug auf Korrespondenten in der Praxis wenig genutzt werden und daß Korrespondenten bei der Themenauswahl und -gestaltung über weitgehende Freiheit verfügen. Aus Sicht Lugerts ließe sich also das oben genannte normative Rollenkonzept des Auslandskorrespondenten funktional bestätigen. Ansgar Skriver geht ebenfalls von dem Primat des Informationsgebers aus, der bei Nachrichtenagenturen wie im Fall der Beziehung Redaktion-Korrespondenten den nachgeordneten Instanzen eine tendenziell passive Rolle zuweist. Skriver plädiert jedoch, anders als Lugert, für eine Korrektur der Freiheitsnorm des Korrespondenten. Er votiert für eine Intensivierung der Redaktions-Korrespondenten-Bindung zur verbesserten Kontrolle der Wahrnehmungen des Korrespondenten und für eine Kollektivierung der Informationsverarbeitung im Bereich der Auslandsberichterstattung.251 Ungeachtet dieses normativen Dissenses, ist zu fragen, ob Lugerts Dateninterpretationen über den Ist-Zustand der Unabhängigkeit des Korrespondenten zutreffend sind. 30 Prozent von der Redaktion abgelehnter Beiträge in Lugerts Untersuchung weisen auf ein nicht zu übersehendes Interventionspotential von Redaktionen im Bereich der Auslandsberichterstattung. Zudem wird nicht bedacht, daß Korrespondenten Erwartungshaltungen des Mediums und der Redaktion antizipieren und ihre Produkte insofern zumindest im Hinblick auf programmierte Entscheidungen präadaptiert sein können. Aus arbeitsökonomischen Gründen und im Hinblick auf die knappen Zeitressourcen werden in der Regel alle Seiten begrüßen, wenn erforderli249 Dies trifft vor allem auf festangestellte Korrespondenten, in analoger Weise jedoch auch auf freie oder sogenannte „feste freie“ Korrespondenten zu. 250 Lugert, Auslandskorrespondenten, S. 150. 251 Ansgar Skriver, Vorwort, in: Klemens Ludwig, Augenzeugen lügen nicht. Journalistenberichte: Anspruch und Wirklichkeit, München 1992, S. 14. 106 che soziale Verhandlungen auf ein die informationellen Rahmenbedingungen nicht belastendes Minimum beschränkt bleiben. Der Auslandskorrespondent muß „seine Informationsangebote so planen, dosieren und verpacken, daß sie die Zensurorgane des Mutterorganismus passieren“ (Dill).252 Letztlich ist also zu konzedieren, daß die normativ angestrebten Gestaltungsmöglichkeiten des Auslandskorrespondenten, aber ebenso eine Steuerung der Redaktion und eine vorweggenommene Anpassung an Entscheidungsprogramme und andere inhaltliche Präferenzen der Zentralredaktion zum Tragen kommen können. Zu b): Auf die Berichterstattung von Korrespondenten wirken sich neben möglichen Steuerungsmomenten seitens seiner Medienorganisation noch weitere Faktoren aus. Auch Korrespondenten sind, wie die Zentralredaktionen und die Nachrichtenagenturen, auf Quellen angewiesen. Wie die Redaktionen, so sind auch Korrespondenten sekundäre gatekeeper im Hinblick auf das ihnen zugängliche Material von Nachrichtenagenturen, wobei in vielen Fällen solche Quellen nicht ausgewiesen werden. Sie nutzen zudem neben direkten persönlichen Kontaktquellen und der eigenen Anschauung von Ereignissen, die den eigentlichen Kern normativer Konzepte des Korrespondenten „in Tuchfühlung“ mit den Ereignissen darstellt, vor Ort erhältliche Medien, die ihnen nicht allein Fakten vermitteln, sondern auch Argumentations- und Interpretationshilfe leisten.253 Die Position des Auslandskorrespondenten gegenüber den verschiedenen Quellen schafft ein komplexes, in verschiedene Richtungen wirkendes Netz von Spielräumen und Abhängigkeiten: • Die Steuerungskapazität der Nachrichtenagenturen (s.o.) reicht zum Teil bis zum Korrespondenten und wirkt sich indirekt auf die Auslandsberichterstattung aus. Meier und Schanne gehen sogar davon aus, daß die thematische Vorstrukturierung eines großen Teils der Berichterstattung eines Mediums durch Agenturen dazu führt, daß selbst von den von Korrespondenten verfaßten Berichten keine Relativierung der agenturgeprägten Auslandsberichterstattung ausgeht,254 da, so könnte ausgeführt werden, Korrespondenten weitgehend den thematischen Vorgaben der Agenturen sowie den dort dominierenden Frames verpflichtet sind. Demnach ist nicht allein die Freiheit des Korrespondenten in bezug auf seine Medienorganisation begrenzt (s.o.). Meier und Schanne gehen davon aus, daß auch der Agentureinfluß die Steuerungskapazität des Korrespondenten beschränkt. Sie bestätigen für die Auslandsberichterstattung im Grunde die allgemeine Annahme Kristens, daß Agenturen sowohl Themenvorgaben leisten als auch Textinhalte des Journalismus prägen (s.o.). 252 Richard W. Dill, Wieviel Welt braucht der Mensch?, in: Rupert Neudeck (Hrsg.), Den Dschungel ins Wohnzimmer. Auslandsberichterstattung im bundesdeutschen Fernsehen, Frankfurt 1977, S. 146. 253 Lugert, Auslandskorrespondenten, S. 137. 254 Meier/Schanne, Nachrichtenagenturen, S. 99. 107 • Als Beschränkungen wirken auch lokale Medien und Meinungsführer; aber sie haben zugleich auch eine gegenteilige Wirkung, indem sie den Prozeß der Meinungsprofilierung des Korrespondenten gegenüber der Redaktion stärken. Was letzteren Punkt betrifft: Auslandskorrespondenten bewegen sich in einem teilweise anderen Meinungsführermilieu als die Redakteure ihrer Zentralredaktionen. Abbildung 3.9 weist aus, daß die Art der Interaktion zwischen Redaktion und Korrespondenten nicht zuletzt davon abhängig ist, an welchen Meinungsführern sie sich orientieren. Ungeachtet der identischen Binnenprogrammierung verfügen Zentralredaktion und Auslandskorrespondenten über fundamental verschiedene Außenbeziehungen. Zumindest feste Korrespondenten nutzen in der Regel lokale, ihnen sprachlich zugängliche Medien, in denen ein wesentlich breiteres Themenspektrum über ihr Berichterstattungsland behandelt wird als dies in der Auslandsberichterstattung des Heimatlandes oder der internationalen Medien möglich ist.255 Zu den Meinungsführerschaften gehört unter anderem die Bildung von Gruppen von Auslandskorrespondenten verschiedener Medien und häufig auch verschiedener Herkunftsländer, die von den meisten Korrespondenten gepflegt werden und eine Form der „Kooperation“ und sogar der „Abstimmung“ darstellen, die neben der Informationsabsicherung und -kontrolle auch der thematischen Anregung und der Prägung von Argumenten dient.256 Solche dezentralen Meinungsführerschaften können für die Korrespondenten bedeutsamer sein als innerjournalistische Meinungsführerschaften, die auf die Zentralredaktion im Heimatland wirken; zwischen den Meinungsführereinflüssen können auch Konflikte entstehen, die dann zwischen Redaktion und Korrespondenten sozial verhandelt werden müssen. In der Gleichzeitigkeit von identischen Organisationsprogrammen von Redaktion und Korrespondenten einerseits und teilweise disparaten Meinungsführermilieus andererseits liegt ein großes Potential für Korrespondenten, ungeachtet der auf sie wirkenden Einflüsse der Agenturen und des Mediums eigenständige Impulse in der Auslandsberichterstattung geltend zu machen. 3.2.4 Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung (theoretische Makroebene): Medien, Politik und Gesellschaft im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß der Medien Eine Theoriematrix der medialen Auslandsberichterstattung bleibt unvollständig, sofern die individuellen und institutionellen Rahmenbedingungen des Mediensystems nicht in einen Kontext gesellschaftlicher Entstehungs- und Wirkungsbedin255 Eine Umfrage unter in Deutschland arbeitenden Auslandskorrespondenten kam zu dem Ergebnis, daß 81 Prozent der Befragten deutsche Zeitungen nutzen. Marion Wittmann, Auslandskorrespondenten aus der Dritten Welt in der Bundesrepublik Deutschland im Blickfeld internationaler Kommunikationspolitik, in: Publizistik 27 (1982) 3, S. 518. 256 Gemäß Wittmann pflegen 58 Prozent der Korrespondenten Kontakte zu anderen Auslandskorrespondenten. Ebenda; vgl. a. Lugert, Auslandskorrespondenten, S. 145 ff. 108 gungen gefügt werden. Die vorliegende Makrotheorie geht schrittweise vom nationalen zum internationalen und interkulturellen Funktionsgefüge der Auslandsberichterstattung vor und konzeptionalisiert die folgenden Bereiche: Auslandsberichterstattung als Prozeß der Bereitstellung auswärtiger und internationaler Themen für die Öffentlichkeit (Kap. 3.2.4.1); Auslandsberichterstattung im Einflußbereich gesellschaftlicher Kräfte und des politischen Systems (Kap. 3.2.4.2); Auslandsberichterstattung als Resonanzfeld der Innenpolitik und der politischen Kultur (Kap. 3.2.4.3); Auslandsberichterstattung und internationale Krisen- und Konfliktkommunikation (Kap. 3.2.4.4); und Auslandsberichterstattung als Instanz der transkulturellen Kommunikation (Kap. 3.2.4.5). 3.2.4.1 Mediale Thematisierung und öffentliche Themenstrukturierung in der Auslandsberichterstattung Die theoretische Beschreibung der Wirkungen von Medienberichterstattung auf die Gesellschaft gehört zu den schwierigsten Problemen der Kommunikationsforschung. Das Forschungsfeld ist gekennzeichnet von gravierenden methodischen Unsicherheiten, die primär auf der Schwierigkeit basieren, die Einflüsse von Medien experimentell so zu isolieren und zu messen, daß sie von Nutzungsstrategien der Medienkonsumenten, dem Einfluß sozialer Meinungsführer und anderen intervenierenden Variablen abgegrenzt werden können. In der Wirkungsforschung gibt es keinen Konsens über die gesellschaftliche Wirkung der Medien, da hier teils die Manipulationsfähigkeit der Medien,257 teils andere soziale Einflüsse258 hervorgehoben werden. Das Feld der Wirkungs- und Nutzenansätze ist zu vielgestaltig,259 um als homogenes theoretisches Fundament der Wirkung der Auslandsberichterstattung verwendet werden zu können. Der vorliegende Theorieentwurf soll daher auf eine der am wenigsten umstrittenen Hauptfunktionen der Medien beschränkt bleiben: die Befähigung der Medien, Einfluß auf eine der basalen sinnstiftenden Einheiten des öffentlichen Diskurses – das „Thema“ (vgl. Kap. 3.1.2) – zu nehmen und den öffentlichen Themenhaushalt zu strukturieren (agenda setting). Die Agenda-Setting-Hypothese schreibt den Medien eine moderate Wirkung auf die Öffentlichkeit zu, die in der Regel durch folgenden Satz von Bernard C. Cohen beschrieben wird: „It [the press/ K.H.] may not be successful much of the time in telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its readers what to think about.“260 Die These beinhaltet, daß Medien zwar keine Einstellungen und Meinungen – also kognitive Bildkonstrukte im Sinne der Sozialpsychologie – beein257 Vgl. zur Einführung: Fernstudium Kommunikationswissenschaft, T. 2, Hrsg. Modellversuch Journalisten-Weiterbildung, München 1984, S. 91-158. 258 Vgl. exemplarisch die klassische Studie zum Einfluß sozialer Kleingruppen und gesellschaftlicher Meinungsführer: Paul F. Lazarsfeld/Bernard Berelson/Hazel Gaudet, The People’s Choice, New York 1944. 259 Vgl. Winfried Schulz, Ausblick am Ende des Holzweges. Eine Übersicht über die Ansätze der neuen Wirkungsforschung, in: Publizistik 27 (1982) 1, S. 49-73. 260 Cohen, The Press, S. 13. 109 flussen, daß sie jedoch in der Lage sind, thematische Aufmerksamkeit zu erzeugen, die Tagesordnung (Agenda) öffentlicher Diskurse zu beeinflussen und damit die Blickrichtung des Bildformationsprozesses vorgeben. Michael Schenk beschreibt Agenda-Setting als einen Prozeß der Erzeugung von „Aufmerksamkeit“, „Wissen“ und „Problembewußtsein“ über Vorgänge, die sich primär außerhalb des durch die Sinnesorgane erfaßbaren Nahbereichs der menschlichen Wahrnehmung ereignen.261 Agenda-Setting ist im Bereich der Auslandsberichterstattung durch drei Problemkomplexe gekennzeichnet: • Themenagenden als Strukturelemente des medialen Auslandsbildes • Entstehungsbedingungen medialer Themenagenden im Kontext gesellschaftlicher Diskursformierung über außenpolitische und internationale Fragen • gesellschaftliche Wirkungspotentiale der Auslandsberichterstattung. 3.2.4.1.1 Themenagenden als Strukturelemente des medialen Auslandsbildes Hinsichtlich der Struktur des medialen Auslandsbildes ist das „Thema“ oben als das zentrale und wichtigste Konzept eines Textes oder Textteils bezeichnet worden (vgl. Kap. 3.1.2). Es umfaßt seinerseits semantische Mikrostrukturen wie Frames und ist selbst Teil von übergeordneten Diskursen. Ein Thema entsteht auf Grund einer binären Entscheidungssituation von Thematisierung oder Nicht-Thematisierung. Themen sind als potentielle Diskussionsgegenstände zu definieren, die a) von überindividueller Relevanz sind und sich b) durch „Soll-Ist-Diskrepanzen“, d.h. durch von dem Thematisierenden erkannte Ereigniskomplexe mit Handlungs- und Veränderungsbedarf auszeichnen.262 Überindividuelle Relevanz besteht schon dann, wenn spezialisierte Teilöffentlichkeiten, etwa diejenigen Teile einer Öffentlichkeit, die an internationalen Menschenrechtsfragen interessiert sind,263 ein Soll-Ist-Problem erkennen und organisierte Teile dieser Teilöffentlichkeiten, wie etwa amnesty international, es der Gesamtöffentlichkeit zur Lösung anheimstellen wollen. Da jedoch die Aufmerksamkeit spezieller Öffentlichkeiten allein noch nicht als Kriterium dafür angesehen werden kann, daß ein Thema tatsächlich auf breiter öffentlicher Basis thematisiert wird, gilt ein Thema gemäß Edwin Czerwick als öffentlich nicht-thematisiert, wenn die Massenmedien nicht oder nur am Rande darüber berichten und wenn weder Parlament, Parteien oder die großen Interessenverbände noch die öffentlichen Verwaltungen darüber diskutieren. Nicht-Thematisierung ist in den seltensten Fällen auf bewußte Themenunterdrükkung, etwa durch rechtliche Einschränkungen, zurückzuführen, sondern sie erfolgt in der Regel im Prozeß der journalistischen Arbeit selbst und basiert auf Annahmen des 261 Michael Schenk, Medienwirkungsforschung, Tübingen 1987, S. 194. 262 Edwin Czerwick, Zur Nicht-Thematisierung streitwürdiger Themen. Eine Bestandsaufnahme, in: Ulrich Sarcinelli (Hrsg.), Demokratische Streitkultur. Theoretische Grundpositionen und Handlungsalternativen in Politikfeldern, Opladen 1990, S. 179. 263 Im Englischen werden solche Teilöffentlichkeiten auch als „Themen-Öffentlichkeiten“ (issue publics) bezeichnet. 110 Journalisten bzw. des Mediums hinsichtlich der öffentlichen Streitwürdigkeit eines Themas.264 Dabei ist es problematisch, Kriterien für die öffentliche Streitwürdigkeit von Themen zu finden, denn etwa das Beispiel der Umwelt und des Umweltschutzes hat gezeigt, daß sich zumeist erst nach einer langfristig erfolgreichen Thematisierung erkennen läßt, welche der beliebig zahlreich vorhandenen Themen als streitwürdig empfunden werden. Selbst das (subjektive) Streitwürdigkeitsempfinden einer Gesellschaft sagt wenig über die möglicherweise erst langfristig erkennbare (objektive) gesellschaftliche Relevanz eines Themas aus. Das Kriterium der öffentlichen Streitwürdigkeit läßt also zumindest vor Beginn eines Thematisierungsvorgangs viel Raum für individuelle (Mikro-), organisatorische (Meso-) oder gesellschaftliche (Makro-) Einflüsse auf die Entscheidung über Thematisierung und NichtThematisierung. 3.2.4.1.2 Entstehungsbedingungen medialer Themenagenden im Kontext des gesellschaftlichen Auslandsdiskurses Hier gelangt man zum zweiten Problemkomplex des Agenda-Setting: Welchen gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt die Entstehung und Entwicklung medialer Themenagenden in der Auslandsberichterstattung? Gemäß Czerwick erfolgt die Themenselektion auf unterschiedlichen Ebenen, durch Journalisten, durch die Medien als Gesamtorganisation sowie im Zusammenspiel zwischen Medien und Gesellschaft, d.h. die Themenbildung erfolgt auf jeder Ebene des Prozesses der Entstehung von Auslandsberichterstattung, wie er auch in der vorliegenden Theorie definiert wird. Was die Mikroebene betrifft, so begünstigt laut Czerwick ein Rollenverständnis als objektiver Berichterstatter Themen gesellschaftlicher Gruppierungen, die mit einer wirksamen Öffentlichkeitsarbeit ausgestattet sind; ein advokatives Verständnis des Journalistenberufs fördert die Plazierung von Minderheitenthemen auf der öffentlichen Agenda;265 und die Betonung der Kritikfunktion des Journalismus stärkt Eigenrecherche und die selbständige Suche des Journalisten nach streitwürdigen Themen. Auf der Mesoebene können Verlags- und Verkaufsinteressen in einer Bevorzugung oder Vermeidung von Themen münden.266 Auf der Ebene der Makrotheorie schließlich ist aus demokratietheoretischer Sicht ein Rückverweis auf Rollenkonzepte der Mikroebene erforderlich; aus machttheoretischer Perspektive sind herrschende Eliten in der Lage, entweder die Thematisierung etwa durch Öffentlichkeitsarbeit zu fördern oder durch rechtliche oder andere strukturelle Hemmnisse (z.B. Archivgesetze) den Medien die Nicht-Thematisierung vorzuschreiben; staats- und parteipolitische Ansätze schließlich lassen erkennen, daß auch höhere Partei- oder Staatsinteressen auf die Thematisierung Einfluß nehmen können.267 Insgesamt kommt Czerwick zu dem Ergebnis: „Aus einer nicht mehr zu überschauenden Anzahl 264 265 266 267 Czerwick, Zur Nicht-Thematisierung, S. 180. Ebenda, S. 181. Ebenda, S. 183. Ebenda, S. 184-187. 111 von Themen wählen die einzelnen Akteure diejenigen Themen aus, die ihnen auf der Grundlage ihrer Aufmerksamkeitsregeln und Interessen als die wichtigsten erscheinen.“268 Diese Beschreibung der Makroebene aus der Perspektive übergeordneter Theorieansätze eröffnet allgemeine Perspektiven zur Beantwortung der Frage, wie Themen der Auslandsberichterstattung entstehen, ist jedoch zu undifferenziert, um die Frage nach den gesellschaftlichen Einflüssen auf die Auslandsberichterstattung zu beantworten. Medien sind zwei externen Einflußgrößen ausgesetzt: dem Staat bzw. dem politischen System und der außermedialen Öffentlichkeit, definiert als zwischen Staat und Gesellschaft angesiedelter Diskurssphäre. Zwischen Medien, Politik und Gesellschaft besteht eine komplexe systemtheoretische Beziehung (vgl. Kap. 3.2.4.2). Da Einflüsse der Politik im Zusammenhang mit der Transparenz der Nachrichtenagenturen für politische Themensetzungen bereits als solche benannt worden sind (vgl. Kap. 3.2.3), sollen an dieser Stelle nicht-staatliche gesellschaftliche Einflüsse auf die internationale Medienagenda untersucht werden. Zu unterscheiden sind zwei Bereiche: • gesellschaftliche Einstellungen (attitudes) • organisierte Öffentlichkeiten. Einige grundlegende Fragen der Einstellungsforschung, die sich bislang überwiegend mit der Außenpolitik als einem Teilbereich internationaler Fragen beschäftigt hat, lauten: Welche außenpolitischen Einstellungen sind in der Öffentlichkeit vorhanden? Inwieweit sind die Einstellungen durch Ideologien oder politische Gruppeninteressen geformt? Wie stabil sind außenpolitische Einstellungen und Ideologeme über längere Zeiträume?269 Weder individuellen Einstellungen noch ideologisch-parteilichen Thematisierungsprozessen wird in der Regel eine mit innenpolitischen Fragen vergleichbare Intensität, Differenziertheit und Kontinuität zugebilligt. Eine verbreitete Klassifizierung außenpolitischer Einstellungen geht von einer in etwa gleichmäßigen Dreiteilung der Öffentlicheit aus, bestehend aus einem „Massenpublikum“ (mass public), das abgesehen von den bedeutsamsten internationalen Ereignissen (etwa dem Fall der Berliner Mauer 1989) über wenig außenpolitisches Wissen verfügt, einem „interessierten Publikum“ (attentive public), das viele Ereignisse und Entwicklungen rezipiert, dabei jedoch keine differenzierten Einstellungen, sondern inkonsistente Meinungen vertritt und starke Meinungsfluktuationen in Abhängigkeit von der aktuellen Informationslage aufweist, und einem Segment der „Meinungsführer“ (opinion leader), das sich durch ausgeprägte und stabile Anschauungen auszeichnet, die sozial kommuniziert werden.270 Aus diesem Schema läßt sich ableiten, 268 Ebenda, S. 189 f. 269 Barbara A. Bardes/Robert W. Oldendick, Public Opinion and Foreign Policy: A Field in Search of Theory, in: Samuel Long (Hrsg.), Research in Micropolitics. A Research Annual 3/1990, S. 228. 270 Barry B. Hughes, The Domestic Context of American Foreign Policy, San Francisco 1978, S. 23. Vgl. ähnliche Unterteilungen bei: Michael Mandelbaum/William Schneider, The New Internationalism: Public Opinion and American Foreign Policy, in: Kenneth Oye/Donald Rothchild/Robert J. Lieber (Hrsg.), Eagle Entangled: U.S. Foreign Policy in a Complex World, New York 1979, S. 34- 112 daß etwa zwei Drittel der Bevölkerung westlicher Industriestaaten, vor allem in den USA, wo die meisten Untersuchungen durchgeführt worden sind, über zu wenig Wissen und zu undifferenzierte Ansichten über Außenpolitik verfügen, um die Massenmedien aktiv bei der außenpolitischen Thematisierung zu unterstützen, wie dies im demokratietheoretisch-egalitären Idealtyp einer aus verschiedenen Kräften bestehenden und um die Medienagenden konkurrierenden Öffentlichkeit271 vorgesehen ist. Gabriel Almonds Ergebnisse einer kaum definierten und wenig strukturierten außenpolitischen Öffentlichkeit in den USA sind noch am Ende der achtziger Jahre auch für die Bundesrepublik Deutschland weitgehend bestätigt worden.272 Demnach beschäftigen sich Massen- und interessierte Publika weit mehr mit Wirtschafts – und sozialpolitischen als mit außenpolitischen Themen, so daß „ein Teil der Bevölkerung gar keine ‘echten’ außenpolitischen Einstellungen besitzt“, sondern in Umfragen lediglich sogenannte Nicht-Einstellungen durch eine Zufallsauswahl von Antworten gemessen werden.273 Almond hat seine Erkenntnisse in der „Stimmungstheorie“ (mood theory) formuliert, wonach außenpolitische Fragen in der breiten Öffentlichkeit zwar kurzfristig große Aufmerksamkeit erzeugen können, aber abhängig von öffentlichen Stimmungen auch ebenso schnell wieder ignoriert werden, so daß weder ein konstantes Informationsbedürfnis noch ausgeprägte generelle außenpolitische Einstellungen oder Meinungen zu konkreten außenpolitischen Sachverhalten erkennbar werden. Ein großer Teil der deutschen Bevölkerung ist an außenpolitischen Fragen nicht interessiert oder aber erachtet diese für zu kompliziert, um verstanden zu werden (vgl. Kap. 3.2.3.1).274 271 272 273 274 90; Eugene Wittkopf, Faces of Internationalism: Public Opinion and American Foreign Policy, Durham 1990. Wolfgang Eichhorn, Agenda-Setting-Prozesse. Eine theoretische Analyse individueller und gesellschaftlicher Themenstrukturierung, München 1996, S. 165. Gabriel Almond, The American People and Foreign Policy, New York 1950. Wolfgang Dobler, Außenpolitik und öffentliche Meinung. Determinanten und politische Wirkungen außenpolitischer Einstellungen in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, S. 175. Ebenda, S. 19 f. Mit Philip Converse läßt sich argumentieren, daß diese Orientierungsdefizite auch deshalb entstehen, weil außenpolitische Einstellungen und Meinungen bei einem großen Teil der Bevölkerung einen nur unbedeutenden Bestandteil ideologisch-parteilicher Orientierungen darstellen (Philip E. Converse, The Nature of Belief Systems in Mass Publics, in: David E. Apter (Hrsg.), Ideology and Discontent, New York 1964, S. 206-261). Außenpolitische Positionen fügen sich nur selten konsistent in ideologische Konzepte, die aufgrund ihres prinzipiell in alle politischen Bereiche hineinragenden Erklärungsanspruchs auch als „horizontale Einstellungssysteme“ bezeichnet werden. – Informations-, Meinungs-, Orientierungs- und ideologische Verankerungsdefizite münden gemäß Almond in außenpolitischen Krisen- und Konfliktzeiten häufig in Überreaktionen der Öffentlichkeit und in einem Bestreben der nachholenden Information und Meinungsbildung unter den Bedingungen suggerierter oder tatsächlicher Zeitknappheit. Nach John E. Mueller sind in solchen Situationen deutliche rally-round-the-flag-Momente erkennbar. In Krisenzeiten neigt demnach ein großer Teil der Massen- und interessierten Publika, aber auch der Meinungsführersegmente der außenpolitischen Öffentlichkeit, nicht nur zu kurzfristig überdurchschnittlicher außenpolitischer Aufmerksamkeit und emotionalen, aus der ideologischen und anderen Orientierungsdefiziten resultierenden Reaktionen, sondern auch zu einer konsenshaften Anpassung an den von den politischen Führungseliten, insbesondere der Regierung vorgegebenen außenpolitischen Kurs (John E. Mueller, War, Presidents, and Public Opinion, New York 1973). Aus der Perspektive der Theoriebildung im 113 Die Annahme undifferenzierter und instabiler außenpolitischer Einstellungen vor allem in der sogenannten Massen- oder interessierten Öffentlichkeit ist in der jüngeren Forschung in Teilen relativiert worden. Bereits in den siebziger Jahren entstand eine revisionistische Richtung innerhalb der außenpolitisch orientierten Öffentlichkeitsforschung, wobei etwa William R. Caspary gegen die Stimmungstheorie Almonds vorbrachte, daß sich Einstellungen wie der Internationalismus nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA – im Gegensatz zu dem in früheren Zeiten starken Isolationismus – tatsächlich stabilisiert hatten.275 Erkennbar werden in der neueren Forschung Konstanten in der Einstellung der breiten Öffentlichkeit gegenüber der Außenpolitik, die vor allem auf vertikale Einstellungssysteme zurückgeführt werden, in denen im Unterschied zu („horizontalen“) politischen Ideologien außenpolitische Fragen in logischer Form individuellen Moralprinzipien untergeordnet werden. Vertikale außenpolitische Einstellungen können sich etwa in Unterscheidungen wie Taube/Falke oder Militarismus/Antimilitarismus bemerkbar machen, die quer zu horizontalen Ideologien verlaufen und sich nahezu in allen ideologischen Strömungen erkennen lassen.276 Jon Hurwitz und Mark Peffley haben beobachtet, daß tiefsitzende „Kernwerte“ (core values) wie das Verhältnis zum Leben und zum Töten mit entsprechenden „Haltungen“ (postures) zu außenpolitischen Themen verbunden sind, die im nächsten Schritt dann politische Präferenzen beeinflussen (z.B. für oder gegen eine militärische Intervention des eigenen Landes).277 Unverkennbar ist die Ähnlichkeit zwischen dem Konzept der „vertikalen Einstellungen“ und dem diskursanalytischen Framing-Konzept. Insgesamt muß also von einer partiellen Stabilität von öffentlichen Einstellungsstrukturen bei außenpolitischen und internationalen Fragen ausgegangen werden. Ob Bereich der medialen Auslandsberichterstattung muß dieser Ansatz gleichwohl differenziert werden, da Krisen und Konflikte hinsichtlich der Involvierung des angestammten gesellschaftlichen Systems der Medien wie auch hinsichtlich ihrer Dramaturgie unterschiedlich charakterisiert werden müssen. Vgl. Kap. 3.2.4.4.2. 275 William R. Caspary, The „Mood Theory:“ A Study of Public Opinion and Foreign Policy, in: The American Political Science Review 64 (1970) 2, S. 536-547; vgl. a. John C. Pierce/Douglas D. Rose, Non-Attitudes and American Public Opinion: The Examination of a Thesis, in: American Political Science Review 68 (1974) 2, S. 626-649. Verschiedene Forscher vertreten die Ansicht, daß der Revisionismus der außenpolitischen Einstellungsforschung nur durch zweifelhafte Meßmethoden entstanden ist: John L. Sullivan/James E. Piereson/George E. Marcus, Ideological Constraint in the Mass Public: A Methodological Critique and Some New Findings, in: American Journal of Political Science 22 (1978) 2, S. 233-249. 276 Bardes/Oldendick, Public Opinion and Foreign Policy, S. 234 f.; Dobler, Außenpolitik und öffentliche Meinung, S. 62 f. 277 Jon Hurwitz/Mark Peffley, How are Foreign Policy Attitudes Structured? A Hierarchical Model, in: American Political Science Review 81 (1987) 4, S. 1099-1120. Aufschlußreich wäre an dieser Stelle die Untersuchung der Frage, ob die scheinbar stabilen vertikalen Einstellungssysteme in Zeiten extremer Krisen und Konflikte standhalten. Dabei hat beispielsweise der Einstieg der USA in den Zweiten Weltkrieg zu einer Teilrevision pazifistischer Haltungen geführt, und zwar nicht nur im Bereich des außenpolitischen Massenpublikums oder der interessierten Öffentlichkeit, sondern auch in den um vertikale wie horizontale Einstellungssysteme gruppierten Eliten der organisierten Friedensbewegung (vgl. Charles DeBenedetti, The Peace Reform in American History, Bloomington 1980, S. 129), was bedeutet, daß ungeachtet differenzierter außenpolitischer Einstellungsmuster deren Stabilität durch den rally-round-the-flag-Effekt beeinträchtigt werden kann. 114 die neueren Untersuchungen über vertikale Einstellungsmuster im Zusammenhang mit einer in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Zunahme der bottom-top-Einflüsse der Öffentlichkeit auf die staatliche Außenpolitik zu werten sind, kann hier nicht abschließend beurteilt werden.278 Im Rahmen einer Medientheorie ist vielmehr zu fragen, welchen Einfluß außenpolitische Einstellungen auf die Auslandsberichterstattung haben. Vertikale Einstellungssysteme der Medienrezipienten bedeuten für die Medien keine Beschränkung der Thematisierungsfreiheit, da in ihnen keine Themen-, sondern vielmehr Framing-Präferenzen zum Ausdruck kommen; Themenpräferenzen sind allenfalls bei dem kleineren Öffentlichkeitssegment der „Meinungsführer“ (opinion leader, auch als Themen-Öffentlichkeiten/issue publics) zu erwarten. Es ist nicht davon auszugehen, daß das Vorhandensein vertikaler Einstellungssysteme auf eine generelle Wechselbeziehung zwischen Medien und Öffentlichkeit bei der Themenbildung verweist, da auch diese Systeme keine Grundlage für eine aktive Thematisierung bilden, sondern extern, d.h. vor allem über den Umweg der Massenkommunikation aktiviert werden müssen. Die Thematisierung/Nicht-Thematisierung außenpolitischer und internationaler Vorgänge erfolgt damit in hohem Maß von den Medien in Richtung auf das Massen- oder interessierte Publikum, dessen Einstellungspräferenzen die Themenwahl jedoch kaum beeinflussen können. Wenn Einstellungen der Öffentlichkeit in internationalen Fragen die Thematisierungsfreiheit – anders als die Framing-Freiheit – der Auslandsberichterstattung nicht einschränken, so bleibt die Frage zu klären, inwieweit die organisierte Öffentlichkeit Einfluß auf die Medienagenda auszuüben in der Lage ist. Ein Teil des Meinungsführersegments für außenpolitische und internationale Fragen ist politisch organisiert oder sympathisiert mit politischen und gesellschaftlichen Organisationen. Hier besteht ein Potential zur Umsetzung von Themenpräferenzen der Teil-Öffentlichkeiten in aktive öffentliche Thematisierung, wobei Meinungen zum Teil in das politische System kanalisiert werden, etwa über Interessenverbände ins Umfeld der Parlamente, oder aber über die Massenmedien dem öffentlichen Diskurs anheim gestellt werden. Die Kapazitäten der organisierten Öffentlichkeit in außenpolitischen Fragen sind gleichwohl in den westlichen Industriestaaten unterschiedlich ausgeprägt. Die USA gelten als schwacher Staat mit starken außenpolitischen Interessengruppen, Frankreich im Vergleich als starker Staat, wo die Außenpolitik ein domaine réservé des Staatspräsidenten darstellt. Auch die Bundesrepublik Deutschland gilt als Land mit ausgeprägterer exekutiver Kontrolle über die Außenpolitik als in den USA.279 Ent278 Zwar spricht Elisabeth Noelle-Neumann von einem seit Mitte der sechziger Jahre, also seit der Einführung des Fernsehens, sichtbaren „Machtcharakter der öffentlichen Meinung“ auch in der Außenpolitik, der schlaglichtartig etwa bei der Frage der Tiefflüge oder der beabsichtigten Versenkung der Ölplattform „Brent Spar“ politisch wirksam wurde. Dennoch konzediert auch Noelle-Neumann, daß die Debattenkultur der Öffentlichkeit in außenpolitischen Fragen im allgemeinen durch fehlende „Maturation“ und Differenzierungen außenpolitischer Einstellungen gekennzeichnet ist, wobei sich ihr Urteil auf der Grundlage demoskopischer Erhebungen auf die außermediale Öffentlichkeit bezieht. Elisabeth Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung und Außenpolitik. Die fehlende Debatte in Deutschland, in: Internationale Politik/Europa-Archiv 50 (1995) 8, S. 12. 279 Thomas Risse-Kappen, Public Opinion, Domestic Structure, and Foreign Policy in Liberal Democracies, in: World Politics 43 (1991) July, S. 487 f. 115 sprechend muß allgemein davon ausgegangen werden, daß die Kapazitäten von sich öffentlich artikulierenden Interessengruppen (sog. issue publics) im Bereich der außenpolitischen und internationalen Öffentlichkeit in den USA stärker ausgeprägt sind als in Frankreich, während in Deutschland Außenwirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen und vor allem die politischen Parteien als die im Bereich der Außenpolitik und internationalen Fragen aktivsten Kräfte und Institutionen anzusehen sind.280 Für die Einschätzung der Thematisierungskapazitäten der organisierten Öffentlichkeit als Einflußfaktor der Auslandsberichterstattung bleiben allerdings noch zahlreiche Fragen ungeklärt und sind weithin unerforscht. Die Einschätzung Klaus von Beymes aus dem Jahr 1974, die Forschung über deutsche Interessengruppen in internationalen Beziehungen sei stark vernachläßigt worden, ist weitgehend noch heute zutreffend:281 • Die genannten Organisationen, wie die deutschen Parteien und Gewerkschaften, befassen sich nur in einem Ausschnitt ihrer Arbeit mit Auslandsfragen, der grundsätzlich wesentlich kleiner ist als ihr Engagement bei Inlandsfragen. Ungeachtet der bestehenden Auslandsprogramme, Arbeitskreise usw. ist das öffentliche Artikulationsinteresse der großen gesellschaftlichen Organisationen in internationalen und interkulturellen Fragen nicht thematisch flächendeckend und permanent, sondern hochselektiv und sporadisch.282 • Die Definition der mit Auslandsgeschehen befaßten organisierten Öffentlichkeit muß so weit gefaßt werden, daß damit das gesamte Vereins- und Initiativwesen und nicht allein die großen Organisationen abgedeckt werden. Auch mit diesem erweiterten Organisationsbegriff muß allerdings festgestellt werden, daß die auslandsorientierten Vereine und Initiativen in der Regel mitglieder- und finanzschwächer sind als die inländisch orientierten.283 • Wohl nur im empirischen Einzelfall erfaßbar sind kurzfristige Kooperationen und Allianzen zwischen verschiedenen Teilen der Auslandsöffentlichkeit untereinan280 Ebenda, S. 488 ff. 281 Klaus von Beyme, Interessengruppen in der Demokratie, München 1974 (4., umgearb. u. erg. Aufl.), S. 89. 282 Als Beispiel: Von wenigen Kernbereichen abgesehen, etwa dem deutschen Engagement im Rahmen der NATO, werden Haltungen der Parteien zu anderen Fragen des Weltgeschehens kaum stringent formuliert. Regionenorientierte Grundsatzpapiere, etwa den Nahen und Mittleren Osten betreffend, werden nur sporadisch von den Parteiführungen oder Bundestagsfraktionen erstellt und tragen in der Regel die Handschrift einzelner Parteifunktionäre oder Abgeordneten, ohne daß hiervon signifikante Impulse für die Öffentlichkeit als solche oder die Medienagenda der Auslandsberichterstattung ausgehen. Vgl. u.a. Europa und der Nahe und Mittlere Osten. Grundsätze sozialdemokratischer Nah- und Mittelostpolitik 1997, Hrsg. SPD-Bundestagsfraktion, Bonn 1997. 283 Selbst Vereine wie amnesty international, die vor allem deswegen relativ erfolgreich bei der Zuführung von Themen für die Medien sind, da sie transnational organisiert sind, sind nicht in der Lage, eine thematische Mobilisierung zu erzeugen, wie dies etwa die deutschen Gewerkschaften können. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker, die Mira Beham als „außerordentlich potente Informationsagentur“ bezeichnet, besitzt nur eine geringe thematische Mobilisierungskapazität, sofern die großen deutschen Massenmedien nicht in Ausnahmefällen – wie während des Bosnienkriegs – die Themenangebote der Organisation aus eigener Regie aufgreifen. Mira Beham, Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik, Mit einem Vorwort von Peter Glotz, München 1996, S. 182 ff. 116 der sowie mit Teilen der Massenmedien. Dabei können etwa die dispersen Teile der Öffentlichkeit so zusammengefügt werden, daß durch Koalitionen von großen allgemeinen Institutionen (wie den Parteien) mit kleineren auf Auslandsthemen konzentrierten Organisationen der Thematisierungsdruck auf die Medien unübersehbar wird, wobei auch umgekehrt die Medien als Kommunikationsplattform zur Bildung solcher Koalitionen dienen können. Dies setzt allerdings in der Regel voraus, daß von außerhalb der organisierten Öffentlichkeit – etwa vom Staat und der staatlichen Außenpolitik oder durch Ereignisse, die die Nachrichtenwertschwelle der Auslandsberichterstattung durch starke Konflikthaftigkeit oder bevorzugte Nachrichtenfaktoren überwinden – ein Thematisierungsanreiz für die Medien erfolgt. Der Protest gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland am Anfang der achtziger Jahre beispielsweise ist von Hans Rattinger und Petra Heinlein als eine „Kombination von Minderheitenprotest mit der Dynamik der politischen Massenkommunikation“ bezeichnet worden.284 Die relative Strukturschwäche der außermedialen Auslandsöffentlichkeit kann also zumindest vorübergehend ausgeglichen werden, wenn bestimmte Teile der organisierten Meinungsführer sich zu formalen oder informellen Allianzen der strategischen Öffentlichkeitskommunikation zusammenschließen. • Öffentliche Einstellungsbildung, die Artikulation der organisierten Öffentlichkeit und die Wirkung beider Faktoren auf den Medieninhalt sind prozessuale Größen, wobei insbesondere im Verlauf einmal in Gang gesetzter publizistischer Auseinandersetzungen latente Werte- und Interessenbeziehungen vieler am öffentlichen Diskurs Beteiligten erst langsam geweckt, konturiert, diffenziert und polarisiert werden.285 Für die Theorie der Auslandsberichterstattung ergibt sich die tautologische Erkenntnis: Ob die organisierte Öffentlichkeit ein internationales Thema besetzt und Einfluß auf die Medienagenda zu nehmen versucht, hängt in hohem Maß vom Thema ab. Anders als die in der Regel kleineren Vereine und Initiativen, die sich bestimmter Auslandsbereiche und -themen permanent annehmen, werden die großen gesellschaftlichen Organisationen bei Außenpolitik und internationalen Fragen nur sporadisch aktiv. Eine relative Stärke der außermedialen organisierten Öffentlichkeit entsteht vorwiegend durch punktuelle Allianzen. Generell agiert die Auslandsberichterstattung in einem Öffentlichkeitskontext, der im Vergleich zur Innenpolitik durch eine Reihe von Strukturschwächen gekennzeichnet ist, die – abhängig von der politischen Kultur eines Landes – mehr oder weniger stark ausgeprägt sind.286 Dadurch 284 Hans Rattinger/Petra Heinlein, Sicherheitspolitik in der öffentlichen Meinung. Umfrageergebnisse für die Bundesrepublik Deutschland bis zum „heißen Herbst“, Berlin 1983, S. 277. 285 Dobler, Außenpolitik und öffentliche Meinung, S. 96. Zu publizistischen Auseinandersetzung vgl. a. Hans Matthias Kepplinger, Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie publizistischer Koinflikte, in: Winfried Schulz/Max Kaase (Hrsg.), Massenkommunikation. Themen, Methoden, Befunde, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 30/1989, S. 199-220. 286 Die Auslandsberichterstattung ist hierbei im Prinzip vergleichbar mit der Außenpolitik selbst, von der Paul Noack sagt: „Außenpolitik ist ein Feld, in dem sich, im Verhältnis zu seiner Ausdehnung 117 steigt die Bedeutung der Eigenthematisierung durch den Journalismus in der Auslands- im Vergleich zur Inlandsberichterstattung. Wolfgang Doblers auf Deutschland bezogene Annahme, daß der Prozeß der außenpolitischen Meinungsbildung „weniger von der allgemeinen Bevölkerung als von den politischen Eliten“287 ausgeht, muß im vorliegenden Kontext erweitert werden: außenpolitische und internationale Meinungsbildung geht vor allem von den politischen und anderen Eliten sowie von der medialen Auslandsberichterstattung aus. 3.2.4.1.3 Gesellschaftliches Wirkungspotential der Auslandsberichterstattung Hier allerdings eröffnet sich ein drittes Theoriefeld des auswärtigen Agenda-Setting, in dem die tatsächlichen Wirkungen der Medien auf das gesellschaftliche Meinungsbild untersucht werden. Denis McQuail hat darauf hingewiesen, daß eine Analyse der Inhaltsstrukturen der Medienberichterstattung noch nichts über deren Wirkungen aussagt.288 Für die Agenda-Setting-Forschung ist charakteristisch, daß im Unterschied zu den Pionierstudien von Maxwell E. McCombs und Donald F. Shaw, in denen von einer linearen Kausalitätsbeziehung der Gestaltung der Publikums- durch die Medienagenda ausgegangen worden ist,289 die Themenstrukturierung durch Massenmedien in der aktuellen Forschung lediglich noch als einer von mehreren Faktoren der öffentlichen Themengenerierung betrachtet wird. Dabei wird zum einen hervorgehoben, daß auch die Medienagenden nicht allein im Mediensystem selbst erzeugt werden, sondern Einflüssen der verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme (z.B. des politischen Systems) ausgesetzt sind (vgl. Kap. 3.2.4.2). Zum anderen sind im Prozeß der öffentlichen Wirkung von Medienagenden eine Reihe intervenierender Variablen auszumachen, die den Einfluß der Massenmedien auf die Publikumsagenda relativieren und die geschilderte Grundproblematik der Wirkungsforschung kennzeichnen. Intervenierende Variablen sind: der Orientierungsbedarf des Individuums, das Mediennutzungsverhalten, die interpersonale Kommunikation, die Existenz von sozialen Gruppenagenden (community agendas), die Art des Mediums (Presse oder Rundfunk) sowie der persönliche Kontakt des Publikums zum Thema.290 287 288 289 290 118 und Mannigfaltigkeit, am schwierigsten eine öffentliche Meinung bildet. Damit bleibt auch der Druck der Öffentlichkeit im Normalfall gering.“ Paul Noack, Außenpolitik und öffentliche Meinung, in: Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch internationale Politik, Bonn 1986, S. 47. Dobler, Außenpolitik und öffentliche Meinung, S. 191. Denis McQuail, The Influence and Effects of Mass Media, in: Morris Janowitz/Paul Hirsch (Hrsg.), Reader in Public Opinion and Mass Communication, New York 1981, S. 267, 272 f. Maxwell E. McCombs/Donald F. Shaw, The Agenda-Setting Function of Mass Media, in: Public Opinion Quarterly 36 (1972) 2, S. 176-187. Vgl. Kevin Carragee/Mark Rosenblatt/Gene Michaud, Agenda-Setting Research: A Critique and Theoretical Alternative, in: Sari Thomas (Hrsg.), Culture and Communication: Methodology, Behavior, Artifacts, and Institutions: Selected Proceedings from the Fifth International Conference on Culture and Communication, Temple University, 1983, Norwood 1987, S. 35-49; Frank Brettschneider, Agenda-Setting. Forschungsstand und politische Konsequenzen, in: Michael Jäckel/Peter Winterhoff-Spurk (Hrsg.), Politik und Medien. Analysen zu Entwicklung der politischen Kommu- Wirkungsfragen sind im Bereich der Thematisierungsforschung nur in sehr begrenztem Umfang für den Bereich der Auslandsberichterstattung erforscht worden. Grundsätzlich müssen verschiedene Wirkungskreise unterschieden werden, die in bezug auf die vorstehenden intervenierenden Variablen sehr unterschiedlich zu charakterisieren sind: • Wirkungspotentiale der Auslandsberichterstattung auf die Politik (nationale Außenpolitik und die internationale Politik) • Wirkungspotentiale der Auslandsberichterstattung auf die Öffentlichkeit. Hinsichtlich der Wirkung auf die Politik gaben in einer Umfrage mit amerikanischen außenpolitischen Beratern zwei Drittel der Befragten an, daß Medien die Themenagenda der Administration und das Verständnis der Regierung von der Bedeutung eines Themas beeinflussen können.291 Diese Befähigung zur Herabsetzung der Streitwürdigkeitsschwelle eines Themas im außenpolitischen Raum ist nicht gleichzusetzen mit einem direkten Einfluß auf die Richtung der Politik, denn sie bedeutet zunächst einmal lediglich, daß die Politik von den Medien bewegt werden kann, sich mit bestimmten Themen öffentlich auseinanderzusetzen. Agenda-Setting bedeutet im Grundsatz – und dies gilt auch für die Wirkung der Medien auf die Außenpolitik und auf andere politische Akteure in den internationalen Beziehungen –, daß eine Wirkung auf die Art der Thematisierung (Auswahl der Frames, Bilder, Ideologien usw.) nicht generell angenommen werden kann. Gerade im Verhältnis Medien/internationale Politik wirken sich eine Reihe der genannten intervenierenden Variablen zuungunsten eines starken Medieneinflusses aus: Politiker weisen einen eher geringen Orientierungsbedarf auf und sind durch eigene (diplomatische o.Ä.) Kanäle in der Regel gut informiert; sie besitzen zumindest im Teilbereich Außenpolitik eigene Zielvorstellungen und Agenden; und sie verfügen über direkten Kontakt und eigene Anschauung in bezug auf das Auslandsgeschehen.292 Die Akteure der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen sind daher nicht ohnmächtig gegenüber Medien, zumal sie selbst über Möglichkeiten der Medienbeeinflussung etwa über die staatliche Öffentlichkeitsarbeit und die Nachrichtenagenturen verfügen (vgl. Kap. 3.2.3.2); die Politik kann Medien für politische „Testnikation, Berlin 1994, S. 211-229; Renate Ehlers, Themenstrukturierung durch Massenmedien. Zum Stand der empirischen Agenda-Setting-Forschung, in: Roland Burkart (Hrsg.), Wirkungen der Massenkommunikation. Theoretische Ansätze und empirische Ergebnisse, Wien 1992 (2. Aufl.), S. 106-126; Donald L. Shaw (Hrsg.), Agenda-Setting-Research – 20 Year Birthday, Schwerpunktheft Journalism Quarterly 69 (1992) 4. 291 Patrick O’Heffernan, Mass Media and American Foreign Policy. Insider Perspectives on Global Journalism and the Foreign Policy Process, Norwood 1991, S. 47. 292 James F. Larsons Vorstellung, die Medien seien „Augen und Ohren“ der Außenpolitik ist in dieser Allgemeinheit kaum vermittelbar (Larson, James F., Global Television and Foreign Policy, New York 1988, S. 43). Zwar dienen Medien als Informationsgrundlage für die Außenpolitik. Ihre Hauptfunktion besteht dabei jedoch weniger in der Weitergabe von Informationen über Sachverhalte der Außenpolitik als vielmehr in der Vermittlung außenpolitischer Stimmungen und Themenpräferenzen der Öffentlichkeit. Vgl. u. die Ausführungen zu Ressourcen- und Innovationsfunktionen der Medien. 119 ballons“ nutzen, um Handlungsspielräume für geplante politische Optionen der Außenpolitik zu erkunden;293 und sie kann Krisenstimmungen in den internationalen Beziehungen durch die Medien generieren und politische Gefolgschaft mobilisieren (s.o.: Stimmungstheorie). Medien fügen dem international orientierten Entscheidungsprozeß jedoch einen Unsicherheitsfaktor hinzu, was bedeutet, daß Auslandsberichterstattung a) einen Thematisierungsdruck auf die Politik entfalten kann, der zugleich ein Entscheidungs- und Handlungsdruck ist, und b) das Tempo der Politik beeinflussen kann, indem sie sofortige Reaktionen von der Politik einklagt.294 Hier ist ein funktionales Pendant zum mikrotheoretisch beschriebenen journalistischen Rollenverständnis als „Mitgestalter der Außenpolitik“ zu erkennen (vgl. Kap. 3.2.2.2). Von Bedeutung kann dieses Druckpotential der Medien beispielsweise in politischen Verhandlungsprozessen werden; es verändert den Charakter der Verhandlungen, die nicht mehr „stille“ sondern „öffentliche Diplomatie“ sind.295 Allerdings liegt das Potential der Medien als Unsicherheitsfaktor der Außenpolitik zu fungieren wohl stärker in einem anderen Bereich. Weniger die inhaltliche Gestaltung und Einflußnahme, d.h. die Information über den Sachgegenstand der Verhandlungen, als vielmehr die Aufklärung der Politik über außenpolitische Stimmungen und Meinungen der eigenen Bevölkerung ist geeignet, den Medien einen handlungsveränderden Einfluß auf die Politik zu verschaffen. Gerhard Wittkämper, Jürgen Bellers, Klaus Wehmeier und andere haben gezeigt, daß es die „Ressourcenfunktion“ (Aufklärung über Präferenzen der Öffentlichkeit für bestimmte politische Handlungsalternativen), weniger jedoch die „Innovationsfunktion“ einer inhaltlichen Gestaltung und Anregung ist, die im Verhältnis Medien-Außenpolitik am häufigsten zum Tragen kommt.296 In die Dreiteilung der Mitgestaltungsrolle nach Bernhard C. Cohen übersetzt (Medien als Repräsentanten, Kritiker und Advokaten; vgl. Kap. 3.2.2.2) bedeutet dies, daß weniger Advokatismus als vielmehr Repräsentanz die Hauptfunktion der Medien charakterisiert. Allerdings kann aus dieser (nichtmandatierten) Repräsentation der Öffentlichkeit auch Druck auf die Außenpolitik, also Kritik und Advokatismus, entstehen.297 Für die mediale Einflußnahme spielt es auch eine Rolle, ob ihre „Ressourcenfunktion“ während einer Redefinitionsphase 293 O’Heffernan, Mass Media, S. 105 f. 294 Ebenda, S. 99 f. Vgl. a. W. Lance Bennett, The Media and the Foreign Policy Process, in: David A. Deese (Hrsg.), The New Politics of American Foreign Policy, New York 1994, S. 171 f. 295 In Kap. 5.2.1.2 wird zu zeigen sein, daß es Unterschiede in den Darstellungsstilen von Konfliktgeschehen gibt; eine differenzierte, kontinuierliche und langfristige Begleitung eines Verhandlungsgeschehens, die Voraussetzung dafür ist, daß Medien Einfluß auf das Verhandlungsgeschehen ausüben, findet nur in den wenigsten Fällen in der deutschen Presseberichterstattung über Nordafrika und den Nahen- und Mittleren Osten statt. 296 Gerhard W. Wittkämper u.a., Medienwirkungen in der internationalen Politik, T. 2: Das Beziehungsgeflecht von Außenpolitik und Presse, Münster 1986, S. 431 f., 722; vgl. a. Jürgen Bellers/Klaus Wehmeier, Medienberichterstattung als Faktor im außenpolitischen Entscheidungsprozeß, in: Politische Vierteljahresschrift 21 (1980) 4, S. 331-333. 297 John Wallach sieht die Hauptrolle der Medien in Kritik und Kontrolle der staatlichen außenpolitischen Information, weniger hingegen in der Repräsentation oder der advokativen Verfechtung außenpolitischer Ideen. John Wallach, Leakers, Terrorists, Policy Makers and the Press, in: Simon Sefarty (Hrsg.), The Media and Foreign Policy, Houndmills/London 1990, S. 81-93. 120 außenpolitischer Entscheidung zur Entfaltung kommt, in der die Politik selbst Alternativen abwägt und durch die öffentliche Meinung in der ein oder anderen Weise beeinflußt werden kann.298 Das größte Wirkungspotential der Medien besteht daher insgesamt weniger in der außenpolitischen Expertise als vielmehr in der Verstärkung des innenpolitischen Moments der Außenpolitik (vgl. a. Kap. 3.2.4.3). Die Wirkung der Auslandsberichterstattung auf die Öffentlichkeit ist vor allem von der Wirkung der intervenierenden Variablen „Orientierungsbedarf“ und „persönlicher Kontakt zum Thema“ abhängig. Grundsätzlich muß davon ausgegangen werden, daß weder die allgemeinen Publikumssegmente noch die PublikumsMeinungsführer bei internationalen Fragen in der Regel über direkten Kontakt zum Auslandsgeschehen oder alternative Quellen zu den Massenmedien verfügen. Die mediale Informationsabhängigkeit im Bereich der Auslandsinformation ist ein fundamentales Unterscheidungskriterium zwischen weiten Teilen der Medienkonsumenten und den politischen Akteuren. Auswärtige Themen sind sogenannte unaufdringliche Themen,299 die sich dem Erfahrungsnahbereich der Medienkonsumenten entziehen und bei denen daher die Medien ein hohes Maß an Thematisierungsfreiheit und eine große Kapazität zur Strukturierung der öffentlichen Agenda besitzen. Elisabeth Noelle-Neumann: „Für das Fernbild – das Bild über die allgemeinen Verhältnisse und über Länder und Personen und Einrichtungen, die die Bevölkerung nicht aus eigener Erfahrung kennt – nimmt die Bevölkerung die Informationen aus den Inhalten der Massenmedien.“300 Aufdringlichkeit oder Nichtaufdringlichkeit eines Themas hängen eng mit der Verhaftung in der lokalen, regionalen, nationalen oder internationalen Sphäre zusammen, wobei Unaufdringlichkeit und Wirkungshaftigkeit der Medien auf öffentliche Agenden in nationalen und internationalen Sphären stärker ausgeprägt sind als in lokalen und regionalen Sphären. In einer Reihe von Studien ist ermittelt worden, daß öffentliches Themenbewußtsein bei nationalen oder internationalen Fragen in höherem Maß von der Auslandsberichterstattung abhängt als bei lokalen Fragen.301 298 Gerhard W. Wittkämper u.a., Medienwirkungen in der internationalen Politik, T. 1: Theoretische Grundlagen und exemplarische Entscheidungsprozessanalyse der Ostpolitik der SPD/FDPKoalition, Münster 1986, S. 28 ff., 102. 299 Zur Unterscheidung zwischen „aufdringlichen“ (obtrusive) und „unaufdringlichen“ (unobtrusive) Themen vgl. Chaim H. Eyal, Time Frame in Agenda-Setting Research: A Study of the Conceptual and Methodological Factors Affecting the Time Frame of the Agenda-Setting Process, Diss. Syracuse 1980; Harold G. Zucker, The Variable Nature of News Media Influence, in: Communication Yearbook 2, Hrsg. International Communication Association, New Brunswick 1978, S. 225-240; Richard Warwick Blood, Unobtrusive Issues and the Agenda-Setting Role of the Press, Diss. Syracuse 1981. 300 Elisabeth Noelle-Neumann, Die öffentliche Meinung und die Wirkung der Massenmedien, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Fortschritte der Publizistikwissenschaft, Freiburg 1990, S. 14. 301 Philip Palmgren/Peter Clarke, Agenda-Setting with Local and National Issues, in: Communication Research 4 (1977) 10, S. 435-452; John T. McNelly, International News for Latin America, in: Journal of Communication 29 (1979) 2, S. 156-163. Rolf Hügel, Werner Degenhardt und HansJürgen Weiß haben ermittelt, daß bei der Thematisierung der „unaufdringlichen“ Themen der Außenpolitik die Pressewirkung vor allem bei Öffentlichkeitseliten meßbar ist, die aktiv über Außenpolitik kommunizieren, während sich in anderen Öffentlichkeitssegmenten vor allem Fernsehwirkungen nachweisen lassen. Rolf Hügel/Werner Degenhardt/Hans-Jürgen Weiß, Strukturglei- 121 Andererseits weist die Tatsache, daß weite Teile des Publikums, wie oben gezeigt, zwar Einstellungs-, aber keine permanenten Themenpräferenzen ausbilden, darauf hin, daß die Thematisierungswirkung der Medien in der Regel nur kurzfristig ist. Dies wiederum steht in Zusammenhang mit der häufig kurzfristigen und diskontinuierlichen Thematisierung auf seiten der Medien, was seinerseits auf die Definition der Nachricht als Abweichung von der Normalität, auf die Konfliktorientierung und andere Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung zurückzuführen ist (vgl. Kap. 3.2.1.1). Dort, wo, wie beispielsweise beim Thema Nahostkonflikt, eine langfristige Medienthematisierung stattgefunden hat, sind auch langfristige Themeninteressen des Publikums zu entdecken. In solchen Fällen müßte, im Umkehrschluß zu der These der starken Medienwirkung, der Orientierungsbedarf des Publikums sinken, da hier eine Verselbständigung des Informationsangebots beim Publikum stattfindet und das Thema in Schulen, auf dem Buchmarkt, kurz: auch in anderen Öffentlichkeitssegmenten außerhalb der Medien in hohem Maße Zulauf findet.302 Aufdringlichkeit/Unaufdringlichkeit eines Themas ist daher nicht zuletzt von der Berichterstattungs- und Nutzungsgeschichte der jeweiligen Nachrichtenbereiche abhängig. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen über den Zusammenhang von Auslandsberichterstattung und Öffentlichkeit ist deutlich, daß „Unaufdringlichkeit“ und die damit erklärte relative Wirkungsmacht der Auslandsberichterstattung nur eine theoretische Hilfskonstruktion sein kann. Die strukturelle Schwäche der international orientierten nichtmedialen Öffentlichkeit ist eine wesentliche Ursache der „Unaufdringlichkeit“ internationaler Themen, ihrer häufigen Nicht-Thematisierung ebenso wie ihrer relativ wirkungsmächtigen Thematisierung. Unaufdringlichkeit ist kein Wesensmerkmal des Auslandsgeschehens, sondern das Ende einer Kette von Nicht- oder nur sehr kurzfristigen Thematisierungen sowohl durch die Medien als auch die außermediale Öffentlichkeit. Unabhängig von der Frage, wie diese verursacht wird: die Wirkungsmacht der Auslandsberichterstattung bei der öffentlichen Themengestaltung und der Schaffung von Themenbewußtsein ist empirisch in hohem Maß gesichert. Ohne den Einsatz der Medien ist ein öffentliches Themeninteresse für internationale Fragen kaum zu wekken. Weniger deutlich ist hingegen, inwieweit die Medien mehr als ein solches Themenbewußtsein zu wecken in der Lage sind, also etwa auch Einstellungen, Nationenstereotype usw. verändern können. Untersuchungen haben gezeigt, daß Auslandsberichterstattung zum Beispiel keinen signifikanten Einfluß auf Geographiekenntnisse und anderes Grundwissen über andere Länder ausübt, was unter anderem auf die starke Politikorientierung der Auslandsberichterstattung zurückzuführen ist, in der chungsmodelle für die Analyse des Agenda Setting-Prozesses, in: Winfried Schulz (Hrsg.), Medienwirkungen: Einflüsse von Presse, Radio und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft. Untersuchungen im Schwerpunktprogramm „Publizistische Medienwirkungen“, Weinheim 1992, S. 152. 302 Ähnliche Überlegungen liegen, wenngleich ohne Bezug auf die Nachrichtenwertforschung oder Auslandsberichterstattung, dem „Schwellenmodell“ Hans Mathias Kepplingers zugrunde, wonach bereits langfristig eingeführte Themen nur durch eine nachhaltige Veränderung der Berichterstattung auch zu zu- oder abnehmendem Themenbewußtsein führt. Hans Mathias Kepplinger/Klaus Gotto/Hans-Bernd Brosius/Dietmar Haak, Der Einfluß der Fernsehnachrichten auf die politische Meinungsbildung, Freiburg/München 1989. 122 solches Wissen wenig vermittelt wird (vgl. Kap. 3.2.1.2). Andererseits besteht eine Beziehung zwischen positiven/negativen affektiven Nationenbildern des Publikums und der Medienberichterstattung,303 d.h. Konfliktperspektive und Negativismus als häufige Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung (vgl. Kap. 3.2.1.2) verfügen über ein hohes Wirkungspotential hinsichtlich der affektiven Dimension von Auslandsbildern. Hier deutet sich an, daß der Agenda-Setting-Ansatz allein nicht zureichend ist, um das Wirkungspotential der Auslandsberichterstattung zu beschreiben, denn diese wirkt möglicherweise nicht allein auf das Themenbewußtsein (worüber nachgedacht wird) des Publikums, sondern ebenso auf bestimmte Einstellungskomplexe (wie und was gedacht wird). Zu klären wäre, inwieweit die Auslandsberichterstattung Einfluß auf die auch im außenpolitischen Bereich zum Teil beharrlichen Einstellungsysteme der Öffentlichkeit zu nehmen in der Lage ist. Die Frage wird an dieser Stelle nicht weiter verfolgt, um keinen theoretisch unsicheren, weil empirisch kaum erforschten Boden zu betreten. 3.2.4.2 Auslandsberichterstattung, Politik und Gesellschaft: nationale und internationale Systembedingungen Massenmedien bestimmen ihre Themen und andere Diskurseinheiten nicht alleine, sondern im Zusammenspiel mit anderen Kräften der Gesellschaft in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Die Thematisierungsfunktion der Massenmedien läßt sich sinnvoll nur vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Machtverhältnisse ergründen.304 Versuche, die Thematisierungsfunktion der Medien in einen systemtheoretischen Rahmen einzufügen, sind dabei bereits seit langem nachweisbar.305 Die Systemtheorie ist als ein übergreifendes Paradigma für eine Reihe von Theoriegattungen von der Demokratietheorie, über staats- und machtpolitische Ansätze bis zur politischen Ökonomie bezeichnet worden und soll auch an dieser Stelle nicht die Bedeutung anderer Theorien schmälern, sondern vor allem ein ganzheitliches Herangehen an den Zusammenhang zwischen Massenmedien und Gesellschaftskräften im Prozeß der internationalen Medienberichterstattung fördern. Systemtheorie dient dazu, journalistische Problemstellungen nicht nur als „Derivate eines disziplinär isolierten Medienzentrismus“ (Rühl) zu betrachten, sondern ihre Wechselbeziehungen mit der Gesellschaft zu erkennen.306 303 John T. McNelly/Fausto Izcaray, International News Exposure and Images of Nations, in: Journalism Quarterly 63 (1986) 3, S. 553. 304 Carragee/Rosenblatt/Michaud, Agenda-Setting Research, S. 47; vgl. a. Schenk, Medienwirkungsforschung, S. 227 f. 305 Frank Böckelmann, Theorie der Massenkommunikation, Frankfurt 1975; Manfred Rühl, Journalismus und Gesellschaft. Bestandsaufnahme und Theorieentwurf, Mainz 1980, S. 323 ff. 306 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 319; vgl. a. Michael Kunczik, Kommunikation und Gesellschaft. Theorien der Massenkommunikation, Köln/Wien 1984, S. 144. Zur Einführung in systemtheoretische Medientheorien vgl. Werner Faulstich, Medientheorien. Einführung und Überblick, Göttingen 1991. 123 3.2.4.2.1 Medien und Gesellschaftssystem: eine systemtheoretische Betrachtung Medien erfüllen die für die Gesellschaft bedeutsame Funktion, die Umweltinformationen durch Thematisierung und Themenstrukturierung sinnvoll zu ordnen, Umweltkomplexität zu reduzieren und damit Grundlagen für die strukturierte Massenkommunikation zu schaffen. Die systemtheoretisch orientierte Medientheorie gibt dabei zunächst keine Auskunft über Normen und Zielvorstellungen der Thematisierung, worin sie sich von den Theorieansätzen aus dem Bereich der Demokratietheorie, der politischen Ökonomie oder der von staats- und parteipolitischen Ansätzen unterscheidet. Das Schwergewicht der Systemtheorie liegt vielmehr auf der Erkenntnis, daß die Medien zur Erfüllung ihrer Aufgaben Einflußgrößen unterliegen, die im Rahmen der System-Umwelt-Konfiguration oder der Autonomie-GleichgewichtsDichotomie begrifflich erfaßt werden können. Die spezielle autopoietische Systemtheorie307 geht zwar – nicht zuletzt auf Grund ihrer Nähe zum radikalen Konstruktivismus – von der Annahme aus, daß externe Einflüsse zu Selbstbeobachtungen des Systems führen und Medien deshalb nicht extern gesteuert werden können. Dennoch zeigen auch diese indirekten Reaktionen des Mediensystems, daß das Funktionieren der Massenmedien nicht allein intern bestimmt wird, sondern diese zum einen mit anderen Subsystemen der Gesellschaft, wie dem politischen und wirtschaftlichen System, und zum anderen mit der nicht-organisierten gesellschaftlichen Umwelt Austauschbeziehungen pflegen, die ihre Handlungsweise beeinflussen.308 Organisierte Subsysteme und disperse Umwelteinflüsse zusammen können als „Systemumwelt“ bezeichnet werden, die gemäß Manfred Rühl vor allem aus folgenden drei Bereichen besteht: 307 Um diese vereinheitlichende Funktion zu erhalten und allgemeine systemtheoretische Überlegungen im Bereich der internationalen Medienberichterstattung weiterzuentwickeln, wird im folgenden weitgehend darauf verzichtet, verschiedene Spielarten der Systemtheorie voneinander abzugrenzen. Funktional-strukturalistische Medientheorien (Rühl, Kunczik) und autopoietische Medientheorien (Marcinkowski), mit ihren jeweils starken Bezügen zu den Arbeiten Niklas Luhmanns, werden ebenso einbezogen wie kybernetische Modelle (Deutsch). 308 Die Annahme von Alexander Görke und Johannes Kollbeck, daß eine Steuerung der Medien durch systemexterne Interessen, durch nationale wie internationale Akteure auszuschließen ist, ist auch im Sinn der autopoietischen Theorie zu vereinfachend, da ungeachtet der fehlenden externen Steuerbarkeit zahlreiche Einflüsse auf das offen-geschlossene, autopoietische System wirken, deren Verarbeitung einer theoretischen Betrachtung bedürfen (Alexander Görke/Johannes Kollbeck, (Welt-) Gesellschaft und Mediensystem. Zur Funktion und Evolution internationaler Medienkommunikation, in: Miriam Meckel/Markus Kriener (Hrsg.), Internationale Kommunikation. Eine Einführung, Opladen 1996, S. 266). Folgt man Niklas Luhmann oder Frank Marcinkowski, so ist der „Bedarf an Intersystembeziehungen“ gerade in differenzierten Gesellschaften – im Vergleich zu stratifikatorischen Gesellschaften – sehr hoch. Frank Marcinkowski: „Folglich sind moderne Gesellschaften (...) von dem permanenten Spannungsverhältnis zwischen partieller Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche einerseits und der Notwendigkeit ihres Zusammenspiels andererseits gekennzeichnet.“ Frank Marcinkowski, Publizistik als autopoietisches System, S. 133 f., 135. 124 • Personen des Journalismus • Publikum • politisch-wirtschaftlicher Komplex.309 Die Vorstellung vom Journalisten, der zugleich Teil des Mediensystems und der Medienumwelt ist, ist ein Modell, wonach einerseits der moderne Journalist im Zeitalter der Massenpresse und des Agenturjournalismus – anders als zur Zeit des Persönlichkeits- und Meinungsjournalismus eines Karl Kraus und abgesehen von einigen Ausnahmeerscheinungen des Journalismus wie Günter Wallraff – die von seiner Persönlichkeit abstrahierenden Interessen des Mediensystems und bestimmte, ihm zugewiesene Funktionen wahrnimmt. Andererseits aber fließen unvermeidlich auch Persönlichkeitsfaktoren, im vorliegenden Theorieentwurf als mikrotheoretische Einflußfaktoren ausgewiesen, in die Medienarbeit ein.310 Der Journalist ist damit in seiner Systemrolle Teil des Systems der Massenmedien und in seinen Persönlichkeitsstrukturen konstituiert er zugleich seine eigene Umwelt: eine Trennung von Funktion und Person des Journalisten, die überwiegend heuristische Zwecke verfolgt.311 Publika betrachtet Rühl als eine Größe, die nicht aus Organisations- und Systemstrukturen, sondern aus Erwartungs- und Bedürfnisstrukturen bestehen, die nur sehr ungenau zu bestimmen sind, wenngleich sich der Journalismus generell um die Anpassung an Bedürfnisstrukturen bemühen muß.312 Von der Annahme einer einseitigen Manipulierbarkeit des Publikums durch Massenmedien ist nach zahlreichen Erkenntnissen der Nutzungsforschung abzusehen. Das Publikum ist in der Lage, Medienangebote selektiv zu nutzen, vorgeprägte Programmstrukturen zu konterkarieren und seine Kommunikationspartner zu wählen. Zwischen Publikum und Medien besteht daher gemäß Rühl ein „Tausch- und Wettbewerbsverhältnis.“313 Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fungieren in vielfacher Hinsicht als „Umwelten“ der Massenmedien. Das Mediensystem und politisch-wirtschaftliche Subsysteme wachsen an „zahlreichen Berührungsflächen zusammen“, und die Medien sind „integraler Bestandteil in einem interdependenten Prozeß, in dem zwischen Politikgenerierung und Politikvermittlung nicht mehr klar zu unterscheiden ist“ (Sarcinelli).314 Die „gegenseitigen Einfluß- und Abhängigkeitsverhältnisse“ (Rühl)315 sind beispielsweise geprägt durch die notwendige Versorgung der Medien mit Informa309 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, Mainz 1980, S. 346. 310 Ebenda, S. 346-360. 311 Manfred Rühl: „Eine systemrationale Trennung bedeutet (...) keine dinglich-materielle Isolierung. Die wechselseitige Beeinflussung zwischen Journalismus und Persönlichkeit bleibt ausdrücklich berücksichtigt. Aber angesichts der hohen Komplexität öffentlicher Kommunikation kann Journalismus keine sozialen Funktionen erfüllen, wenn diese nicht durch die Herausbildung ‘unpersönlicher’ Erwartungskomplexe, ja durch ‘institutionalisierte Unpersönlichkeit’ abgesichert werden.“ Ebenda, S. 356. 312 Ebenda, S. 360-369. 313 Ebenda, S. 368. 314 Ulrich Sarcinelli, Massenmedien und Politikvermittlung: Eine Problem- und Forschungsskizze, in: Gerhard W. Wittkämper (Hrsg.), Medien und Politik, Darmstadt 1992, S. 46 f. 315 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 369 f. 125 tionen aus Politik und Wirtschaft auf der einen und die gleichfalls essentielle Repräsentation von Politik und Wirtschaft in den Medien auf der anderen Seite. Die Austauschbeziehungen sind dabei nicht gleichförmig. Hans Mathias Kepplinger hat geltend gemacht, daß – anders als im Fall des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – zwischen der privaten Presse und dem politisch-wirtschaftlichen System keine Beziehungen der gleichrangigen Interdependenz bestehen, da hier etwa das Instrument der Stellenbesetzung entfällt, sondern daß Politik und Wirtschaft auf die Repräsentations- und Harmoniebereitschaft der Presse stärker angewiesen sind als die Presse auf Informationsversorgung durch Politik und Wirtschaft. In dem Maß wie jedoch die Bereitschaft der Presse zur Disharmonie und Anpassungsverweigerung gegenüber Politik und Wirtschaft größer ist als im Fall staatlicher oder öffentlichrechtlicher Medien,316 wächst zugleich die Bedeutung der wirtschaftlichen Umweltfaktoren und des Wirtschaftssystems, da die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen prinzipiell größer ist als im öffentlichen Mediensektor. Auch auf diesem Gebiet bestehen Interdependenzbeziehungen, denn auch die Wirtschaft ist ihrerseits auf die Massenmedien als Werbeträger angewiesen. Gemäß Michael Kunczik kann davon ausgegangen werden, daß sich die Massenmedien insgesamt an ihre primäre Ressourcenumwelt anpassen: die kommerziellen Medien an den Markt und das Wirtschaftssystem, öffentlich-rechtliche oder staatliche Medien an das politische System und signifikante Gesellschaftsgruppen und -organisationen.317 Die Umwelten der Massenmedien, die „Systemumwelten“, sind keine homogenen Einheiten, sondern sie bestehen aus dispersen Informationsbestandteilen ebenso wie aus organisierten „Umweltsystemen“. Die Unterscheidung zwischen Systemumwelt und Umweltsystem der Massenmedien ist in der Forschungsliteratur bisher wenig präzisiert worden, so daß eine definitorische Klärung notwendig erscheint. Ein organisiertes System A kann für ein anderes System B zu einem „Umweltsystem“ werden und aktiv auf dessen Entwicklung einzuwirken versuchen, beispielsweise im Fall rechtlicher oder machtpolitischer Eingriffe der Judikative oder der Exekutive auf das Mediensystem. Die „Systemumwelt“ enthält über die Umweltsysteme hinaus disperse, nicht-organisierte Umweltfaktoren, zu denen etwa ein großer Teil der Medienkonsumenten und des nicht-organisierten Publikums gehören. Diese Unterscheidung ist insofern wichtig als Anpassungserscheinungen an disperse Umwelten ausschließlich innerhalb des Mediensystems vonstatten gehen, da den Medien ein handelndes Gegenüber fehlt, während Umweltsysteme eigenständig im Sinne eines Steuerungsinteresses und ihrer eigenen Systemprogrammierung aktiv werden können. Rühls Unterteilung der medialen Umweltbereiche (Personen des Journalismus, Publikum und politisch-wirtschaftlicher Komplex) enthält keine genaue Unterscheidung zwischen dispersen und organisierten Umwelten. Das Publikum ist nach Rühl eine klassisch disperse Umwelt, denn es bildet sich nur situativ, je nachdem, welche Themenstrukturierungsvorgaben in einem bestimmten Publikumssegment Beachtung 316 Hans Mathias Kepplinger, Systemtheoretische Aspekte politischer Kommunikation, in: Publizistik 30 (1985) 2/3, S. 251. 317 Michael Kunczik, Journalismus als Beruf, Köln/Wien 1988, S. 74. 126 finden. Eine „fortdauernde Organisierung von Publikum“ ist demnach nicht möglich.318 Als Problem ergibt sich, daß es jedoch, wie bereits im Kapitel über das Agenda-Setting ausgeführt, auch einen organisierten Teil der Öffentlichkeit gibt. Zwar handelt es sich hierbei in den seltensten Fällen um Organisationen von Medienrezipienten (etwa Media-Watch-Gruppen), aber national wie international ausgerichtete Verbände und Vereine sind nicht ohne weiteres dem politischen oder wirtschaftlichen System zuzuordnen, sondern sind in der Lage, eigenständig als Vertreter teilorganisierter Medienpublika zu wirken und inhaltliche Interessen gegenüber den Medien zu vertreten. Michael Kunczik unterscheidet zu Recht zwischen einer passiven Umwelt (den „relativ machtlosen Rezipienten“) und einer aktiven Umwelt (z.B. Interessenverbänden).319 Der politisch-wirtschaftliche Komplex besteht zur gleichen Zeit nicht nur aus organisierten Systemen – wie dem Regierungsapparat, Unternehmen und Wirtschaftsverbänden –, sondern auch aus der subjektiven Einschätzung des Journalismus hinsichtlich der Befindlichkeit seines wirtschaftlichen und politischen Milieus und der Wirkung der Umweltbedingungen auf das Mediensystem. Im Fall der Presse besteht das primäre Milieu der Wirtschaft weniger im konkreten Einfluß von Wirtschaftsunternehmen und -verbänden und vielmehr aus Markt- und Konjunkturfaktoren. Insgesamt lassen sich folgende Systemumwelten und Umweltsysteme der Medien unterscheiden: Tab. 3.6 – Systemumwelten und Umweltsysteme des Journalismus Personen des Journalismus Publika Politisch-wirtschaftlicher Komplex Systemumwelten Umweltsysteme Persönlichkeiten nicht-organisierte Konsumenten politische / ökonomische Lage psychische Systeme organisierte Öffentlichkeit polit. / ökon. System Auf ein weiteres Problem der System-Umwelt-Beziehungen hat Marcinkowski hingewiesen und hierbei Rühl ergänzt. Es lassen sich „innere“ und „äußere Umwelten“ unterscheiden, denn entgegen Rühls Annahme ist etwa das Publikum nicht allein ein Umweltfaktor, gegen den die Massenmedien ihre Autonomie sichern müssen, sondern das Publikum ist ebenso ein Faktor, der, obzwar selbst nicht Teil des Mediensystems, die Autonomiebestrebungen der Medien gegenüber anderen Systemumwelten wie der Politik stützen kann.320 Es scheint sinnvoll, das Medienpublikum, wie die anderen Umweltbereiche auch, sowohl als interne als auch als externe Umweltfaktoren zu betrachten, denn das Publikum ist das legitimierende Milieu, mit dessen Hilfe die Massenmedien Autonomie sichern können, es ist jedoch zugleich autonomiegefährdend, da es ständig neu gewonnen werden muß und die Berichterstattung positiv 318 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 365. 319 Kunczik, Kommunikation und Gesellschaft, S. 214. 320 Marcinkowski, Publizistik, S. 97. 127 und negativ sanktioniert werden kann. Ähnliche Überlegungen gelten für den Wirtschaftskomplex, der als externe Systemumwelt (mit einzelnen Umweltsystemen) fungiert, während zugleich im Bereich der privatwirtschaftlich organisierten Massenmedien das Mediensystem selbst ein Wirtschaftssystem darstellt, das als inneres Umweltsystem einzustufen ist, mit dessen Hilfe Autonomie erzielt oder stabilisiert werden kann. Auch das politische System ist nicht in jedem Fall als äußeres Umweltsystem zu betrachten, sondern es kann auch zum inneren Umweltsystem werden. Es wird im Fortgang der Argumentation zu zeigen sein, daß neuere Modelle der Beziehung Medien-außenpolitisches System die Medien als innere Umwelt vor allem dann betrachten, wenn Journalisten, Diplomaten und Politiker als sich gegenseitig beeinflussende insider politischer Abläufe einzustufen sind, während ihre Funktion als äußere Umwelt ihre outsider-Position beschreibt.321 Eine Sichtweise, die eine bestimmte Systemumwelt als interne oder externe Einflußgröße des Mediensystems und der Berichterstattung aufgibt, ist verkürzt. Um das Strukturmodell der System-Umwelt-Beziehungen im Medienbereich abzuschließen, muß hinzugefügt werden, daß Massenmedien nicht nur als Einheit gegenüber anderen Umweltgrößen, sondern auch wechselseitig interagieren. Das Mediensystem besteht seinerseits aus Subsystemen, zwischen denen – ähnlich wie zwischen dem Medien- und dem politischen System – Austauschprozesse stattfinden.322 Medien orientieren sich an innerjournalistischen Leitmedien (vgl. Kap. 3.2.3.4) und können dabei durch gemeinsame Thematisierungen ihre autonomen Spielräume erweitern (Eine einheitliche Berichterstattung ist jedoch nicht zwangsläufig ein Beleg für Autonomie, sondern kann auch einen spill-over-Effekt der Umweltanpassung darstellen). Wie aber gestalten sich die Beziehungen zwischen Medien und Umwelt? Wie wirkt sich die Interaktion zwischen dem Mediensystem und seiner Systemumwelt auf die Inhalte der Berichterstattung aus? Die vergleichende Analyse der Darstellungsprozesse in Massenmedien mit anderen Themen der Systemumwelt und die Ermittlung der Interaktionen ist letztlich nur durch eine methodische Kopplung von Medieninhaltsanalyse mit einer etwa für die Politikwissenschaft typischen Untersuchung politischer und wirtschaftlicher Realabläufe zu bewerkstelligen. Marcinkowski stellt seine Systemtheorie der Medien daher nicht zufällig in den Rahmen der Politikwissenschaft (vgl. Einleitung zu Kapitel 3). Zwar ist es nicht möglich, die Vielzahl der System-Umwelt-Beziehungen des Mediensystems zu erfassen, doch sind „Autonomie“ und „Gleichgewicht“ zwei zentrale Interaktionsmuster. Die Autonomie des Mediensystems erlaubt es diesem, sich intern zu differenzieren und selbständig Lösungen für Probleme seiner Systemumwelt zu erarbeiten.323 Mit steigender Komplexität der Umwelt steigt auch die Eigenkomplexität des Mediensystems, das über die autonome Thematisierung in die Öffentlichkeit zurückwirkt und insofern wichtige Funktionen für das Gesamtsystem 321 Vgl. unten die Darstellung zu Patrick O’Heffernan. 322 Kunczik, Kommunikation und Gesellschaft, S. 216. 323 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 341. 128 erfüllt. Autonomie und Identität sind Kernbegriffe der Systemtheorie, denn: „Das System ist die Differenz zwischen Umwelt und System“ (Luhmann).324 Wenn sich das Mediensystem inhaltlich nicht mehr von anderen Umweltsystemen unterscheidet, verliert es seine spezifischen Systemeigenschaften und funktioniert nur noch bedingt als eigenständiges System (beispielsweise Medien in autoritären/totalitären Staaten, die eigentlich ein Teil des politischen Systems sind). An dieser Stelle endet auch die Analogie zwischen biologischen Organismen und sozialen Systemen, denn soziale Organisationen sind im Unterschied zu Organismen zu eigenständigem Handeln fähig, ohne daß das gesamte Gesellschaftssystem kollabiert.325 Massenmedien suchen daher nach Identitäten, den in Kapitel 3.2.3.3 beschriebenen Entscheidungsprogrammen als Redaktions- und Blattlinien, in denen eine typische Prägung ihrer Kommunikationsinhalte festgelegt wird, die, aus der Sicht der Theorie offen-geschlossener Systeme, „autopoietische Reproduktion“ der Medien ermöglicht.326 Medien verschaffen sich auch dadurch Spielräume gegenüber der externen Umwelt, daß sie die unterschiedlichen Milieus gegeneinander „ausspielen“, zum Beispiel die Politik und das Publikum.327 Ihr Verhältnis zu anderen Medien ist durch autonomes Abgrenzungsgebaren, aber auch durch intermediale Interaktion gekennzeichnet. Autonome Medien sind keine Enklaven der Gesellschaft, sondern sie erfüllen gegenüber ihrer Umwelt ihre zentrale Funktion der öffentlichen Thematisierung und der Herstellung einer die Gesellschaft integrierenden Massenkommunikation. Medien müssen jedoch nicht allein Autonomie sichern, sondern sie müssen zugleich Austauschbeziehungen pflegen, sie sind auf die Kommunikationsbereitschaft der Umweltsysteme angewiesen, benötigen zumindest teilweise deren Unterstützung und sind beispielsweise im Verhältnis zum politischen System gehalten, bis zu einem gewissen Grad „Verlautbarungsjournalismus“ zu betreiben.328 Autonomie bedeutet nicht Autarkie329 und „offene Systeme“ sind zugleich „grenz-stabilisierend (identitätswahrend) und grenzüberschreitend“ (Kunczik).330 Autonome Medien erfüllen zwar eine wichtige Funktion für die Gesellschaft, doch es kann dabei zu einer Ungleichgewichtigkeit von Austauschbeziehungen kommen, woraus in der Regel ein die Autonomie der Medien herausfordernder korrektiver und erhöhter Umweltdruck resultiert. Das Ziel des Mediensystems im Verhältnis zu seinen Umwelten muß es sein, ein umweltangepaßtes Gleichgewicht zu erreichen, das ihm das Überleben ermöglicht, wobei Abweichungen von der Umweltanpassung negativ sanktioniert wer324 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 194. 325 Kunczik, Kommunikation und Gesellschaft, S. 144 f. 326 Marcinkowski, Publizistik, S. 70, 98-110. 327 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 341. 328 Ulrich Paetzold, Hofberichterstattung oder Recherchenjournalismus. Zur Philosophie journalistischer Arbeit, in: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.), Journalismus und Journalismus. Plädoyers für Recherche und Zivilcourage, München 1980, S. 21-33; Petra E. Dorsch, Verlautbarungsjournalismus – eine notwendige Medienfunktion, in: Publizistik 27 (1982) 4, S. 530-540. 329 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 339 f. 330 Kunczik, Kommunikation und Gesellschaft, S. 149. 129 den und zum Entzug von Ressourcen (z.B. nachlassendem Kaufinteresse) führen können.331 In letzter Instanz bedeutet dies, daß die Medieninhalte von Umweltfaktoren stark mitgeprägt werden: Umwelterwartungen und Systemoutput müssen eine „gewisse Korrespondenz“ (Kunczik)332 aufweisen. Das Mediensystem wird im Verhältnis zu seinen Umwelten in der Regel präadaptiert und angepaßt sein und kann daher seine Aufgaben der Informationsvermittlung, öffentlichen Themenstrukturierung, Kritik und Unterhaltung selbstgesteuert ausführen. Unter Umständen jedoch verliert das Mediensystem die Fähigkeit zur Selbststrukturierung an die Umweltfaktoren, die es zur Anpassungskorrektur bewegen, wobei die autopoietische Variante der Systemtheorie, wie angesprochen, auch in diesem Fall dem Selbststeuerungsprimat des Mediensystems betont. Das Gleichgewicht der Medien ist ein „Fließgleichgewicht“ (Kunczik),333 das sich nicht allein in einer festen Redaktionspolitik ausdrücken muß, sondern Oszillationen der Redaktionspolitik ermöglicht und sogar erforderlich macht. Gleichgewicht und Überleben des Mediensystems sind wichtiger als dessen Identität. Für das gesellschaftliche Gesamtsystem bedeutet dies: je größer der Druck der Umweltfaktoren ist, um so bedeutsamer ist eine Anpassungsreaktion des Mediensystems und um so stärker ist rückwirkend der Anteil der Medien an der Stabilisierung des Gesamtsystems. Anders ausgedrückt stützt ein Autonomieverlust der Medien die „Legitimität bestehender Herrschaftsverhältnisse“ in den Nachrichten.334 „Fließgleichgewicht“ bedeutet auf der anderen Seite, daß der Druck der Umweltfaktoren bestimmte Toleranzspannen nicht überschreiten darf, da sonst Autonomie, Identität und Glaubwürdigkeit des Mediensystems gefährdet sind.335 Darstellungsprozesse in Massenmedien können nach den Lehren des Fließgleichgewichts also bestimmte Oszillationen zwischen den Anforderungen der Systemidentität und den Anforderungen der externen Umwelt vollziehen. 3.2.4.2.2 Auslandsberichterstattung und nationale Systembeziehungen Was den Bereich der Auslandsberichterstattung betrifft, so sind grundsätzlich zwei gesellschaftlich-politische Systemgrößen zu unterscheiden: • das nationale System • das inter- bzw. transnationale System. In der bisherigen theoretischen Forschung sind nahezu ausschließlich Wechselwirkungen zwischen den Medien und dem nationalen außenpolitischen System untersucht worden. Eine Verortung der Auslandsberichterstattung in inter- und transnationalen Systembeziehungen des primär für den nationalen Raum konzipierten Aus331 332 333 334 335 130 Ebenda, S. 211. Ebenda, S. 214. Ebenda, S. 205 ff., 212 ff. Ebenda, S. 223. Ebenda, S. 205, 227. landsjournalismus ist bisher nicht erfolgt. Zwar beschränkt sich die vorliegende Theoriematrix auf Auslandsberichterstattung im Sinne eines Rücktransfers von Nachrichten von außerhalb eines Staatsgebildes in sein Inneres (vgl. die Einleitung zu Kapitel 3), läßt also transnationale Programmangebote wie die deutschfranzösische Koproduktion ARTE außer acht. Aber auch die nationale Auslandsberichterstattung muß den Einfluß durch und die Wirkung auf externe Systemumwelten und Umweltsysteme (z.B. auswärtige Regierungen) in Betracht ziehen. Nationale Systembeziehungen sind von verschiedenen Theorien erklärt worden. Patrick O’Heffernans „Insider-Modell“ versteht sich als eine Ergänzung der realistischen Schule außenpolitischer Forschung (z.B. Hans Morgenthau), die den Staat als einen unitären Block darstellte oder die innere Dynamik der Entscheidungsfindung politischer Eliten mit Hilfe organisations- oder bürokratietheoretischer Ansätze336 zu erklären suchte.337 Während politische Entscheidungen in letzteren Modellen als Resultat von Verhandlungen verschiedener Akteure in den politischen Institutionen betrachtet wurden, galten die Massenmedien als sekundäre Spieler mit diffusem, nicht theoretisch konzeptionalisierbarem Input durch unterschiedliche Meinungsführereliten. O’Heffernans Modell der Beziehungen zwischen Medien und Außenpolitik basiert hingegen auf Umfragen mit politischen Akteuren (sogenannten Insidern), in denen erkennbar wurde, daß Konzepte, die den Medien in der Außenpolitik – im Unterschied zur Innenpolitik – eine passive Rolle beschränkt auf die Übermittlung von externen Thematisierungen zuschreiben, die tatsächliche Funktion der Medien sowohl als autonome Akteure als auch als Kommunikationsinstrumente politischer Akteure nicht erfassen. Die Medien werden bei O’Heffernan als politische Akteure mit dualem Charakter betrachtet, die teilweise selbst Insider sind und die politischen Abläufe aktiv beeinflussen, wie auch selbst von politischen Akteuren beeinflußt werden, und die andernteils Outsider sind und von außerhalb des politischen Systems versuchen, Einfluß auf die Politik auszuüben oder aber von anderen Akteuren außerhalb der Medien oder des politischen Systems – etwa von ausländischen Regierungen – beeinflußt werden.338 Die Unterscheidung zwischen Insidern und Outsidern ist weitgehend identisch mit der Unterscheidung zwischen den Medien als „innerer“ oder „äußerer Umwelt“ der Außenpolitik, obwohl die Definitionen vage bleiben.339 Die Nichtverwendung des Systembegriffs blendet vor allem theoretische Überlegungen über Autonomie, Umweltanpassung und System-Umwelt-Gleichgewicht aus. 336 337 338 339 Vgl. a. Graham T. Allison, Essence of Decision: Explaining the Cuban Misslie Crisis, Boston 1971. O’Heffernan, Mass Media, S. 96. Ebenda, S. 97. Die Outsider-Funktion der Medien wird definiert als „von der Politik getrennt“ und „entstehend aus Natur und Motivationen der verschiedenen Medienschaffenden“, während die Insider-Funktion auf der Annahme basiert, daß Medien zugleich „Positionen in allen inneren Zirkeln des politischen Prozesses besetzen“ und sich Politik und Medien gegenseitig „Vorteile erhandeln“ (Ebenda, S. 97, 109). Als Insider gelten offensichtlich jene Journalisten, die dem in der amerikanischen Medienwissenschaft vieldiskutierten „Reviersystem“ (beat system) zugerechnet werden, einer zielgerichteten, privilegierten und routinemäßigen Zurverfügungstellung von Informationen seitens politischer Akteure und Institutionen für bestimmte Medien und Journalisten. Zu Reviersystemen vgl. Gans, Deciding What’s News, S. 131 ff. 131 Die potentiellen Interaktionen zwischen Medien und Politik, oder genauer: zwischen Auslandsberichterstattung und Außenpolitik, werden statt dessen lediglich aufgelistet: • potentielle Insider-Medienwirkungen auf die Außenpolitik:340 - Medien informieren über den politischen Prozeß; definieren Akzeptanzmaßstäbe politischen Verhaltens; lenken die Aufmerksamkeit von Politikern auf bestimmte politische Ziele; schränken die Realisierungsmöglichkeit anderer Optionen ein; beeinflussen das Tempo des politischen Entscheidungsprozesses. • potentielle Insider-Wirkungen der Außenpolitik auf die Medien (Auswahl):341 - Regierungen übermitteln durch Medien politische Botschaften in andere Länder; politische Akteure – Individuen, Gruppen oder Institutionen – nutzen die Medien zur internen Aushandlung politischer Optionen; Regierungen nutzen die Medien, um die „Tagesordnung“ (Themenagenda/ Themenstruktur) festzulegen; Regierungen nutzen die Medien zur innenpolitischen Mobilisierung für außenpolitische Zwecke. • potentielle Outsider-Medienwirkungen auf die Außenpolitik:342 - Medien beeinflussen die außenpolitische Tagesordnung (agenda-setting); ausländische Regierungen beeinflussen durch die Medien die nationale Öffentlichkeit und/oder Außenpolitik; andere ausländische (oder transnationale/K.H.) Organisationen beeinflussen durch die Medien die nationale Außenpolitik. Wie O’Heffernan geht auch Gadi Wolfsfeld von einer Austauschbeziehung zwischen Medien und Außenpolitik aus. Die Beziehung beschreibt er als „kompetitive Symbiose“,343 die nicht statisch ist, sondern von einer Reihe sich permanent verändernder Faktoren abhängt. Sowohl die Regierung als auch andere politische Eliten weisen in Wolfsfelds Modell unterschiedliche sogenannte Werteigenschaften (value factors) auf, die es ihnen erlauben, die Darstellung ihrer Themen oder Frames in der Auslandsberichterstattung zu fördern, wobei der Erfolg als eine relative Größe zu verstehen ist, die zum einen im Konkurrenzkampf mit den Werteigenschaften des politischen Gegners und zum anderen durch die Abhängigkeit (dependency) von den Medien ermittelt wird. Wert- und Abhängigkeitsfaktoren bestimmen die Beziehung zwischen Politik und Medien; je größer die Wertfaktoren sind, die für einen politischen Protagonisten sprechen, und je geringer seine Abhängigkeit von den Medien, 340 341 342 343 132 O’Heffernan, Mass Media, S. 97-101. Ebenda, S. 101-109. Ebenda, S. 109-113. Wolfsfeld, Media and Political Conflict, S. 13. um so größer ist auch die Chance der erfolgreichen Beeinflussung der Auslandsberichterstattung:344 • politischer und sozialer Status: Hochrangige Politiker, vor allem wenn ausgestattet mit politischer Macht (z.B. Regierung), verfügen in der Regel über einen höheren politischen Status als andere Politiker, was den Medienzugang erleichtert. Statusreichtum und Statusarmut existieren gemäß Wolfsfeld bei allen politischen Eliten, politische Macht jedoch verschafft einen relativen medialen Statusvorteil gegenüber denjenigen, die nicht über sie verfügen.345 • Organisationskapazitäten und Ressourcenbesitz: Organisation und Ressourcen sind entscheidende Voraussetzungen dafür, daß Ereignisse gesteuert, Massen mobilisiert und das politische Umfeld kontrolliert werden können.346 • außergewöhnliches Verhalten: Gerade diejenigen Kräfte, die weder über ausreichenden sozialen oder politischen Status noch über organisatorische oder finanzielle Ressourcen verfügen, müssen durch die Inszenierung ungewöhnlicher Ereignisse Nachrichten zu produzieren versuchen, beispielsweise durch Terrorismus.347 • Kontrolle des politischen Umfeldes: Einer der wesentlichen Faktoren für den Einfluß auf die Auslandsberichterstattung ist die Kontrolle des politischen Umfeldes durch a) die Kontrolle der Ereignisse, b) eine Regulierung von Informationsströmen und c) die Mobilisierung der Bevölkerung.348 In allen drei Bereichen sind die Inhaber politischer Macht begünstigt, denn sie sind in vielen Fällen die ereignisschaffenden Hauptakteure politischer Vorgänge, sie verfügen über legale Mittel der Kommunikationskontrolle (Zensur, geographische Absperrung, staatliche Medien usw.), über wirksame Mittel der strategischen Kommunikation (nationale Presseagenturen und nationale Öffentlichkeitsarbeit) und organisierte Methoden der Massenmobilisierung. Der Grad der Abhängigkeit der gesellschaftlichen Kräfte von den Medien wird in hohem Maß von der Möglichkeit der alternativen öffentlichen Thematisierung bestimmt.349 Gegenüber der politischen Macht, also insbesondere der Regierung, befinden sich gemäß Wolfsfeld alle anderen gesellschaftlichen Akteure in einem strukturellen Nachteil, denn sie können zwar möglicherweise das Regierungsmonopol des Medienzugangs brechen, jedoch selbst in keinem Fall ein Monopol errichten, während die Regierung unter für sie günstigen Bedingungen – etwa während des zweiten Golfkriegs von 1991 – das politische Umfeld nahezu völlig kontrollieren kann.350 344 Wolfsfeld: „(T)he higher the value and the lower the need the greater the likelihood of an antagonist having influence on the press. This influence will be manifested in terms of more access and an increased ability to have one’s preferred frames adopted by the news media.“ Ebenda, S. 16. 345 Ebenda, S. 16-19. 346 Ebenda, S. 19 f. 347 Ebenda, S. 20-22. 348 Ebenda, S. 24-29. 349 Ebenda, S. 22-24. 350 Ebenda, S. 29. 133 Der bevorteilte Zugang politischer Macht zur Auslandsberichterstattung entsteht durch „kumulative Ungleichheit“ bei den Wertfaktoren sowie durch geringere Dependenz infolge größerer Flexibilität bei der alternativen Mediennutzung. Wolfsfeld erkennt trotz des strukturell stärkeren Einflusses politischer Machtinhaber auf die Auslandsberichterstattung eine Wechselbeziehung zwischen Medien und Politik, die abhängig ist von der Fähigkeit der Medien, dem Einfluß der Wertfaktoren zu entgehen.351 Systemtheoretisch ließe sich Wolfsfelds Modell dahingehend erweitern, daß die Auslandsberichterstattung Autonomie durch das gegenseitige „Ausspielen“ von konkurrierenden Wertfaktoren der politischen Gegner oder aber durch situative Diskurskoalitionen mit Eliten und organisierten Teilen der Öffentlichkeit (vgl. Kap. 3.2.4.1.2) den Anpassungsdruck autonomiegefährdender Umweltsysteme/Systemumwelten reduzieren kann. 3.2.4.2.3 Auslandsberichterstattung und internationale Systembeziehungen Das Systemverhalten der Auslandsberichterstattung ist nicht allein auf den nationalen bzw. staatlichen Kontext beschränkt, sondern unterliegt potentiell auch inter- und transnationalen Einflüssen. Rühls Typologie der Umwelten des Mediensystems (Journalisten, Publikum und politisch-wirtschaftlicher Komplex) muß für die Auslandsberichterstattung insofern differenziert werden, als hierbei eine Verschränkung nationaler und inter-/transnationaler Systemeinflüsse stattfindet. Nachdem O’Heffernan und Wolfsfeld die nationalen Einflußgrößen beschrieben haben, kann die inter-/transnationale Umwelt der Medien wie folgt charakterisiert werden: • Personen des Journalismus: Der Auslandsberichterstatter ist in bezug auf seine inter-/transnationale Umwelt als in der Regel zumindest partiell „systemfremd“ einzustufen. Nur in Ausnahmefällen ist der Journalist in dem Gesellschaftssystem, über das er berichtet, sozialisiert worden; der deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk betrachtet, wie gesehen, eine zu enge Bindung des Auslandskorrespondenten an sein Berichterstattungsland sogar als Fraternisierung, die lediglich bei stringern geduldet wird (vgl. Kap. 3.2.2.2). Das psychische System des Journalisten, d.h. das Auslandsbild, das er im Laufe der individuell-politischen und der beruflichen Sozialisation entwickelt, entsteht primär im nationalen Systemkontext oder genauer: im Kontext des Zielsystems der Auslandsberichterstattung. • Publikum: Wie oben gezeigt, ist ein Merkmal der internationalen Berichterstattung die relative Schwäche der organisierten öffentlichen Meinung im nationalen Rahmen, sieht man von sporadischen Interventionen der großen gesellschaftlichen Organisationen (wie Parteien, Gewerkschaften) und situativen Allianzen verschiedener Öffentlichkeitssegmente ab, die kurzfristig einen gesellschaftlichen Meinungsstreit erzeugen können (vgl. Kap. 3.2.4.1.2). Zu fragen ist auch, wie Publikums- und Öffentlichkeitsstrukturen inter-/transnational beschaffen sind. Existiert eine signifikante außernationale Öffentlichkeit mit Interventionsmög351 Ebenda, S. 56-73, 217. 134 lichkeiten in bezug auf die nationale Auslandsberichterstattung? Grundsätzlich ist Auslandsberichterstattung sowohl in Presse als auch in Rundfunk außerhalb der Grenzen des Heimatstaates rezipierbar, wobei technische Entwicklungen wie Satellitenrundfunk oder die Umwandlung von Presseerzeugnissen in „elektronische Zeitungen“ des Internet diese Tendenz fördern. Internationale Publika, im Sinne von Öffentlichkeitseinflüssen aus einem Land auf die Auslandsberichterstattung eines Landes oder gar der „Weltöffentlichkeit“, stellen jedoch in der Regel eine sekundäre Einflußgröße dar, da sie nicht das primäre Zielpublikum (Medienmarkt) der Auslandsberichterstattung darstellen und daher auch nicht über ein mit nationalen Publika vergleichbares Interventionspotential (z.B. steigendes oder nachlassendes Kaufinteresse) verfügen. Solche Publika können zum Nachrichtengegenstand werden, sie üben jedoch keinen Anpassungsdruck auf das Mediensystem aus. Allerdings existieren Ansätze einer transnationalen organisierten Öffentlichkeit, etwa einflußreiche Organisationen wie amnesty international oder Greenpeace, die vor allem mit Hilfe ihrer professionellen Öffentlichkeitsarbeit und ihres Zugangs zu den Nachrichtenagenturen Thematisierungsimpulse aussenden. • politisch-wirtschaftlicher Komplex: Ein transnationales politisches System gibt es bisher erst in Ansätzen.352 Die UNESCO-Debatte über die Neue Weltinformationsordnung (vgl. Kap. 3.2.1.1) kann als der bisher größte Versuch eines nuklearen transnationalen Systems bezeichnet werden, in die nationale Auslandsberichterstattung strukturell zu intervenieren: ein Versuch, der von den nationalen politischen wie von den Mediensystemen vor allem in westlichen Industrieländern abgewehrt worden ist. Vom transnationalen System zu unterscheiden sind internationale Interventionspotentiale durch nationalstaatliche Regierungen. Sie nutzen die oben beschriebene Transparenz des Systems des medialen Nachrichtenflusses etwa über die Nachrichtenagenturen (vgl. Kap. 3.2.3.2). Ihr Einfluß auf die Auslandsberichterstattung ist aber in den wenigsten Fällen mit dem der nationalen Politik vergleichbar, da die Wertfaktoren (nach Wolfsfeld) das nationale politische System höher einstufen als andere Systeme, etwa in bezug auf die journalistische Einschätzung der Authentizität von Quellen,353 und da durch die Nähe zwischen nationaler Auslandsberichterstattung und dem nationalen politischwirtschaftlichen Komplex „Reviersysteme“ (beat systems) der Nachrichtenübermittlung aufgebaut werden können. Auslandsberichterstattung nationaler Medien (im Unterschied zu multi- oder transnationalen Programmen wie ARTE) muß insgesamt in bezug auf ihre SystemUmweltkonfigurationen primär im Rahmen nationaler bzw. staatlicher Systemgrößenordnungen untersucht werden. Die Medien verfügen zwar über ausgeprägte 352 Morton A. Kaplan hat das internationale politische System in den fünfziger Jahren noch als „null political system“ bezeichnet. Morton A. Kaplan, System and Process in International Politics, New York/London 1957, S. 14. 353 Vgl. die entsprechenden Hinweise des Leiters des deutschen Dienstes von Associated Press in Kap. 3.2.3.2. 135 Netzwerkstrukturen (z.B. Nachrichtenagenturen und Auslandskorrespondenten), interdependente Systembeziehungen bestehen jedoch nahezu ausschließlich zu den nationalen Systemumwelten und Umweltsystemen. Manfred Rühl: „Gegenwärtig besteht die Weltkommunikationsordnung in hohem Maße aus national und regional orientierten öffentlich-kommunikativen Teilsystemen (...).“354 Diese Erkenntnis steht im Einklang mit der domestizierungstheoretischen Strömung der Globalisierungstheorie (vgl. Einleitung zu Kapitel 3). Bisher ist es nur in sehr begrenztem Maß gelungen, die Charakteristika des internationalen Massenkommunikationsprozesses systemtheoretisch zu erfassen.355 Am häufigsten zur Erklärung der System-Umwelt-Prozesse herangezogen wird noch immer das „Kaskadenmodell“ von Karl W. Deutsch. Es beschreibt den Kommunikationsfluß zwischen sozio-ökonomischen Eliten, Regierung und politischem System, Massenmedien, Leitpersonen (öffentlichen Persönlichkeiten) und der Bevölkerung, wobei jede Stufe über ein bestimmtes Meinungsreservoir verfügt, das an andere Stufen abgegeben wird.356 Grundsätzlich herrscht im Kaskadenmodell eine Wechselwirkung zwischen Massenmedien und Umwelt; eine monokausale Form des Austauschs läßt sich bei hochkomplexen Kommunikationsvorgängen nicht attestieren. Jede Stufe der Kaskade bezeichnet Deutsch als „teils autonom, teils aber auch abhängig“.357 Ungeachtet der wichtigen Konzeptionalisierung der Massenmedien im Kontext ihrer nationalen Systembeziehungen ist es Deutsch nicht gelungen, die einzelnen Systembeziehungen zu gewichten oder aber Systembeziehungen in der Überlagerung nationaler und inter-/ transnationaler Systeme zu erfassen. Weiterführender als das Kaskadenmodell ist in diesem Zusammenhang eine theoretische Anwendung des Interdependenzansatzes von Robert O. Keohane und Joseph S. Nye auf die Auslandsberichterstattung. Keohane und Nye haben hervorgehoben, daß „Vernetzung nicht dasselbe ist wie Interdependenz.“358 „Vernetzung“ (interconnectedness) wird dabei definiert als „Austausch von Geld, Gütern, Menschen und Nachrichten über nationale Grenzen“.359 „Interdependenz“ als Gewinn-, Verlustoder Nullsummenspiel zwischen voneinander abhängigen Partnern verstanden.360 Auslandsberichterstattung muß als vernetzter Bestandteil des globalen Informationsund Nachrichtenflusses betrachtet werden, obwohl der Vernetzungsgrad in Abhän354 Manfred Rühl, Die Welt als neugeordnetes Kommunikationssystem? Thesen zur Realisierbarkeit eines kommunikationspolitischen Ordnungsprogramms, in: Publizistik 29 (1984) 3/4, S. 217. 355 Zur Systemtheorie in der internationalen Kommunikation vgl. Howard H. Frederick, Global Communication in International Relations, Belmont 1993, S. 202-204; Michael Kunczik, Internationale Kommunikationsströme und soziologische Analyse. Zur Diffusion internationaler Nachrichten unter besonderer Berücksichtigung der „Nord-Süd-Kommunikation“, in: Rundfunk und Fernsehen 30 (1982) 3, S. 294-311. 356 Karl W. Deutsch, Die Analyse internationaler Beziehungen. Konzeption und Probleme der Friedensforschung, Frankfurt 1968, S. 144-160. 357 Ebenda, S. 158. 358 Robert O. Keohane/Joseph S. Nye, Power and Interdependence. World Politics in Transition, Boston/Toronto 1977, S. 9. 359 Ebenda, S. 8 f. 360 Joseph S. Nye Jr., Understanding International Conflicts. An Introduction to Theory and History, New York 1993, S. 162. 136 gigkeit von den informationellen Rahmenbedingungen eines Mediums (Anzahl der Korrespondenten usw.; vgl. Kap. 3.2.3.1) unterschiedlich ausgeprägt ist. Die Auslandsberichterstattung von Medien, die in erster Linie für nationale Märkte produzieren, ist gleichwohl nur sehr bedingt ein interdependenter Bestandteil des internationalen Systems. Während internationale ökonomische Transaktionen die Interessen aller in verschiedenen Ländern ansässigen Partner berücksichtigen müssen, empfängt Auslandsberichterstattung, dies haben die oben aufgezählten Charakteristika der inter-/transnationalen Medienumwelten gezeigt, nur sehr wenig System-Feedback der auswärtigen Nachrichtenverursacher. Thematische Resonanz, die Niklas Luhmann als Merkmal eines kommunikativen Weltsystems bezeichnet,361 fehlt bei Systemen der medialen Auslandsberichterstattung in hohem Maße. Da sich insbesondere die nationale (Außen-)Politik stärker Geltung verschaffen kann als die ausländische, während die Medien in keinem Abhängigkeitsverhältnis zur außerstaatlichen Sphäre stehen, wie dies in bezug auf Anpassungserscheinungen an das nationale politische System oder an das nationale Publikum der Fall sein kann, entfaltet die extranationale Umwelt tendenziell geringere Einflüsse auf die Medien als die nationale. Ansätze, die von der pauschalen Existenz einer „kommunikativen Weltgesellschaft als systemtheoretische Einheit“ (Richter) ausgehen, unterscheiden bezeichnenderweise nicht zwischen Vernetzung und Interdependenz362 und lassen die Spezifika der Auslandsberichterstattung außer acht.363 Auslandsberichterstattung ist ein integrierter und interdependenter Bestandteil der nationalen Systemumwelten und Umweltsysteme; aus der Sicht der internationalen Interdependenz ist sie jedoch zumindest partiell desintegriert. 3.2.4.3 Innergesellschaftliche Anschlußkommunikationen der Auslandsberichterstattung: eine Synopse aus Mediennutzungs- und politikwissenschaftlicher Linkage-Forschung Ungeachtet der relativen Strukturschwäche international orientierter Publika sind bestimmte internationale Themen geeignet, Publikumssysteme und andere nationale Systemumwelten der Medien nachhaltig zu aktivieren, namentlich solche, die mit innen- und gesellschaftspolitischen Fragen verbunden sind. Die Untersuchung außenpolitischer Einstellungen hat gezeigt, daß insbesondere außenpolitische Belange des das Mediensystem umgebenden Staates zumindest kurzfristig große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erzeugen können, da Außenpolitik unmittelbare Auswirkungen auf die Innenpolitik haben kann und insofern die Grenzen zwischen Inund Auslandsgeschehen nur schwer zu definieren sind. Interne Anschlußdiskurse der 361 Luhmann, Soziologische Aufklärung 2, S. 54. 362 Emanuel Richter, Der Zerfall der Welteinheit. Vernunft und Globalisierung in der Moderne, Frankfurt/New York 1992, S. 163 ff., insbesondere S. 165. 363 Alex Inkeles hat darauf hingewiesen, daß auch andere Sektoren der globalen Kommunikation wie der Bildungsaustausch oder der Tourismus – anders als weite Teile des Handels – nicht als interdependente Systeme betrachtet werden können. Alex Inkeles, The Emerging Social Structure of the World, in: World Politics 27 (1974/75) Oktober-Juli, S. 483 f. 137 Auslandsberichterstattung gehen gleichwohl weit über den Bereich der Außenpolitik hinaus. Der Nachrichtenwertforschung sind erste Hinweise darauf zu verdanken, daß Auslandsberichterstattung im Fall inländischer Beteiligung auch Elemente der Inlandsberichterstattung aufweisen kann. Ein Beispiel hierfür ist Jürgen Wilkes Untersuchung der historischen Entwicklung von Nachrichtenwerten in der deutschen Presse. Er weist darauf hin, daß Auslandsberichterstattung auch „deutsches Geschehen“ sein kann, und zwar in dem Fall, daß deutsche Personen oder Institutionen beteiligt sind. Er definiert als außerdeutsches Geschehen in der Auslandsberichterstattung alles, was sich ohne entsprechende deutsche Beteiligung ereignet. Wilke unterscheidet folgende Ereigniskategorien: • „Ereignis, Sachverhalt findet im Bereich des Deutschen Reiches (...) statt, ersichtlich sind nur Deutsche daran beteiligt, d.h. es handelt sich um rein ‘innerdeutsches’ Geschehen, Sachverhalt“; • „Ereignis, Sachverhalt findet im Bereich des Deutschen Reiches (...) statt, jedoch ersichtlich mit ausländischer Beteiligung“; • „Ereignis, Sachverhalt findet (überwiegend) außerhalb des Deutschen Reiches (...) statt, jedoch ersichtlich mit deutscher Beteiligung, d.h. dem Inhalt nach auch deutsches Geschehen“; • „Ereignis, Sachverhalt findet außerhalb des Deutschen Reiches statt, ohne deutsche Beteiligung bzw. deutsche Beteiligung zumindest nicht erkennbar, d.h. dem Inhalt nach rein außerdeutsches Geschehen“.364 Diese Form der Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Geschehen stellt zwar eine Differenzierung der üblicherweise verwandten geographischen Ursprungsdefinition dar, wonach Auslandsberichterstattung alles ist, was von außerhalb des eigenen Staates/der Nation berichtet wird. Sie ist jedoch nicht hinreichend, da die Nachrichtenwertforschung in diesem Fall innenpolitische Bezüge der Auslandsberichterstattung nur dort erfaßt, wo personelle oder institutionelle Verbindungen sichtbar werden. Zwar kann ein inländischer Akteur dem Auslandsgeschehen tatsächlich einen besonderen Inlandsbezug verleihen, den es ohne ihn nicht hätte (z.B. Entführung eines deutschen Staatsbürgers im Ausland). Ein solcher Bezug kann jedoch auch ohne den Akteur bestehen. 365 364 Jürgen Wilke, Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin/New York 1984, S. 260. 365 Auch Annette Verhein wendet sich gegen eine rein geographische Betrachtungsweise der Auslandsberichterstattung (Berichterstattung von außerhalb der Nation/des Staates, s.o.): „Nicht jeder Bericht aus dem Ausland ist auch einer über das Ausland.“ Verhein nennt „Staatsbesuche“ (deutscher Politiker im Ausland) als Beispiele für Nachrichten aus dem Ausland mit inländischer Beteiligung. Wie Wilke zeigt sie damit die Bereitschaft zur Öffnung des Begriffs der Auslandsberichterstattung für innergesellschaftliche Bezüge, sie bleibt jedoch akteurzentriert. Annette Verhein, Das politische Ereignis als historische Geschichte. Aktuelle Auslandskorrespondentenberichte des Fernsehens in historiographischer Perspektive, Frankfurt u.a. 1990, S. 86. 138 Die Nachrichtenwertforschung hat weitere Hinweise darauf gegeben, daß die Interaktionen zwischen In- und Auslandsberichterstattung ein komplexes Phänomen darstellen. Der Nachrichtenfaktor „Ethnozentrismus“ beinhaltet in der Nachrichtenwertforschung von Winfried Schulz die personelle oder institutionelle Involvierung des angestammten Staats- und Gesellschaftssystems der jeweiligen auslandsberichterstattenden Medien. Die Nachrichtenfaktoren der Dimension „Nähe“ bezeichnen eine Prädisposition der Medien, auswärtige Vorgänge in Abhängigkeit von einer strukturellen georäumlichen, kulturellen oder politischen Ähnlichkeit oder Verwandtschaft mit dem angestammten System stärker oder weniger stark zu beachten (vgl. Kap. 3.2.1.2). Während im Fall des „Ethnozentrismus“ eindeutig der personelle/institutionelle Heimatbezug der Auslandsnachricht die Innen-Außen-Dichotomie von Inlands- und Auslandsberichterstattung relativiert, ist bei einem Teil der Nachrichten mit dem Faktor „Nähe“ ein thematischer Heimatbezug zu erkennen, und zwar dort, wo Vorgänge in einem politisch, ökonomisch oder kulturell als nahestehend betrachteten Land an Vorgänge im eigenen Land erinnern und externe Problemlösungen auch mit Blick auf interne Problembewältigungen beobachtet werden (etwa bei Vergleichen zwischen der ökonomischen Entwicklung in den USA und in Deutschland). Während der Idealtyp der Auslandsberichterstattung als Bericht über auswärtiges Geschehen, die sogenannten foreign news abroad, gemäß der „Foreign News“Studie von 1985 zwischen 50 und 85 Prozent der Auslandsberichterstattung ausmachen, sind in einer Reihe von Staaten – unter ihnen die Bundesrepublik Deutschland – mehr als 30 Prozent der Berichterstattung sogenannte home news abroad, d.h. Nachrichten, die zwar Ereignisse im Ausland betreffen, aber personelle, institutionelle oder thematische Rückbezüge zum Inland aufweisen (z.B. Auslandsbesuche nationaler Regierungsvertreter).366 Das Gegenstück hierzu sind die foreign news at home, beispielsweise Besuche ausländischer Staatsvertreter im eigenen Land.367 Die Attraktivität dieser Mischkategorien von Auslands-/Inlandsnachrichten für den Journalismus besteht darin, daß ein mögliches Fehlen bestimmter Nachrichtenfaktoren der Auslandsnachrichten (z.B. Ereignis findet in einem „kulturell fernen“ Land statt) durch höhere Intensität der anderen Faktoren, nämlich „Relevanz“ (Nachricht ist für größere Konsumentenkreise relevant) oder „Ethnozentrismus“ (Nachricht findet im eigenen Land statt), kompensiert wird, wobei „Ethnozentrismus“ im Fall der home news abroad als „Ereignis mit deutscher Beteiligung“ definiert werden muß. Die Etablierung der Mischkategorien in der internationalen Massenkommunikationsforschung war das Resultat der Erkenntnis, daß Inlands- und Auslandsberichterstattung oft miteinander gekoppelt sind. Allerdings besteht die Schwäche des bisherigen, auf die Zuordnung von Nachrichten in quantitativen Untersuchungen konzentrierten Zugangs zu der Materie darin, daß die inhaltliche Bestimmung dessen, was als home news abroad/foreign news at home bezeichnet werden kann, wenig entwickelt wor366 Insgesamt handelt es sich um folgende Staaten: USA, Algerien, Tunesien, Zaire, Ägypten, Iran, Indien, Thailand, Ungarn, Bundesrepublik Deutschland. Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 38. 367 Peter Golding/Philip Elliot, Making the News, London/New York 1979, S. 156. 139 den ist, so daß auch hier die personelle oder institutionelle, nicht jedoch die thematische Verquickung im Vordergrund steht. Thematische Verbindungen stellen eine Form der innergesellschaftlichen Anschlußkommunikationen der Auslandsberichterstattung dar, die dann wieder auf die Darstellung und Interpretation des Auslandsgeschehens in der Auslandsberichterstattung zurückwirken können. Solche Anschlußkommunikationen lassen sich formal als Teilbereich der Nachrichtenwertforschung betrachten. Die Untersuchung der diskursiven Interaktionen stellt dennoch methodisch und theoretisch ein eigenständiges Problem dar, da die Nachrichtenwertforschung Diskursbeziehungen zwar in den oben genannten Kategorien (z.B. Ethnozentrismus oder home news abroad) erfaßt, ihren Entstehungs- und Wirkungsprozeß gleichwohl nicht erklärt. Andere Forschungsansätze der Politik- und der Medienwissenschaft müssen ergänzend hinzugezogen werden, etwa hinsichtlich der Interaktionen zur Erforschung der Beziehungen zwischen Außen- und Innenpolitik und der interkulturellen Mediennutzung. „Verbindungen“ (linkages) zwischen Innen- und Außenpolitik sind etwa von James N. Rosenau erforscht worden, der neben institutionellen und personellen Beziehungen auch die Existenz grenzübergreifender politischer Diskursräume in der Politik theoretisch erklärt hat, wenngleich eine Adaptation für den Medienbereich bisher nicht erfolgt ist. Die kulturvergleichende Mediennutzungsforschung hat sich mit der Nutzung importierter Medienprodukte durch den Medienkonsumenten beschäftigt, sich dabei jedoch nahezu ausschließlich auf den fiktionalen Bereich konzentriert, während im Bereich von innergesellschaftlichen Anschlußdiskursen im Nachrichtenbereich andere theoretische Grundlagen zu schaffen sind. Erst durch die Weiterentwicklung und Synthese der genannten Ansätze können innergesellschaftliche Anschlußdiskurse der Auslandsberichterstattung sinnvoll theoretisch erklärt werden. 3.2.4.3.1 Übergreifende Themenfelder des Inlands- und Auslandsgeschehens Im Linkage-Ansatz von James N. Rosenau sind grenzübergreifende Diskursbeziehungen zwischen Innen- und Außenpolitik konzeptionalisiert worden, und seine Ergebnisse wirken bis in die jüngste Forschung.368 Rosenau orientiert sich grundlegend an der systemtheoretisch-funktionalistischen Annahme, wonach die Grundregeln für Handlungsabläufe eines politischen Systems keine normative oder anderweitig monokausal determinierte Größe darstellen, sondern das Resultat eines dynamisch veränderbaren Interaktionsprozesses bestimmter Grundeinheiten des Systems sind. Rosenau wählt als Grundeinheit issues (Themen/Probleme). Issues können sämtliche artikulierten „Werte“ und „Interessen“369 innerhalb einer Gesellschaft sein; 368 Vgl. Reimund Seidelmann, Außenpolitik, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Politikwissenschaft. Theorien – Methoden – Begriffe, München 1989 (4. Aufl.), S. 51; Rainer-Olaf Schultze, Linkage-Analyse, in: ebenda, S. 517 f. 369 James N. Rosenau, Foreign Policy as an Issue-Area, in: ders. (Hrsg.), Domestic Sources of Foreign Policy, New York/London 1967, S. 15, 16. Zu Rosenaus Ansatz vgl. a. ders., Pre-Theories and Theories of Foreign Policy, in: R. Barry Farrel (Hrsg.), Approaches to Comparative and International Politics, Evanston 1966, S. 27-92. 140 Fragen der politischen Legitimität ebenso wie die der kulturellen oder nationalen Identität, der Einrichtung von Kindertagesstätten im Inland ebenso wie der Folter im Ausland. Artikuliert durch bestimmte Akteure (Personen, Institutionen, Organisationen), ergeben sich Themenfelder, die als issue-areas (Problem-/Themenfelder) bezeichnet werden. Themenfelder lassen sich Sachkategorien wie Politik, Wirtschaft, Ökonomie oder Soziales oder aber den Sphären der Innen- und Außenpolitik zuordnen. Insofern behauptet Rosenau tatsächlich nicht, daß die Interaktion oder gar Interdependenz zwischen Innen- und Außenpolitik ein universelles Phänomen politischer Systeme darstellt. Rosenau erkennt jedoch zugleich, daß die Dichotomie von Innen-/Außenpolitik zu vereinfachend ist, da zwischen den Problemfeldern des Inneren und des Äußeren tatsächlich ein drittes Diskursfeld erkennbar ist: „(It) embraces issues which are a composite of the foreign and domestic policy processes.“370 Rosenau stellt die These auf, daß neben der Eigengesetzlichkeit der Diskurse intersystemische Interaktionssequenzen beobachtbar sind, die bei unterschiedlichen Problemen mehr oder weniger stark ausgeprägt sind und/oder Veränderungsprozessen unterliegen. Der Autor nennt als Beispiel, daß Rassenunruhen in Johannesburg die öffentliche Meinung in den USA wenig berühren, während ähnliche Vorkommnisse in den eigenen Südstaaten sie beschäftigen können,371 daß es andererseits aber auch möglich ist, daß Rassenunruhen in Johannesburg – in Form eines Demonstrationseffekts – Auswirkungen auf Vorgänge in den USA haben.372 Im ersten Fall wäre es möglich, von einer Trennung von Inlands- und Auslandsgeschehen zu sprechen, während im zweiten Fall ein interagierendes Diskursfeld erkennbar wird, in dem nationale und außernationale Akteure zu „Werte-“ und „Interessenbeziehungen“ (Definition „Probleme“ s.o.) verbunden sind. Rosenaus Ansatz mündet in folgender Gesamthypothese: „The more an issue encompasses a society’s ressources and relationships, the more will it be drawn into the society’s domestic political system and the less will it be processed through the society’s foreign political system.“373 Gemäß Rosenau lassen sich verschiedene Formen der Interaktion zwischen Innen- und Außenpolitik unterscheiden:374 • penetrativer Prozeß (penetrative process): Er entsteht durch Eingriffe auswärtiger Akteure in innergesellschaftliche Handlungsabläufe und die externe Inanspruchnahme von politischer Macht, etwa im Rahmen einer militärischen Beset370 371 372 373 Rosenau, Foreign Policy, S. 24. Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 49. Da Rosenau neben Diskursinteraktion auch die anderen Bereiche der handlungsund akteurrelevanten Rückkopplungen in sein linkage-System einbezieht, nennt er als ein anderes Feld der Interaktion zwischen Innen- und Außenpolitik Etatdebatten und -verhandlungen, bei denen eine klassische Domäne der (exekutiven) Außenpolitik, die militärische Verteidigung, in das unmittelbare Einzugsgebiet der Innenpolitik gelangt. 374 James N. Rosenau, Toward the Study of National-International Linkages, in: ders. (Hrsg.), Linkage Politics. Essays on the Convergence of National and International Systems, New York/London 1969, S. 46. 141 zung, aber auch in der transnationalen Politik, etwa im Rahmen von Hilfseinsätzen der Vereinten Nationen. • reaktiver Prozeß (reactive process): Er betrifft den Regelfall der Außenpolitik, wobei Akteure nationaler Systeme auf die Handlungen der Akteure anderer Systeme reagieren und Handlungsrückkopplungen entstehen. • Nachahmungsprozeß (emulative process): Die genannten Demonstrations- und Nachahmungseffekte gehören zu derselben Kategorie der Diskursinteraktion, wobei als klassische historische Beispiele etwa das Revolutionszeitalter des 18. und 19. Jahrhunderts gelten, in dem etwa die französische und amerikanische Revolution und das Revolutionsgeschehen in den deutschen Ländern oder Polen in der Presse und Öffentlichkeit anderer Länder jeweils breite Resonanz erfuhren und so eine inter-revolutionäre Dynamik befördert wurde. Allerdings ist diese Einteilung zu vereinfachend, zumal die Figur des Nachahmungsbzw. Demonstrationseffekts externe Input- und interne Outputgrößen gleichsetzt und somit die relative Eigenständigkeit der gesellschaftlichen Anschlußdiskurse, die zwar extern stimuliert werden können, ohne dabei dem auswärtigen Modell folgen zu müssen, außer acht läßt. Eine exemplarische Auswahl der Unterschiede stellen folgende Formvarianten der Anschlußkommunikation dar, die in der Realität zwar häufig in kombinierter Form erscheinen, dennoch aus analytischen Gründen unterschieden werden müssen: • synchron/diachron: Gegenwartsgeschehen kann aktuelle (synchrone), aber auch historische (diachrone) Anschlußdiskurse aktivieren (z.B. die Arbeitslosigkeit in den USA kann Erinnerungen an die Arbeitslosigkeit der deutschen Vorkriegszeit wecken). • konform/konträr: Im Verlauf interner Diskurse kann sowohl die Modellhaftigkeit auswärtigen Geschehens hervorgehoben werden, oder aber es können Gegenoder Alternativmodelle entwickelt werden (z.B. kann die staatliche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den USA in Deutschland einen innenpolitischen Diskurs stimulieren, in dessen Verlauf diese Maßnahmen als auf deutsche Verhältnisse nicht übertragbar gekennzeichnet werden). • linear/nicht-linear: Interne Anschlußkommunikation kann sich auf dieselbe Thematik wie die externe Ursprungskommunikation beziehen (linear), es kann jedoch ebenfalls eine Themenverlagerung (z.B. von den politischen Bedingungen in Entwicklungsländern zu Asyl- oder Immigrationsfragen in Deutschland) erfolgen. • pädagogisch/zweckfrei: Interne Anschlüsse werden mit der Absicht hergestellt, pädagogisch auf die Veränderung des Ist-Zustandes im eigenen Land hinzuwirken, oder aber sie erfolgen ohne Zweckbindung und entspringen einem intellektuellen Interesse. Rainer-Olaf Schultze hat als eine der Schwachstellen der Rosenau’schen linkageAnalyse erkannt, daß sie sich zu stark mit regierungspolitischem Handeln und zu 142 wenig mit nichtstaatlichen Aktionen beschäftigt.375 Die weitgehende NichtBeachtung der Medien bei Rosenau bedeutet, daß zwar die Dreiteilung in innenpolitische, außenpolitische und interaktive Diskursfelder (issue-areas) als Modellvorgabe erhalten bleiben kann, dieses Modell jedoch für den Medienbereich operationalisiert werden muß, um Interaktionen zwischen Auslands- und Inlandsberichterstattung theoretisch zu erfassen. In Anlehnung an Ekkehart Krippendorffs Frage „Ist Außenpolitik ‘Außen’politik?“376 muß untersucht werden: Ist Auslandsberichterstattung Auslandsberichterstattung? Wie zu zeigen sein wird, läßt sich Rosenaus Konzept der Problemfelder zwar auf die Mediensysteme übertragen, doch machen die Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen der Außenpolitik und Auslandsberichterstattung zugleich theoretische Modifikationen erforderlich: • Interaktionen zwischen Innenpolitik und Auslandsberichterstattung I – die Person des Journalisten: Ein erster Hinweis auf innergesellschaftliche Anschlußdiskurse der Auslandsberichterstattung sind bei Rosenau selbst zu finden, wenn er Massenmedien als intervenierende Institutionen bezeichnet, die Probleme der Innen- und der Außen- und internationalen Politik verbinden können.377 Rosenau bezeichnet die Herausgeber von Tageszeitungen – im Unterschied zu Herausgebern von Spezialzeitschriften (Fachpresse) – als Beispiele für die Ausübung einer „multithematischen Führung“ (multi-issue leadership).378 Rosenaus Andeutung läßt sich dahingehend interpretieren, daß die Massenmedien, insofern sie wie die überregionale Tages- und Wochenpresse über Vollredaktionen mit allen einschlägigen Ressorts verfügen, eine Themenstrukturierungsfunktion ausüben, die in ihrer Gesamtheit inner- wie außergesellschaftliche Fragen umfaßt. Dies bedeutet zur gleichen Zeit, daß die Trennung zwischen den Ressorts des Inneren und des Äußeren (analog der Trennung zwischen den Ministerialressorts) zwar eine notwendige Arbeitsteilung widerspiegelt, sich jedoch eine Gemeinsamkeit des Systeminteresses bzw. der Systemprogrammierung des jeweiligen Mediums ergibt. Diese Beobachtung ist beispielsweise insofern relevant, als Bernard C. Cohen darauf hingewiesen hat, daß der universelle Charakter des Journalistenberufs, in dem Ressortwechsel nicht die Ausnahme, sondern die Regel und Bestandteil nicht nur der Volontärsausbildung, sondern der Berufsausübung selbst sind, dazu beiträgt, daß die von Journalisten entwickelten Kriterien der Nachrichtenauswahl und -bearbeitung nicht deutlich zwischen innen- und außenpolitischen Werten und Interessen (im Sinne der issue-Definition Rosenaus) unterscheiden, sondern tendenziell übergreifend sind. Das heißt, die multithematische Orientierung der Massenmedien kann in der Berichterstattung zu einer innen- und außenpolitische Maßstäbe integrierenden Orientierung werden, da der einzelne Journalist The375 Er zielt dabei vor allem auf transnationale Konzerne und supranationale Organisationen, die aus seiner Sicht einbezogen werden müßten. Schultze, Linkage-Analyse, S. 517. 376 Ekkehart Krippendorff, Ist Außenpolitik „Außen“politik?, in: Politische Vierteljahresschrift 4 (1963) 3, S. 247. 377 Rosenau, Foreign Policy, S. 5. 378 Ebenda, S. 40. 143 men, Frames und ganze Diskurse aus dem einen in ein anderes Ressort transferieren und sie dort neu anordnen kann.379 Für die kommunikative Verknüpfung von inner- und außergesellschaftlicher Themen in der medialen Auslandsberichterstattung bieten berufliche Organisation und Sozialisation des Journalisten (zumindest in allgemeinorientierten Medien) ein günstiges Milieu. • Interaktionen zwischen Innenpolitik und Auslandsberichterstattung II – die Kompatibilität von Diskursen: Eine notwendige Voraussetzung für die Existenz interner Anschlußdiskurse ist, daß die Art der Themen und Diskurse die Zusammenführung in einem gemeinsamen Themenfeld (issue area) überhaupt zuläßt. Cohen weist darauf hin, daß Inlands- und Auslandsberichterstattung trotz ihres unterschiedlichen (geographischen) Ursprungs als einheitliche Ware (commodity) zu betrachten sind und daher auch denselben Selektions- und Darstellungskriterien (standards of news) entsprechen, was dazu führen kann, daß eine inhaltliche Vermischung der Berichterstattung stattfindet: „(A) mixing of foreign affairs news with domestic, an assimilation of both to a common standard of news and thus to a common functioning of the media.“380 Unter Bezugnahme auf Rosenaus Theorie der Themen-/Diskursfelder läßt sich verdeutlichen, daß die diskursive Verbindung von inner- und außerstaatlichem Geschehen eine „Kann“-, nicht jedoch eine „Muß“-Bedingung darstellt. Berichtetes ausländisches Geschehen kann Teil eines rein außenpolitischen Diskursfeldes sein, sofern sich die Berichterstattung mit Fragen beschäftigt, die keinen diskursiven Zusammenhang zu innergesellschaftlichen Vorgängen aufweisen. Die Auslandsberichterstattung läßt sich hingegen in ein zwischen inner- und außerstaatlichem Geschehen interagierendes Diskursfeld einfügen, wenn ein solcher Thementransfer zu leisten ist. Abbildung 3.11 veranschaulicht dieses Modell. Kompatibilität von Diskursen ist dort vorhanden, wo etwa einer der oben genannten Interaktionstypen (linear/nicht-linear, synchron/diachron, konform/konträr, pädagogisch/ zweckfrei) gegeben ist, also etwa die Wirtschaftsentwicklung in den USA zu pädagogischen Zwecken als Modell für die deutsche Wirtschaft herangezogen wird. Nicht-kompatibel sind hingegen häufig Fragen der auswärtigen Politik, wo zwar die Außenpolitik des Heimatstaates eines Mediums personell involviert ist, aber keine synchronen, diachronen oder sonstigen internen Anschlußdiskurse hergestellt werden können. Das gängige Ordnungssystem der Nachrichten in foreign news abroad und home news abroad wird hier insofern erweitert, als das Beispiel der Außenpolitik zeigt, daß es home news abroad ohne interne Diskurse gibt, während auf der anderen Seite das Beispiel der USWirtschaft zeigt, daß foreign news abroad solche internen Anschlußdiskurse hervorrufen können. Auch in den foreign news abroad kann also ein Element der home news enthalten sein; Auslandsberichterstattung kann auch ohne personelle und institutionelle Präsenz des Heimatlandes durch diskursive Anschlüsse zu379 Bernhard C. Cohen, Mass Communication and Foreign Policy, in: James N. Rosenau (Hrsg.), Domestic Sources of Foreign Policy, New York/London 1967, S. 197. 380 Ebenda, S. 198. 144 gleich Inlandsberichterstattung sein. Der für die Auslandsberichterstattung modifizierte linkage-Ansatz stellt insofern eine sinnvolle Erweiterung der Nachrichtenwertforschung dar, als er den Blick für die Zusammenhänge zwischen in- und ausländischem Geschehen in Bereichen verdeutlicht, die üblicherweise dem reinen Auslandsgeschehen zugeordnet werden. Gerade die Synchronität vieler Problemstellungen in verschiedenen Ländern im Zeitalter der Globalisierung stellt die Polarität von In- und Auslandsgeschehen zunehmend in Frage. 145 3.2.4.3.2 Inhaltliche Einflüsse interner Anschlußdiskurse auf die Auslandsberichterstattung Die Tatsache, daß Auslandsberichterstattung unter bestimmten Bedingungen innergesellschaftliche Anschlußdiskurse hervorbringen kann, ist noch keine hinreichende Antwort auf die Frage, ob Auslandsberichterstattung wirklich Auslandsberichterstattung ist. Anschlußdiskurse sind Ergänzungen, Bereicherungen und Erweiterungen, die eine Trennung von globalem und lokalem, von in- und ausländischem Geschehen erschweren und von Vertretern des Konversionsansatzes der Globalisierungstheorie (vgl. Einleitung zu Kapitel 3) als Zeichen für die grenzüberschreitende Konvertibilität von Diskursen gedeutet werden können. Als zusätzliches Problem erweist sich allerdings, daß es im Prozeß der Bildung interner Anschlüsse auch zu Deformationen (im Sinne des rekonstruktivistischen Ansatzes; Kap. 2) der Auslandsberichterstattung kommen kann, die nicht als thematische Nachahmung und Weiterentwicklung, sondern aus der Sicht der entsprechenden Strömung der Globalisierungstheorie als „Domestizierung“ von Auslandsinformationen zu deuten wären. In der Medienforschung hat sich insbesondere der Mediennutzungsansatz im Bereich der kulturvergleichenden (cross-cultural) Studien mit der Frage der kultur-, nationen- oder gruppenspezifischen Nutzung internationaler Medienprodukte beschäftigt und dabei auch das Problem der internen Anschlußdiskurse behandelt.381 Mediennutzung erfolgt gemäß Tamar Liebes und Elihu Katz auf der Basis politischer und sozialer Kulturen, in deren Rahmen eine Einbettung von Medieninformationen in lokale Referenz- und Bedeutungssysteme erfolgt. Diese Nutzungssysteme variieren demnach zwischen Individuen ebenso wie zwischen Kulturen.382 Gesellschaftliche „Wirkungen“ von Mediendarstellungen werden nicht allein als Vorgänge der linearen Input-Output-Manipulation betrachtet, sondern als Prozesse der „Verhandlung“ (negotiation) zwischen den „symbolischen Ressourcen der Zuschauer [oder Leser/K.H.] und den symbolischen Angeboten des Textes“.383 Die von dem Medienproduzenten intendierte Enkodierung des Medieninhaltes muß daher nicht zwangsläufig in derselben Weise dekodiert werden, sondern unterliegt einem Prozeß der Verhandlung über Symbolbedeutungen.384 Ungeachtet der vorhandenen textuellen Grenzbedingungen (Themen, Frames usw.) können die Mediennutzer anschließende und weiterführende Diskurse anstimmen, die in der Regel nicht dem auswärtigen Ursprungskontext des internationalen Medienprodukts entspringen, der auf Grund der globalen Distanzbedingungen dem Konsumenten nur schwer zugänglich ist, sondern die dem lokalen oder nationalen Umfeld entstammen. Bei einem internatio381 Tamar Liebes/Elihu Katz, The Export of Meaning. Cross-Cultural Readings of Dallas, New York/Oxford 1990; Daniel Miller, The Young and the Restless in Trinidad. A Case of the Local and the Global in Mass Consumption, in: Roger Silverstone/Eric Hirsch (Hrsg.), Consuming Technologies. Media and Information in Domestic Spaces, London/New York 1992, S. 163-182; Daniel Biltereyst, Resisting American Hegemony: A Comparative Analysis of the Reception of Domestic and US Fiction, in: European Journal of Communication 6 (1991) 4, S. 469-497. 382 Liebes/Katz, The Export, S. 13. 383 Ebenda, S. 6. 384 Ebenda, S. 4. 146 nalen Vergleich der Nutzung von „Seifenopern“ (soap-operas oder telenovelas) wie Dallas wurden unterschiedliche gesellschaftliche Anschlußdiskurse ermittelt. Liebes und Katz: „Concern over family, social issues, women’s status, etc., are activated in response to these programs (...) and there is good reason to believe that an agenda is set for discussion as the result of the negotiation between the culture of the viewers and the producers.“385 Als charakteristisch für die kulturvergleichende Mediennutzungsforschung erweist sich die Annahme einer Verhaftung der Referenzsysteme der Mediennutzer in jeweils in sich homogenen sozio-politischen Kulturen. Zuschauerbeobachtungen und -befragungen der Dallas-Nutzung in den Niederlanden, in der Bundesrepublik Deutschland und Algerien in den achtziger Jahren haben gezeigt, daß Anschlußdiskurse identischer Medienprodukte nicht-heimischen Ursprungs geradezu diametrale Inhalte aufweisen können. In den Niederlanden wurde Dallas als positiv bewerteter Gegenpol zum innergesellschaftlichen Verlust von Familien- und Gemeinschaftswerten betrachtet;386 in der Bundesrepublik Deutschland galt Dallas als Fortschreibung der noch immer sehr patriarchalischen deutschen Familienstrukturen;387 in Algerien hingegen galt die Serie als Bestätigung der patriarchalischen Großfamilie und als Warnung vor der sukzessiven Auflösung dieser Strukturen.388 Bei der Adaptation der kulturvergleichenden Mediennutzungsforschung für die Theorie der Auslandsberichterstattung sind eine Reihe von Einschränkungen und Modifikationen erforderlich: • Kulturbegriff: Da keine der vorstehend genannten Untersuchungen auf Grund der sehr begrenzten Zahl von Befragungen Repräsentativität beanspruchen kann, ist ungeachtet des bedeutsamen Hinweises auf unterschiedliche dezentrale Verwertungszusammenhänge für internationale Medienprodukte Vorsicht geboten gegenüber der Vorstellung homogener nationaler Rezeptionskulturen, da dies die grundsätzliche Definitionsproblematik des Kulturbegriffs berührt (vgl. Kap. 3.2.4.5.1). An dieser Stelle wird daher weiterhin von „internen“ oder „innergesellschaftlichen Diskursen“ gesprochen, die auf verschiedenen Ebenen – Individuum und gesellschaftliche und staatliche Klein- oder Großgruppen – angesiedelt sein können. • Fiktion/Auslandsberichterstattung: Die von Liebes und Katz ermittelten Strategien der innergesellschaftlichen Bedeutungsverhandlung der Mediennutzer sind vor allem für fiktionale Gattungen relevant und weisen mit Blick auf die Auslandsberichterstattung nicht über die im Kapitel über die Linkage-Theorie elaborierten Diskursstrategien hinaus. Liebes und Katz unterscheiden etwa „referentielle“ (Anschlußkommunikation zum Alltagsleben herstellende) von „kritischen/metalinguistischen“ (medienkritische Anschlußkommunikation) Programmnutzungen; innerhalb der referentiellen Nutzungen unterscheiden sie weiter zwischen „rea385 386 387 388 Ebenda, S. 154. Ien Ang, Watching Dallas, New York/London 1985. Herta Herzog-Massing, Decoding Dallas, in: Society 24 (1986) 1, S. 74-77. Joelle Stolz, Les Algériens regardent Dallas. Les Nouvelles Chaînes, Paris 1983. 147 len“ (Alltagsleben) und „ludischen“ (Alltagsphantasien) sowie zwischen „moralischen“ und „wertfreien“ Verschlüsselungen. Die Untersuchung von Diskursstrategien der internen Anschlußkommunikation im nicht-fiktionalen Bereich ist bisher wenig fortgeschritten, da kulturvergleichende Untersuchungen über die Nutzung der Auslandsberichterstattung, analog denen von Liebes und Katz über Dallas, bisher nicht existieren.389 • Import (von Fiktion)/Produktion (von Auslandsberichterstattung): Liebes und Katz haben den Medientext als statische und unveränderliche Größe ihrer auf Nutzungsprozesse gerichteten Untersuchung betrachtet. Dabei wurde berechtigterweise impliziert, daß nationale Nutzer und interne Anschlußdiskurse keine Rückwirkung auf die Gestaltung importierter Filmware haben können. Akiba A. Cohen und Itzhak Roeh haben jedoch darauf hingewiesen, daß importierte Fiktion und Auslandsberichterstattung sich insofern gravierend unterscheiden, als beim Import von ausländischer Fiktion allenfalls geringfügige innergesellschaftliche Sinninterventionen in die Produktion zurückwirken können, und zwar beispielsweise durch Synchronisierung, durch das Einfügen von Werbung oder durch Programmplanungen, während internationale Nachrichten im Prozeß der Produktion von Auslandsberichterstattung weitaus stärker modifiziert werden können.390 Im vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, daß interne Anschlußdiskurse und die unterschiedlichen Verhandlungsstrategien zwischen internen und externen Diskursen bereits im Prozeß der Produktion von Auslandsberichterstattung entstehen können. Sie sind ebenso Bestandteil von Medientexten, die durch inhaltsanalytische Verfahren untersucht werden können, wie nachfolgender Textnutzungen und Nutzungsuntersuchungen. Die Unterscheidung zwischen Import/Fiktion und Produktion/Auslandsberichterstattung hat weitere gravierende Auswirkungen für die Beurteilung des Stellenwertes der Anschlußkommunikation in der Auslandsberichterstattung. Wenn interne Diskurse zu Textelementen werden können, dann liegt die Annahme nahe, daß sie nicht lediglich isolierte Bestandteile darstellen, sondern daß externe Nachrichtenund interne Diskurskontexte sich wechselseitig beeinflussen und neue Synthesen eingehen können. Die Hypothese müßte überprüft werden, ob die reziproken Wirkungen interner Anschlußkommunikationen die Auslandsberichterstattung nicht ebenso prägen wie Stereotype, Nachrichtenfaktoren, Themenagenden und Frames, wobei die rückwirkende Anschlußkommunikation selbst zu einem Bestandteil des Diskurses über auswärtiges Geschehen werden und insofern das Interpretations- bzw. Kontextgefüge der Auslandsberichterstattung verändern kann (vgl. Abb. 3.12). 389 Chris Barker, Global Television. An Introduction, Oxford/Malden 1997, S. 132. 390 Akiba A. Cohen/Itzhak Roeh, When Fiction and News Cross Over the Border. Notes on Differential Readings and Effects, in: Felipe Korzenny/Stella Ting-Toomey/Elizabeth Schiff, Mass Media Effects Across Cultures, Newbury Park u.a. 1992, S. 24 f., 26, 29-31. 148 Verschiedene Verlaufsformen solcher reziproker Wirkungen interner Anschlüsse sind denkbar. Sie können nacheinander ablaufen, durch aufeinander bezugnehmende oder voneinander beeinflußte Medientexte oder durch Interaktionen zwischen Mediennutzern und -produzenten, oder sie können zeitgleich bei Erstellung eines Textes durch den Journalisten erfolgen. Welche Verlaufsform sich durchsetzt, wird unter anderem davon abhängen, ob es sich bei den innergesellschaftlichen Diskursen um etablierte Bestandteile der politischen Kultur – also um langfristig auf der öffentlichen Themenagenda befindliche Themen – handelt, die von Journalisten mit hoher 149 Wahrscheinlichkeit berücksichtigt werden,391 oder ob es sich um Themen handelt, deren mediale Streitwürdigkeit noch ungeklärt ist. Grundsätzlich können alle Mechanismen der Interaktion zwischen Auslandsberichterstattung und innergesellschaftlichen Diskursen auch in reziproker Weise auf das Auslandsbild zurückwirken, zum Beispiel: • synchron/diachron: Externes Gegenwartsgeschehen kann historische interne Anschlußdiskurse stimulieren, die wiederum in die Bewertung des gegenwärtigen Auslandsgeschehens einfließen (z.B. „Die deutsche Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre lehrt, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den USA wichtig ist.“). • linear/nicht-linear: Externes Geschehen kann interne Diskurse auslösen oder stimulieren, die externe Vorgänge bestätigen oder konterkarieren (z.B. „Die deutsche Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre lehrt, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, wie derzeit in den USA, wichtig ist, aber diese Erfahrung bestätigt auch, daß die Schaffung eines Niedriglohnmarktes durch Verzicht auf Mindestlöhne Probleme nicht löst und die USA daher auf dem falschen Weg sind.“). Ebensowenig wie beim Auslandsbild generell ist im Fall der Rückwirkung interner Diskurse von monokausalen Wirkungen auszugehen. Die Darstellung externer Vorgänge wird in der Regel nicht gänzlich von rückwirkenden internen Anschlußkommunikationen überlagert, sondern Teile der Darstellungen über das Auslandsgeschehen werden ebenso unbeeinflußt von innergesellschaftlichen Rückwirkungen übermittelt. Zudem wäre es theoretisch zu verallgemeinernd, allein Deformationsprozesse der internen Anschlüsse auf die Auslandsberichterstattung hervorheben zu wollen, ohne zugleich die Tatsache zu berücksichtigen, daß das Interesse der Öffentlichkeit an internationalen Fragen mit dem Grad der internen Verwertbarkeit steigen kann. Katz und Liebes haben etwa den Mißerfolg der Serie Dallas in Japan, das nicht generell als resistent gegen Import westlicher Medienprodukte betrachtet werden kann, auf mangelnde innergesellschaftliche Nutzungszusammenhänge zurückgeführt.392 Im Hinblick auf die Auslandsberichterstattung ist anzunehmen, daß deren journalistische Selektion nicht nur von „Relevanz“, „Nähe“ oder anderen Nachrichtenfaktoren abhängt, sondern auch von den nachgeordneten und zum Teil in den Text rückwirkenden Diskursinteraktionen, die zwar die „Authentizität“ der Auslandsberichterstattung gefährden, ihr aber zugleich Aufmerksamkeit sichern kann, was wiederum die Chance erhöht, daß auch Informationen übermittelt werden, die nicht von internen Diskursen überlagert werden. Gerade in Zeiten nachlassender Aufmerksamkeitswerte für die Auslandsberichterstattung, wie nach Beendigung des Ost-West-Konflikts in den neunziger Jahren in verschiedenen westlichen Industriestaaten verzeichnet (vgl. Kap. 3.2.3.1), ist der Nexus zwischen lokalem, nationalem und internationalem Geschehen, in all seiner Inkonsistenz hinsichtlich Konversion und Domestizierung des Auslandsbildes, als eine Gegentendenz zu betrachten. 391 Beispiel: Die Instabilität der italienischen Währung wird zum Anlaß genommen, die Stabilität der deutschen Mark und die Rolle der Bundesbank zu erörtern. 392 Liebes/Katz, The Export, S. 130-139. 150 3.2.4.4 Die Massenmedien in internationalen Krisen und Konflikten „Journalistische Krisenkommunikation“ ist das Forschungsfeld, in dem UrsachenWirkungs-Zusammenhänge zwischen den Inhalten der Auslandsberichterstattung und Politik und Gesellschaft bis heute am intensivsten erforscht worden sind. Die Medienberichterstattung westlicher Staaten über den Vietnam-Krieg,393 den Nahostkonflikt,394 den Falkland-Krieg,395 den Golfkrieg von 1991396 oder den Bosnienkrieg397 ist in zahlreichen Studien auf inhaltliche Profile, die Wirkung von Medieninhalten auf die Mobilisierung der öffentlichen Meinung, den Einfluß von Regierungspropaganda und militärische Informationssperren, auf die Berichterstattung und die Beiträge der Medien zur Konflikteskalation oder -deeskalation untersucht worden. Untersuchungen, die auf eine Systematisierung der durch die Fallstudien gewonnenen Einblicke in die unterschiedlichen Formen und Wirkungsweisen der Massenkommunikation während internationaler Krisen und Konflikte zielen,398 bleiben jedoch Ausnahmen.399 Während die Fülle von Falluntersuchungen das Wissen über die Rollen der Massenmedien in internationalen Krisen vermehrt hat, sind die oft widersprüchlichen Ergebnisse bisher nur selten in theoretisch nutzbare Konzepte umgesetzt worden. Michael Schanne: „Es ist höchste Zeit, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Journalismus endlich handhabbare Modelle von Qualitätskontrolle und 393 Vgl. u.a. Michael Arlen, The Living Room War, New York 1969; Anita Eichholz, Der VietnamKrieg im „Spiegel“: eine inhaltsanalytische Untersuchung, Berlin 1979; Daniel C. Hallin, The „Uncensored War:“ the Media and Vietnam, New York 1986; J. Fred MacDonald, Television and the Red Menace: the Video Road to Vietnam, New York 1985; K.J. Turner, Lyndon Johnson’s Dual War: Vietnam and the Press, Chicago 1985; Philip B. Davidson, Vietnam at War, New York u.a. 1988; William M. Hammond, Public Affairs. The Military and the Media, 1962-1968, Washington, D.C. 1989; Francis Donald Faulkner, Bao Chi. The American News Media in Vietnam, 1960-1975, PhD University of Michigan, Ann Arbor 1981. 394 Vgl. die Literaturhinweise in Kapitel 2. 395 David E. Morrison/Howard Tumber, Journalists at War. The Dynamics of News Reporting during the Falklands Conflict, London u.a. 1988; Valerie Adams, The Media and the Falklands Campaign, London 1986; Robert Harris, Gotcha! The Media, the Government, and the Falkland Crisis, London 1983. 396 Vgl. die Literaturhinweise in Kapitel 4. 397 Beham, Kriegstrommeln; Peter Glotz, Medien und Außenpolitik. Die Rolle der Medien bei der Entwicklung der Beziehungen zwischen Südosteuropa und der Europäischen Union, in: Südosteuropa Mitteilungen 35 (1995) 1, S. 1-7. 398 Vgl. u.a. W. Phillips Davison, Mass Communication and Conflict Resolution. The Role of the Information Media in the Advancement of International Understanding, New York/London 1974; Andrew Arno/Wimal Dissanayake (Hrsg.), The News Media in National and International Conflict, Boulder/London 1984; Martin Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993; Colleen Roach, Communication and Culture in War and Peace, Newbury Park u.a. 1993; Marc Raboy/Bernard Dagenais (Hrsg.), Media, Crisis and Democracy. Mass Communication and the Disruption of the Social Order, London u.a. 1992. 399 Bestätigt wird dieser Eindruck von Martin Löffelholz. Martin Löffelholz, Krisenkommunikation. Probleme, Konzepte, Perspektiven, in: ders. (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 15. 151 Qualitätsmanagement entwickelt (...).“400 Daß auf diesem Gebiet ein Systematisierungsbedarf besteht, zeigen unter anderem die in jüngeren Jahren erschienenen Literaturberichte und Auswahlbibliographien.401 3.2.4.4.1 Wirkungspotentiale der Medien in internationalen Konflikten Die „Krise“ läßt sich als ein Zustand definieren, in dem zentrale Werte und das gesellschaftliche Wertesystem als gefährdet empfunden werden.402 Die Krise ist zugleich ein Tief- und ein Wendepunkt, weil hier Konflikte zwischen sozialen, nationalen oder anderen Akteuren offen zutage treten und im Rahmen des Krisengeschehens in der Regel zunächst zu- und später abnehmen, was bedeutet, daß Krisen Zeiten großer Dynamik und nachhaltigen Wandels sind. Dabei ist nicht jeder Konflikt als Krise zu bezeichnen, denn die Krise beinhaltet die – unterschiedlich definierbare – Notwendigkeit, daß die Konfliktdynamik „normalen Kontinuitätserwartungen“ zuwiderläuft und für „zumindest hypothetisch existenzrelevant“403 gehalten werden muß.404 Krisen können demnach als zugespitzte Konflikte und Kriege als zugespitzte Krisen und Konflikte auf einem hohen Gewaltniveau betrachtet werden.405 Matthias Kohring, Alexander Görke und Georg Ruhrmann haben darauf hingewiesen, daß (aus systemtheoretischer Sicht) die Einstufung eines Konflikts als Krise beobachtungsabhängig ist.406 Auf die zentrale Bedeutung, die gerade die Medien für die gesellschaftliche Definition von Konflikten als „Krisen“ haben, ist im Zusammenhang mit ihrer Thematisierungsfunktion bereits hingewiesen worden: eine Gesellschaft kann einen Konflikt als Krise mehrheitlich nur dann einstufen, wenn eine entsprechende Wahrnehmung der aktiven Kräfte der öffentlichen Meinung besteht, wobei im Bereich der Auslandsberichterstattung gerade die gemeinsame Anerkennung eines Krisenzustandes ein wichtiges Moment für die kurzfristige Formierung einer ansonsten eher schwachen öffentlichen Meinung bei Auslandsfragen sein kann (vgl. Kap. 3.2.4.1.2). Zugleich hat die strukturtheoretische Betrachtung der Aus400 Michael Schanne, Der Beitrag journalistischer Objektivitätskriterien zu einer verlässlichen journalistischen Beschreibung von Wirklichkeit, in: Kurt Imhoff/Peter Schulz (Hrsg.), Medien und Krieg – Krieg in den Medien, Zurich 1995, S. 118. 401 Jutta Simon, „Die Wahrheit ist das erste Opfer eines Krieges.“ Kriegsschauplätze als Medienereignisse: Auswahlbibliographie, in: Rundfunk und Fernsehen 39 (1991) 2, S. 276-280; Winfried B. Lerg, Geschichte der Kriegsberichterstattung. Ein Literaturbericht, in: Publizistik 37 (1992) 3, S. 405-422. Vgl. a. die Bibliographie in Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. 402 Matthias Kohring/Alexander Görke/Georg Ruhrmann, Konflikte, Kriege, Katastrophen. Zur Funktion internationaler Krisenkommunikation, in: Miriam Meckel/Markus Kriener (Hrsg.), Internationale Kommunikation. Eine Einführung, Opladen 1996, S. 284-286. 403 Ebenda, S. 285. 404 Zu den Grundlagen der Krisenwahrnehmung im Bereich der internationalen Beziehungen gehören gemäß K.J. Holsti: a) nicht vorhergesehene Aktivitäten eines Opponenten; b) die Wahrnehmung einer starken Bedrohung; c) die Wahrnehmung kurzer Entscheidungszeiten; sowie d) die Annahme bedrohlicher Konsequenzen für den Fall des Nicht-Handelns. K.J. Holsti, International Politics. A Framework for Analysis, Englewood Cliffs 1995 (7. Aufl.), S. 329. 405 Löffelholz, Krisenkommunikation, S. 11. 406 Kohring/Görke/Ruhrmann, Konflikte, Kriege, S. 285. 152 landsberichterstattung gezeigt, daß eine Reihe von Untersuchungen auf eine ausgeprägte Konfliktperspektive der Medien verweisen (vgl. Kap. 3.2.1.2). Beide Aspekte weisen darauf hin, daß die Medien in der Regel in Krisenzeiten ein hohes Aktivitätspotential entfalten. Die Forschung über internationale Konfliktkommunikation in Massenmedien untersucht Inhaltsstrukturen berichteter Konflikte und Krisen, reflektiert die Entstehungsbedingungen der Medieninhalte und deren Wirkung auf die Entstehung, Genese und Lösung von internationalen Konflikten und Krisen. Die Bestimmung von Wirkungspotentialen der Medien in internationalen Konflikten ist von der Frage abhängig, welche grundlegende Rolle der Kommunikation als Bestandteil des Konfliktgeschehens zugeschrieben wird. Zu den klassischen Positionen in diesem Feld zählt zum einen die Annahme der „realistischen Schule“ der Politischen Wissenschaft, daß Konflikte auf der situativen Unvereinbarkeit von Interessen beruhen.407 Die perzeptionstheoretische Gegenposition macht geltend, daß Konflikte häufig nicht in realen Interessenkonstellationen wurzeln, sondern symbolisch vermittelt werden, kommunikationsbedingt sind, auf Störungen der Kommunikation beruhen und durch Intensivierung und Differenzierung der Kommunikation behoben werden können.408 Beide Positionen stellen empirisch belegbare Teilwahrheiten dar, sind jedoch zu undifferenziert, um die komplexen funktionalen Beziehungen zwischen Kommunikation und Konflikt/Krise zu erfassen.409 Richard Rosecrance beschreibt die Wechselwirkungen zwischen Interessenstrukturen und Kommunikationsbeziehungen in internationalen Konflikten in einem komplexeren Modell. Er erkennt drei grundlegende Beziehungsmuster: 410 • positive Interdependenz: Sind die Interessenstrukturen zweier Akteure, etwa zweier Staaten, grundsätzlich „positiv“, d.h. sind die Interessen kompatibel und besteht eine sich ergänzende Form der Interdependenz, dann trägt ein hohes Kommunikationsniveau in der Regel zur Stabilität der Beziehungen bei, während ein Abbruch oder eine massive Störung der Kommunikation zu temporärer Instabilität und zu einer Zunahme der Konfliktspannung führen können. Diese funktionale Beziehung zwischen Kommunikation, Interessen und Konflikten läßt sich am ehesten mit der geschilderten Annahme des Kommunikationsansatzes in der 407 Vgl. Hans J. Morgenthau, Politics among Nations: The Struggle for Power and Peace, New York 1978 (5. Aufl.). 408 Vgl. Stuart Chase, Roads to Agreement, New York 1951. Zur Entwicklung beider Positionen vgl. die Diskussion bei Lewis A. Coser, Salvation through Communication?, in: Andrew Arno/Wimal Dissanayake (Hrsg.), The News Media in National and International Conflict, Boulder/London 1984, S. 17-26. Zu den Vertretern der Realismusschule ist Coser selbst zu zählen. Coser: „The real question, however, is not whether affectladen distortions might at times impede rational solutions, but whether many, if not most, conflicts involve realistic confrontations over scarce resources such as status, power, and economic advantages.“ Ebenda, S. 20. 409 Coser bezeichnet die Vorstellung des Konflikts als einer ausschließlich kommunikationsbedingten Größe als „naiven Ansatz“ früherer Forschungsperioden, als die Bedeutung von Perzeptionen, Information und Kommunikation gegen die politischen „Realisten“ aufgewertet werden sollte. Coser, Salvation, S. 18. 410 Richard Rosecrance, International Relations: Peace or War?, New York u.a. 1973, S. 136 ff. 153 Konfliktforschung vergleichen, wonach ein hohes Kommunikationsniveau dazu beiträgt, durch Fehlkommunikation (etwa realitätsinadäquate Feindbilder; vgl. Kap. 3.1.1) suggerierte fiktive Interessenkonflikte zu vermeiden oder abzubauen. • negative Interdependenz: Sind die Beziehungen von einer „negativen“, d.h. inkompatiblen Interessenstruktur und einer „Nullsummen“-Interdependenz (Gewinne des einen sind Verluste des anderen) geprägt, dann gehen auch von einem hohen Kommunikationsniveau in der Regel keine konfliktmindernden Einflüsse aus. In diesen Fällen ist es notwendig, entweder den Konflikt auszutragen, im Dauerkonflikt zu verharren oder aber Interessen neu zu definieren. Diese Modellkonstellation bei Rosecrance fügt sich am ehesten in den „realistischen“ Ansatz der Konfliktforschung. Während diplomatische Konfliktvermittlung in Fällen positiver Interdependenz vor allem die Aufgabe hat, die Kommunikation wiederherzustellen und einen möglichst reibungslosen Informationsaustausch zu gewähren, muß im Fall negativer Interdependenz den Streitparteien eine Änderung ihrer Interessen nahegelegt werden. Kommunikation spielt hier nur insofern eine Rolle, als der Vermittler die Aussicht auf eine mögliche positive Wende der Interdependenzverhältnisse durch die Verhaltensänderung der Kontrahenten noch vor dem eigentlichen Eintreten dieses Falles vermitteln und so Verhaltensänderungen fördern kann. • geringe Interdependenz: Sind internationale Kommunikationspartner (z.B. Staaten/Regierungen) schließlich weder positiv noch negativ interdependent und sind daher die Beziehungen für keine Seite essentiell, so ist Kommunikation der wichtigste Beziehungsfaktor. Verläuft die Kommunikation störungsarm, sind auch die Beziehungen konfliktarm. Treten vermehrte Kommunikationsstörungen auf, sind auch die Beziehungen konfliktgeprägt. Bedingt durch die Kommunikationsabhängigkeit von Frieden und Konflikt in Fällen geringer Interdependenz ist NichtKommunikation einer gestörten Kommunikation vorzuziehen: Länder, die weder durch Interessen noch durch Kommunikation verbunden sind, haben auch keine Konflikte zu befürchten (es sei denn, diese würden durch Dritte induziert). Die Typologie von Rosecrance relativiert die Geltungsansprüche sowohl des Interessen- als auch des Kommunikationsansatzes der Konfliktforschung. Trotz der engen Beziehungen zwischen Konflikten, Krisen und Kommunikation ist eine konfliktmindernde Wirkung der Kommunikation nur bei der Hälfte der Modellkonstellationen zu erwarten (positive Interdependenz und teilweise geringe Interdependenz); eine konfliktmindernde oder -verstärkende Wirkung tritt in zwei Drittel aller Falltypen (positive und geringe Interdependenz) zutage; bei einem Drittel aller Modellfälle (negative Interdependenz) werden keine bzw. geringe Wirkungen durch Kommunikation erzielt. Kommunikation kann eine notwendige (positive Interdependenz) oder gar hinreichende (geringe Interdependenz) Bedingung dafür sein, daß Konflikte nicht entstehen oder daß sie gelöst werden, während Störungen der Kommunikation in solchen Fällen konfliktverstärkend wirken. Kommunikation kann aber ebenso wirkungsschwach (negative Interdependenz) bleiben. 154 Vergleicht man Medieninhaltsanalysen zu verschiedenen Krisen- und Konfliktfällen mit den vorstehenden grundlegenden Annahmen über Zusammenhänge zwischen Kommunikation und Konflikt, so ist festzustellen, daß die Massenmedien sämtliche Funktionsräume, die der Kommunikation im Modell von Rosecrance eingeräumt werden, nutzen können. Vor allem in Fällen, bei denen internationale Konflikte nicht durch zu deutliche Interessendivergenzen vorgeprägt und dadurch kaum durch kommunikative Anstrengungen zu beeinflussen sind, besteht prinzipiell die Möglichkeit, daß die mediale Themenagenda die öffentliche Meinung prägt, die Politik zur Auseinandersetzung von Themen bewegt und die zeitliche Dynamik politischer Entscheidungen beeinflußt (vgl. Kap. 3.2.4.1.3). Auslandsberichterstattung kann auf diese Weise zu einem Faktor von Konflikteskalation oder -deeskalation werden. Abbildung 3.13 veranschaulicht die zentrale Stellung der Medien im internationalen Konfliktgeschehen. In allen zwischenstaatlichen Konflikten zwischen zwei Staaten A und B werden Medien von den eigenen Regierungen informiert und informieren umgekehrt ihre Exekutive (Pfeile zwischen Regierung A und Medien A bzw. Regierung B und Medien B), die gleichwohl über eigene diplomatische Kanäle verfügt (Linie zwischen Regierung A und B) und insofern unabhängig von den Informationsleistungen der Medien des eigenen Landes ist. Medien verfügen ihrerseits über die Nachrichtenmittler, d.h. insbesondere über Agenturen oder eigene Korrespondenten über von der eigenen Regierung unabhängige Informationsquellen. Doch hier beginnt die gesamte Problematik der Informationsbeschaffung und der starken Stellung von Informationsgebern wie den Agenturen und der Politik auf die Agenturen, wie sie auf der Mesoebene der Theorie beschrieben worden ist (vgl. Kap. 3.2.3.2). Für die Konflikttheorie von zentraler Bedeutung ist die Schlüsselstellung der Medien als Informanten der eigenen Bevölkerung (Pfeile Medien A zu Bevölkerung A bzw. Medien B zu Bevölkerung B). Die Intensität der direkten Informationsbeziehungen zwischen Medien und Bevölkerungen des jeweils anderen Landes ist situationsabhängig (gebrochene Linien). Ob Medien eines Landes die Medien eines anderen Landes zur Kenntnis nehmen, hängt vom Sprachverständnis und der Zugänglichkeit der entsprechenden Medien ab.411 Für die Konfliktkommunikation wäre es von größter Bedeutung, wenn die Bevölkerung eines Landes direkten Zugang zu den Medien eines anderen Landes hätte, mit dem die eigene Regierung im Konflikt steht, da auf diese Weise die Konfliktinterpretationen der gegnerischen Seite ungefiltert rezipiert werden könnten; entsprechende Möglichkeiten, die sich etwa über das Internet oder direktempfangbare Satellitensender ergeben können, werden jedoch in der Regel ebenfalls auf Grund sprachlicher und kultureller Hürden nur von Eliten genutzt. Die primäre Nachrichtenversorgung einer Bevölkerung über das internationale Konfliktgeschehen erfolgt gerade beim allgemeinen Publikum noch immer durch die vermittelnde Auslandsberichterstattung in Presse, Rundfunk und Fernsehen. 411 Während des Kosovo-Krieges 1999 beispielsweise wurde das staatliche jugoslawische Fernsehen vom internationalen Satellitenverkehr ausgeschlossen. 155 156 3.2.4.4.2 Rollenmodelle der medialen Konfliktkommunikation Das Auslandsbild der Medien gestaltet sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Kräftekonstellation zwischen Medien und den sie umgebenden Umwelten und Subsystemen der Gesellschaft, insbesondere zwischen Medien und politisch-wirtschaftlichem Komplex. Konflikt- und Krisenkommunikation der Auslandsberichterstattung kann sich als politisch-wirtschaftlich angepaßt erweisen oder aber einen unabhängigen (autonomen) Diskurs entfalten. Zu den in Anlehnung an Rosecrance beschriebenen Wirkungspotentialen kommen also eine Reihe von idealtypischen Rollenmodellen, die als theoretische Erklärungsmodelle dafür dienen zu erklären, wie die Medien ihre kommunikativen Einflußmöglichkeiten in internationalen Konflikten ausüben können: • Medien als Co-Konfliktpartei • Medien als Konfliktvermittler • Medien als dritte Konfliktpartei. Medien können dann als Co-Konfliktparteien fungieren, wenn die Struktur des von ihnen vermittelten Auslandsbildes (Nationenbilder, Themen, Frames usw.) den Selbstdarstellungen einer Konfliktpartei gleicht oder ähnelt. Zu den wohl häufigsten Fällen medialer Parteinahme bei internationalen Konflikten gehört die Anlehnung an Positionen und Interpretationen der eigenen Regierung.412 Unterschiede wie die zwischen der pro-amerikanischen CNN-Berichterstattung anläßlich des Golfkrieges von 1991 und der kritischen Berichterstattung über die amerikanische Rußlandpolitik im Tschetschenienkonflikt413 lassen darauf schließen, daß den Medien Distanz und Kritik gegenüber dem nationalen politischen System solange möglich sind, wie dies nicht direkt in eine kriegerische oder andere existentielle Formen des internationalen Konflikts verwickelt ist, und daß, wo dies doch der Fall ist, nicht allein staatliche oder öffentlich-rechtliche, sondern auch privatwirtschaftlich organisierte Massenmedien eine Tendenz zur Parteinahme in der Krisenkommunikation aufweisen. Die Wechselbeziehung zwischen Medieninhalt und der Art des Konflikts kann, wie gezeigt, aus der Perspektive der Systemtheorie nicht generalisiert werden, sondern ist davon abhängig, inwieweit die Medien sich zu einer „Umweltanpassung“ vor allem an die nationalen Systemumwelten (Publikum, Eliten etc.) veranlaßt sehen und muß im Einzelfall untersucht werden. Die Existenz eines funktionalen Zusammenhangs 412 Elihu Katz hat beispielsweise die regierungsorientierte Berichterstattung amerikanischer Medien während des Golfkriegs kritisiert und ihnen eine größere Distanz statt Parteinahme empfohlen Nach seiner Auffassung hätte die Wahrnehmung einer Selbstinvolvierung des amerikanischen politischen Systems zugunsten einer Distanzierung von einem dezentralen, regionalen Konflikt reduziert werden müssen. Statt des Kriegs-Frames, der während des Irak-Iran-Krieges (1980-1988) in amerikanischen Medien überwog, hat er den Frame der irakisch-iranischen „Nachbarschaftsfehde“ (feuding neighbors frame) vorgeschlagen. Elihu Katz, The End of Journalism? Notes on Watching the War, in: Journal of Communication 42 (1992) 3, S. 6. 413 Stephan Koller, „War of Annihilation“. Der Tschetschenienkonflikt als Fallbeispiel der CNNIKrisen-kommunikation, in: Martin Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 241-262. 157 zwischen der Selbstinvolvierung des die Medien umgebenden Gesellschaftssystems und der Parteilichkeit der Auslandsberichterstattung ist gleichwohl eine veritable Untersuchungshypothese für empirische Falluntersuchungen. Parteilichkeit kann zudem von anderen Faktoren beeinflußt werden: • Dramaturgie der Krisenkommunikation: Medieninhalte differieren unter Umständen in Abhängigkeit vom Zeitpunkt einer Krise/eines Konflikts, der inhaltsanalytisch erfaßt wird. Die Suggestion knapper Entscheidungszeiten kann dazu beitragen, daß die nationalen Umweltsysteme/Systemumwelten ihre Zugangsmöglichkeiten zu den nationalen Medien effektiver zu nutzen versuchen als andere Konfliktparteien, daß sich die Spielräume zur Recherche alternativer Positionen verkleinern oder generell ein Meinungsklima der scheinbaren Notwendigkeit zu Meinungspolarisierung zu einer inhaltlichen Tendenz zugunsten der eigenen Regierung entsteht. Zwar existieren keine universellen Phasen- oder Zyklusmodelle der Krisenkommunikation, doch ergeben sich aus der jeweiligen Relation zwischen empirisch gemessenen Medieninhaltstendenzen und der Krisendramaturgie (z.B. Vorkrisenperiode ⇒ Krisenbeginn ⇒ Krisenhöhepunkt ⇒ Nachkrisenperiode) wichtige Hinweise auf potentielle gesellschaftliche und politische Wirkungen der Krisenkommunikation. • Krisenverhalten gesellschaftlicher Eliten: Medien sind zur Gestaltung ihrer Auslandsberichterstattung auf Elitendiskurse angewiesen, was bedeutet, daß mangelnde Vielfalt und Parteilichkeit der medialen Krisenkommunikation auch eine entsprechende Ausrichtung der Eliten reflektieren kann.414 Hier wiederum machen sich nicht selten die Strukturschwächen der außermedialen Öffentlichkeit im Bereich internationaler Fragen bemerkbar. Die Artikulationsneigung der Öffentlichkeit ist gleichwohl in den einzelnen Ländern sehr verschieden ausgeprägt, wie der Vergleich zwischen den USA, Deutschland und Frankreich gezeigt hat (vgl. Kap. 3.2.4.1.2). David L. Paletz hat in diesem Zusammenhang festgestellt, daß das ideologische Spektrum der Kritik an der westlichen Golfkriegsposition etwa in Frankreich größer war als in den USA.415 • strategische politische Kommunikation: Krisen- und Konfliktperioden sind Zeiten florierender strategischer politischer Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit.416 Ob Krisenjournalismus sich als parteiisch erweist, ist nicht zuletzt davon abhängig, ob die Medien strategische Kommunikationsangebote als solche erkennen, gewichten, und ob und wie sie diese in ihrer Berichterstattung kenntlich 414 Georg Ruhrmann: „Aufgrund der Befunde der Medien- und Kommunikationsforschung muß man heute davon ausgehen, daß Nachrichtenmedien – bis auf wenige historische Ausnahmen – gerade in Krisen- und Kriegszeiten das Bewußtsein und die Einstellungen der Eliten nicht in Frage stellen, sondern reproduzieren.“ Georg Ruhrmann, Ist Aktualität noch aktuell? Journalistische Selektivität und ihre Folgen, in: Martin Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 89. 415 David L. Paletz, Just Deserts?, in: W. Lance Bennett/David L. Paletz (Hrsg.), Taken by Storm. The Media, Public Opinion, and the U.S. Foreign Policy in the Gulf War, Chicago/London 1994, S. 280 f. 416 Vgl. Beham, Kriegstrommeln, S. 142-192. 158 machen. Wie in Kapitel 3.2.3.2 gezeigt, ist die Transparenz der Medien und der Nachrichtenagenturen für solche Angebote insbesondere bei heimatlichen Regierungen auf Grund ihrer nachgeordneten Position im Nachrichtenfluß und ihrer begrenzten informationellen Rahmenbedingungen (Ausstattung mit Korrespondenten usw.) prinzipiell hoch. Das zweite Rollenmodell von Massenmedien als Vermittlern in internationalen Konflikten stellt nicht die Orientierung an einer Streitpartei, sondern die Stellung der Medien als unabhängiger „dritter Partei“ in den Vordergrund. Die Medien werden für geeignet erachtet, ihre Schlüsselstellung als Informanten der nationalen Öffentlichkeit und indirekt auch anderer Mediensysteme und Öffentlichkeiten zur Konfliktdeeskalation zu nutzen. W. Phillips Davison hat sechs Kriterien für eine konfliktmindernde Vermittlungstätigkeit der Medien entwickelt:417 • Steigerung der Quantität der Informationsvermittlung: In Zeiten internationaler Krisen gilt es nach Davison grundsätzlich, die Quantität der Informationsvermittlung zu steigern. Vermittelt werden kann jede konfliktrelevante Information, denn das Hauptziel der Quantitätssteigerung besteht in einem hohen kommunikativen Austauschniveau und in der Öffnung von Kommunikationskanälen.418 Diese Vorgabe erweist sich insofern als problematisch, als damit auch die Transparenz des Mediensystems für Propaganda und andere strategische Kommunikationsangebote vergrößert wird. Davisons Kriterium der Quantitätssteigerung ist nicht geeignet, die von Rosecrance (s.o.) ermittelten Risiken der internationalen Kommunikation zu erfassen. • Steigerung der Qualität der Informationsvermittlung: Um so bedeutsamer erscheint Davisons Kriterium der Steigerung der Qualität der Informationsvermittlung.419 Das wichtigste Ziel der medialen Krisenkommunikation im Sinne Davisons ist, die zentralen argumentativen Frames aller Konfliktkontrahenten zu vermitteln. Da internationale Krisen in verschiedenen nationalen Mediensystemen oft sehr verschieden dargestellt werden,420 stellt allein die Gesamtheit der signifikanten Konflikt-Frames eine Grundlage für die mediale Vermittlung dar.421 • Einrichtung eines Frühwarnsystems: Wie die Qualität der Krisenberichterstattung eng mit der Framing-Forschung verbunden ist, so steht die Frage des medialen Frühwarnsystems in Zusammenhang mit der Thematisierungsfunktion (Agen417 Vgl. mit ähnlichem Tenor: Ulrich Saxer, Bedingungen optimaler Kriegskommunikation, in: Kurt Imhoff/Peter Schulz (Hrsg.), Medien und Krieg – Krieg in den Medien, Zurich 1995, S. 203-219; Christian Schicha, Kriegsberichterstattung zwischen Anspruch und „Wirklichkeit“. Kriterien für den Friedensjournalismus, in: Zeitschrift für Kommunikationsökologie 1 (1999) 2, S. 10-13. 418 Davison, Mass Communication, S. 26-33. 419 Ebenda, S. 34-39. 420 Ebenda, S. 60. 421 Richard C. Vincent und Johan Galtung empfehlen eine breite Streuung journalistischer Quellen (Militär, Diplomaten, Akademiker, Autoren, think tanks und „Beobachter aus der Zivilgesellschaft“). Richard C. Vincent/Johan Galtung, Krisenkommunikation morgen. Zehn Vorschläge für eine andere Kriegsberichterstattung, in: Martin Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 190 f. 159 da-Setting) der Medien. Bei sich anbahnenden Krisen und Konflikten ist es aus Sicht Davisons von besonderer Bedeutung, daß die Konfliktthemen frühzeitig auf der Medienagenda erscheinen, um Politik und Öffentlichkeit eine Problemlösung ohne Zeitdruck zu ermöglichen.422 Der Fall der Iranischen Revolution von 1978/79 und der durch sie forcierten Re-Islamisierung der nahöstlichen Politik, die von Medien und Wissenschaft gleichermaßen spät erkannt worden ist, zeigt, daß das Versagen des Krisenfrühwarnsystems der Medien in der Regel auch ein Versagen der außermedialen Öffentlichkeit und weiter Teile der Eliten ist. • Förderung von Verhandlungslösungen: Zu den Aufgaben der Medien in internationalen Konflikten gehört es aus Davisons normativer Sicht, Verhandlungslösungen zu unterstützen. Der Politik fällt es in der Regel zumindest in demokratischen politischen Ordnungen nicht leicht, Handlungsoptionen gegen ein widerstrebendes Öffentlichkeitsklima zu verfolgen.423 Verhandlungen im Bereich der internationalen Politik werden daher oft geheim durchgeführt, um Interferenzen und ungewollte Einflüsse durch öffentliche Diskurse zu vermeiden. Davison hat im Gegensatz hierzu darauf hingewiesen, daß die Medien auch Partner der Politik bei einer Konfliktlösung durch diplomatische Verhandlungen sein können. Dabei können die Medien zum einen eine Artikulationsfunktion wahrnehmen, um der Bevölkerung die Handlungen der Politik und der Politik die Interessenlage der Bevölkerungen in Bbezug auf Konfliktlösungen zu vermitteln, und sie können zum anderen (ähnlich wie im Fall des „Frühwarnsystems“) als „Gedankenstütze“ (reminder) von Politik und Öffentlichkeit tätig werden, indem beispielsweise historische Handlungsoptionen aktualisiert oder alternative Handlungsweisen zur Konfliktlösung angeboten werden.424 • Schaffung eines Friedensklimas: Die Förderung eines Friedensklimas gilt Davison als Hauptfunktion der Massenmedien in internationalen Krisen. Gemäß Davison kann die „Stimmung“ (mood), d.h. die affektive Komponente des Auslandsbildes der Medien so beeinflußt werden, daß eine Grundtendenz zur Konfliktdeeskalation entsteht, etwa durch Hervorhebung gemeinsamer Werte, die Förderung der Akzeptanz gegenüber denjenigen, die für Friedenslösungen eintreten oder die Erzeugung eines Klimas der Realisierbarkeit von Friedenslösungen.425 Aus der Sicht Davisons ist ein Friedensklima dann vorhanden, wenn negative Emotionalisierungen vermieden werden. Die Erzeugung eines Friedensklimas muß demnach zudem mit dem Bestreben verbunden sein, die mit Krisen verbundene Wahrnehmung begrenzter Entscheidungszeiten und hohen Handlungsdrucks auf ein sach422 Davison, Mass Communication, S. 39 f.; vgl. a. Linus Chukwuemeka Okere, The Role of African Media in Early Warning and Conflict Prevention Systems, in: The Round Table 338/1996, S. 173182. 423 Vgl. Bard E. O’Neill, The Analytical Framework, in: Joseph S. Szyliowicz/Bard E. O’Neill, The Energy Crisis and U.S. Foreign Policy, Mit einem Vorwort von John A. Love, New York u.a. 1975, S. 16. 424 Davison, Mass Communication, S. 40-44. Bernard C. Cohen hat in diesem Zusammenhang sogar auf die Notwendigkeit „aggressiver“ öffentlicher Debatten über friedenspolitische Optionen hingewiesen. Bernard C. Cohen, The Press, S. 79. 425 Davison, Mass Communication, S. 44-48. 160 lich erforderliches Maß zu reduzieren. Davison: „When an individual is under high stress, he is less able to assimilate complex communications and he tends to consider fewer policy alternatives.“426 Für die Medien entsteht allerdings insgesamt ein Problem der Grenzbestimmung zwischen neutral-ausgewogener Qualitätsinformation, investigativer Lösungsunterstützung und der für die Erzeugung eines Friedensklimas notwendigen Form der Emotionalisierung. • Mobilisierung von Friedenskräften: Die Mobilisierung von Friedenskräften bezeichnet Davison als die letzte Vermittlungsaufgabe der Medien, und auch die neuere Forschung zum Golfkrieg belegt, daß gerade die Friedensbewegung große Zugangsprobleme zu den mainstream-Medien des Print- wie des elektronischen Mediensektors haben kann.427 Dienen die Medien der kommunikativen Vernetzung sozialer Bewegungen und anderer Friedenskräfte, so dienen sie auch der Koordination und Verbreitung friedenspolitischer Aktivitäten.428 Gemäß Davison wirken Medien vor allem dann in diese Richtung, wenn sie die Übereinstimmungen in den Zielsetzungen verschiedener Gruppen hervorheben. Das letzte Rollenmodell betrachtet die Massenmedien als unabhängige dritte Partei in internationalen Konflikten. Sie teilen demnach weder die Interessen anderer Parteien (Co-Konfliktpartei) noch stehen sie außerhalb des Konflikts (als Vermittler). Andrew Arno hat unter Rückgriff auf den Soziologen Georg Simmel429 den Medien in der Krisenkommunikation die Rolle des „lachenden Dritten“ (tertius gaudens bzw. duobus litigantibus tertius gaudet) zugewiesen. Dieses Theorem erklärt, warum Medien durch die Nichteinhaltung der Kriterien Davisons ihre Rolle als Konfliktvermittler nicht wahrnehmen, ohne zwangsläufig zur Co-Konfliktpartei zu werden. Das Interesse der Medien als dritter Partei ist im Konzept des „lachenden Dritten“ kein Interesse im Konflikt, sondern ein Interesse am Konflikt: Der Konflikt stellt eine Nachrichtenware dar, die dem Nachrichtenfaktor „Konflikt“ und der medialen Konfliktperspektive zuzuordnen ist (vgl. Kap. 3.2.1.2).430 Das Rollenmodell des „lachenden Dritten“ zielt auf den hohen kommerziellen Wert der Auslandsberichterstattung, wobei Arno vor dem Hintergrund des amerikanischen Mediensystems keine Unter426 Ebenda, S. 47. Hamid Mowlana weist darauf hin, daß die Förderung eines Friedensklimas wegen des hohen kommerziellen Wertes von Krisenberichten als strukturelle Schwierigkeit insbesondere privater Mediensysteme betrachtet werden muß (Mowlana, The Role of the Media, S. 88). Allerdings lassen sich die Bedürfnisse des Friedensklimas und des kommerziellen Nachrichtenverkaufs dort in Einklang bringen, wo eine (verkaufsfördernde) Emotionalisierung nicht grundsätzlich vermieden wird, sondern diese konfliktmindernd eingesetzt wird. Richard C. Vincent und Johan Galtung weisen beispielsweise auf die Notwendigkeit von Personalisierung und Emotionalisierung bei der Darstellung von Kriegsopfern hin. Vincent/Galtung, Krisenkommunikation, S. 198 ff. 427 Paletz, Just Deserts?, S. 281. 428 Davison, Mass Communication, S. 48-50. 429 Vgl. Georg Simmel, The Sociology of Georg Simmel; Hrsg. von Kurt H. Wolff, New York 1950. 430 Andrew Arno: „Media actors fit into the category of third parties that Simmel (1950) labeled the tertius gaudens, the third who rejoices. In many cases, a third party profits from the conflict of two others, and this is especially true of news organizations.“ Andrew Arno, The News Media as Third Parties in National and International Conflict: Duobus Litigantibus Tertius Gaudet, in: ders./Wimal Dissanayake (Hrsg.), The News Media in National and International Conflict, Boulder/London 1984, S. 234. 161 scheidung zwischen privatwirtschaftlich organisierten und staatlichen oder öffentlich-rechtlichen, mit Programmaufträgen ausgestatteten Medien trifft. Abbildung 3.14 zeigt die verschiedenen Positionen, die Medien in internationalen Krisen und Konflikten einnehmen können. Sie sind als Co-Konfliktpartei Teil des Konflikts (Kreismitte); als dritte Konfliktpartei nehmen sie eine Sonderstellung ein (Randposition), denn ihr Interesse richtet sich nicht auf dasselbe Objekt, um das die anderen konkurrieren (natürliche Ressourcen, Territorien usw.), sondern auf den Konflikt und die Kontrahenten als solche, der eine verkaufbare Ware darstellt; schließlich können sie als Konfliktvermittler gänzlich außerhalb der Konfliktinteressen stehen. Nach Arno wäre die Nichteinhaltung der Vermittlungskriterien Davisons im Rahmen der Konfliktkommunikation der Medien insofern folgerichtig als diese in der Rolle des „lachenden Dritten“ an der Aufrechterhaltung oder Vertiefung von internationalen Krisen interessiert sind. Die Medien in der Rolle des „lachenden Dritten“ wären demnach als Organisationen zu betrachten, zu deren Hauptaufgabe die permanente Generierung oder Verstärkung von konflikthaften Störungsmomenten zu zählen wäre, die im Kontakt von Staaten und Gesellschaftssystemen entstehen.431 Für den „lachenden Dritten“ im Sinne Arnos lassen sich die Vermittlungskriterien Davisons in der Regel in invertierter Form als Handlungsorientierung zugrunde legen: • Wie der Vermittler strebt der „lachende Dritte“ ein hohes quantitatives Berichterstattungsniveau an. 431 Marc Raboy und Bernard Dagenais äußern sich ähnlich, wenn sie darauf hinweisen, daß Massenmedien zwar wie jede andere Institution an der Stabilität der Gesellschaftsstrukturen interessiert sind, zugleich jedoch „Normalität“ fürchten und „Krisen“ benötigen. Marc Raboy/Bernard Dagenais, Introduction: Media and the Politics of Crisis, in: dies. (Hrsg.), Media, Crisis and Democracy. Mass Communication and the Disruption of the Social Order, London u.a. 1992, S. 3. 162 • An einer getreuen, qualitativ hochwertigen Darstellung der Positionen der Konfliktkontrahenten ist er nur insoweit interessiert, als insbesondere die Unvereinbarkeit von Interessen betont wird. • Anstelle eines „Friedensklimas“ wird ein emotionales „Krisenklima“ gefördert. • Statt ein Frühwarnsystem zu entwickeln, entsteht aus Sicht des „lachenden Dritten“ gerade durch die Wahrnehmung einer existentiellen Bedrohung zentraler Werte und Ordnungen und dem damit einhergehenden subjektiven Handlungsdruck eine verstärkte Nachfrage nach seinen Kommunikationsangeboten. • Der „lachende Dritte“ fungiert nicht als Partner bei der Suche nach Lösungsalternativen für den Konflikt, sondern er stellt massive Forderungen nach klaren und schnellen (und häufig übereilten und gefährlichen) Lösungen und kritisiert andersgeartete politische Optionen massiv. • Er erschwert friedenspolitischen Alternativvorschlägen den Zugang zur Öffentlichkeit und konzentriert seine Berichterstattung statt dessen auf etablierte Repräsentanten und Perspektiven von Regierungen, Institutionen/Organisationen und Individuen. Das theoretische Denken am Ende der neunziger Jahre hinsichtlich der Rolle der Massenmedien in internationalen Krisen erschöpft sich zum Teil darin, den Medien eine konfliktverschärfende Wirkungsintention zuzuschreiben, die sich mit dem tertius gaudens-Modell deckt, auch wenn dieses nicht explizit verwandt wird.432 Für die Anwendung der Konflikttheoreme auf die Analyse von Medieninhalten ist bedeutsam, daß berücksichtigt wird, inwieweit die vorgestellten Idealtypen der Konfliktposition der Auslandsberichterstattung im Einzelfall tatsächlich in Reinform vorliegen. Rollenmodelle können in unterschiedlichen Phasen eines Konflikts – abhängig von der jeweiligen System-Umwelt-Konstellation – variieren; einzelne Ressorts oder Journalisten können unterschiedliche Positionen besetzen; und selbst die verwendeten Subthemen oder Frames eines einzelnen Textes können unter Umständen unterschiedlichen Rollen zugeordnet werden. 3.2.4.5 Transkulturelle Kommunikation: Der Journalist als „Sinn-Übersetzer“ zwischen den Kulturen Kommunikation läßt sich als ein Prozeß der Bedeutungsverhandlung über Zeichen beschreiben. Ein großer Teil individueller und gesellschaftlicher Handlungen wird über sprachliche und/oder bildliche Zeichen vermittelt, nur sehr wenige Handlungen, etwa die Anwendung von physischer Gewalt, besitzen diesen Symbolcharakter nicht. Zu den Charakteristika von Zeichen gehört es dabei, daß ihre Bedeutung nicht unmittelbar gegeben ist, sondern wechselseitig zwischen Zeichen-Sender und Zeichen432 Vgl. Philip M. Taylor: „The problem for diplomats is that, once the media become interested, their contribution is inherently inclined more to seeing the storm erupt than to seeing it go away.“ Philip M. Taylor, Global Communications, International Affairs and the Media since 1945, London/New York 1997, S. 76. 163 Empfänger ermittelt und „verhandelt“ wird. Während im interpersonalen Kommunikationsprozeß Symbolverhandlungen ohne Medien vonstatten gehen können, übernimmt bei der Massenkommunikation, auf Grund der relativen Distanz der meisten am Kommunikationsprozeß Beteiligten zum Symbolgeschehen, der Journalist einen Teil der Bedeutungsverhandlungen. Im Rahmen der Auslandsberichterstattung werden „Kulturen“ zu Symbolkomplexen, deren Bedeutung von Journalisten erschlossen und zwischen Kulturen vermittelt werden muß, bevor journalistische Texte und Bilder ihrerseits entweder von nationalen (oder internationalen) Nutzern einer weiteren Bedeutungsinterpretation unterzogen werden können. Medien verfügen durch diese Mittlerstellung im Prozeß der kulturellen Bedeutungsverhandlung über ein beträchtliches Wirkungspotential, das von der Stärkung einer transkulturellen Globalkultur bis zur Forcierung internationaler Kulturkonflikte reicht. Grenzüberschreitende Kulturkommunikation kann nicht nur systemverbindende Folgen haben, sondern sie kann Kulturkonflikte gleichfalls auslösen, vertiefen oder beschleunigen, auch wenn berücksichtigt wird, daß die Medienwirkung generell durch eine Reihe intervenierender Variablen eingeschränkt sein kann (vgl. Kap. 3.2.4.1.3). Der mediale Prozeß der Bedeutungsverhandlung über kulturelle Zeichen und Symbole besteht aus verschiedenen Elementen: • der Enkodierung und Dekodierung kultureller Zeichen und Symbole • der sozialen Interaktion zwischen den Kommunikatoren im Prozeß der En-/Dekodierung kultureller Zeichen. 3.2.4.5.1 Auslandsberichterstattung und „kulturelle Übersetzung“ – die Inhaltsebene Stuart Hall hat die Gestaltung journalistischer Texte als einen Vorgang der symbolischen Enkodierung bezeichnet, d.h. als einen Versuch, eine bestimmte Botschaft oder Sinndeutung semiotisch zu kommunizieren. Als Dekodierung wird bei Hall die Entschlüsselung des Textes durch den Medienkonsumenten bezeichnet, wobei der Grad des Gelingens eines Bedeutungstransfers von der Symmetrie der Produzentenund Nutzercodes abhängig ist.433 Zumindest außerhalb des philosophischen Realismus wird dabei den Symbolen kein immanenter und linear vermittelbarer Sinn zugeordnet und Kodierungen werden von Hall nicht als gesetzmäßige, sondern als willkürliche (arbitrary) Bedeutungszuordnungen oder -interpretationen betrachtet.434 Aus diesem Grund besteht in Halls Konzept auch keine notwendige Kongruenz zwischen Journalisten-Enkodierung und Mediennutzer-Dekodierung, wenngleich ein „bestimmtes Maß an Wechselseitigkeit“ vorausgesetzt wird, um die Kommunikation grundlegend zu ermöglichen.435 Da diese Übereinstimmung im Prozeß der massenmedialen Ein-Weg-Kommunikation von Presse und Rundfunk selten interaktiv er433 Stuart Hall, Encoding/Decoding, in: Stuart Hall/Dorothy Hobson/Andrew Lowe/Paul Willis (Hrsg.), Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies, 1972-79, London 1981, S. 130 f. 434 Ebenda, S. 132. 435 Ebenda, S. 136. 164 mittelt werden kann, werden den Symbolen von den Journalisten gemäß Hall häufig „präferierte Bedeutungen“ (preferred meanings) basierend auf historischen Bedeutungskonventionen (s.u.) oder common-sense-Annahmen zugeordnet.436 Verbindet man die Grundgedanken der Bild- und Stereotypen- oder der Framing-Forschung mit denen Halls, so müssen Stereotype und politisch oder sozial dominierende Frames als (willkürliche bzw. konventionell-willkürliche) Kanalisierungen einer ursprünglichen Bedeutungsvielfalt kultureller Zeichen (Polysemie) durch Medienproduzenten und -nutzer betrachtet werden. Halls Unterscheidung zwischen Journalisten-Enkodierer und MediennutzerDekodierer kann erweitert werden. Auch Journalisten nehmen im Vorfeld ihrer TextEnkodierung bei der Interpretation ihrer Quellen eine Zeichen-Dekodierung vor, wobei sie etwa im Fall schriftlicher Quellen (z.B. der Nachrichtenagenturen) zunächst eine Dekodierung und dann eine Re-Enkodierung bereits enkodierter Zeichen vornehmen und insofern Teil einer En-/Dekodierungs-Kette sind. Die Anerkennung der Dekodierungs-Enkodierungs-Multifunktion von Journalisten ist insofern bedeutsam, als Journalisten in der Regel nur einen Teil ihrer Dekodierungen textuell enkodieren. Professionelle Determinanten wie die Nachrichtenfaktoren münden in einer sekundären Kanalisierung der ursprünglichen journalistischen Dekodierung. Hall bezeichnet diese Determinanten als „professionelle Kodierungen“ (professional codes),437 die er allerdings mit den journalistischen Kodierungen insgesamt gleichsetzt, ohne zwischen den latenten Kodierungskapazitäten, d.h. dem latenten Wissen des Journalisten, und manifesten Kodierungsrealisierungen zu unterscheiden. Bei der Massenkommunikation zwischen verschiedenen Kulturräumen werden „Kulturen“ zu Zeichenkomplexen, die von Journalisten und Medienkonsumenten en-/ dekodiert werden und deren Bedeutungsinhalte im globalen Interaktionsprozeß und im Prozeß historischer Sinnaktualisierung geformt werden. Dabei sind die Kodierungsleistungen der Massenmedien in hohem Maße von der zugrundeliegenden Definition des Kulturbegriffs abhängig. Abbildung 3.15 stellt eine Differenzierung der hier angedeuteten Bedeutungsbeziehungen dar und zeigt die Optionen der Massenmedien im Prozeß der En-/Dekodierung kultureller Zeichen, ihre Positionierungsfähigkeit im Rahmen verschiedener Kulturkonzepte des Essentialismus und Synkretismus (vgl. Kap. 3.1.1) und der Mono-, Inter-, Multi- und Transkulturalität. 436 Ebenda, S. 134. 437 Ebenda, S. 136. 165 Abb. 3.15 – Gleichheits-/Ungleichheitsbeziehungen zwischen Kulturen Unterschiede Gemeinsamkeiten innerhalb eines Kulturraums Essentialistischer Kulturbegriff zwischen Kulturräumen Essentialistischer Kulturbegriff Assimilation: Multikulturalismus: Kulturkonflikt: Interkulturalismus: Ablegung der mit der „Gastgeberkultur“ inkompatiblen „Gastkultur“ Koexistenz verschiedenartiger Kulturen Konflikte zwischen inkompatiblen Kulturen Kommunikation zwischen verschiedenartigen Kulturen Synkretistischer Kulturbegriff Synkretistischer Kulturbegriff Integration: Akkulturation: Kulturimperialismus: Transkulturalismus: Anpassung der „Gastkultur“ an die kompatible „Gastgeberkultur“ Mischung und Transformation der Kulturen (z.B. Kreolisierung) Nivellierung räumlicher Kulturen durch eine dominierende Weltkultur (z.B. „Verwestlichung“) Wechselseitige Integration der Weltkulturen zu einer Globalkultur Die Tatsache, daß Gleichheits-/Ungleichheitsrelationen zwischen Kulturen unterschiedlich interpretierbar sind, bedeutet nicht, daß kulturelle Regelphänomene wie Sprachen, Sitten, Normen und Traditionen nicht als solche erkennbar wären. Kulturen sind das Resultat historischer geo- und kommunikationsräumlicher Trennungsprozesse, was zur Ausprägung spezifischer Symbolismen geführt hat. Zu fragen ist jedoch, ob die tiefenstrukturelle Bedeutung der Zeichen438 dieselben Differenzen aufweist oder ob nicht vielmehr Gleichheits- und Ungleichheitsbeziehungen bestehen, die vom jeweiligen Interpretationsstandpunkt abhängen. Die Polysemie der Kultursymbole (im Sinne Halls) wäre dann zugleich eine Polysemie des Kulturenvergleichs. Dabei zeigt die Abbildung 3.15, daß die Bedeutungsinterpretationen sowohl innerhalb von Kulturräumen als auch grenzübergreifend zwischen Kulturräumen entstehen können. Im medialen Prozeß sind beide Dimensionen von Bedeutung, wobei erstere vor allem bei der Berichterstattung über kulturelle Minderheiten zum Tragen kommt, die geographisch als Teil der Inlandsberichterstattung betrachtet werden muß, bedingt durch die Akteurs- und Thementransparenz zwischen Inlands- und Auslandsberichterstattung (vgl. Kap. 3.2.4.3), jedoch auch in der Auslandsbericht438 Die Unterscheidung zwischen Zeichen und Zeichenbedeutung verläuft analog dessen in der Linguistik Ferdinand de Saussures zwischen „Parole“ (Sprachrealisierung) und „Langue“ (Sprachsystem) oder der Unterscheidung zwischen „Performanz“ (Strukturrealisation) und „Kompetenz“ (grammatikalisches Strukturwissen) der „generativen Transformationsgrammatik“ von Noam Chomsky, die wiederum beide wichtige Quellen der modernen Diskursanalyse sind. 166 erstattung angesiedelt werden kann. In allen Bereichen können En-/ Dekodierungen von kulturellen Zeichen bei Journalisten sowie Konsumenten in die Konstruktion von Themen, Frames, Nationenbildern usw. einfließen. Essentialistische Kulturkonzepte müssen nicht als Konzept für ein Auslandsbild des Kulturkonflikts dienen, sondern die Vorstellung von der „Kugelform“ der Kulturen (Welsch)439 ist auch interkulturellen (wie multikulturellen) Diskursen immanent, die auf eine friedliche Koexistenz statt auf Kulturkampf zielen. Synkretistische Kulturkonzepte wiederum müssen ungeachtet ihres auf Heterogenität, Vermischung und die Konstruktion von Bedeutungsgemeinsamkeiten zielenden Ansatzes nicht eine aus verschiedenen Kulturen gespeiste Globalkultur anvisieren, sondern können kulturimperialistische Strategien (etwa eine westlich orientierte Globalisierung) stützen.440 In der Auslandsberichterstattung dominieren grenzüberschreitende, d.h. interund transkulturelle Kommunikationsprozesse (public-to-public communication). Mit Ausnahme der Berichterstattung über nationale, ethnische oder religiöse Minderheiten sind selbst diejenigen Teilbereiche des Darstellungsprozesses, die, wie die Korrespondentenarbeit, personelle Begegnungen ermöglichen, Teil eines medial vermittelten Prozesses der Nachrichtenübertragung, wobei zwischen dem in einem bestimmten Kulturkontext A beheimateten Nachrichtenerzeuger und dem Nachrichtenkonsumenten in Kultur B kein direkter Kontakt besteht. Massenkommunikation ist daher ein Prozeß vermittelnder Kulturkommunikation unter den Bedingungen georäumlicher Distanz; der Journalist ist in der Position eines „Sinn-Übersetzers“ zwischen den Kulturen. Ein theoretisches Modell für die Kulturkommunikation der Medien existiert bisher nicht, was verdeutlicht, daß die transkulturelle Kommunikationsforschung, wie Horst Reimann anmerkt, sich tatsächlich noch in einem „vorparadigmatischen Zu- 439 Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zur veränderten Verfaßtheit heutiger Kulturen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 45 (1995) 1, S. 40-42. 440 Die in den neunziger Jahren publizierte Forschungsliteratur in den Sozial- und Kulturwissenschaften spiegelt den Einfluß der unterschiedlichen oben skizzierten Kulturkonzepte wider. Der Versuch einer kulturtheoretischen Fundierung internationaler Politik von Samuel P. Huntington durch die These vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ (clash of civilizations) stellt eine Revitalisierung der essentialistisch Kulturkreistheorien früherer Jahrzehnte (z.B. Oswald Spengler) nach dem Ende des ideologisch prägenden Ost-West-Konflikts dar (Hafez, Der Islam und der Westen – Kampf der Zivilisationen?). Anti-essentialistisch argumentieren im Gegensatz zu Huntington etwa David Morley und Kevin Robins. Die Autoren folgern in Anlehnung an Homi Bhabha, daß Konzepte der „kulturellen Übersetzung“ (cultural translation), also des adäquaten Bedeutungstransfers geschaffen werden müssen, um zu einer Stärkung der Verwendung synkretistischer Kulturkonzepte in öffentlichen Diskursen zu gelangen (Morley, David/Kevin Robins, Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries, London/New York 1995, S. 105-107, 122-124). Die Gemeinschaftlichkeit von Grundwerten in verschiedenen Kulturen und Religionen betont auch der Theologe Hans Küng in seinem Weltethos-Konzept sowie der Kulturphilosoph Leonard Nelson. Hans Küng, Projekt Weltethos, München/Zürich 1990; Thomas Meyer, Leonard Nelson – Universelle Menschenrechte und konkrete Lebensinteressen, in: Kulturelle Unterschiede, Menschenrechte und Demokratie. Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Philosophisch-Politischen Akademie am 22./23. Oktober 1997 in Bonn, Bonn 1998, S. 29-43. 167 stand“ befindet.441 Die zentrale Position, die die Medien im Prozeß des internationalen Informationsflusses über Kulturen einnehmen, ist daher weithin unerforscht.442 Journalisten sind Sinn- oder Bedeutungsübersetzer kultureller Zeichensysteme wie Sprachen, Religionen oder politischen Kulturen. Im Unterschied zur interpersonalen Kulturkommunikation sind Journalisten bei grenzüberschreitenden Kommunikationsvorgängen zwischen Kulturräumen unentbehrlich, denn die vermittelnde Kulturkommunikation findet zwangsläufig durch Massenmedien statt. Markus Kriener hat darauf hingewiesen, daß funktional ausdifferenzierte Gesellschaften auf die Kodierung, Speicherung und Zirkulation von „kulturellem Sinn“ angewiesen sind.443 Journalisten nehmen, dies läßt sich in Anlehnung an Stuart Hall erkennen, arbiträre Kodierungen vor, wobei sie sich zumindest partiell an vorhandene Kodierungsneigungen der Konsumenten und an „professionelle Kodierungen“ der Medien anpassen müssen. Journalisten agieren prinzipiell im Spannungsfeld konkurrierender Sinndeutungsmöglichkeiten der Mono-, Inter-, Multi- oder Transkulturalität. Essentialistisch orientierte Journalisten, wie sie zum Teil im Zusammenhang mit der politischen Sozialisation der Journalisten vorgestellt worden sind (vgl. Kap. 3.2.2.1), neigen dazu, Bedeutungsunterschiede zwischen Kulturen hervorzuheben, während eine synkretistische Berichterstattung ungeachtet der Unterschiede auf der Zeichen- und Symbolebene Bedeutungsähnlichkeiten der Kulturen betont. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat beispielsweise die Interpretation von Bürgerkrigesn als „ethnischen Konflikten“ in der internationalen Medienkommunikation Auftrieb erhalten. Bürgerkriege in Ex-Jugoslawien, in Ruanda und in anderen Staaten sind vielfach mit kulturellen Differenzen erklärt worden, die sich konflikthaft entladen. Daß eine solche Erklärung nicht erschöpfend ist, wird deutlich, wenn man berücksichtigt, daß die Angehörigen unterschiedlicher Kulturen oder Religionen häufig lange Jahre friedlich koexistieren, und daß es in der Regel bestimmte politische und soziale Veränderungen der Kräftebalance sind, die „Kulturkriegen“ vorangehen. An der westlichen Berichterstattung ist kritisiert worden, daß sie dazu neigt, Kultur und Religion auf der einen Seite mit der Funktionalisierung von Kultur und 441 Horst Reimann, Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft. Zur Theorie und Pragmatik globaler Interaktion, Opladen 1992, S. 13. Zur inter- und transkulturellen Kommunikation vgl. a. Molefi Kete Asante/William B. Gudykunst (Hrsg.), Handbook of International and Intercultural Communication, Newbury Park u.a. 1989; Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.), Medienkultur – Kulturkonflikt, Opladen 1992; Richard L. Wiseman (Hrsg.), Intercultural Communication Theory, Newbury u.a. 1994; Markus Kriener, Kommunikative Identität: Zur Vielfalt und Einheit kultureller Kommunikation, in: Miriam Meckel/Markus Kriener (Hrsg.), Internationale Kommunikation. Eine Einführung, Opladen 1996, S. 201-212. 442 Hieran hat auch ein jüngst erschienenes Werk von Chris Barker über die Rolle des Fernsehens im Prozeß der globalen und kulturellen Ideologiebildung nichts geändert, da eine Untersuchung der Stellung des Journalisten und der Redaktion und der die Nachrichtengestaltung beeinflussenden Dialogprozesse unterbleibt und durch ein unbestimmtes kulturwissenschaftliches Credo ersetzt wird, wonach das Fernsehen globale und lokale Elemente der modernen Kultur- und Identitätsentwicklung repräsentiert und generiert. Chris Barker, Television, Globalization and Cultural Identities, Buckingham 1999. 443 Kriener, Kommunikative Identität, S. 208. 168 Religion durch politische Interessen und Gruppen und deren kultureller Abgrenzungspropaganda und Identitätsideologie auf der anderen Seite zu verwechseln, zumal kultur-immanente Erklärungen im Medienbild einfacher zu vermitteln sind als komplexe politisch-soziale Analysen.444 Da im Kapitel über die innergesellschaftliche Anschlußkommunikation der Auslandsberichterstattung gezeigt worden ist, daß auch Medienkonsumenten als aktive Nutzer von Kodierungsangeboten zu betrachten sind, ist die inter- oder transkulturelle Massenkommunikation als ein mehrstufiger Prozeß zu verstehen. Eine StimulusResponse-Vorstellung, wonach etwa bei elektronischen Medien eine bedeutungsidentische Übertragung stattfindet, ist zu vereinfachend. Inter-/transkulturelle En-/ Dekodierung bei Massenmedien und Mediennutzern erfolgt insgesamt etwa nach dem Schema in Abbildung 3.16. Der Vorgang der Kodierung von Kultursymbolen entspricht ungeachtet der verschiedenen in die Interpretationen einfließenden Kulturmodelle in jedem Fall der Kanalisierung der strukturellen Polysemie. Diesem Trend entgegenwirken kann der Journalist durch Polykodierungen, also durch alternative Deutungsangebote. Hall hat jedoch darauf hingewiesen, daß „präferierte Bedeutungen“ – nicht selten Kultur- und Nationenstereotype – dem Journalisten En-/Dekodierungsvorgänge erleichtern und damit zugleich ein Mindestmaß an Bedeutungsübereinstimmung zwischen Medien und Nutzern sichern. Hinzu kommen „professionelle Kodierungen“ wie die Nachrichtenfaktoren.445 444 Tim Allen/Jean Seaton (Hrsg.), The Media of Conflict. War Reporting and Representations of Ethnic Violence, London/New York 1999. 445 Vor allem die Bestimmung dessen, was als „kulturell nah“ definiert und deswegen mit größerer Häufigkeit beachtet und selektiert wird, zeigt, wie bereits angemerkt, daß die Nachrichtenwertforschung auf Realitätsprämissen, und zwar letztlich auf essentialistischen Kulturkonzepten beruht. Die Definition „kultureller Nähe“ setzt ein Verständnis der Gleichheits-/Ungleichheitsbeziehungen voraus, das sich in der Regel an historischen Entwicklungs- und Identitätsmustern oder gar an Kulturkreismodellen orientiert, was einer für quantitative Untersuchungsmethoden notwendigen Skalierung von Nähedefinition entgegenkommt, jedoch im Widerspruch zu anti-essentialistischen Kulturdefinitionen steht. 169 170 3.2.4.5.2 Auslandsberichterstattung und globale Interaktion – die Beziehungsebene Der zweite Theorieschwerpunkt der Kulturkommunikation in Medien beschäftigt sich mit dem Interaktionscharakter des Entstehungs- und Wirkungsprozesses der Berichterstattung. Dieser Theorieaspekt ist bisher nahezu überhaupt nicht erforscht worden. Auch die Aufforderung von Gerhard Maletzke aus dem Jahr 1981, die „Beziehungen, die Interaktionen und speziell die Kommunikationsprozesse zwischen den Systemen zu studieren“,446 hat wenig an dieser Tatsache geändert. Kulturelle Zeichen lassen sich nicht nur auf verschiedene Weise en-/dekodieren, sondern sie entstehen im Rahmen „fiktiver“ Interaktionen zwischen dem Kulturraum des Ursprungslandes der Nachricht, dem Kulturraum des Ziellandes der Nachricht und den Medien. Der Auslandsberichterstatter suggeriert seinem Publikum nicht, daß er seine eigene Interpretation widergibt, sondern daß er Symbol- und Zeicheninterpretationen der Kulturträger des anderen Kulturraums zu deuten versteht und in seiner Arbeit vermittelt. Die Entscheidung darüber, ob zwei oder mehr Kommunikationspartner identische oder differente Sinndeutungen hinsichtlich eines bestimmten Zeichens vornehmen, wird vom Journalisten nicht aus einer unabhängigen Perspektive untersucht, sondern er entwickelt Annahmen über die Bedeutung eines Zeichens für andere Akteure, die in der sozialen Interaktion verdichtet werden müssen. Überlegungen dieser Art rühren an theoretischen Konzepten wie dem symbolischen Interaktionismus,447 dem ABX-Schema von Theodore M. Newcomb448 oder dem Koorientierungsansatz von Jack M. McLeod und Steven R. Chaffee.449 Auch wenn keiner der genannten Ansätze inter-/transkulturelle Themen oder gar deren Behandlung in Massenmedien berührt hat, erweitern sie doch das Verständnis über Interaktionsprozesse und weisen auf Analogien im Medienbereich. Die Grundlagen des symbolischen Interaktionismus beschreibt Herbert Blumer wie folgt: „Weder betrachtet er [der symbolische Interaktionismus/K.H.] die Bedeutung als den Ausfluß der inneren Beschaffenheit des Dinges, das diese Bedeutung hat, noch ist für ihn die Bedeutung das Ergebnis einer Vereinigung psychologischer Elemente im Individuum. Vielmehr geht für ihn die Bedeutung aus dem Interaktionsprozeß zwischen verschiedenen Personen hervor. Die Bedeutung eines Dinges für eine Person ergibt sich aus der Art und Weise, in der andere Personen ihr gegenüber in bezug auf dieses Ding handeln.“450 446 Gerhard Maletzke, Internationale und interkulturelle Kommunikation. Vorschläge für Forschung und Lehre, in: Publizistik 26 (1981) 3, S. 347. 447 Herbert Blumer, Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus, in: Roland Burkart/Walter Hömberg (Hrsg.), Kommunikationstheorien. Ein Textbuch zur Einführung, Wien 1992, S. 23-39. 448 Theodore M. Newcomb, An Approach to the Study of Communicative Acts, in: Psychological Review 60 (1953) 6, S. 393-404. 449 Jack M. McLeod/Steven R. Chaffee, The Construction of Social Reality, in: James T. Tedeschi (Hrsg.), The Social Influence Processes, Chicago/New York 1972, S. 50-99. 450 Blumer, Der methodologische Standort, S. 25 f. 171 Diese interaktionistische Herangehensweise wird auch im Koorientierungsansatz zu Grunde gelegt. Kommunikationsvorgänge werden durch ein Dreischrittverfahren charakterisiert: • Sind mehrere Akteure („A“ und „B“ bei Newcomb) auf ein bestimmtes Symbol („X“ bei Newcomb) orientiert, gelten sie als „koorientiert“, ihre jeweiligen Bedeutungsinterpretationen können verglichen und das Maß an „Einverständnis“ (agreement) kann gemessen werden. • Im nächsten Schritt kann ermittelt werden, inwieweit die Akteure selbst annehmen, daß ihre Bedeutungsauslegung mit der des anderen übereinstimmt, woraus das Maß der „Übereinstimmung“ (congruency) bestimmt wird. • Schließlich werden „Einverständnis“ und „Übereinstimmung“ in bezug auf ihre „Genauigkeit“ (accuracy) verglichen.451 Entscheidend an diesem Modell ist, daß mit seiner Hilfe gezeigt werden kann, daß zwischen den Sinn- und Bedeutungssystemen von Kommunikationspartnern ein Maß an Übereinstimmung (oder Nicht-Übereinstimmung) herrschen kann, das mit den Annahmen der Kommunikationspartner über das Maß ihrer Übereinstimmung (Nicht-Übereinstimmung) nicht identisch sein muß und insofern eine inadäquate Realitätsinterpretation kommuniziert wird. Sind beispielsweise die Sinninterpretationen ähnlicher als die Interaktionspartner dies annehmen, spricht man vom Phänomen der „kollektiven Nichtbeachtung“ (pluralistic ignorance). Die Annahme der Nichtübereinstimmung wiederum führt häufig zu einem niedrigen Kommunikationsniveau, während die Annahme der Übereinstimmung die Bereitschaft zur Kommunikation in der Regel steigert.452 In bezug auf die Massenmedien ergibt sich folgendes Problem: der Journalist kann als unabhängiger Dritter betrachtet werden, der Bedeutungsinterpretationen von Kommunikatoren (hier: den Bewohnern von Kulturräumen) und ihre wechselseitigen Positionsannahmen vergleicht und das Maß an „Genauigkeit“ der Kommunikation bestimmt. Er kann jedoch auch selbst als Kommunikationspartner eingestuft werden, was der Stellung der Massenmedien als „Sinn-Übersetzern“ zwischen den Kulturen entspricht. In diesem Fall ist es der Journalist, der Bedeutungen en-/dekodiert, Annahmen über die Bedeutungen von kulturellen Zeichen für andere Interaktionspartner entwickelt, ohne daß er selbst in der Lage sein muß, das tatsächliche Maß an Bedeutungsübereinstimmung festzustellen. Legt man das Modell von Chaffee und McLeod zugrunde, können auslandsberichterstattende Medien zu koorientierten Kommunikationspartnern anderer Kulturräume werden. Zwischen den Medien und Kommunikatoren in anderen Kulturräumen herrscht grundsätzlich ein mehr oder weniger großes „Einverständnis“ (agreement) hinsichtlich der Konzentration auf bestimmte kulturelle Erscheinungen (Zeichen). Die Medien suchen den Grad der „Übereinstimmung“ (congruency) zwischen ihren En-/Dekodierungsleistungen und denen der Kommunikationspartner in anderen 451 McLeod/Chaffee, The Construction, S. 60 ff. 452 Ebenda, S. 63. 172 Kulturräumen zu ermitteln, wobei ihnen Fehleinschätzungen hinsichtlich der „Genauigkeit“ (accuracy) – einem Vergleichswert von „Einverständnis“ und „Übereinstimmung“ – unterlaufen können. Von mangelnder „Genauigkeit“ oder „kollektiver Nichtbeachtung“ (pluralistic ignorance) im Bereich der Kulturkommunikation kann man sprechen, wenn Deutungsdifferenzen als größer oder kleiner eingeschätzt werden als sie es tatsächlich sind. Störungen der medialen Kulturkommunikation entstehen nicht nur durch die Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die kulturelle Zeichen für die Kommunikationspartner besitzen, sondern sie entstehen auch dadurch, daß Vorstellungen, die die Medien von den Deutungen der Kommunikationspartner des jeweils anderen Kulturraums (andere Medien, Organisationen, Institutionen oder Personen) haben, ungenau im Sinne des Koorientierungsmodells sind. Dies bedeutet, daß ungeachtet der möglicherweise großen Übereinstimmung in der kulturellen Sinngebung fehlerhafte Annahmen über die Bedeutungszumessungen seitens des Kommunikationspartners zu inter-/transkulturellen Kommunikationsstörungen und kulturellen Pseudodifferenzen führen können. „Kollektive Nichtbeachtung“ und andere Probleme auf der Beziehungsebene grenzüberschreitender Kulturkommunikation in Medien können das Ergebnis ungleicher Prestige-, Einfluß- und Machtverteilungen sein. Starke Ähnlichkeiten mit dem Koorientierungsansatz weist Paul Watzlawicks, Janet H. Beavins und Don D. Jacksons453 Unterscheidung zwischen Kommunikationsstörungen auf der Inhaltsebene und Kommunikationsstörungen auf der Beziehungsebene auf. Heike Bartholy hat versucht, diese Unterscheidung für die interkulturelle Kommunikationsforschung fruchtbar zu machen. Die Inhaltsebene entspricht bei Bartholy der bereits dargelegten Problematik der En-/Dekodierung von Kultursymbolen.454 Auf der Beziehungsebene werden die Aspekte der sozialen Interaktion berücksichtigt,455 die in die inter-/ transkulturelle Kommunikation einfließen und eventuell zu Störungen auf der Beziehungsebene führen können, beispielsweise wenn das soziale Prestige der Kommunikatoren oder die Symmetrie der Machtverhältnisse gestört ist.456 453 Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern u.a. 1990 (8., unveränd. Aufl.), S. 53 ff., 79 ff. 454 Deutungsunterschiede in verschiedenen Kulturen führen demnach zu Kommunikationsstörungen. 455 Heike Bartholy, Barrieren in der interkulturellen Kommunikation, in: Horst Reimann (Hrsg.), Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft. Zur Theorie und Pragmatik globaler Interaktion, Opladen 1992, S. 174-191. 456 Auch die Inhalts-/Beziehungsgliederung, die aus dem Bereich der interpersonalen Kommunikation übernommen worden ist, kann für inter- bzw. transkulturelle Problemstellungen weiterentwickelt werden. Beispielsweise hat Friedemann Schulz von Thun darauf hingewiesen, daß in dem Fall, daß eine zu starke Kluft zwischen Inhalt und Beziehung entsteht, der Sachinhalt einer Kommunikation also den Beziehungsaspekten der Kommunikation zuwiderläuft (zum Beispiel ein sachlicher Hinweis, der vom Botschaftsempfänger jedoch als Aggression gedeutet wird), Kommunikation in einen Zustand der „Verflochtenheit“ geraten kann. Sachliche Botschaften werden in diesem Zustand vom Empfänger geradezu systematisch anders dekodiert als dies vom Sender beabsichtigt war und werden als persönliche Angriffe empfunden. Von Thun schlägt vor, die unmöglich gewordene Sachkommunikation an dieser Stelle auszusetzen und zu einer „Beziehungsklärung“ überzugehen (Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie 173 Der Zusammenhang von sozialer/politischer Macht und Kulturdeutung ist von einer Reihe anderer Autoren untersucht worden, insbesondere von Stuart Hall und Edward Said. Stuart Hall hat auf den Machtcharakter des öffentlichen Diskurses über kulturelle Identitätsfragen hingewiesen. Kollektive kulturelle Identitätsvorstellungen entstehen demnach dadurch, daß bestimmte Kulturdeutungen von Gruppen oder Personen präferiert und propagiert werden, und daß es diesen Kräften gelingt, ihre Interpretationen der Kultur gesellschaftlich durchzusetzen, d.h. sie verfügen über die kulturelle Definitionsmacht.457 Eine solche Macht kann autoritär im Sinne kultureller Propaganda sein, oder aber sie basiert auf der demokratischen Anerkennung kultureller Normen bestimmter Kräfte als gesamtgesellschaftlich prägend. Edward Said hat sich weniger mit dem Zusammenhang von Kultur und Macht bei Auto- als bei Hetero-Stereotypen beschäftigt. Er hat den Einfluß politischer und sözio-ökonomischer Macht auf westliche Stereotype und Feindbilder „des Orientalen“ untersucht. Dabei macht er für die aus seiner Sicht häufig bestehende „orientalistische“, d.h. nach einem traditionellen Regelwerk der Wahrnehmung konstruierte Deformation von Medienbildern weniger die Mechanismen des Mediensystems als vielmehr die „imperialistische“ Dominanz des Westens über die außereuropäische Welt verantwortlich, die das westliche Weltbild – Verzerrungen wie Auslassungen – geformt haben. Edward Said: „Obwohl es gewiss zutrifft, daß die Medien weitaus besser für den Umgang mit Karrikatur und Sensation gerüstet sind als für die Entzifferung der leisen Zeichen von Kultur und Gesellschaft, ist der tiefere Grund für die Mißverständnisse die imperiale Dynamik, vor allem ihre trennenden, essentialisierenden, reaktiven und Herrschaftstendenzen.“458 Exemplarisch läßt sich eine statusbedingte Interaktionsstörung der inter- und transkulturellen Kommunikation am Verhältnis von Hochindustrie- und Entwicklungsländern in der Auslandsberichterstattung erklären. Im Zusammenhang mit dem Nachrichtenfaktor „Regionalismus“ ist bereits darauf hingewiesen worden, daß ungeachtet der in allen Ländern erkennbaren Bevorzugung der eigenen Region, der Westen in den Medien der Entwicklungsländer präsenter ist als umgekehrt (vgl. Kap. 3.2.1.2). Die relativ große Attraktivität der westlichen Kultur ist nicht zuletzt die Folge ihrer politischen wie ökonomischen Hegemonie. Die Interaktionssymmetrie kann sich in den westlichen Industriestaaten in mangelnder thematischer Berücksichtigung459 der außereuropäischen Kultur bemerkbar machen. In einem solchen Fall der Kommunikation, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 198 ff.). Bei inter-/transkulturellen Fragen ist der mediale Kulturdialog gefragt. 457 Stuart Hall, Who Needs „Identity“?, in: Stuart Hall/Paul du Gay (Hrsg.), Questions of Cultural Identity, London 1996, S. 5. 458 Edward W. Said, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Aus dem Amerikanischen von Hans-Horst Henschen, Frankfurt 1994, S. 76. 459 Vgl. a. Ernst v. Kardorff, „Thematisches Bewußtsein“ als Basis lebensweltlich-handlungsbezogenen Fremdverstehens. Zu den soziologischen Grundlagen interkultureller Kommunikation, in: Josef Gerighausen/Peter C. Seel (Hrsg.), Interkulturelle Kommunikation und Fremdverstehen. Dokumentation eines Werkstattgesprächs des Goethe-Instituts München vom 16.-17. Juni 1983, München 1983, S. 136-185 174 führt eine Störung auf der Beziehungsebene zu Störungen auf der Inhaltsebene.460 Durch Beziehungsasymmetrie bedingte Störungen der Kulturkommunikation sind gleichwohl ein mehrseitiges Problem. Auch geringe kulturelle Durchsetzungskraft in der globalen Massenkommunikation kann zu Beziehungsstörungen der Kommunikation führen, beispielsweise wenn Kommunikatoren in den Entwicklungsländern westliche Menschenrechtsargumentationen mit dem Argument zurückweisen, eine solche Argumentation entspringe grundsätzlich „imperialistischen“ Absichten: eine Kommunikationsannahme auf der Beziehungsebene, die eine Auseinandersetzung über Inhalte behindert. 3.2.4.5.3 Auslandsberichterstattung und multikulturelle Gesellschaft Im Rahmen des vorliegenden Theorieentwurfs kann nicht der Gesamtzusammenhang zwischen Medienberichterstattung und der Entwicklung der „multikulturellen Gesellschaft“461, sondern lediglich die Funktion und Wirkung der Auslandsberichterstattung in der und auf die Einwanderergesellschaft erörtert werden. Es geht also nicht um die Darstellung von Ausländern und Minderheiten in den Medien im allgemeinen,462 sondern um mögliche Interferenzen zwischen der Darstellung auswärtigen Geschehens und dem Bild von Ausländern (im Inland bzw. Stammland eines Mediums). Kategorial handelt es sich dabei um eine besondere Form der Interaktion zwischen In- und Auslandsberichterstattung, um die bereits thematisierten foreign news at home (im Unterschied zu foreign news abroad bzw. home news abroad; vgl. Kap. 460 Anna M. Theis: „Wenn aus interkulturellen Studien vielfach die Konsequenz abgeleitet wird, die Lösung interkultureller Kommunikationsprobleme sei durch eine entsprechende Sensibilisierung der Teilnehmer für kulturbedingte Unterschiede zu erreichen, wird dabei übersehen, daß sich die Notwendigkeit zur Empathie, zu der die angestrebte Sensibilisierung führen soll, in asymmetrischen Kommunikationsbeziehungen keineswegs für alle Beteiligten gleichermaßen ergibt. Bei einem existierenden Machtgefälle wird ein ‘Empathiedruck’ in der Regel für denjenigen spürbar, der über das geringere Sanktionspotential verfügt und dies auch weiß. Entgegen dem traditionellen Kommunikationsmodell, welches lediglich Interpretationsaspekte strapaziert, ist davon auszugehen, daß (sich) strukturelle Asymmetrien auch (...) in der Bestimmung des Ortes, der Häufigkeit und Form der Berichterstattung oder der Determination der Gesprächsinhalte (‘issues management’) manifestieren.“ Anna M. Theis, Weltgesellschaft und interkulturelle Organisationskommunikation: Kontrolle von Kultur oder Kultur als Kontrolle, in: Horst Reimann (Hrsg.), Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft. Zur Theorie und Pragmatik globaler Interaktion, Opladen 1992, S. 273. 461 Die Begriff kann ungeachtet seiner in Kap. 3.2.4.5.1 angedeuteten Problematik an dieser Stelle nicht diskutiert werden, sondern deutet paradigmatisch auf das durch Migration entstandene Nebenund Miteinander von Kulturen, Ethnien und Religionen im modernen Nationalstaat. 462 Vgl. u.a. Christoph Butterwegge/Gudrun Henges/Fatma Sarigöz (Hrsg.), Medien und multikulturelle Gesellschaft, Opladen 1999; Ausländer und Massenmedien. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Vorträge und Materialien einer internationalen Fachtagung vom 2. bis 4. Dezember 1986, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1987; Siegfried Jäger/Jürgen Link (Hrsg.), Die vierte Gewalt. Rassismus und die Medien, Duisburg 1993; Klaus Merten (Hrsg.), Das Bild der Ausländer in der deutschen Presse. Ergebnisse einer systematischen Inhaltsanalyse, Frankfurt 1986; HansBernd Brosius/Frank Esser, Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt, in: Jürgen W. Falter/Hans-Gerd Jaschke/Jürgen R. Winkler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Sonderheft Politische Vierteljahresschrift 37 (1996) 27, S. 204-218. 175 3.2.4.3). Dabei sind nicht allein institutionelle oder personelle Verbindungen von Belang, beispielsweise wenn Kurden in Deutschland demonstrieren, weil in der Türkei der Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, im Gefängnis sitzt oder Muslime in Bradford, England, Bücher von Salman Rushdie verbrennen und die nationalen Medien diese Ereignisse jeweils aufgreifen. Diese klassischen Formen der foreign news at home zeichnen sich dadurch aus, daß Angehörige einer Minderheit sich selbst in einen Handlungskontext mit auswärtigem Geschehen einfügen, was dann durch die Medien thematisiert und interpretiert wird. Externes Geschehen und interne Resonanz fügen sich in solchen Fällen in ein Handlungsgeflecht, dessen Ursachen-Wirkungs-Gefüge staatliche Grenzen und Medienräume überschreitet, ohne daß die Handlungen selbst diese Grenzen (etwa im Rahmen eines internationalen Konflikts) überschreiten. Erneut ist aber auch eine andere Form der Interaktion zwischen In- und Auslandsberichterstattung in den Medien von Interesse: die thematisch-diskursive Interaktion (Kap. 3.2.4.3.1). Welche innergesellschaftlichen Anschlußdiskurse der inter-/ transkulturellen Kommunikation und des globalen Kulturkonflikts können entstehen, und welches Einflußpotential besteht hinsichtlich des Medienbildes der Ausländer bzw. einzelner ethnisch-religöser Minderheiten? Solche Interaktionen können auf personellen und institutionellen Verbindungen im Rahmen eines effektiven Handlungskontextes basieren, wie in den oben genannten Beispielen. Sie können jedoch auch ohne solche Vorraussetzungen gebildet werden, d.h. das Bild einer Minderheit kann über den Umweg der Auslandsberichterstattung aber ohne das aktive Zutun der Minderheit durch die Darstellung auswärtigen Geschehens und die Bildung interner Anschlußdiskurse beeinflußt werden. Andrea Böhm hat beispielsweise während des Kosovo-Krieges von 1999 einen Wandel in der Wahrnehmung der Kosovaren in Deutschland beobachtet, die vor dem Krieg häufig als Asylsuchende und Kriminelle in Erscheinung traten, seit Ausbruch des Krieges jedoch zu Opfern „ethnischer Säuberung“ eine öffentliche Neubewertung erfuhren.463 Diese Bildveränderung kann nicht als Reaktion auf das Handeln der Kosovaren in Deutschland gedeutet werden, etwa als Reaktion auf Demonstrationen während des Krieges, sondern sie war eine Rückwirkung einer dominierenden Interpretation auswärtigen Geschehens (des Kosovo-Krieges) auf das Bild einer ethnischen Minderheit in Deutschland. Bisher existieren keine Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Auslandsbild und Ausländerbild bzw. zwischen Nationenbildern (z.B. über die Türkei) und dem Bild einer ethnisch-religiösen Minderheit (z.B. der Türken in Deutschland). Es muß jedoch angenommen werden, daß das Ausländerbild der Medien ein Amalgam aus Bildern in Deutschland lebender Ausländer (bzw. Deutscher nicht-deutscher Herkunft) und dem Auslandsbild, also eine Verbindung aus Bildkonstruktionen der Nah- und der Fernwelt ist, und daß sich diese Bestandteile spätestens auf der Ebene der Mediennutzung durch die Konsumenten verbinden. Untersucht werden könnte, 463 Andrea Böhm, Die mediale Täter-Opfer-Falle: Ausländer als Objekte journalistischer Begierde, in: Christoph Butterwegge/Gudrun Henges/Fatma Sarigöz (Hrg.), Medien und multikulturelle Gesellschaft, Opladen 1999, S. 95. 176 ob das Bild des „mafiösen Rußland“ mit dem Bild der „Russenmafia“ in Deutschland in Verbindung steht, ob Terrorismus im Nahen Osten das Bild der Araber beeinflußt, oder ob muslimische oder jüdische Minderheiten eine Art „Orientalisierung“ im Medienbild und bei Medienkonsumenten erleben. Demoskopische Untersuchungen haben gezeigt, daß zwischen dem heutigen Israel-Bild in der deutschen Öffentlichkeit und dem Bild der Juden große Überseinstimmungen bestehen,464 und daß nahezu die Hälfte der Bundesbürger annimmt, daß Juden stärker zu Israel als zu Deutschland halten,465 was annehmen läßt, daß zwischen Israel- und Judenbild nicht nur strukturelle Ähnlichkeiten bestehen, sondern auch kogntive Zusammenhänge gebildet werden. Wenn sich bestätigen sollte, daß das Auslandsbild, also ein Bild exogenen Ursprungs, das Bild einer gesellschaftlichen Gruppe mitprägen kann, dann entwickelt jede Auslandsberichterstattung, die mit einer solchen Gruppe in Verbindung gebracht werden kann, ein innergesellschaftliches „Zweitbild“, und zwar auch dann, wenn diese Gruppe nicht durch einen Handlungszusammenhang in Erscheinung tritt, sondern lediglich auf Grund einer denkbaren oder angenommenen ethnischen, kulturellen oder religiösen Bindung. Medienkommunikation ist daher nicht allein geeignet, Kulturontakte und -konflikte auf globaler Ebene zu fördern, sondern es besteht auch eine potentielle Verbindung zwischen Auslandsberichterstattung, der multikulturellen Gesellschaft und ethnisch-religiösen Konflikten einer Gesellschaft. 464 Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984-1992, Hrsg. von Elisabeth Noelle-Neumann und Renate Köcher, München u.a. 1993, S. 998. 465 Ebenda, S. 1000. 177 Zusammenfassung Der Geltungsbereich der hier entworfenen Theoriematrix erstreckt sich auf grenzüberschreitende Darstellungsprozesse in Massenmedien (Auslandsberichterstattung), wobei die Grenzen von nationalen, kulturellen oder religiösen Großräumen geeignet sein können. Rückwirkungen medialer Darstellungsprozesse auf multi-, inter- und transkulturelle Interaktionsbeziehungen innerhalb von Staaten werden ebenfalls berücksichtigt. Die Theorie beschränkt sich auf den „vermittelnden Journalismus“ von Presse, Radio und Fernsehen und schließt Medien, die wie das Internet nicht eindeutig den Massenmedien zuzurechnen sind, da sie zu viele Elemente der Individualkommunikation aufweisen, aus. Die theoretische Reflexion beschäftigt sich zudem nur am Rande mit Sendung und Empfang von Satellitenrundfunk. Vielmehr wird versucht, Strukturen und Einflußfaktoren der Auslandsberichterstattung zu beschreiben, die keine Einspeisung ausländischer Programme ist, sondern einen Prozeß der journalistischen Informationsbeschaffung und -verarbeitung aus einem außerstaatlichen Kontext für ein heimisches Publikum darstellt. Bisher ist keine homogene Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse formuliert worden. Weder die modernisierungs- noch die dependenzoder imperialismustheoretische Medientheorie hat bisher die Ebene der anwendungsbezogenen Theorieformulierung erreicht, obwohl gerade die letztgenannten Ansätze wiederholt auf Mängel des Nachrichtenflusses im Nord-Süd-Kontext aufmerksam gemacht haben. Anwendungsbezogenheit ist auch ein Defizit des vorherrschenden Paradigmas der neunziger Jahre, der Globalisierungstheorie, da in der Regel weder die Auslandsberichterstattung zur Grundlage der Theoriebildung gemacht wird noch eine Differenzierung erfolgt, die eine konkrete Hilfestellung zur Erklärung von Textmerkmalen bietet. Wenngleich die paradigmatische Akzentverschiebung von der nationalstaatlichen zur globalen Entwicklungsperspektive Probleme der Auslandsberichterstattung in ihrem Grundsatz schärfer fokussiert, verbleiben sowohl Konversionstheorien des Global Village (MacLuhan) oder der „Glokalisierung“ (Robertson) als auch „Domestizierungstheorien“, die davon ausgehen, daß ungeachtet wachsender technischer und ökonomischer Vernetzung inhaltliche Partikulareinflüsse in den Medien nach wie vor überwiegen, in einem weitgehend vortheoretischen Stadium. Die vorgelegte Theoriematrix internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse erfaßt inhaltliche Strukturen der Auslandsberichterstattung sowie deren Entstehungs- und Wirkungsbedingungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Entstehung und Wirkung werden zudem auf mehreren Ebenen der Stellung des Journalisten (Mikroebene), der Medienorganisation und des -systems (Mesoebene) und des Zusammenwirkens von Medien, Politik und Gesellschaft (Makroebene) erörtert. Bei der Theoriebildung sind teils neue Theoreme formuliert, teils bestehende Theoreme (z.B. Agenda-Setting) integriert und für den internationalen Kontext adaptiert worden. Die Systematik der theoretischen Darstellung hat geholfen, Leerstellen der Theorie (z.B. Sozialisationseinflüsse des Auslandsjournalisten, Beziehungen zwi- 178 schen In- und Auslandsberichterstattung, transkulturelle Kommunikation im medialen public-to-public-Vermittlungsprozeß) zu lokalisieren und zu schließen. Die in der Soziopsychologie uneinheitlich verwendeten Begriffe „Bild“, „Stereotyp“ und „Feindbild“ sind definiert worden, wobei der Schwerpunkt des Stereotypenbegriffs in der kognitiven Ordnungsfunktion und der des Feindbildbegriffs in der Beziehung Bild-Realität sowie in der konativen Komponente der Handlungsmotivation zu suchen ist. Stereotype und Feindbilder sind weder generell „pathologisch“ (im Sinne einer Fehlwahrnehmung) noch „normal“ (im Sinne der Unvermeidlichkeit komplexitätsreduzierender Wahrnehmung), sondern sie sind entwicklungsfähig (etwa im Sinne normativer politischer Bildungsziele). Bilddifferenzierungen sind in jedem Einzelfall ohne Verlust der primären Orientierungsfunktion des Bildkomplexes möglich. Nationen-, Völker-, Kultur- und Religionsbilder sind demnach traditionsträchtige, aber nicht unveränderbare Massenstereotype oder -feindbilder. Sie entstehen auf der Basis von Essentialisierungsvorgängen und weisen eine Tendenz zur Vereinheitlichung auf, können gleichwohl auch Differenzierungen beinhalten, die nicht nur in Bildkomplexen einzelner Subsysteme der Gesellschaft (z.B. der Wissenschaft) zu suchen sind, sondern auch den mainstream einer Kultur, wie ihn etwa die allgemeine Presse repräsentiert, erfassen können. Neben kulturdauernden sind beispielsweise auch kulturepochale Bilder und zeitgenössische Bildschwankungen zu erkennen. Die Perzeption nationaler, religiöser, kultureller und anderer Großgruppen beinhaltet zudem spezifische Konstellationen wie das Spiegelbild-Denken, Nullsummenkalkulationen usw., die je nach Sinnkontext, geographischem Bezug und Zeitzusammenhang in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sind. Allgemein kann gelten, daß unter den Bedingungen geokultureller und geopolitischer Distanz den Medien als Vermittlungsinstanz von Nationen und anderen Bildern (Auslandsberichterstattung) eine höhere Wirkungspotenz zugebilligt werden muß als im Nahbereich der gesellschaftlichen Perzeption (z.B. Lokalberichterstattung). Die vorliegende Theoriematrix nutzt die Potentiale des Stereotypenansatzes zur Erforschung der Medieninhalte, sie geht aber über dessen Begrenzungen hinaus. Medienberichterstattung enthält neben Stereotypen und Feindbildern auch komplexere Bildstrukturen, sie transportiert Fakten, Argumente und Positionen. Die Gefahr der auschließlichen Verwendung der soziopsychologischen Bild- in der Medienforschung liegt darin, daß außer acht gelassen wird, daß nur ein sehr begrenzter Teil des Nachrichtenstroms untersucht wird und daß durch theoretische Verengung eine Vorwegnahme des Grundtenors der Auslandsberichterstattung („Auslandsberichterstattung ist stereotyp“) erfolgt. Daher ist hier das Konzept des „Auslandsbildes“ eingeführt worden, das neben Bildern, Stereotypen und Feindbildern auch prozeßorientierte Kommunikationselemente wie „Frame“, „Thema“ und „Diskurs“ aufweist. Als Leitsatz gilt: Auslandsberichterstattung ist medial vermitteltes Auslandsbild. Theoretisch ist vorgesehen, im Einzeltext wie im Zusammenhang des Mediendiskurses Prozeßargumente (Frames), kognitive Hierarchisierungen (Themata), die Konkurrenzkämpfe und das Eigenleben von Themen und Frames (bis zur Bildung von master frames) sowie Schwankungen im Argumentationsgefüge der Auslandsberichterstattung zu untersuchen. Mit Hilfe einer diskursorientierten Herangehensweise 179 läßt sich rekonstruieren, wie Handlungsabläufe der internationalen Politik oder anderer Bereiche in Auslandsberichterstattung medial konstruiert werden. Perzeptions- und kommunikationstheoretische Annahmen werden zu einer eigenständigen Strukturlehre der Auslandsberichterstattung weiterentwickelt. Die Theorie internationaler Darstellungsprozesse der Medien darf nicht als eine Ableitung der allgemeinen Stereotypen- und Kommunikationstheorie, sei sie soziopsychologisch oder diskurstheoretisch ausgerichtet, verstanden werden, da auf diese Weise medientypische Bildstrukturen und Einflußfaktoren von Journalisten, Medienorganisation, Politik und Gesellschaft außer acht gelassen werden. Ein Katalog wesentlicher Strukturmerkmale des Auslandsbildes von Medien wird im vorliegenden Ansatz erstellt, indem zentrale Aussagen des MacBride-Berichts der UNESCO mit Theoremen der empirschen Forschung (insbesondere zum Bild der Entwicklungsländer in Medien der Industriestaaten) sowie mit Nachrichtenfaktorenkatalogen vernetzt werden. Dabei erweisen sich Probleme wie die Dekontextualisierung der Nachricht, des Regionalismus der Nachrichtengeographie, der Politikzentrierung oder der Elitenzentrierung als Kernbereiche eines Strukturmodells des medialen Auslandsbildes. Für die theoretische Nutzung sind allerdings eine Reihe von Folgefragen zu klären, etwa bei der Formulierung von Maßstäben zur Bestimmung einer Konfliktperspektive (z.B. absoluter oder relativer Anteil von Negativismus; abstraktes Realitätsmodell oder Ländervergleich) oder hinsichtlich der Feststellung, daß kontextorientierte Auslandsberichterstattung in einem Dilemma zwischen notwendiger Schaffung der im Vergleich zum Inlandskontext fehlenden Zusammenhänge einerseits und Kapazitätsüberforderung andererseits agiert. Reflexionen über Maßstäbe des Berichteten haben sich als ebenso bedeutsam erwiesen wie Reflexionen über das Nichtberichtete. In den MacBride-Bericht ist die Annahme eingeflossen, daß in der Auslandsberichterstattung etwa wesentliche Strukturprobleme der internationalen Beziehungen nicht thematisiert werden, was theoretisch zu der Frage führt, wie die Medienagenda im Bereich der Auslandsberichterstattung beschaffen ist und wie sie entsteht (s.u.). Da mediale Thematisierung jedoch als gesamtgesellschaftlicher Vorgang mit zahlreichen Akteuren zu betrachten ist, müssen vor der makrotheoretischen Betrachtung Einflußgrößen auf den Medientext durch Journalisten (Mikroebene) und Medienorganisation/-system (Mesoebene) erörtert werden. Die individuelle politische Sozialisation des Journalisten erfolgt in einem dem Berufseintritt vorgelagerten Prozeß der Ausbildung von Werthaltungen und Ideologien, der das Auslandsbild der Medien beeinflussen kann. Eine kursive Auswertung von Publikationen deutscher Presse- und Rundfunkjournalisten hat beispielsweise gezeigt, daß zwar kein Rassismus, aber kulturalistisch-essentialistische Ideologeme der „Fremdartigkeit“ nichtwestlicher Kulturen verbreitet sind. Im Bereich der beruflichen Sozialisation können Rollenvorstellungen des Auslandsjournalismus als normative Handlungskonzepte auf die Textgestaltung einwirken. Rollenmodelle, die den Auslandsjournalisten als „neutralen Informanten“ einstufen, belassen die individuellen Werthaltungen der politischen Sozialisation (s.o.) in einem Zustand der Selbstkontrolliertheit. Sie erleichtern allerdings auch das Eindringen von Propaganda und strategischen Kommunikationsangeboten von Regierungen und anderen Akteuren der internationalen Beziehungen. 180 Vorstellungen vom Journalisten als „Mitgestalter der Außenpolitik“ gliedern sich in mehrere Teilkonzepte: „Repräsentant der Öffentlichkeit“, „Kritiker der Außenpolitik“ und „Advokat der Außenpolitik“. In der Information der Öffentlichkeit und der Repräsentation außenpolitischer und international orientierter Einstellungen der Öffentlichkeit liegt der normative Schwerpunkt des Mitgestaltungsgedankens. Untersuchungen des Verhältnisses Medien-Politik haben bestätigt, daß dies auch die wichtigste Funktion der Medien aus der Sicht von Außenpolitikern ist (sog. „Ressourcenfunktion“). Im vorliegenden Rahmen konnte gezeigt werden, daß das Rollenmodell der Mitgestaltung auch im deutschen Journalismus existiert, wobei klassische Vorstellungen vom Auslandskorrespondenten als „Botschafter“ des Landes nicht mehr opportun sind, aber politische Mitwirkung zum Teil angestrebt wird. Die Vorstellung der Mitgestaltung in der Außenpolitik setzt die Idee der Medien als „vierte Gewalt“ im Bereich der Auslandsberichterstattung um. Sie entspricht dem realen Informationsvorsprung der Journalisten gegenüber weiten Teilen der Rezipienten/Konsumenten unter den Bedingungen der geokulturellen Distanz. Allerdings wird hier zugleich ein elitäres Element eines nicht demokratisch legitimierten politischen Gestaltungsanspruchs erkennbar, der sich daran messen lassen muß, ob der Journalismus seinerseits die Öffentlichkeit hinreichend über außenpolitische und internationale Vorgänge informiert, Öffentlichkeit repräsentiert und so Voraussetzungen zur gesamtgesellschaftlichen Mitgestaltung der Außenpolitik schafft (s.u.: Agenda-Setting). Es hat sich außerdem gezeigt, daß die Rollenvorstellungen des deutschen Auslandsjournalismus nicht nur Information, Repräsentation und Mitgestaltung, sondern auch eine von der Tagespolitik entfernte kulturelle Mittlertätigkeit beinhalten. Weder die außenpolitische Mitgestaltung noch die interkulturelle Vermittlung sind bislang in vielen europäischen Verhaltenskodizes formuliert worden, d.h. sie sind bisher nur schwach institutionalisiert und unterliegen einem „Gesinnungsvorbehalt“ des einzelnen Auslandsjournalisten. Die vorliegende Theoriematrix hebt hervor, daß zwischen politischen und beruflichen Sozialisationseinflüssen keine Harmonie bestehen muß, sondern individuelle journalistische Normenkonflikte können Bestandteile der Auslandsberichterstattung sein und sich als argumentative Widersprüche in den Medientexten niederschlagen, was die Vorstellung eines homogenen Auslandsbildes von Journalisten und Redaktionen im Grundsatz relativiert. Einflüsse der Medienorganisation und des Mediensystems auf die Auslandsberichterstattung sind in der älteren Distanztheorie als eine serielle Kumulation von individuellen Gatekeeper-Vorgängen (etwa von der Nachrichtenagentur über den Auslandskorrespondenten zur Auslandsredaktion) verstanden worden. Dem entgegen setzt die vorliegende Theoriematrix die Annahme, daß komplexe Systemvorgänge der Medienorganisation und des Mediensystems eigenständige Einflüsse in den Texten der Auslandsberichterstattung hinterlassen können, die mehr sind, als die Summe der Einzelleistungen der an der Nachrichtenkonstruktion beteiligten Personen. Organisatorische Zusammenhänge sind zwar allgemein für den Journalismus, bisher aber noch nicht für die Auslandsberichterstattung dargelegt worden. In der vorliegenden Theoriematrix wird formuliert, daß informationelle Rahmenbedingungen wie Platz181 kapazitäten, Zugang zu Ressourcen, Konsumstrukturen usw., die weite Teile der Beziehung zwischen Verlag und Redaktion beschreiben, wesentliche Einflußgrößen der häufig kostenintensiven Auslandsberichterstattung sind, die sich insbesondere im Bereich der Informationsbeschaffung bemerkbar machen. Je enger die Rahmenbedingungen sind, um so größer werden in der Regel Steuerungseinflüsse externer Informationsgeber wie der internationalen und nationalen Nachrichtenagenturen auf die Medienagenda sowie auf den Medieninhalt (besonders deutlich beispielsweise bei deutschen regionalen Tageszeitungen oder vielen Medien der „Dritten Welt“ mit ihrem sehr hohen Anteil an Agenturnachrichten). Externe Informationssteuerung bietet den Vorteil einer über einzelne Medieninteressen hinausgehenden Thematisierung als Grundlage gesellschaftlicher Diskurse; sie übt aber vielfach eine vielfaltbegrenzende und nivellierende Wirkung auf den Auslandsjournalismus aus, dessen inhaltliche Differenzierung dadurch abnimmt. Als weiteres Problem erweist sich, daß die Nachrichtenagenturen selbst über den Umweg eingeschränkter Rahmenbedingungen autonomiebegrenzenden Einflüssen unterliegen. In manchen Untersuchungen ermittelte nationalpolitische Orientierung großer Nachrichtenagenturen wie Reuters oder AFP sind vor allem auf die hochgradige Transparenz des Agentursystems für politische Public Relations staatlicher Stellen – sog. „öffentliche Diplomatie“ – zurückzuführen. Nachrichtenagenturen verhalten sich vielfach gegenüber strategischen Kommunikationsangeboten ebenso „passiv“ wie die Medienredaktionen gegenüber den Agenturnachrichten. Wenn beispielsweise die bloße Tatsache, daß eine Nachricht von einer westlichen Staatsregierung stammt, von Agenturen bereits als Qualifikationsnachweis angesehen wird, dann hat dies zur Folge, daß sich kommunikative Steuerungsversuche der Politik über die hohe Steuerungskapazität der Agenturen direkt auf die Darstellungsprozesse der medialen Auslandsberichterstattung auswirken können. Hier wird eine Permeabilität des Systems der Auslandsberichterstattung für politische Einflüsse erkennbar, die grundsätzliche Zweifel an der funktionalen Umsetzung und Umsetzbarkeit (sic!) von Normen der Eigenrecherche und Quellenkontrolle aufkommen lassen. Für den Bereich journalistischer Eigenleistungen in der Auslandsberichterstattung, der etwa in der deutschen überregionalen Presse signifikant ist, spielen organisatorische Entscheidungsprogramme eine wichtige Rolle. Organisationsspezifische Erfahrungswerte können auf Zweckbindungen (z.B. ideologische Einflüsse des Verlags) oder einer Redaktionsroutine im Umgang mit Auslandsthemen basieren. Bisher viel zu wenig untersucht worden ist die Tatsache, daß Nachrichtenwerte des Auslandsjournalismus nicht einheitlich für alle Medien gelten müssen, sondern redaktionsspezifische Unterschiede erkennbar werden können. Wenn beispielsweise die Verortung eines Mediums im Rechts-Links-Spektrum sich in der Auslandsberichterstattung bemerkbar macht, kann dies aus theoretischer Sicht das Resultat individueller Orientierungen des Journalisten (Mikroebene), organisatorischer Zweckprogrammierungen des Verlags (Mesoebene) oder redaktioneller Eigenprogrammierung (Mesoebene) sein – von außermedialen Faktoren einmal abgesehen (s.u.). Ob die Frage der Menschenrechte in China aufgegriffen wird oder nicht, ist also das Resultat individueller Neigungen oder externer Agentureinflüsse, sondern auch eine Frage 182 organisationsspezifischer „Berichterstattungstraditionen“. Hierbei besteht unterschiedlicher Freiraum für individuelle Deutungs- und soziale Verhandlungsprozesse. Selbst Auslandskorrespondenten müssen ein hohes Maß an Vorangepaßtheit gegenüber den Entscheidungsprogrammierungen der Medienorganisation aufweisen, was die idealiter angestrebte Gestaltungsfreiheit des Korrespondenten beschränkt. Andererseits genießen sie im Rahmen der Voranpassung an die Themenstruktur der großen Nachrichtenagenturen und die Entscheidungsprogramme der Redaktion eine Freiheit, die wiederum als Mangel an sozialer Kontrolle der Auslandsberichterstattung innerhalb der Medienorganisation gedeutet werden kann. Neben dem Einfluß der Medienorganisation auf den internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß muß das überorganisatorische Interaktionsgefüge des Mediensystems berücksichtigt werden. Insbesondere innerjournalistische Meinungsführerschaften sind von besonderer Bedeutung in der Auslandsberichterstattung, da zwar auf der einen Seite der Journalist in der Regel als Generalist ausgebildet wird, oft ohne spezifische Auslandsqualifikation, rotierend zwischen verschiedenen Weltregionen und zwischen In- und Auslandsaufgaben. Auf der anderen Seite herrscht in der jeweils ausgeübten Funktion der Auslandsberichterstattung jedoch eine hochgradige Arbeitsteilung und Spezialisierung, was die Interaktion in der Redaktion begrenzt und Meinungsführerschaften im nationalen Rahmen stärkt. Die Position des Auslandskorrespondenten zeichnet sich gegenüber der Zentralredaktion durch lokale Quellenzugänge sowie durch die Einbindung in lokale Meinungsführermilieus aus, die ungeachtet des auch für Korrespondenten bestehenden Anpassungsdrucks (seitens der Agenturen, des Verlags und der Redaktion) ein beträchtliches Gestaltungspotential darstellen. Sie ermöglichen es, den gesellschaftlichen Diskurs in den Ursprungsländern einer Nachricht in die Auslandsberichterstattung zu transferieren, was ein wesentlicher Bestandteil transkultureller Kommunikation ist (s.u.). Den größten Komplex innerhalb der Theoriematrix stellt die Makroebene der Theorie dar, da das Zusammenspiel von Medien, Politik und Gesellschaft als Kernbereich der Medienforschung im Rahmen des sozial- und kulturwissenschaftlichen Rekonstruktivismus betrachtet wird. Die Makrotheorie ist so angelegt, daß sie abschnittsweise von „innen“ nach „außen“ fortschreitet: von den Entstehungsbedingungen der nationalen Themenagenda und den Einflüssen des nationalen Systems auf die Auslandsberichterstattung über die Interaktionen zwischen nationalem und internationalem Diskurs bis zur Rolle der Medien in internationalen Konflikten und in der globalen Kulturkommunikation. Die Auslandsberichterstattung ist Teil einer gesellschaftlichen Diskursformierung über außenpolitische und internationale Fragen. Im vorliegenden Theorieentwurf werden drei gesellschaftliche Einflußgrößen untersucht: a) staatliche Akteure, b) nicht-staatliche gesellschaftliche Akteure (z.B. organisierte Öffentlichkeit) und c) außenpolitische, internationale oder interkulturell relevante gesellschaftliche Einstellungen ohne konkreten Akteursbezug. Ungeachtet differenzierender Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte ist der Einfluß gesellschaftlicher Einstellungen auf Auslandsberichterstattung im allgemeinen begrenzt, da außenpolitische und internationale Einstellungen häufig instabil und hauptsächlich durch vertikale Einstellungs183 muster geprägt sind (z.B. Militarismus/Anti-Militarismus). Solche Einstellungen können auf den Diskurs der Auslandsberichterstattung Einfluß nehmen, doch findet dies in der Regel erst statt, wenn Medien (oder die Politik durch die Medien) sich bereits zu einer Thematisierung entschlossen haben und einen entsprechenden Meinungsbildungsprozeß initiiert haben, so daß die unter geokulturellen Distanzbedingungen häufig feststellbare Thematisierungsrichtung von den Medien zum sog. „interessierten“ bzw. „Massenpublikum“ bestehen bleibt. Dies bedeutet, daß die Wirkungsmacht der Medien im Bereich des Agenda-Setting in der Auslandsberichterstattung – also die Befähigung der Medien zu bestimmen, über welche Auslandsfragen eine Gesellschaft reflektiert – als relativ groß einzustufen ist. Allerdings können artikulierte Teile der Gesellschaft Einfluß auf die Themenagenda nehmen. Dabei muß jedoch grundsätzlich von einer im Vergleich zu vielen Inlandsthemen existierenden Strukturschwäche der organisierten Öffentlichkeit bei internationalen Fragen ausgegangen werden, da insbesondere die großen gesellschaftlichen Institutionen (Parteien, Gewerkschaften usw.) diese Themenbereiche nur selektiv und sporadisch verfolgen. Dennoch können durch Interaktionen und Allianzbildungen, bei denen häufig sogenannte „Themenöffentlichkeiten“ – also Organisationen und Teilpublika, die über ein spezielles Auslandsinteresse verfügen – eine Rolle als Bindegliedakteure übernehmen, organisierte Teile der Öffentlichkeit und andere außermediale Eliten auf den Medieninhalt Einfluß nehmen, wie auch die Medien umgekehrt als Plattform zur öffentlichen Diskursformierung dienen, Strömungs- und Allianzbildungen fördern und zur Differenzierung des Auslandsdiskurses beitragen können. Als in der Regel bedeutsamer muß aber a) die Rolle der Eigenthematisierung aus dem Mediensystem (Journalisten, Redaktionen, Agenturen) und b) der Einfluß des politischen Systems betrachtet werden. Die Beziehungen zwischen Politik und Medien in bezug auf die Gestaltung der Auslandsberichterstattung sind durch komplexe Interaktionen gekennzeichnet, wobei Medien die Schwelle der öffentlichen Streitwürdigkeit eines Themas herabsetzen können und einen Thematisierungsdruck auf die Politik erzeugen können, ohne dabei notwendigerweise die inhaltliche Richtung politischer Entscheidungsprozesse substanziell zu beeinflussen (zumindest nicht aus der Perspektive des Agenda-Setting-Ansatzes). Medien können jedoch außenpolitischen Entscheidungsprozessen einen Unsicherheitsfaktor hinzufügen, da sie zum einen öffentliche Meinungen artikulieren, repräsentieren und formieren können (sog. „Ressourcenfunktion“) und zum anderen Eigenthematisierungen vornehmen können (sog. „Innovationsfunktion“), was normative Rollenvorstellungen einer Mitgestaltung des Journalisten in der Außenpolitik funktional bestätigt. In umgekehrter Richtung kann die Außenpolitik die Medien für staatliche Öffentlichkeitsarbeit, „Testballons“ zur Klärung politischer Optionen usw. nutzen. Auslandsberichterstattung entfaltet ihre Thematisierungsfunktion in einem gesellschaftlichen Rahmen, der sich systemtheoretisch beschreiben läßt. Neben Autonomie und Identitätsbildung stehen die Medien im demokratischen System im Austausch mit anderen gesellschaftlichen Subsystemen (wie dem politischen System) und Systemumwelten (wie dem politisch-wirtschaftlichen Komplex oder dem Publikum), 184 was gegenseitige Anpassungsleistungen nicht ausschließt und ein „Fließgleichgewicht“ zwischen Medien und Gesellschaft, insbesondere zwischen Medien und Politik impliziert. Auslandsberichterstattung unterliegt dabei spezifischen SystemUmwelt-Konfigurationen. Sie entfaltet sich prinzipiell in einem gesellschaftlichen Rahmen, der sowohl durch nationale als durch inter- bzw. transnationale Systemkomponenten gekennzeichnet ist. Allerdings begünstigen das noch immer weitgehende Fehlen eines transnationalen politischen Systems und die strukturelle Schwäche der organisierten Öffentlichkeit (es gibt keine dem Einfluß etwa der Gewerkschaften vergleichbaren Interessenverbände mit internationaler Ausrichtung) die Orientierung der Auslandsberichterstattung am nationalen politischen System oder an anderen nationalen und kulturellen Prägungen des Auslandsbildes. Ungeachtet des forcierten Ausbaus globaler Informations- und Nachrichtennetzwerke sind die Massenmedien Presse, Radio und Fernsehen (von Medien mit spezifischem Auslandsauftrag wie der Deutschen Welle abgesehen) noch immer nachhaltiger in nationale Systemstrukturen und -märkte integriert als in transnationale Politik-, Gesellschafts- und Marktstrukturen. Das mediale Subsystem der Auslandsberichterstattung läßt sich nur sehr bedingt als interdependenter Teil eines „kommunikativen Weltsystems“ beschreiben. Ungeachtet der relativen Strukturschwäche international orientierter Publika sind bestimmte internationale Themen geeignet, Publikumssysteme und andere nationale Systemumwelten der Medien zu aktivieren, namentlich solche, die mit innen- und gesellschaftspolitischen Fragen verbunden sind. Auslandsberichterstattung besteht daher nur zu einem Teil aus Berichten über auswärtiges Geschehen (sog. foreign news abroad) und erstreckt sich auch auf verschiedene Mischformen von In- und Auslandsberichterstattung (sog. home news abroad oder foreign news at home). Vorliegende Theoriematrix hat sich vor allem um die kategoriale Beschreibung dieser Nachrichtentypen bemüht, die in der theoretischen Literatur bisher überwiegend dort lokalisiert worden sind, wo personale oder institutionelle Bezüge sichtbar geworden sind (z.B. deutscher Regierungsbesuch im Ausland), die von der Nachrichtenwerttheorie im Bereich des Nachrichtenfaktors „Ethnozentrismus“ verbucht werden. Nicht gelungen ist hingegen bisher eine theoretische Beschreibung thematischdiskursiver Bezüge, also innergesellschaftlicher Anschlußkommunikationen, die gerade unter dem Aspekt der Globalisierung zum Tragen kommen. Während Auslandsberichterstattung partikularen (z.B. staatlichen und nationalen) Einflüssen ausgesetzt ist, bringt es die globale technische Vernetzung mit sich, daß Auslandsgeschehen zunehmend zu einem Resonanzboden für innergesellschaftliche Debatten wird. Interne Diskursanschlüsse existieren in verschiedenen Formvarianten (synchron/diachron, pädagogisch/zweckfrei usw.), und sie werden durch die überwiegend universelle Ausbildung und Professionalitätsentwicklung im Journalismus begünstigt. Vorschub geleistet wird der Bildung von Diskursfeldern, in denen inner- und außerstaatliches Handeln koexistieren oder gar inhaltliche Verbindungen eingehen, die die Darstellung des Auslandsgeschehens beeinflussen können. Anschlußdiskurse und Sinnsynthesen bilden sich in der nicht-fiktionalen Auslandsberichterstattung – im Unterschied zum Import von fiktionalen Genres – nicht allein im Konsumpti185 ons-, sondern bereits im Produktionsprozeß, d.h. im journalistischen Text. Reziproke Textwirkungen müssen dabei nicht allein als „Deformation“, sondern können als integraler Bestandteil von Globalisierung beschrieben werden, da sie in bezug auf auswärtiges Geschehen aufmerksamkeitssteigernde Wirkungen haben können. Eine Theorie, die den Anwendungsbezug zur Erklärung von Medieninhalten in den Vordergrund stellt, kann nicht die tatsächlichen Wirkungen von Medien in der internationalen Konfliktkommunikation bestimmen, da hierzu Wirkungsdaten und integrierte Medienbild-Wirkungs-Untersuchungen erforderlich sind. Sie kann allerdings Wirkungspotentiale der Medien bestimmen, d.h. ob und unter welchen Textbedingungen Auslandsberichterstattung konflikteskalierend oder -verschärfend wirken kann. Die Stellung der Medien in der internationalen Konfliktkommunikation ist nicht monokausal, sondern läßt sich theoretisch beschreiben, indem die Wirkpotentiale der Kommunikation im Rahmen politischer Interessen- und Machtkonstellationen und das Verhalten der Medien in internationalen Konflikten bestimmt werden. Rollenmodelle der Medien als Co-Konfliktparteien, als Konfliktvermittler oder als dritte Konfliktparteien werden zu Maßstäben der Beurteilung von Medieninhalten. Ob und durch welche Modelle sich der Auslandsdiskurs der Medien im konkreten Fall charakterisieren läßt, hängt nicht zuletzt von einer Reihe struktureller Bedingungen ab, in deren Rahmen Medien wirken, und die zugleich von den Medien beeinflußt werden können: von der Dramaturgie der Krisenkommunikation, vom Krisenverhalten gesellschaftlicher Eliten oder der strategischen politischen Kommunikation von Politik und gesellschaftlichen Gruppen. Im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß wird die grundlegende Polysemie kultureller Zeichensysteme in den Medien in einem Deutungsprozeß individuell oder kulturell kanalisiert, wodurch die Funktion von Journalisten als zentralen „Sinn-Übersetzern“ zwischen den Kulturen bezeichnet ist. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, die implizit verwendeten Konzepte und Strategien der De/Enkodierung von Kulturen und ihrer medialen Aufbereitung zu bestimmen, da unterschiedliche Sprachen, Gebräuche und Kulturausformungen auf einer tieferen Bedeutungsebene sehr ähnliche oder gar identische Deutungen zulassen können, während umgekehrt scheinbar übereinstimmende Erscheinungen in verschiedenen Kulturkontexten zum Teil unterschiedlich interpretiert werden müssen. Für Darstellungsprozesse der Medien ist die Verwendung essentialistischer oder synkretistischer Deutungskonzepte von Bedeutung, da hier eine journalistische Definition der Beziehung zwischen Kulturen erfolgt (Kulturkonflikt, Interkulturalismus, Transkulturalismus, Kulturimperialismus usw.), die politisch und gesellschaftlich relevant werden kann. Im vorliegenden Theoriekonzept sind insbesondere die Rückwirkungen von Kulturdeutungen der Auslandsberichterstattung auf die multikulturelle Gesellschaft thematisiert worden. Im Fall der transkulturellen Kommunikation durch Medien ist neben der Inhaltsauch die Beziehungsebene von Belang, da ähnlich wie bei der personalen Kommunikation auch unter den Bedingungen globaler Kommunikation Feedback- und Interaktionsprozesse zu beobachten sind. Vermittelt werden nicht allein Sachverhalte und journalistische Deutungen, sondern auch indigene Diskurse, also die Eigendeutungen 186 einer Kultur über sich selbst oder über andere Kulturen. Wo eine solche Diskursreflexion in der Auslandsberichterstattung nicht oder nur geringfügig stattfindet, ist ein Defizit globaler Gesprächspartnerschaften in den Medien zu konzedieren. Auf diese Weise können Mängel der kulturellen Koorientierung und global wirksame Interaktionsblockaden entstehen, die – ebenso wie essentialistische Deutungen auf der Inhaltsebene der Kommunikation – einer Verschärfung von Kulturkonflikten in der nationalen Auslandsberichterstattung Vorschub leisten können. Mangelnde Koorientierung des Mediendiskurses kann auf ungleiche Kräfteverteilungen zwischen Sender und Empfänger, etwa zwischen den Medien der Industrie- und der Entwicklungsländer, hinweisen, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit der Frage des Kulturimperialismus vielfach angenommen worden sind. Störungen der Kulturkommunikation auf der Beziehungsebene müssen jedoch im Grunde als universelles Phänomen unter den Bedingungen geokultureller Distanz angenommen werden, denen nur durch ein explizit interaktionistisches Verständnis der Auslandsberichterstattung zu begegnen wäre. 187 188 Literaturverzeichnis (Bd. 1) Adams, Valerie, The Media and the Falklands Campaign, London 1986 Alkazaz, Aziz, Rezension zu: Gerhard Konzelmann, Die Reichen aus dem Morgenland. Wirtschaftsmacht Arabien, München 1975, in: Orient 17 (1976) 3, S. 110 f. Allen, Tim/Jean Seaton (Hrsg.), The Media of Conflict. 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International Communication Association, New Brunswick 1978, S. 225-240 210 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis (Bd. 1) Abbildungen Abb. 3.1 Abb. 3.2 Abb. 3.3 Abb. 3.4 Abb. 3.5 Abb. 3.6 Abb. 3.7 Abb. 3.8 Abb. 3.9 Abb. 3.10 Abb. 3.11 Abb. 3.12 Abb. 3.13 Abb. 3.14 Abb. 3.15 Abb. 3.16 Auslandsberichterstattung (Idealtyp) Global-Village-These Domestizierungs-These Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse Das Auslandsbild der Medien Kontexte in der In- und Auslandsberichterstattung Forschungsvernetzung zum medialen Auslandsbild: MacBride-Bericht – Strukturtheoreme – Nachrichtenfaktoren Mikrotheorie: Journalist und Auslandsberichterstattung Mesotheorie: Mediensystem und Auslandsberichterstattung Interesse an Auslandsberichterstattung deutscher Tageszeitungen Themen-/Diskursfelder der In- und Auslandsberichterstattung Auslandsberichterstattung und interne Anschlußkommunikation Informations- und Nachrichtenfluß bei internationalen Konflikten Medien in internationalen Konflikten: Rollenmodelle Gleichheits-/Ungleichheitsbeziehungen zwischen Kulturen Inter-/transkulturelle En-/Dekodierungsprozesse in der Auslandsberichterstattung 26 26 26 32 50 66 71 85 90 94 145 149 156 162 166 170 Tabellen Tab. 3.1 Tab. 3.2 Tab. 3.3 Tab. 3.4 Tab. 3.5 Tab. 3.6 Problemzonen der Nord-Süd-Kommunikation nach dem MacBride-Bericht Rangfolge der Beachtung von Weltregionen in der Auslandsberichterstattung Untersuchungen zum Negativismus Relevante Bereiche individueller politischer Ideologiebildung (Auswahl) Nachrichtenagenturen in der In- und Auslandsberichterstattung: die tageszeitung,1994-97 Systemumwelten und Umweltsysteme des Journalismus 54 60 61 74 97 127 211