Santa Cruz
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Santa Cruz 1 Santa Cruz 2 Gemeinden deutscher Zuwanderung Kurzeinführungen zu........................................... 5 Interviews 1- Georg Banzer Schwietering............................12 2- Karl Adolf Eduard Füchtner Michelfelder.......18 3- Dr. Franz Kempff Job.......................................24 4- Franz Wilhelm Otto Kenning Breconitsch........32 5- Josef Kreidler Singer.......................................36 6- Karl Mayser Sauer..........................................42 7- Paul Seng Kötsel............................................48 3 70 65 60 Bolivia Boca do Acre Porto Velho Ariquemes Rio Branco 10 Guajar·-Mirim Inapari Ji-Parana Riberalta PANDO Cobija 10 50 0 50 0 Brazil Puerto Maldonado 150 Kilometers 100 100 150 Miles Politische Karte Bolivien Santa Ana Peru BENI 15 Juliaca Trinidad San Borja LA PAZ 15 Lago Titicaca Puno Caceres Desaguadero La Paz Guaqui Toquepala Cochabamba COCHABAMBA Montero Ilo Tacna Santa Cruz Oruro Putre Arica Aiquile ORURO Robore Puerto Suarez Corumba Potosi Iquique South Pacific Ocean Chile POTOSI San Josede Chiquitos Sucre Lago Poopo 20 SANTA CRUZ Santa Rosa del Sara Chimore Camiri CHUQUISACA Uyuni Capitan Pablo Lagerenza 20 General Eugenio A. Garay Tarija Villazon Tocopilla TARIJA La Quiaca Calama Mejillones Tartagal Mariscal Estigarribia Paraguay San Ramon de la Nueva Oran Antofagasta 4 70 San Salvador de Jujuy Concepcion Argentina 65 60 1 1910 zählte Bolivien 2.270,000 Einwohner mit dem Regierungssitz La Paz, in der 78,856 Menschen lebten. Das direkte Umland von La Paz auf dem Altiplano, heute dicht besiedelt, war eine ländliche Gegend und wurde erst 1970 per Dekret zur eigenständigen Gemeinde El Alto deklariert. Vergleichszahlen aus dem INE Zensus von 2012 geben für die Doppelstadt Gemeinden deutscher Zuwanderung heutigen Department Pando, gegliedert war (Santibañez, S. 37). Die Bevölkerung Boliviens setzte sich nach Santibañez wie folgt zusammen: “658.000 Weiße spanischer Abstammung; 614.000 Mestizen; 725.000 Indios; 3.000 Neger; 10.450 Ausländer, wovon die Hälfte Peruaner, Chilenen und Argentinier sind.“ Das Territorium umfasste damals noch 1.568.241 Quadratkilometer. Bolivien war somit nach Brasilien, Argentinien, Mexico und Peru das fünftgrößte der 20 Länder Lateinamerikas (Santibañez, S. 56): Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sprach man von Bolivien als ein großes Land mit wirtschaftlicher Zukunft, da die umfangreichen Erzvorkommen ebenso wie die Existenz begehrter Naturprodukte wie Chinarinde und Naturkautschuk bekannt waren und ausgebeutet wurden. Einsammeln der Kautschukmilch La Paz 764,617 und El Alto 848,840 Einwohner an.1 Die Republik Bolivien war immer ein Einheitsstaat, der um 1900 in acht Departments und einem sogenannten „nationalen Territorium“, dem 1 Statistische Angaben für Cochabamba, Santa Cruz und Tarija konnte ich leider für die Epoche um die Jahrhundertwende nicht finden, da das Statistische Amt in Bolivien (Instituto Nacional de Estatística, INE) erst im Jahre 1936 eingerichtet wurde und seine Arbeit aufnahm. Alle Bevölkerungsangaben aus früheren Epochen beruhen auf Schätzungen oder sind Zitate. Die vier Gemeinden Boliviens, in denen meine Interviewpartner heute leben, sind Gründungen der frühen Kolonialzeit: Cochabamba 1571, La Paz 1548, Santa Cruz de la Sierra 1556 umgesiedelt an seinen heutigen Standort 1601 und Tarija 1574. Diese Orte waren bereits in der Kolonialzeit für ihr günstiges Klima und die fruchtbaren Täler bekannt und so wundert es nicht, dass auch deutsche Siedler in diese Gemeinden zogen. Oftmals jedoch erst nachdem sie die ersten Jahre im bolivianischen Hochland oder im Amazonasgebiet verbracht hatten, da dies die Standorte der wirtschaftlichen Aktivitäten waren. 5 6 Santa Cruz S PANDO BENI LA PAZ SANTA CRUZ COCHABAMBA Santa Cruz ORURO CHUQUISACA POTOSI TARIJA Santa Cruz Santa Cruz de la Sierra am Rio Piraí gelegen, kurz Santa Cruz genannt, liegt auf 437 müMN im Tiefland. Das Department stellt das flächengrößte Department Boliviens mit 2.655.084 Mio. Menschen (INE 2012). Es grenzt an die Nachbarländer Brasilien und Paraguay. Die Metropole Santa Cruz weist das höchste Bevölkerungswachstum Boliviens auf und gehört zu den 16 am schnellsten wachsenden Städten in Lateinamerika. Dieses Wachstum setzte aber erst in den 50iger Jahren des letzten Jahrhunderts ein. Ergaserschliessung, eine florierende Landwirtschaft und in Folge dessen der Ausbau der Infrastruktur zogen und ziehen Menschen an. Santa Cruz ist heute die Stadt mit der höchsten Kaufkraft, was wiederum die Wirtschaft insbesondere Baugewerbe und Handel beleben. In der städtischen Agglomeration von Santa Cruz leben heutzutage circa 1.800.00 Einwohner. Aber zurück zur Epoche der deutschen Einwanderer vor 100 Jahren. Die Blühte der Kautschukausbeute in den Departments Beni, Pando und Santa Cruz war vorüber und der Ort Santa Cruz, der eines der Versorgungszentren der Region war, verfiel in einen Dornröschenschlaf. Seit der Gründung durch die Spanier 1561 war die Gemeinde eine Siedlung an der Grenze, der „frontier“, zu den nicht unterworfenen Tieflandindianerstämmen. Unsicherheiten und vielfache Übergriffe durch Tieflandindianer führten 7 40 Jahre nach ihrer Gründung zu ihrer Verlegung: Santa Cruz „la Vieja“, neben San José in der Chiquitania gelegen, konnte nicht gehalten werden und wurde an den Rio Piraí verlegt. Aber auch nach ihrer Verlegung bleib diese Frontstadt, eine kleinere Ansiedlung. Im Jahre 1900 zählte das Department „59.470 Einwohner. Die damals nicht gezählten Indianer verdoppeln fast diese Zahl; Mestizen erreichen nicht mal 50.000 und Neger gerade mal 1.000.“ (Bolivia en el primer Centenario de su Independencia 1825 -1925, S. 1116) Entsprechend der damaligen Auffassung handelte es sich um das üppige, fruchtbare Tiefland, welches durch „ausländische Kolonisatoren mit Kapital und Ideen um die Infrastruktur auszubauen, die gegenwärtig nicht existiert“ entwickelt werden sollte (Ebda. S. 1117). Im Jahre 1914 waren 100 deutsche Bürger im Konsulat des deutschen Kaiserreichs in Santa Cruz eingetragen (Hollweg, 1995, S. 231). Zu Pferde in einer Ortschaft von Santa Cruz ohne Jahresangabe, Fotografie: Archiv Familie Elsner Ab 1950 erfolgte die verbesserte Anbindung von Santa Cruz an den nationalen Markt durch Straßen nach Cochabamba und La Paz, durch Eisenbahnen und den Flugverkehr. Diese Infrastruktur wirkte belebend für die Stadt und das Department und trug entscheidend zum Wachstum bei. Aus den Interviews mit den Nachkommen der Familie Kempff, deren Großvater 1913 nach Santa Cruz einwanderte, erfahren wir: „Großvater war fasziniert von der Natur und der Wildheit des Kontinentes. ... Aus Santa Cruz berichtete er, dass er in den ersten 8 Jahren nach seiner Ankunft in der Gemeinde auf den Kirchsturm stieg, um einen Überblick über die Stadt zu erlangen: Nach vier Straßenzügen hörte die Bebauung schon auf, so klein war Santa Cruz und so überschaubar.“ „Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zählte die Bevölkerung der Stadt Santa Cruz nicht mehr als Dr. Kempff 1961 bei der Überquerung einer Hauptstraße im Zentrum von Santa Cruz 20.000 Seelen. Santa Cruz war abgeschnitten von der Landesentwicklung, da sich Boliviens Regierungen auf den exportorientierten Bergbau und seine Gemeinden im andinen Hochland konzentrierten. Obwohl Santa Cruz die Hauptstadt des flächengrößten Departments und ein Wachstumspol war, fehlte es an einer Basisversorgung mit Trinkwasser, an einer Energieversorgung und an Krankenhäusern für die Versorgung der Bevölkerung. Ebenso war der Handel sehr eingeschränkt und reduzierte sich auf den Export von Rohrzucker (Chancaca), Alkohol, Trockenfleisch, Edelhölzern, Häuten und Fellen.“ (Zitate aus dem Interview mit den Nachkommen Lorena, Julio und Oscar Kempff). Wie Stillstand und die isolierte Lage von Santa Cruz durch Straßenerschließungen, der Eröffnung des Flugverkehrs und anderen Innovationen wie der elektrischen Energie - eine Initiative deutscher Einwanderer - überbrückt wurden, erfahren wir aus den Interviews mit den Nachfahren von Banzer, Füchtener, Kempff, Kenning, Seng, Mayser und Kreidler. Sie alle kamen angezogen durch den Kautschukboom in die Amazonasregion und siedelten sich nach Ende des Boom im regionalen Versorgungszentrum Santa Cruz an. Eine umfassende Beschreibung und Auflistung von Deutschen und Deutschstämmigen im bolivianischen Tiefland finden wir in dem umfassenden Werk von Mario Gabriel Hollweg, selbst Nachfahre deutscher Einwanderer. In den zwei Bänden seines Buches „Alemanes en el Oriente Boliviano – su Aporte al Desarrollo de Bolivia“, Band I 1535-1918 und Band II 1918-1945 geht der Autor ausführlich auf die Siedlungen im Department Beni, Pando und Santa Cruz ein. Er beschreibt die Jahre des Kautschukbooms und vermittelt ein genaues Bild über das Leben und das Wirtschaften der Deutschen im Tiefland seit ihrer Ankunft bis in das 20. Jahrhundert. Bei meinem Aufenthalt in Santa Cruz traf ich leider nicht alle Nachfahren deutscher Einwanderer an. in Santa Cruz lebt eine große deutsche Kolonie und es gibt eine renommierte Deutsche Schule. Es heißt, dass sich die Nachkommen der deutschen Migranten in Santa Cruz sogar besser assimiliert haben als in La Paz. Sie verheirateten sich mit bolivianischen Frauen, ihre Muttersprache ist Spanisch und sie sind heute in der Regel nicht mehr des Deutschen mächtig: Der deutschen Kultur sind sie jedoch sehr verbunden. Da mein Besuch von Santa Cruz in die Vorweihnachtszeit fiel, konnte ich mich nicht nur von der guten deutschen Küche in deutschen Restaurants überzeugen, sondern auch von der deutschen Weihnachtsbäckerei: Es gab Zimtsterne und Lebkuchen und sogar Lebkuchenhäuschen werden hergestellt (Nachfahren in 4. Generation von Georg Banzer, s. Interview). • Gasser, Gebrüder Karl, Fernando und Gebhard, Besitzer des Handelshaus „La Providencia“ in Santa Cruz „Gasser & Schweitzer“, Filiale in Yacuiba. Bruder Gebhard zog später nach Cochabamba. • Hollweg Wever, Paul, eingewandert 1909, holte seinen Bruder Friederich nach. 1921 kam auch der jüngste Bruder Kurt mit 15 Jahren nach Santa Cruz. Erst Angestellte in Handelshäusern, dann eigenständiger Unternehmer im Handel, im Transportwesen, in der Viehwirtschaft („ El Cerrito“) und als Käseproduzent in der Region Santa Cruz, • Weise, Guillermo, eingewandert 1890, Zahnarzt in Trinidad, Riberalta und Santa Cruz, • Wille, Bierbrauerei, • Trepp, Bergbau Landkarte zu Bolivien und Peru aus der Kolonialzeit; Santa Cruz liegt am Rande der „Frontier“, dort wo die Kartierung aufhört beginnt das Amazonasgebiet, zu dieser Zeit weitgehend unerforscht. Weitere wichtige Beiträge zur wirtschaftlichen Entwicklung der Region Santa Cruz de la Sierra wurden von folgenden deutschen Einwanderfamilien geleistet: • Fischer, Ewald, eingewandert 1926, Abteilungsleiter im Handelshaus Juan Elsner & Cia, später selbstständiger Unternehmer in der Textil- und Verpackungsbranche, • Frerking, Walter, eingewandert 1907 nach Riberalta, Buchhalter und später Eigner eines Handelshauses in Santa Cruz, 9 Interviews 10 Interviews Georg Banzer Schwietering Karl Adolf Eduard Füchtner Michelfelder Dr. Franz Kempff Job Franz Wilhelm Otto Kenning Breconitsch Josef Kreidler Singer Karl Mayser Sauer Paul Seng Kötsel 11 Santa Cruz 1 Interview Georg Georg Banzer Schwietering Geboren in Osnabrück, am 9. Februar 1850 Gestorben in Santa Cruz, am 4. September 1909 Der junge Georg 12 Auswanderung Mein Urgroßvater wird in eine Osnabrücker Unternehmerfamilie geboren, die verschiedene Liegenschaften besitzt und Geschäfte – unter anderem eine Apotheke und eine Zulieferfirma für Baumaterialien - betreibt. Er absolviert eine gymnasiale Ausbildung mit Latein und Französisch und besitzt eine gute Sprachfähigkeit, so dass ihm das Erlernen der spanischen Sprache leicht fällt und er sie später perfekt beherrscht. Georg nimmt als junger Mann am deutsch-französischen Krieg teil und entschließt sich nach Kriegsende - angeregt durch die Lektüre von Alexander von Humboldt Lateinamerika zu erkunden. In Galauniform, Französisch-Preussischer Krieg Die Schiffsreise In Hamburg auf dem Dampfer „Corcovado“ beginnt 1873 seine Reise nach Südamerika. Er führt ein detailliertes Tagebuch über die Schiffsreise unter dem Motto: „Heute verlasse ich meine Heimat, ohne niemanden etwas zu schulden!“1 Seinem Schiff ist kein Glück beschert, schon in Frankreich im Hafen von Pontillac gibt es die erste Havarie. Georg muss das Schiff wechseln. Er nutzt die erzwungene Pause in Gironde, um im Theater von Bordeaux Goethes Faust zu besuchen und macht sich über die Schauspielkünste der Franzosen lustig. Fortgesetzt wird die Reise auf dem Schiff „El Cuzco“ über Santander, Vigo, Lissabon. Georg beobachtet und beschreibt sehr genau die Gewohnheiten und Gebräuche seiner Mitreisenden. Auch seine Beobachtungen über die Natur, Pflanzen wie Tiere, hält er ausführlich in seinem Tagebuch fest: „Man sieht kaum Bäume, alles ist trocken, aber die wenigen Gewächse sind sehr verschieden, es gibt grüne und gelbe Zitronen und viele Orangen. Die Straßen sind voll mit Eseln und Maultieren. Elegante Kutschen gibt es wenig, sondern nur einfache Lastkarren. Die Bekleidung der Leute ist einfach, ohne Luxus, aber die Uniformen der Militärs ähneln unseren deutschen Landsern. Es gibt herrliche Gebäude und die Hafeneinfahrt wird von einem Turm mit Leuchtsignal beherrscht. Die Kathedrale wurde auf einem Hügel errichtet und ist aus Ziegeln erbaut. Im Inneren ähnelt sie der Kathedrale von Chartres oder der griechischen Kapelle in Wiesbaden, nur um vieles größer.“1 Im Dezember wird die Reise nach Madeira fortgesetzt, wo er sich an den Vulkanen und der üppigen Vegetation erfreut: „(es ist) so schön, dass die Schweizer Alpen auf Platz Nummer zwei rücken.“ Am 10. Dezember überqueren sie den Äquator, jetzt schon nah der brasilianischen Küste auf der Höhe Pernambucos. Auf dem Schiff erwirbt er einen Hund, einen Labrador und tauft diesen auf den Namen Hans. Am 16. Dezember 1873 erblickt er den Zuckerhut von Rio, besucht den botanischen Garten, beschreibt die stolzen Palmen und andere exotische Pflanzen. Die Botanik beeindruckt ihn sehr ebenso wie das bunte Leben der Stadt. Einem Handwerker kauft er einen hochwertigen Panamahut für 180 englische Sterling ab, der in fünf Monaten Handarbeit erstellt worden ist. Er ist fasziniert vom Markt der Stadt mit seinen Unmengen an exotischen Früchten und Vögeln und sonstigem Getier, welches er noch nie im Leben gesehen hat. „In so einem berauschendem Land mit solch üppiger Natur ist es verständlich, dass es kaum plastische Kunst gibt“, ist sein Tagebucheintrag nach 1 Diese und die folgenden Zitate sind seinem Reisetagebuch entnommen. 13 dem Besuch der kaiserlichen Kapelle in Rio. Am 21. Dezember 1873 passiert er Montevideo, wo eine Quarantäne über den Hafen verhängt ist und er sich so gezwungen sieht, den 24. Dezember mit einem „Cocktail ohne Eis bei brütender Hitze“ im Hafen zu feiern. Sie passieren die Magellan Straße zu Neujahr 1894 und der junge Georg studiert täglich mehrere Stunden die spanische Sprache. Er besucht Puerto Arenas und legt am 4.1.1874 in Valparaiso an. Dort besucht er deutsche Migranten. Zudem muss er wieder sein Schiff wechseln, von der „Cuzco“ steigt er um auf die „Lima“, so die Namen der Schiffe. Am 12.1. des gleichen Jahres passiert er Antofagasta und beobachtet den Bau der Eisenbahnlinie. Georg beschreibt den beginnenden Guanoabbau und mokiert sich über den verschlafenen Hafen Antofagasta, „eine spekulative Bauruine“. Die Schiffsreise endete in Arica. fest: „ In Friedenzeit wird ein Militär hier auch gegen seinen Willen eingezogen. Ein Regiment von 150 Personen hat 80 Musiker und 300 Frauen („ramonas“), die sich auf beschlagnahmten Eseln vorwärtsbewegen. Die Wachposten sind verdreckt. Seit der Unabhängigkeitserklärung haben die Wachstuben keinen Besen mehr gesehen. Wenn ein Wachtposten abgelöst wird, folgt der nächste mit seiner Frau – ohne Frauen kein Soldat. Wenn sich der Soldat besäuft, gibt´s als Strafe 200 Stockhiebe oder man wird gezwungen, fermentierten Urin zu trinken.“ „In Friedenzeiten hat Bolivien 500 Soldaten, 32 Generäle, 60 Oberst, 200 Hauptmänner und 400 Leutnant! Die Kavallerie hat in Friedenszeiten nur einige Sattel und wenig Zaumzeug und kein Geld, um die Tiere zu füttern.“ Georg und Ehefrau Josefine Auf dem Landweg nach Cochabamba Von dort begibt er sich nach Cochabamba, wo er von der deutschen Handelsfirma Schulze, die Stelle als Filialleiter angeboten bekommt. Bevor er aber anfängt zu arbeiten, bereist er noch weite Teile der Anden - „in Höhenlagen oberhalb des Montblanc“ -, und beschreibt minuziös seine Erlebnisse, die Tierkarawanen und die Skelette der verstorbenen Maultiere zu beiden Seiten des Weges, das erste erlegte Viscacha „eine Kreuzung aus Kaninchen, Ratte und Fuchs“, die erfolglose Jagd auf Guanacos und den Flug des Kondors. Ankunft und erste Eindrücke in Cochabamba Nach seiner Ankunft vertraut er 1874 seinem Tagebuch seine ersten Eindrücke an: „Cochabamba ist wunderbar, in einem Tal gelegen und von einem hohen Berg begrenzt, dem Tunari mit ewigen Schnee.“ Auch hat er schon erfolgreich gejagt und die Beute in der Küche der Gastfamilie abgegeben. Eine bissige Beobachtung über das Militär der damaligen Zeit hält er wie folgt in seinem Tagebuch 14 Umzug nach Santa Cruz de la Sierra Im November des gleichen Jahres zieht er auf Wunsch seines Dienstherrn nach Santa Cruz um, die Firma will am Gummiboom mitverdienen. In Totora wird das Inventar erhoben und die Transporttiere ruhen aus. Aufgrund der Malariagefahr nimmt er Chinin als Prophylaxe, erklärt aber, dass ihm dies nicht bekommt und das Heilmittel „Cognac“ weit besser wirkt. Santa Cruz gefällt ihm auf Anhieb gut. Herrliche Vieh- und Pferdebestände sowie die Beschaffenheit der Stadt fallen ihm ins Auge: „Es scheint eine konservative Stadt zu sein, die Häuser sind einstöckig, die Straßen nicht gepflastert und die Kutschen werden von bis zu zehn Pferden oder Ochsen gezogen.“ Er reist viel, kommt bis an die brasilianische Grenze. Sein Geschäft floriert und bald verliebt er sich er in ein junges Mädchen, Josefina Aliaga. Am 5. August 1877 findet die Hochzeit statt. Mit Josefina Aliaga sollte er zehn Kinder zeugen. Leben in Santa Cruz de la Sierra Sein Bruder Karl besucht ihn Santa Cruz und zusammen bereisen sie die berühmten Ortschaften mit den Jesuitenkirchen der Chiquitania. Über seinen Bruder erhält er als Unterstützung von Einer der vielen Briefe Georgs an seine Frau, Josefine Banzer 15 seinen Eltern eine stolze Summe in Reichsmark. Bedauerlicherweise verstirbt sein Bruder bei diesem Aufenthalt an einer Lungenentzündung. Hier enden Georgs Tagebuchaufzeichnungen. Nur kurze Zeit arbeitet er noch als Angestellter. Er eröffnet seine eigene Firma mit einem zweiten Gesellschafter, Herrn Torres, so dass das Unternehmen auf den Namen Torres und Banzer lautet. In seinem Geschäft vertreibt er nicht nur importierte Produkte aus Deutschland, sondern auch Lebensmittel, die in Bolivien hergestellt werden wie Zucker, Fette, Textilien und Stoffbahnen - alles was man in Santa Cruz zum Leben benötigt. Über seine Geschäfte lässt er sich relativ selten aus, sondern hält vielmehr seine vielfältigen, sehr unterhaltsamen Beobachtungen über Land und Leute im Tagebuch fest. Auch über seine Familie gibt es keine Tagebucheintragungen. Er pflegt einen regen Briefverkehr mit seiner Familie in Deutschland. Viele dieser Unterlagen sind bis heute erhalten. Er und seine Kinder erben von seiner Familie in Deutschland, auch nach seinem Tode. Die Beträge werden über das Handelsunternehmen „Zeller, Villinger & Cia.“ mit Sitz in Santa Cruz de la Sierra nach Bolivien transferiert. 1885 kehren Georg und Josefina, allerdings ohne die Kinder, noch einmal nach Deutschland zurück. Georg tritt keine zweite Reise mehr an, da er mit 59 Jahren in Santa Cruz verstirbt. Seine umfangreichen Tagebücher und Briefe überlebten ihn. Ebenso wurde die deutsche Kultur und Sprache im Alltag seiner Nachkommen beibehalten: Sowohl die Tischsitten wie die Essgewohnheiten sind stark von deutscher Kultur beeinflusst. So gibt es auch heute noch zur Weihnachtzeit in der Familie Banzer Christstollen und Spekulatius aus eigener Produktion und aus Lebkuchen hergestellte Hexenhäuschen. Auch bei Dritte Generation der Familie Banzer in Santa Cruz de la Sierra: Ayda, Vita und Jorge 16 Literatur, Musik und den Studienorten der Urenkel und Ururenkel bezieht man sich auf Deutschland. Der Kontakt zu Deutschland ist nie abgebrochen, weder zu den deutschen Verwandten noch zu einigen Familienmitgliedern deutscher Sprache, die in der Schweiz wohnhaft sind. Seit der Ankunft von Georg Banzer vor 141 Jahren in Bolivien hat sich ein fruchtbarer Austausch beider Kulturen - der Bolivianischen und der Deutschen ergeben. Nachkommen von Georg Banzer nahmen entscheidenden Einfluss auf das Leben und die Entwicklung Boliviens. Das Interview wurde am 4.12. 2014 in Santa Cruz de la Sierra mit dem Urenkel gleichen Namens, Georg Banzer, geführt. Jorge Banzer in Galauniform Wappen der Familie Banzer 17 Santa Cruz 2 Interview Karl Karl Adolf Eduard Füchtner Michelfelder Geboren am 16.08.1890 in Pleidelsheim, Baden-Württemberg Gestorben am 16.08.1952 in Tübingen 18 Auswanderung Mein Vater entstammte einer alteingesessenen Familie, die sich seit dem 17. Jahrhundert der Land- und Viehwirtschaft widmete. Durch die Steuereintreibung für den Herzog von BadenWürttemberg wurden zudem beachtliche Nebeneinkünfte erwirtschaftet. Das Verhältnis zum Herzog soll so gut gewesen sein, dass dieser sogar bei uns übernachtet haben soll! Haus der Familie Füchtner in Pleidesheim Aber zurück zu meinem Vater: Gerade als mein Vater seine Lehre als Buchhalter abgeschossen hatte, fand er in der Zeitung eine Annonce der Firma Zeller, Villinger & Cia, die ausgebildete Buchhalter für ihre unterschiedlichen Geschäftsstellen in Bolivien suchten. Emilio Zeller, der Firmengründer, stammte ebenso aus Baden-Württemberg und suchte sich sein Personal durch Zeitungsannoncen in seiner alten Heimat. Das Handelsunternehmen Zeller hatte bei Zeiten damit begonnen Kautschuk, Paranüsse und Leder über Puerto Suárez nach Deutschland zu exportieren und im Gegenzug Produkte aus der Heimat nach Bolivien zu importieren. Im Laufe der Jahre hatte Zeller sein Unternehmen Dank seines guten Geschäftssinns und seiner aus der alten Heimat geholten Fachkräfte in Buchhaltung und Verwaltung zum größten Handelshaus des bolivianischen “Oriente”, des Ostens Boliviens, entwickelt. So stammten nicht nur mein Vater, sondern auch Beischer, Weitbrecht, Kreidler und Seng und viele andere aus Württemberg. Mein Vater verließ 1912 als Junggeselle seine Der junge Karl Adolf im Smoking Heimat, um sich in Bolivien bei Zeller zu verdingen. Während der Überfahrt erlernte er die spanische Sprache. Einwanderung als Angestellter der Firma Zeller Erst wurde er in Santa Cruz eingearbeitet, nur ein Jahr später übernahm er die Filiale in Portachuelo. Dann wurde er nach Concepción de Ñuflo de Chavez weitergeschickt und erst 1920 zog er sich aus der Firma Zeller zurück. In der Regel hatte man damals Vierjahresverträge, die außerdem die Verpflichtung enthielten, nach Beendigung des Vertrages nicht bei der Konkurrenz oder einem anderen Unternehmen der Region als Angestellter zu arbeiten. Daher war man sozusagen gezwungen, nach Vertragsende sich als selbstständiger Unternehmer niederzulassen, den Vertrag zu verlängern oder weiterzuziehen. 19 Mein Vater verpflichtete sich zunächst einmal acht Jahre bei Zeller, danach eröffnete er sein eigenes Unternehmen, so wie es viele andere deutsche Angestellte wie die Scheidl, Deussen, Dencker, Giers ebenfalls taten. Die Arbeit begann damals pünktlich in aller Herrgottsfrüh und endete um zehn Uhr in der Nacht. Harte Arbeit prägte das Leben. Routine und Regelmäßigkeit bestimmten den Tagesablauf. Sehr diszipliniert musste man sein, um diesen Arbeitsrhythmus durchzustehen. Die Mehrheit der deutschen Einwanderer, alles Männer, arbeiteten im Kautschuk. Frauen migrierten nur in den seltensten Fällen - und wenn, dann mit ihren Familien. Auf in die Selbstständigkeit Ab 1920 arbeitete mein Vater als Buchhalter in seiner eigenen Firma, die er 1919 mit anderen Einwanderern gründete. Dies ist auch die Zeit, in der er die bolivianische Staatsangehörigkeit angenommen hat. Als Geschäftspartner gründeten sie in Santa Cruz die Fabrik “Alcohol Hirtner & Cia.”, die Alkohol aus Zuckerrohr herstellte. Sie vertrieben eine Zeitlang sehr erfolgreich die Brandweinmarke “Todos Santos”, was übersetzt “Allerheiligen” heißt. „Todos Santos“ wurde schnell zur bekanntesten Marke im Osten Boliviens. Aber dieses Unterfangen brachte ihm auf die Dauer kein Glück: Der Melassepreis stieg gewaltig an, die Fabrik warf keine Gewinne mehr ab und ging in der großen Depression 1929-30 pleite. Mehr Glück hatte mein Vater mit einem “Supermarkt”, dem „Almacén Buenos Aires“, den er in einem großen Gebäude in Santa Cruz eröffnete. Er handelte mit Lebensmitteln wie Reis, Schokolade, Fett, Butter, Käse - alles verkaufte er dort und die Kundschaft kam, weil er so ein sympathischer Kerl war. Das Geschäft lief recht gut. Er handelte mit vielen Produkten, teilweise auch Produkten, die von deutschen Landsleuten hergestellt wurden, wie zum Beispiel dem Käse der Finca “El Cerrito” der deutschstämmigen Familie Hollweg, die sogar Mozzarella herstellten. 20 Fesch unter Freunden - rechts im Bild Karl Adolf Von der Schönheit und den Schönen Aber zurück zu meinem Vater und seinem wichtigsten Merkmal: Er war ein schöner Mann. Er hatte wunderbare blaue Augen und kastanienbraune, dichte Haare. Wirklich ein wunderbares Mannsbild! Und er war vernarrt in die Frauen bzw. die Frauen in ihn! Mit Doña Felima Farfán, eine seiner zahlreichen Geliebten, wurde ihm die erste Tochter geboren. Es lebte sich gut zu dieser Zeit in diesen Orten, denn es gab fast alles zu kaufen, was das Herz begehrte. Wenn man Geld hatte, war es wie im Paradies. Es gab jede Menge Obst, Geflügel - von allem gab es in Hülle und Fülle. Und es gab viele schöne Frauen. Und Vater war ein Lebemann und da er so hübsch war, fand er immer Gefallen an einer Frau und sie an ihm. In Montero traf er Josefina Soria Galvarro Pérez: Die Schönste des Dorfes, von adliger spanischer Abstammung. Zu Zeiten des Kautschukbooms kamen viele adlige Spanier nach Beni oder Santa Cruz, da heirateten sie nach römisch-katholischem Brauch. Mein Großvater mütterlicherseits war ein gewisser Rafael Soria Gavarro Medrano, Abkömmling eines spanischen Conde, der die Gemeinde Totora im Department Cochabamba gegründet hat. Er hatte sich mit einer gewissen Doña Manuela Suarez Araña y Velasco gut verheiratet. Mein Vater war weniger ambitiös: Er ging weiterhin seiner Arbeit als Buchhalter nach und stieg bei Gelegenheit den Frauen hinterher. Nein, ich muss sagen, die Frauen liefen ihm hinterher, weil er so gut aussehend war. Er hatte in dieser Zeit vier junge Damen aus gutem Haus, die ihn umwarben. Eine Familie besonderer Art Die Auserwählte Josefina Soria Galvarro Spanien von einer Krise betroffen war und viele Menschen Hunger litten. Spanien war wirtschaftlich am Ende, während man in Bolivien gutes Geld verdienen konnte - sowohl mit Kautschuk wie in der Viehwirtschaft. Im Januar 1927 entschloss er sich, Josefina zu heiraten. Er war Protestant, seine Auserwählte Katholikin. Aber mein Vater erwirkte eine Sondergenehmigung der Kirche und so Schon im November 1927 wurde mein älterer Bruder, Carlos Rafael, in Santa Cruz geboren, im Juli 1929 Hans Wilhelm Kurt, meine Wenigkeit. Der Bischof fand diese deutschen Namen schrecklich und meinte zu meinem Vater: „Warum gibst Du deinen Kindern Namen von Vögeln – wenigstens ein Name deiner Kinder sollte spanisch sein!” Und so wurde ich statt auf den Namen Wilhelm, auf die spanische Version “Guillermo” getauft. Alle Kinder wurden nach römisch-katholischem Brauch getauft. Die Ehe meiner Eltern entwickelte sich unerfreulich und so kam es bereits 1930 zur Scheidung. Josefina Braut und Brautjungfern in Charlestonkleidern 21 wollte die Scheidung und bekam sie. Mein Vater wurde sogar ex-kommuniziert. Da meine Mutter mit der ganzen Stadt verwandt war, lebte sie zufrieden weiter in der guten Gesellschaft von Santa Cruz. Ja und wir Kinder, Carlos und ich, blieben bei unserem Vater. Ein Kindermädchen, Doña Tomasa, eine echte Indianerin der Chiquitania, versorgte uns bei Tag und bei Nacht. Sie war eine ganz außergewöhnliche Frau. Wir Kinder besuchten die deutsche Grundschule und im Anschluss die Oberschule des „Colegio Nacional Florida“. Vater finanzierte auch mein fünfjähriges Studium der Pharma-Chemie an der Universität von Santiago de Chile. Vereinen, die einen hohen Anteil an europäischen Einwanderern als aktive Mitglieder zählten. So engagierte er sich auch 1914 als die deutsche Gemeinde in Santa Cruz unter Führung ihres Konsuls, Franz Albrecht, für die deutsche Reichswehr Gelder sammelte: In der Liste des Konsuls ist mein Vater als Angestellter der Firma Zeller aufgeführt mit einer Spende von 50 Bolivianos; Zeller, Villinger & Cia trugen als “Casa Comercial” (Handelshaus) 1.000 Bolivianos bei. Er hatte viele gute Freunde in der deutschen Gemeinde, unter anderen Dr. Franz Kempff. Er war der Arzt, der mir half, auf die Welt zu kommen. Er war zeitlebens ein sehr guter Freund meines Vaters und war oft bei uns Zuhause. Söhne Hans und Carlos in Schuluniform der Deutschen Schule Das gesellschaftliche Leben in Santa Cruz Unser Papa war weiterhin so beliebt, dass er zu allen Feierlichkeiten eingeladen wurde. Mittwoch und Freitag ging er in den internationalen Klub. Papa war auch Gründungsmitglied des Rotary Klubs in Santa Cruz (gegründet 1937). Er war Zeit seines Lebens sehr gesellig und engagierte sich in den verschiedenen 22 Vater Karl Adolf mit Söhnen Hans und Carlos Profil meines Vaters und sein Sinn für das Schöne Und dann starb Vater. Ich konnte es nicht fassen. Ich habe selten eine Person erlebt, die gleichzeitig so freundlich, sympathisch und intelligent sein konnte. Papa war uns immer ein guter Freund. Er tanzte gerne – und wir haben ihm, als wir älter waren, die neuen Modetänze beigebracht wie zum Beispiel den Tanz „Conga“. Im Karneval zogen wir gemeinsam los. Er hatte immer so eine positive Art, war gut gelaunt, fröhlich – wir zogen los als Komparsen im Karneval! Wenn er sich aber mal über etwas richtig ärgerte, dann war das auch heftig. Er war ein Mensch der großen Gefühle und liebte das Schöne. Er war sehr beliebt bei der Bevölkerung. Im Hause meines Vaters gab es Möbel aus Deutschland, viele Silberwaren, eine große Münzsammlung und viele schöne Dinge. Er hat uns den Sinn für das Schöne vermittelt. Vor allem der klassischen Musik galt seine Vorliebe. Wöchentlich traf man sich zur Hausmusik im Hause meines Vaters und wenn Musiker nach Santa Cruz kamen wurden Konzerte in unserem Haus abgehalten. Geschäft und ein paar Grundstücke. Wir waren seine einzigen ehelichen Kinder. Mit einer „Camba“, Frau aus dem Tiefland, hatte er weitere Kinder gezeugt. Er war halt ein Frauenheld. Er hatte auch noch eine Verlobte kurz vor seinem Tode, aber vor der geplanten Hochzeit verstarb er 1952. Aus Nostalgie hatte er eine Reise in seine alte Heimat unternommen. In Tübingen, bei einer Routineuntersuchung, wurde Krebs diagnostiziert. Er verstarb kurze Zeit später an den Folgen der Operation. Das Interview wurde mit Hans Füchtner in Santa Cruz im Dezember 2014 geführt. Wahrscheinlich war dies der Auslöser dafür, dass ich mich später entschloss, in der Kunst zu arbeiten. Aus Brasilien und aus aller Welt kamen Kunstliebhaber, um Kunstwerke bei mir zu kaufen. Ich bin zwar Autodidakt, jedoch habe ich den von meinem Vater erlernten Schönheitssinn und meine Chemiekenntnisse gewinnbringend in die Restaurierung von kolonialer Kunst einbringen können. Für diese Arbeit habe ich spezielle Tinkturen entwickelt. Mein Vater wie auch meine Mutter haben uns die Liebe und das Verständnis für Kunst mit in die Wiege gelegt. Sie war ja eine echte Aristokratin aus Santa Cruz. Die Hinterlassenschaften meiner Eltern Meine schöne Mama, Josefina, hat nach meinem Vater noch dreimal geheiratet. Sie war einfach eine wunderschöne Frau. Wir Kinder haben uns oft in ihrer Nähe aufgehalten, da wir ja am gleichen Ort lebten. Viele Männer haben sich in sie verliebt. Sie starb mit 87 Jahren und litt an Alzheimer. Sohn Hans als junger Mann Obwohl mein Vater so ein Lebemann war, hat er für uns Kinder eine solide Ausgangsbasis für unser späteres Leben geschaffen. Er vererbte uns das 23 Santa Cruz 3 Interview Franz Dr. Franz Kempff Job geboren in Saargemünd, Elsass-Lothringen, am 10. Februar 1879 gestorben in Santa Cruz am 3. September 1977 Der junge Franz Kempff 24 Auswanderung und erste Jahre in Brasilien Mein Großvater, Dr. Franz Kempff, war ein Philanthrop und ist bis heute ein Vorbild für mich. Er entstammte einem katholischen gutbürgerlichen Elternhaus aus der Stadt Saargemünd. Seine Eltern, Margarete und Julius, die eine Gerberei betrieben, konnten Franz, dem Erstgeborenen, und seinen drei Geschwistern eine solide humanistische Ausbildung zukommen lassen. Mit 25 Jahren nahm er eine Arbeitsstelle als Schiffsarzt bei der Firma „Bremer Lloyd“ an. Auf seiner ersten Schiffsreise gelangte er in die USA, New York. Wie wir es bis heute oft antreffen, hatte eine deutsche Firma mehr Vertrauen in deutsche Ärzte als in die amerikanischen Kollegen und stellte so an ihren wichtigsten Niederlassungen entsandte deutsche Ärzte ein. Von New York führte ihn der Weg im Jahre 1905 nach Manaus, in der damaligen Zeit der zweitwichtigste Hafen für die deutsche Firma „Bremer Lloyd“ in Amerika. Die wirtschaftlichen Aktivitäten der deutschen Exportfirmen wurden durch den Kautschukboom beflügelt. In Brasilien arbeitete mein Großvater jeweils sechs Monate für die „Bremer Lloyd“ in Manaus und sechs Monate in Rio de Janeiro im Wechsel. Zusätzlich zu seiner Arbeit suchte er sich ein akademisches Umfeld. In Manaus ebenso wie in Rio unterrichtete er als Professor an den örtlichen Universitäten (siehe Arbeitsbescheinigung der Freien Universität von Manaus). Die Eltern Margarete (1838-1883) und Julius Kempff (1832-1905) Die Ideen von Albert Schweizer beeinflussten die Berufsentscheidungen des jungen Franz. Er wollte Menschen helfen, daher studierte er Medizin. Seine Doktorarbeit an der Kaiserlichen Wilhelm Universität in Straßburg, der heutigen Université Louis Pasteur de Strasbourg, verfasste er 1903 „Zur Biologie des B. Pratyphi A.“, dem Erreger des Paratyphus. Veröffentlichung seiner Doktorarbeit 1903 Arbeitsbescheinigung der Escola Universitaria Livre de Manáos, Faculdade de Medicina e Pharmacia aus dem Jahre 1909 In Brasilien lernte mein Großvater Paul Busch kennen, den Vater des späteren bolivianischen Präsidenten German Busch. Busch und Kempff hatten sich durch ihre Arbeit als Ärzte kennengelernt. Busch heiratete eine reiche Bolivianerin und arbeitete nicht mehr als 25 Arzt. Auch damals war das Leben der Reichen einfach – die reiche Frau war die Lösung! Paul Busch sollte später noch wichtig für Kempffs Lebensweg werden, denn er empfahl ihm die Übersiedlung nach Bolivien. Aber erst noch einmal zu den jungen Jahren meines Großvaters im brasilianischen Amazonasgebiet: Seine zweite Anstellung als Arzt in Lateinamerika fand er in Guajará-Mirim im Bundesstaat Rondónia, im Grenzgebiet zu Bolivien bei der Firma, „Madeira Mamoré Railway Company“. Diese US-Amerikanische Firma baute die berühmt berüchtigte Eisenbahntrasse durch den Urwald, auch „Eisenbahn des Teufels“ genannt. Die 350 fertiggestellten Kilometer Trasse wurden 1912 eingeweiht. Eine der schwierigsten Eisenbahnkonstruktionen der damaligen Zeit! Mein Großvater arbeitete im firmeneigenen Krankenhaus, das in Villa Bella lag. Aus dieser Zeit erzählte er, dass täglich ein Mensch starb, so hart waren die Arbeitsbedingungen bei der Erschließung des Urwaldes, um die Trasse zu legen: Gelbfieber, Malaria und Schlangenbiss waren die häufigsten Todesursachen. Das Krankenhaus in Villa Bella wurde durch einen starken Tornado zerstört. Die Firma unterstütze ihn nicht beim Wiederaufbau des Hospizes und so kündigte er seine Stelle. Und er suchte weiter, jetzt schon an die 35 Jahre alt, nach einem Einsatz als Arzt in einem etwas ruhigeren Milieu. Dieses fand er in Santa Cruz de la Sierra in Bolivien. Ankommen in Santa Cruz de la Sierra und Leben in Bolivien 1913 traf er in Santa Cruz ein. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zählte die Bevölkerung von Santa Cruz nicht mehr als 20.000 Einwohner. Santa Cruz war abgeschnitten von der Landesentwicklung, da sich die herrschenden Regierungen auf den exportorientierten Bergbau und seine Gemeinden im andinen Hochland konzentrierten. Obwohl Santa Cruz die Hauptstadt des flächengrößten Departments war, fehlte es an einer Basisversorgung mit Trinkwasser, an einer Energieversorgung und an Krankenhäusern für die Versorgung der Bevölkerung. Der Handel war sehr eingeschränkt und reduzierte sich auf den Export von Rohrzucker (Chancaca), Alkohol, Trockenfleisch, Edelhölzern, Häuten und Fellen. 26 Nach seiner Ankunft in Santa Cruz de la Sierra fand er eine Anstellung über das Erziehungsministerium im „Colegio Modelo de Señoritas“, an dem er die Fächer „Hygiene“ und „Kinderkrankenpflege“ unterrichtete. Im Jahre 1918 wurde Franz Kempff zum Betreuungsarzt für alle schulischen Einrichtungen der Stadt ernannt. Im gleichen Jahr nahm er auch eine Stelle als leitender Arzt der gynäkologischen Abteilung im Gemeindekrankenhaus „San Juan de Dios“ an. Seine Ausbildung als Pathologe konnte er ebenfalls nutzen. Da es wenig gut ausgebildete Ärzte in dieser Zeit in Santa Cruz gab, wurden ihm auch die pathologischen Arbeiten übertragen. Über viele Jahre war er der einzige Pathologe in Santa Cruz. Im Jahre 1917 geschah das Wunderbare, was schon Großvater Busch beglückte: Mein Großvater, Dr. Franz Kempff, ehelichte mit 38 Jahren die 20 Jahre jüngere Luisa Mercado Dermit, eine Frau aus der guten Gesellschaft von Santa Cruz, Enkelin des berühmten Freiheitskämpfers José Manuel Mercado Montero. Große Ländereien, Viehzucht und Landwirtschaft brachte sie in die Ehe ein – das Einkommen der Familie Kempff war gesichert. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor: Roland (mein Vater), Enrique, Manfred, Noel und Nelly. Ich bin wiederum der Erstgeborene von Roland und somit der älteste Enkel von Franz Kempff. Alle Kinder wurden Akademiker, schrieben Bücher, spielten eine Rolle im öffentlichen Leben und setzten sich für die junge Republik ein. Wir Nachfahren sind sehr stolz auf diese Familiengeschichte – auch wir Söhne und Enkelsöhne haben studiert, wurden Akademiker, leisteten und leisten wichtige Beiträge für die Entwicklung unseres Landes. Mein Großvater war nie in dubiose Machenschaften verwickelt. Er war Mitglied des bedeutendsten Clubs in Santa Cruz, dem „Sozialen Club 24. September“. Ebenfalls gründete er einen Deutschen Club, den „Hogar Alemán“. Das Haus der Kempff war Treffpunkt nicht nur der guten bolivianischen Gesellschaft und der Deutschsprachigen in Santa Cruz, sondern auch bedeutender Persönlichkeiten wie z. B. Hans Kundt, dem deutschen General, der im bolivianischen Heer wichtige Posten besetzte. Dr. Kempff war der Arzt für die deutschen Einwanderer, er führte ein offenes Haus. Aber noch einmal zurück zu dem vielfältigen dienstlichen Engagement meines Großvaters. 1925 berief ihn die Gemeinde zum Direktor des Krankenhauses „San Juan de Dios“. Zum ersten Mal erhielt er ein seiner Ausbildung entsprechendes ordentliches Gehalt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich als Kommunalpolitiker in der liberalen Partei engagiert. Schon damals war er Mitglied verschiedener Gremien u.a. des Wahlausschusses der Gemeinde. 1924 wurde er zum Bürgermeister von Santa Cruz gewählt - trotz seiner deutschen Nationalität, die er nie ablegte. 1930 erfolgte die Wiederwahl zum Bürgermeister. Zum Dekan der lokalen Universität wurde er 1931 ernannt. Mit 58 Jahren zog sich mein Großvater aus der Leitung des Krankenhauses „San Juan de Dios“ zurück. Das war im Jahre 1937. Aber bis ins hohe Alter versorgte er Patienten in seiner Privatpraxis in seinem Haus. Soweit seine erfolgreiche berufliche Laufbahn in Santa Cruz. In den Jahren, in denen mein Großvater als angesehener und wohlhabender Bürger nicht mehr von den Einnahmen seiner Arbeit abhängig war, eiferte er seinem Ideal, Albert Schweizer, nach: Einmal im Jahr ritt er für drei Monate aus und besuchte alle Missionsstationen in der Chiquitania: San José, San Rafael, San Miguel, San Ignacio de Velasco, Concepción, San Javier bis hin zu den Missionen der Guarayos. Das waren mehr als 1000 Kilometer, die er da auf dem Rücken von Pferden zurücklegte. Die Franziskaner hatten alle ehemaligen Jesuitenmissionen zu dieser Zeit übernommen. Mein Großvater stellte die ärztliche Versorgung in den abgelegenen ländlichen Gebieten sicher. Er war ein großer Freund der Priester und des Bischofs. Letztere organisierten die ambulante Behandlung durch meinen Großvater. Zeit der Kriege Im I. Weltkrieg hielt der deutsche Konsul eine Kollekte für Deutschland ab und auch Dr. Kempff beteiligte sich finanziell an diesem Unterfangen mit 200 Bolivianos, was für damalige Verhältnisse eine stolze Summe war. In dieser Zeit existierte eine große deutschsprachige Gemeinde in Santa Cruz von circa 120 Personen, die für Deutschland Geld sammelten. Sie veranstalteten auch die erste öffentliche Versammlung auf dem Hauptplatz in Santa Cruz in Solidarität mit den deutschen Soldaten. Mein Großvater war liberal und gehörte der deutschnationalen Bewegung an. Daher fand sich mein Großvater auch 1917 auf der „Schwarzen Liste“ von Deutschen in Santa Cruz wieder, die als Feinde der USA galten. Er hatte sich auf Seiten Deutschlands für den I. Weltkrieg eingesetzt – er hatte ja auch sein Scherflein für die deutsche Wehrmacht beigetragen. 1932, vor Ausbruch des Chaco-Krieges, wurde eine Verleumdungskampagne gegen ihn angezettelt, da er seine deutsche Nationalität beibehielt. Aufgrund seiner guten Beziehungen und seiner wertvollen Arbeit, gelang es seinen Gegnern jedoch nicht, ihn mundtot zu machen. Mein Großvater war sehr beliebt, weil er vielen Frauen bei der Geburt geholfen hatte. Seine medizinischen Diagnosen wurden wertgeschätzt. Zudem verlangte er von den Armen kein Geld für seine Arbeit. Selbst wenn ich heutzutage durch die Chiquitania reise, werde ich, gefragt, ob ich mit Dr. Kempff verwandt bin. Er blieb der Landbevölkerung durch sein unermüdliches Engagement in guter Erinnerung. Aber zurück zum Chaco-Krieg: In dieser Zeit wurde er der wichtigste Arzt der Garnison. Er kündigte seine Mitarbeit im Krankenhaus auf und übernahm die Leitung des Militärkrankenhauses. 1935 wurde er daraufhin zum Ehrenmitglied des Gemeinderates von Santa Cruz gewählt. Bleibende Eindrücke Mein Großvater war fasziniert von der Natur und der Wildheit des Kontinentes. Er erzählte gerne Geschichten. Aus Santa Cruz berichtete er, dass er in den ersten Jahren nach seiner Ankunft in der Gemeinde auf den Kirchsturm stieg, um einen Überblick über die Stadt zu erlangen: Nach vier Straßenzügen hörte die Bebauung schon auf, so klein war Santa Cruz und so überschaubar. Als Arzt leistete er zahlreiche Beiträge zum Gemeindeleben nicht nur als Mediziner für Allgemeine Medizin und Pathologe sondern zum Beispiel auch für die lokale Bierbrauerei. Er übernahm die Kontrolle des Fermentierungsprozesses! Er war für alles Mögliche zuständig, da es kaum gut 27 ausgebildete Akademiker in dieser Zeit in Santa Cruz gab. Seine gute Ausbildung und seine vielseitigen Interessen brachte er, wo er konnte, ein. Mein Großvater war zudem ein sehr systematischer Mensch. Er sprach acht Sprachen: Deutsch und Französisch hatte er in seiner Heimat ElsassLothringen erlernt, Griechisch und Latein lernte er in der Schulzeit, um Medizin zu studieren, Englisch und Portugiesisch lernte er in seiner Zeit mit dem Bremer Lloyd in der USA und in Brasilien und Spanisch sowie eine lokale Sprache erlernte er in Bolivien. Er studierte die spanische Sprache zuerst in Villa Bella mit einem Spanischlehrer. In unserer Familie wurde Spanisch gesprochen. Der Alltag 28 reiche Frau geheiratet. Das einzige Mal, dass mein Opa wirklich ein Geschäft tätigte, war der Verkauf des Viehbestandes einer der vielen Haziendas über einen deutschen Verwalter, der mit dem Geld auf nimmer Wiedersehen verschwand. Mit dem Opa habe ich stundenlange Gespräche geführt über Bergbau und Goldvorkommen. Er liebte es, über diese Themen zu sprechen. Er kannte sich sehr gut über Lagerstätten und Vorkommen aus. Wenn er auf seinem Pferd ausritt, hat er sich alles genau angeschaut, er hat vieles in Skizzen festgehalten. Er entdeckte ein neues Mineral in Bolivien,„la Columbita“ und Goldvorkommen in Santa Ana de Velasco. Eine der Lagerstätten kann man noch heute besichtigen. Obwohl er Arzt war, interessierte er sich sehr für die Geologie und den Bergbau. In der Chiquitania gab es mehrere Goldlagerstätten, die er exakt kartierte. Mein Großvater war ein sehr disziplinierter Mensch, was seinen Tagesablauf anbelangte. Um 7.00 Uhr nahm er seine Arbeit auf, kam dann um 11:00 Uhr nach Hause. Zu Hause wurde deutsch gekocht mit einem kleinen bolivianischen Einschlag. Die Elsässer Platte mit Sauerkraut hatte ich schon im Haus meines Großvaters kennengelernt. Er liebte das gute Essen und den deutschen Wein, besonders Moselwein. Froschschenkel habe ich zum ersten Mal bei meinem Opa in Santa Cruz gegessen. Zudem waren Naturjoghurt und gute Käsesorten in seinem Haus stets vorrätig. Dauerwürste, wie sie im Elsass hergestellt werden, liebte er sehr. „Paté de lentejas“, aus der man eine Art Linsensuppe herstellen konnte, war sein Reiseproviant. Das nahm er immer mit, wenn er die Gemeinden auf dem Lande besuchte. Bier wurde aus Deutschland importiert ebenso wie der Wein von der Mosel. Die deutschen Importe kamen über Buenos Aires nach Santa Cruz. Nach dem Mittagessen durfte die Siesta nie fehlen. Danach widmete er sich seiner privaten Praxis. Um 18:00 Uhr ritt er aus, um Krankenbesuche zu erledigen. Am Hauptplatz fand er immer Gelegenheiten, sich mit Freunden auszutauschen. Um 20:00 Uhr gab’s dann das Abendessen. Ihm schmeckten die kleinen Bananen mit Käse und Honig besonders gut zum Nachtisch! Zu dieser Zeit lebten noch wilde Stämme in dieser Gegend wie z.B. die heute ausgestorbenen SirionóKrieger. Eine dieser Gruppen hatte eine Hazienda angegriffen. Auch Frauen und Kinder wurden bedroht. Sie kamen zu Pferd und auch mein Opa ritt hoch zu Ross, mischte sich ein und rettete das Kind, das gerade erschossen werden sollte. Er war ein Mann mit Zivilcourage. Er war ein zurückhaltender Mensch, ein Humanist, kein guter Geschäftsmann. Als Arzt verlangte er die niedrigsten Honorare. Gott sei Dank hatte er eine Das Haus des Großvaters lag im Zentrum von Santa Cruz in der Straße Caracas vier Blocks von der Stadtmitte entfernt. Es war ein einstöckiges Haus mit Das Familienleben Er war ein sehr liebevoller Vater und Familienmensch. Unsere Familie verbrachte die Ferien immer zusammen. Die Familie reiste viel in Bolivien und im Ausland. Alle drei Jahre besuchten wir Europa, aber auch andere lateinamerikanische Länder und die USA. Seine Ratschläge gab er einem auf eine sehr sanfte Art, keine Schläge, sondern Rat! Er war strikt und konsequent. Das Fach, wo keiner an ihn heran kam, war die Mathematik. Mein Großvater war ein Weltenbürger und ein Universalist in seinen Kenntnissen. Sein Hobby war der Bergbau. Darüber ist in den Briefen an seinen Sohn einiges überliefert, einschließlich der Lagepläne. Er kaufte auch Bergbaulizenzen in Santa Ana de Velasco, was als Erbe an die Kinder überging. großem Innenhof, umgeben von einer Gartenanlage. Im Innenhof gab es Hängematten und hinter dem Haus einen Pferdestall. Am Hauseingang waren Metallringe angebracht, um die Pferde anzubinden, auch für die Gäste des Hauses. Das waren sozusagen die reservierten „Besucherparkplätze“. Das Haus war mit Palmen und Orchideen versehen. Es beherbergte Zimmer für die zahlreichen Enkel und Gäste sowie ein großes Esszimmer und sechs Schlafzimmer mit Bädern für die engsten Familienangehörigen, was damals eine Seltenheit war. Der Ziegelbau war gut durchlüftet und dem Klima angepasst. Am Abend stellte man seine Schaukelstühle auf die Straße, um die frische Abendluft zu genießen und die Leute zu grüßen. Als er alt war und ich ihn zum Spaziergang abholte, wollte er nie gestützt werden. Er wollte nie alt erscheinen, war immer elegant gekleidet, schwarzer Anzug, Fliege und Hut, ein Gentleman. Gesellschaftliches Leben der Deutschen in Santa Cruz Deutsche Zuwanderer wurden willkommen geheißen mehr als Amerikaner. Die Deutschen waren formaler in ihrer Kleidung, in ihrem Benehmen. Mit der bolivianischen Oberschicht gab es keine Probleme, abgesehen von einigen Anfeindungen zu Kriegszeiten. Mit den Eingeborenen hatten die Deutschen ebenfalls keine Probleme, denn sie behandelten sie mit Respekt. Die Deutschen waren willkommen. Auch heute noch sagt man, diese Deutschen sollen sich hier verewigen. Dies taten sie dann; oft auch mit Eingeborenen. Daher gibt es auch heute noch in entlegenen Gebieten viele Einwohner mit blauen Augen und hellen Haaren. Das „Hogar Alemán“ gründete er, eine Art Deutscher Club in Santa Cruz. Zudem brachte er zusammen mit anderen Deutschstämmigen alle drei Monate er eine deutsche Zeitung heraus. Eine Deutsche Schule wurde erst später in Santa Cruz gegründet, sie ist weniger als 20 Jahre alt. In Santa Cruz existierten damals noch keine Privatschulen. Die Kinder der Deutschen gingen auf die öffentliche Schule „Colegio Nacional Florida“ und studierten später im Ausland vor allem in Deutschland. Ein Deutsches Krankenhaus existierte nicht, das einzige städtische Krankenhaus „San Juan de Dios“ wurde ja durch ihn geleitet. Beziehungen zu Deutschland Franz Kempff in Santa Cruz beim Überqueren einer Hauptstraße in der Regenzeit Bis zum I.Weltkrieg pflegte er die Familienbeziehungen nach Deutschland. Im Krieg starb seine Schwester bei einem Bombengriff. Danach besaß er keine nahen Verwandten mehr in der alten Heimat, wodurch sich die Beziehungen zu Deutschland abkühlten. Sein Bruder wanderte nach Brasilien aus und baute dort als Ingenieur eine Motorindustrie auf. Auch dieser verstarb in Sao Paulo an einem Herzschlag, wodurch Franz seinen letzten nahen Verwandten verlor. Erst durch seinen Sohn Fernando, meinen Bruder, der an der Universität Aachen studierte, wurden die Beziehungen zu Deutschland wieder belebt. Ihm wurde gerade an der Universität Aachen die Ehre zu Teil, anlässlich der Emeritierung seines 80-jährigen Hochschulprofessors die Laudatio zu halten. Das Interview mit dem Enkel, Oscar Kempff fand in La Paz 2013 statt. Die Enkel Lorena und Julio Kempff leisteten wertvolle Beiträge in Santa Cruz im Dezember 2014 Wappen der Familie Kempff 29 Fotos: Krankenhaus San Juan de Dios in Santa Cruz, Doktor Kempff und Kollegen Kundt im Kreise von bolivianischen Soldaten 30 Fotos: Jesuitenmissionen Concepción und San José de Chiquitos Indianer aus der Ethnie der Sirionó, die Doktor Kempff jährlich besuchte 31 Santa Cruz 4 Interview Franz Franz Wilhelm Otto Kenning Breconitsch Geboren in Berlin am 25.September 1877 Gestorben in Santa Cruz de la Sierra am 4.Juli 1950 Hinten, stehend von links nach rechts: Wilhelm (Guillermo) Kenning Voss, mein Vater, Phillip Kenning Voss, Otto Kenning Voss (Sohn), Vorne von links nach rechts: F. Otto W. (Vater) Kenning Breconitsch, Heinrich Kenning Voss, Lotty Kenning Voss 32 und Henriette Voss Schmidt de Kenning Auswanderung Mein Großvater wanderte 1910 aus Deutschland aus. Per Schiff reiste er nach Buenos Aires und von dort ging es auf dem Landweg über Santiago de Chile nach Arica und weiter in die Berge nach Potosí. In seiner alten Heimat hinterließ er zwei Brüder, von denen einer im I. Weltkrieg verstarb. Seine Eltern waren William Kenning und Louise Breconitsch. Uns wurde erzählt, dass die wirtschaftliche Krise in Deutschland ihn zur Auswanderung bewegte und er sich auf eine Annonce Hochschilds bewarb. Er hatte eine Ausbildung zum Buchhalter absolviert, sprach kein Wort Spanisch als er ausreiste und musste es erst in Bolivien erlernen. In Potosí arbeitete er in der Bergwerksgesellschaft Hochschild, dessen Chef, Moritz Hochschild, ein deutscher Jude, ihn schon nach der Ankunft in Chile unter Vertrag genommen hatte. In Potosí gefiel ihm weder die Arbeit in der Mine noch bekam ihm die Höhe, so dass er sich 1912 entschloss, nach Santa Cruz de la Sierra weiter zu ziehen, wo er einen Vertrag mit dem durch Kautschukhandel groß gewordenen Handelshaus Gasser & Schweitzer einging. Sesshaftwerdung und Familiengründung In Santa Cruz lernte er Johannes Voss und seine Frau Claudine Shmidt kennen, ein schon älteres Ehepaar aus Hamburg Altona. Voss war bereits 1898 aus Deutschland ausgewandert. Er hatte eine Zeit lang in San Ignacio de Velasco gearbeitet und war, als sie sich kennenlernten, bei Nicolás Suarez in Puerto Suarez als Buchhalter angestellt. Voss hatte eine wunderschöne Tochter, Anna Voss Schmidt mit Namen, in Hamburg Altona 1890 geboren und unverheiratet. Da geschah das Unausweichliche, mein Großvater verliebte sich in sie. 1916 wurde in Santa Cruz geheiratet. Mein Vater Hans Otto Wilhelm wurde in Santa Cruz im Jahre 1917 geboren, Philipp 1919 und Otto 1923. Anna starb acht Jahre nach Eheschließung an Unterernährung – Mangel an Vitaminen, hieß es. Mein Großvater heiratete daraufhin zwei Jahre später die Schwester von Anna, Henriette Voss, die zwanzig Jahre jünger war als er. Mit ihr zeugte er zwei weitere Kinder, Heinrich 1927 und Lotty 1935. Das war damals nicht unüblich, dass zur Versorgung der Kinder eine nahe Verwandte geehelicht wurde. „La Providencia“ – das Handelshaus in Santa Cruz Mein Großvater arbeitete weiter als Buchhalter für Don Felipe Schweitzer, der in Santa Cruz das Handelshaus „La Providencia“ unterhielt. 1924 wurde er Anteileigner des Unternehmens, das aus diesem Grund in „Schweizer & Cia“ umbenannt wurde. „La Providencia“ verkaufte alles Mögliche. Es war ein großer Bazar! Sie importierten zum Beispiel Nadeln und Nähzeug aus Europa ebenso Möbel, Handwerkszeug und Geräte für die Landwirtschaft. Alles was man braucht, wenn man auf dem Lande lebt. Von der Familie Schweitzer lebt niemand mehr in Bolivien. Heute können wir uns gar nicht mehr vorstellen, wie groß der Handel hier war. Mein Großvater arbeitete seit seiner Ankunft in Santa Cruz im Jahre 1912 bis zum Ausbruch des II. Weltkrieges zusammen mit Don Felipe Schweitzer. Erst 1947 trennten sich die Geschäftspartner. Mein Großvater, jetzt schon siebzigjährig, behielt seinen landwirtschaftlichen Betrieb und seine geliebte Viehwirtschaft. Er blieb Zeit seines Lebens in Santa Cruz, da er unter Bluthochdruck litt und die Höhe des Altiplano nicht vertrug. „La Providencia“ war eines der drei großen Handelsunternehmen in Santa Cruz neben dem Handelshaus Zeller & Moser und den Gebrüdern Elsner. Diese drei Handelshäuser erlebten ihre Blütezeit bis zum Ausbruch des II. Weltkriegs. Die Deutschen waren in dieser Epoche diejenigen, die Innovationen einführten. Sie trafen bei ihrer Ankunft auf ein Land, das keine Elektrizität, Telefonverbindungen und Kinos kannte. Deutsche waren es, die dies und vieles mehr in Santa Cruz einführten. Mein Großvater war auch der erste, der 1912 einen Generator zur Stromversorgung in Santa Cruz auf seiner Finca „El Arenal“ installierte. 1914 33 eröffnete er das erste Kino in Santa Cruz. Später baute er als erster eine moderne Viehwirtschaft in „Las Palmeras“ am Ufer des Rio San Juan in der Chiquitania auf. Dort verbrachten wir auch unsere Ferien. Bis heute haben wir auf dem Gelände des Großvaters noch einen landwirtschaftlichen Betrieb, ein paar Schafe und ein paar Ziegen. Auf seinen Wunsch wurden die drei größeren Kinder zum Studium der Landwirtschaft nach Santiago de Chile geschickt. Nur der Älteste hat das Landwirtschaftsstudium abgeschlossen. An seinem Lebensende hat sich mein Großvater ausschließlich der Viehwirtschaft auf seiner Länderei „Las Palmeras“ gewidmet. Mein Großvater Don Otto Mein Großvater war ein sehr ernsthafter Mensch, kein Vielredner, eher schweigsam. Er war streng und hatte an allem was auszusetzen. Zeit seines Lebens war er sehr pünktlich. Er hielt sich strikt an seine Prinzipien und war sehr fordernd. So kannte man ihn in der Gesellschaft in Santa Cruz. Man sagte auch schon mal den Deutschen nach, dass sie sehr „quadratisch seien“ – nicht nach rechts und nicht nach links schauend – streng und verantwortlich. Er lebte bescheiden und war genügsam, manchmal auch hart gegen sich selbst. Er war nie ein liebevoller, zärtlicher Vater. Er hatte sehr früh seine Mutter verloren und seine Stiefmutter war auch nicht gerade ein Ausbund an Wärme und Zärtlichkeit. In der angeheirateten Familie Voss gab es eine liebevolle Großmutter, die war nett zu uns Enkelkindern. Von seiner zweiten Frau, Henriette Marie Adelheit, die ja zwanzig Jahre jünger war als er und die von ihrer Familie gezwungen worden war, ihn wegen der Kinder zu heiraten, war nicht viel Wärme und Herzlichkeit zu erwarten. Mein Großvater war Lutheraner und hat seine Glaubenszugehörigkeit sein Leben lang beibehalten. Da es in Santa Cruz keine evangelische Gemeinde gab, nahm er an den Gottesdiensten teil, wenn ein Pastor mal zu Besuch kam. Er liebte es, sich mit anderen deutschen Musikern zusammen zu schließen und zu musizieren. Sie 34 hatten ein kleines Orchester aufgebaut. Er war ein begnadeter Musiker, spielte fünf Instrumente unter anderem Klavier, Geige und Mandoline. Wenn wir mal verreisten, dann ging es nach La Paz. Eine solche Reise auf dem Rücken eines Maultiers war schrecklich, sehr anstrengend. Es gab ja damals noch keine ausgebauten Straßen! Mein Großvater nahm nie die bolivianische Staatsbürgerschaft an, sondern behielt seinen deutschen Reisepass aus Berlin. Er bewegte sich gerne in deutschen Kreisen, besonders mit Deutschstämmigen seines Alters. Von der Familie Voss kamen noch Cousins nach Santa Cruz, die Pinkerts. Auch mit ihnen traf man sich gerne. Santa Cruz hatte sogar einen eigenen deutschen Friedhof! Den gibt es übrigens heute noch. Deutsches Brauchtum Mein Großvater legte Wert auf deutsche Gerichte: Berliner Ballen, Ofenpfannkuchen und die Art wie ein Schwein zubereitet wurde, hatte er aus seiner alten Heimat mitgebracht. Als Beilage wurden viele Kartoffeln gegessen, an Reis konnte man sich nicht gewöhnen. Besonders an den Feiertagen wie zu Weihnachten wurde deutsches Weihnachtsgebäck hergestellt. Großvater war sowieso ein hervorragender Koch, Bäcker und Konditor, was Nachtische und Torten anbelangte. Selbst Hochzeitstorten verstand er anzufertigen. Weihnachten wurde früher in Santa Cruz am 6. Januar gefeiert, aber bei uns zuhause feierte man das nach deutschem Brauch mit einem Weihnachtsbaum am 24. Dezember. Alle Familienmitglieder versammelten sich um den Baum herum und es wurde musiziert. Verbundenheit mit Deutschland Zu Hause wurde nur Deutsch gesprochen. Alle seine Kinder sprachen ein sehr gutes Hochdeutsch, obwohl sie nie in Deutschland gelebt hatten. Die Kinder wurden nach deutschem Stil und Gepflogenheiten gekleidet. Viele Deutsche sandten ihre Kinder zur Unterstützung ins Deutsche Reich. Der zweite Sohn meines Großvaters wurde ebenfalls nach Deutschland geschickt, aber er nahm nicht am Krieg teil. In den 30iger Jahren wurde mein Großvater zum Honorarkonsul für das Dritte Reich ernannt. Er war Mitbegründer der „Deutschen Schule“ in Santa Cruz und aktives Mitglied der „Sociedad de Estudios Geográficos e Históricos“, einer Gesellschaft für geografische und historische Studien. Er war auch einer der Gründer der Deutsche Schule in Santa Cruz. Als sein Vater erkrankte reiste er einmal nach Deutschland und später noch einmal mit seiner zweiten Frau. Nie wurden die Kinder mitgenommen. Großvater war in den Jahren in Santa Cruz zu einer angesehenen Person im öffentlichen Leben der Stadt avanciert. Er besaß verschiedene Liegenschaften in Santa Cruz, er war ein Mann mit Geld. Er pflegte keinen Kontakt mehr zu Deutschland und wollte auch nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Hinten von links nach rechts: Peter Voss Schmidt, Hans Voss Schmidt, Vorne von links nach rechts: Anna Voss Schmidt, Henriette Voss Schmidt. Unsere Familie ist heute nicht sonderlich groß – es leben hier in Santa Cruz noch 16 Enkelkinder, nur sechs von ihnen tragen noch den Namen Kenning. Das Haus, das Großvater hier in der Stadt erwarb, ist weiterhin im Familienbesitz. Das Interview wurde mit Enkelin Silvia Cecilia Irmgard und Enkelsohn Hans Heinrich Philipp Kenning Moreno am 3.12.2014 in Santa Cruz geführt. 35 Santa Cruz 5 Interview Josef Josef Kreidler Singer Geboren in Altheim, Kreis Horb am Neckar am 4. Juni 1880 Gestorben in San Ignacio de Velasco am 29. Februar 1920 36 Nachfahrentafel der Familie Kreidler Singer Auswanderung Unser Großvater Josef wurde als sechstes Kind einer Großfamilie geboren. Insgesamt fütterten seine Eltern neun Kinder durch. Zu dieser Zeit war die wirtschaftliche Lage in Deutschland sehr schlecht, auch wenn die Eltern einen großen Bauernhof in Haidenhof besaßen, der sich bis heute im Familienbesitz befindet. Heute noch werden dort Schweine gemästet und Hühner gezüchtet. Josef besuchte die Grundschule und absolvierte eine Lehre als Buchhalter in Horb am Neckar im Schwabenland. Da er keine Arbeit fand, beschloss er, 22 Jahre alt, nach Bolivien auszuwandern. Mein Urgroßvater lieh Josef 400 Reichsmark für die Überfahrt. Wilhelmine Kreidler (1850-1918) mit Sohn und Ehemann Zusammen mit zwei Cousins brach er im Jahre 1903 von Antwerpen aus nach Südamerika auf. Das Auswanderschiff nahm seinen Kurs über die Kanarischen Inseln, passierte Recife, Brasilien nach Buenos Aires, Argentinien, wo Josef an Land ging. Zusammen mit anderen Auswanderern suchten sie Arbeit in der argentinischen Hauptstadt, leider ohne Erfolg. Daraufhin beschlossen sie weiter in den Norden Südamerikas zu ziehen, da sie erfuhren, dass es in Paraguay Arbeitsstellen gäbe. Sieben Tage dauerte die Reise per Schiff auf dem Rio Paraguay von Buenos Aires nach Asunción. Die Flüsse waren die einzigen Transportwege, da es keine Straßen gab. In Asunción angekommen, verließ ihn der Mut, eine Anstellung in der Stadt zu finden. Aber als sie mittags in ein deutsches Lokal einkehrten, trafen sie einen deutschen Farmer. Dieser versprach sich für die drei jungen Männer bei einem deutschen Unternehmer einzusetzen, einem Württemberger, der das größte Importunternehmen vor Ort besaß. Nach einem kurzen Vorstellungsgespräch wurde Josef als Buchhalter mit einem Gehalt von 250,00 Pesos im Monat eingestellt. In einem Brief „an seine herzlich geliebten Eltern und Geschwister“ berichtete er am 24.3.1903: „Mein Vorgänger war ein ziemlich alter Engländer. Die Buchhaltung ist sehr schwer und alles ist in Spanisch... Ich kann schon ganz ordentlich Spanisch sprechen, aber es ist schwer. Ich hoffe, dass es mir hier gut gehen wird.“ Das Handelshaus hatte eine kleine Filiale im Landesinneren von Paraguay in Villarica verbunden durch die einzige Eisenbahn im Land. Diese wurde Josef anvertraut. Die Reise bis Villarica dauerte noch einmal einen Tag. Villarica war zu dieser Zeit die zweitgrößte Stadt mit 2000 Einwohnern in Paraguay. Für Zuckerrohr, Baumwolle und Viehwirtschaft war der Ort das Wirtschaftszentrum. Leider wissen wir nicht genau, wie lange er in Villarica arbeitete, höchstwahrscheinlich ein Jahr. Wir nehmen an, dass er dort von dem Kautschukboom, der Bonanza des „weißen Goldes“ erfuhr, der sich in Windeseile bis Paraguay herum sprach. Einwanderung nach Bolivien So machte er sich im Jahr 1904 auf, um in Puerto 37 Suárez sein Glück zu suchen, damals das Zentrum des Kautschukbooms. Per Schiff reiste er bis an die Grenze zwischen Brasilien und Bolivien. Es dauerte drei Monate, bis er Puerto Suárez, die Boomstadt, erreichte. In seinen Briefen an seine Eltern beschrieb er den Verlauf der Reise. Er war einer der wenigen, der gesund blieb und nicht vom Fieber heimgesucht wurde. Zuerst fand er keine Anstellung und wartete im Hafen, dem Umschlagplatz für Kautschuk, auf sein Glück. Die Kautschukbestände befanden sich nördlich im bolivianischen Tiefland. In Karawanen wurden die Kautschukballen zum Hafen transportiert. Josef scheint, sich als Schreiber im Hafen sein Geld zu verdienen. Er berichtete, dass er für die „Briefe 100 Reichsmark“ erhielt. Schon zu dieser Zeit hatte er zusammen mit seinem Cousin die Idee, eine eigene Firma zu gründen. Aber sein guter Geschäftssinn mäßigte ihn. Um genügend Startkapital zu akkumulieren, sparte er ein weiteres Jahr. Er erhoffte sich, eine Filiale im Landesinneren zu günstigen Bedingungen zu übernehmen. Dies schien zu gelingen. Leider sind die Briefe über diese Zeit verloren gegangen, so dass uns keine genauen Informationen vorliegen. Leben in Bolivien Im Jahr 1906 fand er eine Anstellung bei dem deutschen Handelshaus „Stöfen, Schnack, Müller & Co“, in San Ignacio de Velasco. Das Handelshaus importierte Kessel und Maschinen und exportierte Edelhölzer wie Mahagoni und Naturkautschuk. Hier fand der fünfundzwanzigjährige Josef nicht nur Arbeit, sondern auch die große Liebe seines Lebens, die zwanzigjährige Bolivianerin Lindaura Rivero. Geheiratet wurde im Mai 1906 in San Ignacio de Velasco. Sieben Kinder wurden dem Paar geboren: 1907 Wilhelmine, 1911 Nora, 1913 Josef (der im ersten Lebensjahr verstarb), 1914 Blanca, 1916 Regina, 1917 Otto Alfonso unser Vater. Das letzte Kind, unsere Tante Frida, erblickte 1920 das Licht der Welt. Aus dem Briefverkehr können wir entnehmen, dass es unserem Großvater 1912 schon ökonomisch recht gut geht, denn er investierte 20 000 Reichsmark in 38 Josef mit Töchtern Wilhelmine, Norah und Blanca in San Ignacio de Velasco 1914 sein Haus und verlieh Gelder an seine Verwandten, die immer wieder durch Liebesgeschichten gebeutelt wurden. Er beschreibt, dass es in dieser Zeit in Bolivien einfach ist, Geld zu verdienen und ein gutes Leben zu führen. „Das Leben in Amerika ist so einfach!“ Brief des Großvaters vom 14. November. 1912 an seine Eltern über seine Finanzen Gleichzeitig erkannte er, dass durch das tropische Klima viele Krankheiten ausgelöst wurden. In einem Brief an seine Eltern,datiert vom 15.10.1913 beschrieb er die Malariaanfälle und eine Pockenepidemie, die die Indianer dahin raffte. „Hier machten wir in letzter Zeit traurige Tage mit, da eine ungemein heftige Fieberepidemie herrschte, verbunden mit einem gefährlichen Halsleiden. Und einer Art Genickstarre, so dass viele Leute daran starben, besonders auch unter den Indianern. Glücklicherweise blieben wir von Todesfällen verschont, obschon auch bei uns die Krankheit eingerissen war. Außerdem hatten die Mädchen leichte Pocken, aber heute sind wir soweit alle gesund und erwarten in diesen Tagen wieder Familienzuwachs.“ Zudem notierte er die Geldbeträge, die er über eine Hamburger Handelsfirma an seine Familie nach Deutschland sandte, um sie zu unterstützen. Über deutsche Zeitungen aus Buenos Aires, die er wohl abonniert hatte, war er gut über die Verhältnisse in Deutschland informiert. 1914, nach Ausbruch des I. Weltkriegs beschrieb Josef recht präzise, wie die Kautschukpreise verfielen und die Bevölkerung versuchte, durch das Sammeln größerer Mengen zu überleben. Zudem suchte man die alten Goldminen, die schon in Zeiten der Jesuiten und Portugiesen ausgebeutet wurden, zu rehabilitieren, aber insgesamt „...ist die Geschäftslage ziemlich oberfaul, da das Geld sich beinahe vollständig verflüchtigt hat.“ Bis 1919 verblieb Großvater als Angestellter in San Ignacio de Velasco mit der Firma „Stöfen, Schnack, Müller & Co“. Er schrieb: “Wir leben jetzt wieder sehr einsam, da tausende von Menschen in die Gummiwälder gezogen sind, um ja recht viel Gummi zu arbeiten, da dieser jetzt sehr billig ist – da soll das Quantum den Preis ersetzen.“ Wegen des Krieges lagen die Geschäfte danieder, Export wie Import kamen zum erliegen. Trotz des Krieges ging es ihm recht gut, er erbaute ein neues Spendenaufruf zu Unterstützung des I. Weltkrieges mit Einzahlungen und Unterschriften 39 Wohnhaus in San Ignacio de Velasco, übernahm zum zweiten Mal das Amt des Bürgermeisters und war Schatzmeister des Club Social, dessen Mitbegründer er im Jahre 1912 war. Josef war, wie die meisten deutschen Migranten, deutschnational eingestellt und trug mit 50 Bolivianos zur Sammelaktion des deutschen Konsuls für den Krieg in der alten Heimat bei. Auch seiner Familie in Haidenhof ließ er in diesen schweren Kriegsjahren Geld zukommen. Er sorgte sich um das Wohlergehen seiner Familie in Deutschland. Zeit seines Lebens war er sehr gut über die Geschehnisse in seiner Heimat informiert und bestellte sogar in diesen Jahren, die Zeitschrift „Schwarzwälder Bote“ nach San Ignacio de Velasco. Seit der Einführung der Telegraphen ab 1915 verbesserte sich die Kommunikation mit der Familie in Deutschland. Amazonasbecken - Lage des Rio Iténez, der auch Rio Guaporé genannt wird, lila markiert Aufbau des eigenen Geschäftes 1919 teilte er seiner Familie mit, dass er aus der Firma „Stöfen, Schnack, Müller & Co“ auszuscheiden gedenkt und sich mit dem ersparten Kapital von 52 000 Bolivianos (circa 200 000 Reichsmark) selbstständig machen möchte. Zudem gehörte ihm ein Haus im Wert von 20 000 Bolivianos und er erwartete von zwei Familienmitgliedern Rückzahlungen von 50 000 Reichsmark. Zusätzlich besaß er 50 000 Reichsmark in bar. In dieser Zeit erwarb er eine Farm für 12 000 Bolivianos mit 400 Rindern, 250 Zuchttieren, 20 Zuchtstieren, 30 Ochsen und 100 Pferden. Seine Frau bewirtschaftete eine weitere Farm mit 50 Milchkühen. Josef führte Buch über alle Einnahmen, ein typischer Buchhalter. Seine Ersparnisse resultierten daher, dass er kaum Geld ausgab und immer gut verdiente. Er exportierte Gummi und importierte im Gegenzug Handelswaren aller Art. Zudem investierte er in den Transport. San Ignacio de Velasco liegt 200 km zwischen den beiden größeren schiffbaren Flüssen. Der Ort war in dieser Zeit ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt. Auch handelte Josef mit kastrierten Stieren, die als 40 Zugtiere vor die Holzkarren gespannt wurden, um die Kautschukballen bis zu den Häfen des Rio Paraguay/ Rio de la Plata und des Rio Iténes, einem Zufluss des Amazonas, zu transportieren. Im Gegenzug wurden alle lebensnotwendigen Produkte importiert. Seine Ersparnisse hatte er vor dem Krieg auf Banken in New York und Hamburg sicher angelegt. In einem Brief von November 1919 aus Santa Cruz erfahren wir, dass seine Mutter verstorben war und Deutschland den Krieg verloren hatte. Ein Brief brauchte vier Monate von Deutschland nach Santa Cruz. So erfuhr er mit großer Zeitverschiebung vom Tode seiner Mutter. Sein sehnlichster Wunsch war es, in dieser Zeit noch einmal mit seiner gesamten Familie nach Deutschland zu reisen. Eigentlich war dies für 1915 geplant, aber durch den Ausbruch des Weltkrieges wurde die Reise verhindert. Josef arbeitete emsig weiter, er baute seine Farm aus, erwarb Maultiere und überlegte sich, einen Cousin anzustellen. Bisher hatte er deutsche Produkte wie Dampfmaschinen und alles Zubehör, was man nicht in Bolivien herstellen konnte, importiert, aber auch Arbeitsgeräte wie Sägen und Messer aus Solingen (Zwillinge), Schnürstiefel aus Deutschland gegen möglichen Schlangenbiss wurden importiert ebenso wie Kirchenglocken und Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Geschirr, Besteck, bis hin zum Klavier aus Hamburg. Ansonsten waren Josef und seine Familie Eigenversorger mit Lebensmitteln, da sie Zucker und alle Agrarprodukte selber herstellten, ebenso Stoffe und Kleidung. In seinem letzten Brief vor seinem Tode datiert vom 14.11.1919 berichtete er, dass er nach Santa Cruz de la Sierra reisen werde, um Waren im Wert von 100.000,00 Reichsmark einzukaufen. Jetzt kaufte er US-amerikanische Produkte, aber er hoffte in Zukunft seine Waren wieder aus Deutschland beziehen zu können. Im Februar 1920 verstarb Josef im Alter von 40 Jahren an Magengeschwüren und einer Darmkrankheit. Seine Ehefrau Lindaura folgte ihm 12 Jahre später in den Tod. Sein Reichtum wurde unter seinen Nachkommen aufgeteilt. Heute leben noch circa 200 Nachkommen in Bolivien. Allein unser Vater hatte 24 Enkelkinder. Beziehungen zu Deutschland Die Familie Kreidler pflegt bis heute die Beziehungen zu Deutschland und den deutschen Verwandten. Lange Zeit bestand ein reger Briefverkehr zwischen dem deutschen und dem bolivianischen Zweig der Familie. Alle vier Jahre wird ein großes Familientreffen in Deutschland in der Nähe von Freudenstatt im Schwarzwald organisiert. Am letzten Treffen nahmen 160 Familienangehörige teil. Zum 100. Geburtstag von Otto Alfonso im Jahre 2017 ist sogar ein Treffen in San Ignacio de Velasco geplant. Profil des Großvaters Josef war sehr arbeitsam. Zudem war er nie in Frauengeschichten verwickelt wie seine Cousins, und führte Zeit seines Lebens ein eher bescheidenes familienbezogenes Leben. Frau und Kinder reisten immer mit. Seine Familie in Deutschland unterstützte er finanziell besonders im I. Weltkrieg. Für die damalige Zeit war er ein sehr gebildeter Mann mit guter Beobachtungsgabe für das Zeitgeschehen, was ein umfassender Briefverkehr mit der Familie in der alten Heimat belegt. Die in Deutschland lebende Familie hegt sehr gute Erinnerungen an ihn. Seine Briefe haben unversehrt zwei Weltkriege überstanden. Josef war der Typ des guten Patriarchen und ein guter Staatsbürger. Sein Lebensrhythmus war von den deutschen Gebräuchen geprägt: Wir saßen als Familie gemeinsam am Tisch und wir nahmen gemeinsam die Mahlzeiten ein. Pünktlichkeit und Disziplin zeichneten ihn aus. Auch wir Enkelkinder mussten studieren, fleißig sein, früh um 06:00 aufstehen und früh zu Bett gehen. Diese Werte hatte der Großvater schon unseren Vater mitgegeben und dieser „vererbte“ diese Tugenden an die nächste Generation. Großvater hatte Charisma und war daher mehrere Male in das Amt des Bürgermeisters gewählt worden. Das Interview wurde mit den Brüdern Walter und Elmar Kreidler am 4.12.2014 in Santa Cruz geführt. Interessant ist, dass alle Frauen der Familie Kreidler nicht in Bolivien wohnen, sondern in den USA, in Peru und in Afrika, während alle männlichen Nachkommen in Santa Cruz de la Sierra geblieben sind und wichtige Positionen im öffentlichen Leben übernahmen wie z. B. Alfonso Otto Kreidler, der in der Zeit von 1971-1974 als bolivianischer Generalkonsul nach Hamburg berufen wurde. 41 Santa Cruz 6 Interview Karl Karl Mayser Sauer Geboren in Kreuzlingen am Bodensee am 2. Februar 1884 Gestorben in Santa Cruz de la Sierra am 15. Oktober 1952 Beerdigt in San Ignacio de Velasco am 17. Oktober 1952 42 Auswanderung Mein Vater Karl erblickte am 7. Februar 1884 – während einer Reise seiner Eltern - im schweizer Kreuzlingen am Bodensee das Licht der Welt. Er war der Erstgeborene einer aus dem Süden Deutschlands stammenden Mittelstandsfamilie, die als Pharmazeuten ihr Geld verdienten. Daher konnten es sich die Eltern leisten, ihm eine humanistische Erziehung mit Griechisch- und Lateinunterricht zu ermöglichen. Nach der Schule absolvierte er eine pharmazeutische Ausbildung, was ihm später von großem Nutzen sein sollte. In der Kaiserlichen Marine leistete er seinen Militärdienst ab. Sechsundzwanzig Jahre alt wanderte er im September 1910 nach Lateinamerika aus. Neugierde und Abenteuerlust waren der Antrieb. Er konnte sich die Schiffsreise, von Montevideo nach Puerto Suarez, Bolivien, selbst finanzieren. Von dort ging es weiter auf dem Rücken von Maultieren bis zum Rio Iténez wie wir Bolivianer ihn nennen. Bei den Brasilianern heißt er Rio Guaporé. Er bildet die natürliche Grenze zwischen Bolivien und Brasilien und ist ein rechter Nebenarm des Rio Mamoré. Dort suchte er einen Verwandten auf, der schon vor ihm aus Deutschland ausgewandert war. Zwei seiner jüngeren Brüder, Hugo und Paul, sollten ihm vor und nach dem I. Weltkrieg nach Bolivien folgen. Sie siedelten sich in der gleichen Region an, Hugo zwischen Fortín Libertad und Madrecitas, Provinz Ñuflo de Chávez, und Paul in San Ignacio de Velasco, also im Tiefland Boliviens an der Grenze zu Brasilien. Als Flussschifffahrtskapitän im Amazonasgebiet Zu dieser Zeit gab es schon einen regen Flussverkehr auf dem Rio Paraguay und San Ignacio de Velasco war der zentrale Ort der Region, das Handelszentrum des Kautschukbooms. Das deutsche Handelsunternehmen Stöfen, Schnack, Müller und Cia nahm ihn Ende 1910 als Kommandant ihrer Flussschifffahrt unter Vertrag. Stöffens, Schnack, Müller & Cia waren schon früh, nämlich 1906, in das Geschäft mit dem „weißem Gold“ eingestiegen und entwickelten sich zum größten Handelsunternehmen der Region: Sie kauften Kautschuk auf und exportierten ihn nach Europa. Im Gegenzug importierten sie deutsche Handelsgüter und vertrieben sie im gesamten schiffbaren Amazonasgebiet. Ihr Hauptsitz lag in Puerto Suarez, Zweigstellen unterhielten sie in Iténez, San Ignacio, San José, Santiago, Santa Cruz, Santa Ana und in Brasilien in Corumbá und Matto Grosso. So lernte er als Flussschifffahrtskapitän weite Teile des bolivianischen und brasilianischen Amazonastieflandes kennen, bereiste die Flüsse Iténez oder Guaporé, den Mamoré und seine Nebenflüsse. Karl Mayser als Flussschifffahrtskapitän 43 Abenteuer jeglicher Art stellte er sich, da zu dieser Zeit viele Tieflandethnien noch keinen Kontakt zur Außenwelt hatten. Er berichtete in seinen Briefen von Menschenfressern und den guten Wilden. Mehrere Forschungsreisende begleitete er in diesen Jahren wie zum Beispiel den Schweden Erland Nordenskiöld, in dessen Werk „Exploraciones y Aventuras en Sudamérica“ er Erwähnung findet. Erland Nordenskiöld, „Exploraciones y Aventuras en Sudamérica“ nach Naturkautschuk sprunghaft an. Vor allen Dingen England und Deutschland importierten die Kautschukballen über den Rio Paraguay, dessen größter Hafen, Puerto Descalvados, zum Umschlagplatz für den Kautschuk wurde bis die Ware über den Atlantik Europa erreichte. Die Geschäfte blühten und der junge Karl machte sich selbstständig. Zusammen mit anderen Deutschen gründete er in San Ignacio de Velasco eine Handelsfirma mit dem Namen „Sociedad Comercial e Industrial Mato Grosso - Bolivia“. Er importierte von Möbeln über Küchenartikel alles aus Deutschland, was Absatz fand. In seinem Handelshaus führte er Zeit seines Lebens eine Abteilung mit pharmazeutischen Produkten, der seine besondere Aufmerksamkeit galt. Er hatte den Ruf der bestsortierte Apotheker in der Region zu sein, da er die Medikamente importierte. Karl legte sich auch beachtliche Ländereien zu, züchtete Rinder und Ochsen als Zugtiere. Später durch die Revolution von 1952 verlor er das Land. Als Währung wurden zu dieser Zeit englische Sterling benutzt. Seine Gewinne ermöglichten es ihm, für den deutschen Kaiser eine großzügige Geldspende aufzubringen ebenso wie seine deutschen Landsleute im Tiefland Kreidler und Kempff dies taten (siehe Spendenaufruf für den I. Weltkrieg). Mit Manfred Kempff verband ihn zeitlebens eine enge Freundschaft. Auf den Reisen des englischen Flugpioniers Fawcett wurde er dessen Reisegefährte. Mit dem Schweizer Frederico Frey erkundete er einheimische Ethnien wie die „Pauserna“, heute bekannt unter dem Namen Guarayos. Sein Wissendrang kannte keine Grenzen. Bis 1914, mehr als drei Jahre, führte er dieses Wanderleben auf den Flüssen im Amazonasgebiet. Vom Angestellten zum selbstständigen Unternehmer Durch den I. Weltkrieg stieg die Nachfrage 44 Keine Mühsal war ihm zu groß, kein Weg war ihm zu weit, um Gegenstände, die ihm wichtig waren, unter den schwierigen Verkehrsbedingungen dieser Zeit zu importieren. Als er zu Geld gekommen war, ließ er sogar einen Schrein für die Heiligenprozessionen in San Ignacio aus London über Buenos Aires nach Santa Cruz transportieren. Für meine Mutter wurde ein Klavier aus Europa nach San Ignacio de Velasco geschafft, das erste Klavier im Amazonasgebiet. Dies gelangte per Schiff nach Montevideo, dann per Boot über den Grenzfluss zwischen Argentinien und Paraguay bis Puerto Decalvados auf dem Rio Paraguay. Bis zum Bestimmungsort San Ignacio de Velasco wurden die Güter die letzten Kilometer auf Karrenwagen durch Ochsengespanne, per Handkarren oder von Trägern befördert. Familiengründung In San Ignacio de Velasco wurde Karl im Jahr 1920 sesshaft. Dort heiratete er am 12.3.1921 Leticia Ardaya Somoza ein 16 Jahre jüngeres Mädchen aus guter Familie aus Santa Cruz de la Sierra. Sie stammte aus einer der ersten Pionier-Einwanderfamilien, die als Freiheitskämpfer aus Argentinien ihren Weg nach Bolivien fanden. Ihr Vater besaß große Ländereien und investierte ebenfalls mit Erfolg in die Kautschukextraktion. Das Familienleben Wir waren neun Kinder in der Familie, zwei davon verstarben in jungen Jahren, vier Mädchen und drei Jungen überlebten. Ich wurde am 29. Julio 1928 in San Ignacio de Velasco geboren. Unser Vater sprach nie in der deutschen Sprache mit uns. Aber er schickte uns in die deutsche Schule nach Santa Cruz. Damals war ein deutscher Geistlicher, Baldwin Spät, Familienmitglied. Er importierte den ersten Lastwagen aus Deutschland und brachte ihn nach San Ignacio de Velasco. Damals gab es noch sehr wenige Automobile. Er fuhr uns von San Ignacio nach Santa Cruz de la Sierra. Die Fahrt zur Schule dauerte sechs Tage für eine Strecke, die wir heute in sechs Stunden zurücklegen. Ich war gerade acht Jahre alt geworden und wohnte allein in einer Pension. Damals gab es nur eine deutsche Grundschule in Santa Cruz. Zeugnisheft Mayser - Deutsche Schule Santa Cruz de la Sierra Auswirkungen Nachkriegszeit des Krieges und Als Bolivien Deutschland den Krieg erklärte, wurde diese Schule in Santa Cruz geschlossen. Ich hatte gerade mal drei Volkschuljahre absolviert. Meine Schule wurde sogar zerstört und geplündert. Viele Deutsche wurden gefangen genommen und in den Vereinigten Staaten in Internierungslagern festgesetzt. Meinem Vater halfen seine guten Beziehungen zur bolivianischen Regierung und seine Freundschaften, so dass er nach der Festnahme durch die Polizei wieder frei kam. Sein vielfältiges freiwilliges Engagement besonders für das Erziehungswesen hatte ihm viele Freunde unter der bolivianischen Bevölkerung beschert, die sich für ihn einsetzte. So war er zum Beispiel 1929 Schatzmeister in der Gemeindeverwaltung von San Ignacio de Velasco gewesen. Er durfte als einer der wenigen Deutschen sein Unternehmen weiter führen. Aber es gab keinen Kautschuk mehr. Die USA waren in den Markt eingestiegen, hatten eine „Rubber Company“ gegründet und kauften den Kautschuk zu sehr niedrigen Preisen während des Krieges auf. Die USA manipulierten Preis und Markt. Erst mit dem II. Weltkrieg blühte die Kautschukgewinnung noch einmal auf. Ich kehrte also zwangsweise nach San Ignacio de Velasco zurück, da die dortige katholische Schule nicht geschlossen worden war, und setzte mein Studium in San Ignacio de Velasco fort. Diese Schule gehörte zum „Vicariato Apostólico de Chiquitos“ und wurde von deutschen und österreichischen Geistlichen geleitet. Der deutsche Bischof Berthold Bühl hatte sie gegründet. Deutsch zu unterrichten, war jetzt verboten. Dort studierte ich drei weitere Jahre. Dann fehlten die Schüler, um weiterführenden Unterricht anzubieten. Wir hatten gute Lehrer und viele deutsche Mitschüler. Das war dann schon gegen Ende der Kautschukgewinnung im bolivianischen Amazonasgebiet. Es gab kein Geld mehr in der Gemeinde. Viele Handelshäuser gingen ab 1920 Bankrott und mussten schließen. Mein Vater blieb, aber es gab keine Arbeit. Für seine Tierbestände 45 konnte er keine Medizin kaufen, es gab keinen Absatzmarkt für die Rinder. Dann brach eine Seuche aus und mein Vater hatte keinen Pfennig, um für seine 20 000 Rinder die notwendige Medizin zu erstehen. Auch für mich standen Veränderungen an. Ich musste nach Santa Cruz auf das „Colegio Nacional Florida“, die einzige Schule, die es noch gab. Viele eingewanderte Familien, besonders Deutsche, verließen zu diesem Zeitpunkt San Ignacio de Velasco und zogen nach Santa Cruz oder kehrten nach Europa zurück. Aber mein Vater blieb in San Ignacio de Velasco. Er führte sein Handelshaus, den landwirtschaftlichen Betrieb und die Apotheke weiter. Aus La Paz und Santa Cruz de la Sierra bezog er die meisten seiner Handelsgüter. Engagement und Ortsverbundenheit zu San Ignacio de Velasco Mein Vater setzte sich sein Leben lang für die Verbesserung der Trinkwasserversorgung, die Erziehung und die Verbesserung der Gesundheitsdienste in der Region ein. Aber auch in Infrastrukturmaßnahmen war er im wahrsten Sinne des Wortes wegweisend: Er ließ eine Flugpiste in San Ignacio bauen, um einmotorige Maschinen eine Landemöglichkeit zu bieten und so den Ort an die nationale Ökonomie anzuschließen. Auch gelang es ihm, die Regierung dazu zu bewegen, den Postverkehr nicht nur bis San Ignacio, sondern bis in die letzten Dörfer der Provinz auszuweiten. Danach gründete er die erste öffentliche Schule in San Ignacio und San Miguel und setzte sich für weitere Schulen in den ländlichen Gebieten ein wie in Buena Hora, Coyú und in den Ortschaften im Grenzgebiet der Provinz Velasco. Der Staat war eigentlich nicht präsent. Als Anerkennung seiner Dienste in dieser Grenzregion führte eine dieser Schulen später seinen Namen ebenso wie eine Straße in Santa Cruz. San Ignacio ist bis heute die größte Siedlung in der Chiquitania. Die Maysers waren eine der Familien in 46 San Ignacio, denen es wirtschaftlich einigermaßen gut ging. San Ignacio de Velasco war durch die Anwesenheit vieler gut gestellter deutscher Einwanderer eher paternalistisch geprägt, während die Stadt Concepción immer sehr spanisch, sehr feudal war. Zwischen den beiden Siedlungen bestand ein großer kultureller Unterschied. Familienleben und Freunde Pünktlichkeit, Respekt und Herzlichkeit zeichneten meinen Vater aus. Er war ein freundlicher, ruhiger Charakter. Mit uns Kindern unterhielt er sich über mannigfache Themen. Seine Freizeitbeschäftigungen waren der landwirtschaftliche Betrieb und die Bücher. Er hatte sogar deutsche Zeitungen nach San Ignacio abonniert. Unsere Ferien verbrachten wir auf unserem landwirtschaftlichen Betrieb oder in Santa Cruz, wenn mein Vater wegen geschäftlicher Angelegenheiten dorthin fuhr. Er lud gerne deutsche Landsleute nach Hause ein ebenso wie die deutschen Geistlichen. Wir waren immer ein Veröffentlichung von Luis Jorge Mayser Ardaya über die Familie Mayser in Bolivien offenes Haus und auch die einfachen Leute liebten ihn, denn er war als Wohltäter bekannt - er half seinem Nächsten. Seine Unternehmungen betrieb er sehr ernsthaft, ich hab ihn nie betrunken gesehen. Er trank nie viel. In seinen Geschäften konnte man immer anschreiben lassen – auch in der Apotheke und die Leute kamen rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag. Als mein Vater starb, gedachten viele Menschen seiner mit Wärme und Zuneigung. Er starb auf dem Flug von San Ignacio nach Santa Cruz an einer Hirnblutung am 15. Oktober 1952 im Alter von 67 Jahren. Er wurde in San Ignacio beerdigt. Er war mit einer reichen Nachkommenschaft gesegnet. Kultur und Beziehungen zu Deutschland Mein Vater sprach ausschließlich spanisch. Er katte erst in Bolivien Spanisch gelernt, beherrschte die Sprache aber gut. Zu Hause aßen wir bolivianische Gerichte, es gab selten mal Sauerkraut, wenn ich mich richtig erinnere. Auch Weihnachten wurde im bolivianischen Stil gefeiert: Es gab eine heiße Schokolade um Mitternacht. Jeden Abend saß er zusammen mit den Geistlichen der Gemeinde und trank sein Schnäpschen. Mein Vater liebte das gesellschaftliche Leben. Schon im Jahre 1906 gründete er in San Ignacio den „Club Social Oriente Velasco“, den er als Präsident viele Jahre leitete. Er war sowohl in der bolivianischen wie in der deutschen Kultur verankert. Seine deutsche Staatsangehörigkeit gab er nie auf. In sein Heimatland ist er allerdings nie mehr zurückgekehrt. Diese Reise war zu dieser Zeit extrem lang und umständlich und dauerte über 40 Tage, teilweise auf dem Rücken eines Maultieres. Bis heute unterhalten wir Kontakt Familienmitgliedern in Deutschland. zu Das Interview wurde mit Luis Jorge Mayser Ardaya am 2.12. 2014 in Santa Cruz geführt. 47 Santa Cruz 7 Interview Paul Paul Seng Kötsel Geboren in Göppingen am 28. Februar 1889 Gestorben in Santa Cruz am 20. November 1974 48 Auswanderung In Deutschland sprach man von Krieg! Es war das Jahr 1911. In seiner Familie in Stuttgart lebte er zusammen mit seinen vier Brüdern. Mein Großvater hielt sie zum Arbeiten an – sie waren ja Schwaben. So hatte mein Vater Paul direkt nach der Schule und dem zweijährigen Militärdienst eine Lehrlingsausbildung in einem Handelshaus absolviert. Diese Zeit war sehr militarisiert, es wurden militärische Übungen und Aufmärsche abgehalten. Paul suchte sich Arbeit in dem schwäbischen Handelshaus „Zeller, Villinger & Cia.“, die ihn für einen Handelsposten im Beni aussuchten. Mein Vater wusste weder, wo der Beni noch wo Bolivien lag. Die wichtigste Aufgabe des Hauses „Zeller, Villinger und Cia.“ bestand darin, Kleidung, Jagdwaffen und Lebensmittel nach Bolivien zu exportieren und Naturkautschuk über Manaus nach Deutschland zu importieren. 1912 schiffte sich mein Vater auf einem transatlantischen Dampfer nach Lateinamerika ein. Das Haus Zeller zahlte die Überfahrt. Von Hamburg aus nahm das Schiff Kurs auf Manaus. Von Manaus aus gab es Verbindungswege nach Bolivien. Drei Monate brauchte das Schiff bis zum Hafen von Manaus. Per Dampfschiff wurden damals viele Waren über die Wasserwege des Amazonas und des Rio Mamoré bis nach Riberalta transportiert. Riberalta, ein kleiner Ort im Beni Boliviens gelegen erlebte eine Blütezeit während des Kautschukbooms. Von Riberalta dauerte es dann nochmals fünf Tage im Kanu bis nach Trinidad. Überfahrt nach Manaus Ankunft in Bolivien und erste Erfahrungen im Kautschukboom Zu dieser Zeit waren die Flussschifffahrtskapitäne und ihre Mechaniker Deutsche oder Japaner. Das Haus „Zeller, Villinger y Cia.“ besaß mehrere große Flussschiffe. Man transportierte Kautschukballen, die man vorher per Ochsengespann aus dem Wald 49 geholt hatte, und verlud sie auf diese Schiffe. Zwischen Krokodilen und Kaimanen navigierte man so flussaufwärts in Seitenarmen der großen Flussläufe des Amazonasgebietes bis zu den entlegensten Siedlungen. Mein Vater ließ sich in Riberalta nieder. Von dort aus bewegte er sich im wahrsten Sinne des Wortes „wie ein Fisch im Wasser“ in allen Seitenarmen auf Anordnung des Agenten des Hauses „Zeller, Villinger und Cia.“, sammelte Kautschuk ein und verlud ihn. Ein harter Job! Und es gab viel Konkurrenz, besonders mit Nicolás Suarez, dem größten Kautschukunternehmer seiner Zeit. Mein Vater schenkte den Indianern Sachen, so dass sie dann nur noch an meinen Vater verkaufen wollten und nicht mehr an die Aufkäufer von Nicolás Suarez. Mein Vater sprach zu diesem Zeitpunkt kaum Spanisch und verstand entsprechend wenig. Er sah zu den großen Bananenstauden auf und man versuchte ihm wohl verständlich zu machen, dass diese großen Bananen essbar seien. Er biss hinein und spuckte aus. Bis er verstand, dass diese Kochbananen nur zubereitet essbar waren. Kriegszeiten insgesamt ungefähr 17 Jahre. In diesen Jahren gab es eine große Überschwemmung im Beni. Der Wasserstand war so hoch, dass er im Haus zwei Tische übereinanderstellen und darauf sein Bett stellen musste , um im Trockenen zu blieben. Er schlief dadurch direkt unter dem Strohdach und die Ratten knabberten nachts an seinen Fingernägeln. Es herrschte Lebensmittelknappheit. Der einzige Arzt praktizierte in Trinidad, das fünf Tagesreisen entfernt lag. Getrocknetes Rindfleisch gab es nur noch zu verzehren. Und das war so stark gesalzen, um haltbar zu bleiben, dass es nur mit Ají essbar war. So lernte mein Vater den Ají lieben! Die Indianer flussaufwärts liebten meinen Vater, weil er ihnen Kleidung, Nahrungsmittel und Waffen schenkte und er im Gegenzug von ihnen das so begehrte Feuerholz erhielt. Er unterhielt immer gute Beziehungen zu ihnen. Sie nannten ihn „Papa“. Einmal gelang es ihm, einen Kaiman von 5 Meter Länge zu erjagen. Er nahm das Tier aus und nahm es in einer Kiste mit nach Stuttgart ins Naturkundemuseum. Pablo Seng, Bolivien, stand auf einem Metallplättchen im Ausstellungsraum. Ich habe dieses Ungetüm später im Museum kennengelernt. Während des I. Weltkrieges wollten viele junge Deutsche freiwillig in den Kampf fürs Vaterland ziehen. Sie kamen aus Riberalta und anderen entlegenen Landesteilen Boliviens. Sie kamen bis Buenos Aires. Dort warteten sie auf einen Dampfer, der sie nach Deutschland bringen sollte. Das Schiff kam nie. So kehrten sie enttäuscht um. Sie hatten die Reise aus der eigenen Tasche bezahlt. Auch spendeten sie für die Kollekten, die zur Unterstützung des I. Weltkrieges in Bolivien von den deutschen Konsulaten durchgeführt wurden, erst für Kriegsmaterialien, später für die Verwundeten und Kriegsversehrten. Sein Bruder verstarb im Krieg. Männerabend in Riberalta Der nicht alltägliche Alltag im Beni Dieser Arbeit im Beni ging mein Vater während der gesamten Zeit des Kautschukbooms nach – 50 Santa Cruz: große Handelsreisen und Familiengründung Das Stammhaus von „Zeller, Villinger und Cia. „in Bolivien befand sich in Santa Cruz, wohin ihn Don Emilio Zeller umsetzte und ihn zum Leiter der Einkaufsabteilung beförderte. Er war der Mann seines Vertrauens. Jetzt musste er die Einkäufe abwickeln oft mit vier, sechs oder sogar acht Kisten angefüllt mit britischem Sterlingsilber als Zahlungsmittel durch die Welt reisen. Die Waren erwarb er in Deutschland, Spanien und England. Diese Reisen nach Europa konnten bis zu sechs Monaten dauerten. Allein die Atlantiküberquerung dauerte drei Monate. Importiert wurde alles von Schuhen, über Pferdegeschirr und Reitzeug bis zu Eisenwaren aller Art. Der Transportweg war auch weiterhin per Schiff über Manaus, Riberalta, Trinidad, Santa Cruz. Alles war entsprechend gut gegen die Feuchtigkeit verpackt mit Planen, die mit Kautschuk präpariert waren, so dass Regen und Flusswasser der wertvollen Last nichts anhaben konnten. Die Strecken über Land wurden in Karren durchgeführt mit ein Meter hohen Rädern, so dass die Pfützen sicher durchquert werden konnten. So brachte er auch das erste Klavier für den deutschen Club und später für die deutsche Schule nach Bolivien. 1929 verliebte sich mein Vater in eine Mitarbeiterin im Hause Zeller nämlich die Kassenwartin. Sie kam aus guter Familie in Santa Cruz, sie Katholikin, er Protestant, beide nicht religiös fanatisch und so heirateten sie schnell. Wir Kinder wurden alle in Santa Cruz geboren. Ich, der jüngste im Jahre 1939. Er hatte schon eine Tochter, Consuelo, aus seiner Zeit im Beni. Wir unterhielten gute Beziehungen zu ihr. Fincero und Imker auf eigene Rechnung Wir bewohnten damals unser Haus im Stadtzentrum, das vermietet wurde als wir auf´s Land zogen. Die Finca bewirtschaftete er mit 80 Milchkühen, Pferden, Maultieren gekreuzt mit Eseln. 24 Hektar Land verwandelte er in einen „Cafetal“ (Kaffeeanbau). Zudem errichtete er auf dem Gelände eine Ziegelfabrik. Und viele, viele Früchte hatten wir: Mangos, Ananas, Orangen. Dann vertiefte er sich in die Imkerei. Aus dem heute benachbarten Vallegrande importierte er von den Franziskanern erstandene italienische Bienen. Per Maultier wurden die Bienenkörbe über 200 km geschaukelt. Er verschenkte sie auch weiter an seine Freunde, wie den Dr. Franz Kempff oder Walter Frerking. Mit 500 Bienenstöcken gewann er 30 Tonnen Honig im Jahr. Wir verkauften an COMIBOL, an Süßwarenhersteller und begannen über das Handelshaus Gasser und Co. nach Holland und Deutschland zu exportieren. Wir brauchten damals dringend Devisen! So wurde er zum Pionier der Bienenzucht in Bolivien. Bis die Killerbiene kam. Diese afrikanische Bienenart zerstörte alle italienischen Bienenstämme. Bis heute verwahren wir noch die Spezialmaschinen, die mein Vater importiert hatte so wie elektrische Honigschleudern, auf. Über Schilling importiere er auch Hefen (Gärmittel), um aus Honig Essig herzustellen. Nach 36 Jahren als Angestellter bei „Zeller, Villinger und Cia.“ wollte er sich unabhängig machen. Er kaufte sich eine Finca mit Obstbäumen, um ein ruhigeres Leben zu führen. Als jedoch Kyllmann, Bauer & Cia. eine Filiale in Santa Cruz eröffneten und ihn als Filialleiter anheuerten, arbeitete er noch einmal für zwei Jahre als Angestellter. Dann schloss nämlich Kyllmann, Bauer & Cia. den Laden in Santa Cruz. Hoch zu Ross 51 Ferien auf dem Bauernhof Wir kannten eigentlich keine Ferien, nachdem mein Vater die Finca gekauft hatte. Sie lag 25 Km außerhalb von Santa Cruz und wir ritten dorthin zu Pferde. Die Verbindungswege waren zu dieser Zeit schlecht ausgebaut. Wenn wir mal Bolivien verließen, fuhren wir nach Buenos Aires, höchstens einmal im Jahr. Auf der Finca in unseren Ferien gingen wir fischen mit dem Freund Schulz, veranstalteten Pic-nics am Fluss, erst angeln, dann Dynamit fischen und aßen die Leckereien aus unseren mitgebrachten Körben. Eigentlich machten wir keine Ferien. Mein Vater hatte auch keine Lust mehr zu reisen, da er als junger Mann so viel reisen musste, der junge Handelsreisende. Zudem waren die Kontakte durch die Kriege in Deutschland reduziert, viele aus der Familie waren verstorben. Die einzige Schwester lebte in Tampa, USA, aber da hätte er ja hinreisen müssen. Gewohnheiten und Gesellschaftliches Leben Mein Vater war ein energischer Mensch, sehr pünktlich und korrekt, hatte ein weiches Herz, konnte aber auch mal einen Wutanfall bekommen „Meine lieben Kinder“, gleichzeitig mit „Crucifix nochmal...“ verbinden. Er verstand sich sehr gut mit meiner Mutter. Er unterhielt gute Beziehungen zu seinen Landsleuten, die ihn per Pferd auch weiterhin besuchten, als wir auf der Finca wohnten. In die bolivianische Gesellschaft war er voll integriert. Als Santa Cruz an die 100 000 Einwohner hatte, grüßte jeder meinen Vater! Er war Präsident vom deutschen Schulzentrum, vom deutschen Club, vom deutschen Friedhof aber auch Mitglied vom „Club Social 24 de Septiembre“, so benannt nach dem Gründungsdatum der Stadt Santa Cruz. Er arbeitete immer bis zu seinem letzten Tag, an dem wir einen Mangobaum pflanzten. Nie hat er mir was verboten. Wenn ich weggehen wollte und um Geld bat, dann sagte er nur: Hold Dir, was du brauchst. 52 Champion im Bogenschiessen Paul ist der Dritte von links Aber er führte Buch über alles, über die Bienen, über den Haushalt. Er nahm alles auf in seine Buchhaltung auch 20 Pesos. Besonders machte sich das bei den Essgewohnheiten bemerkbar: Frühstück gab es zu einer bestimmten Stunde ebenso wie Mittagessen und Abendbrot. In der Küche wurde deutsch gekocht. Meine Mutter hatte bei „Mutti Windruf“ im Restaurant des Deutschen Clubs gearbeitet und so gelernt, Spätzle, Sauerkraut, viel Gemüse in große Schüsseln, Salat und Radieschen zuzubereiten. Aber auch Torten, Kuchen, Kekse, alles wurde nach deutscher Rezeptur gebacken. Er hatte die spanische Sprache perfekt erlernt und sechs weitere Sprachen. Zuhause sprachen wir spanisch. Mein Vater disziplinierte uns nicht, Deutsch zu sprechen. Aber er sandte mich dann auf eine deutsche Schule, er wollte, dass ich Deutsch lerne. Er war stolz, ein Deutscher zu sein. Die Zeit des Krieges, General Kundt und die „schwarze Liste“ Der deutsche Militär Hans Kundt kehrte 1932 nach Bolivien zurück, um das Land im Chaco Krieg gegen Paraguay zu unterstützen. Pablo Seng, der Kundt wie alle Deutschen schon von seinem ersten Aufenthalt in Bolivien kannte, begleitete ihn als Ortskundiger bis nach Villamonte. Zudem arbeitete er als sein Übersetzer. Aus dieser Zeit gibt es eine nette Anekdote zu berichten. Sie hatten eins der wenigen Autos zur Verfügung gestellt bekommen. Es gab kaum Benzin zu kaufen und sie hatten kaum noch Benzin. Zudem waren sie in einen Schusswechsel geraten und wollten so schnell als möglich aus der Schusslinie verschwinden. Sie schafften es gerade noch bis Chargua, einem Außenlager der amerikanischen Erölfirma Standard Oil. Seng suchte einen deutschen Bekannten auf und es gelang ihm, Rohöl zu erstehen, mit dem er den Wagen „auftankte“. Irgendwie funktioniert das Fahrzeug zwar, fuhr aber eher wie ein Traktor weiter. So kamen sie bis nach Hause, aber die Reifen glühten! Sie hatten vergessen, die Bremse zu lösen, aber Dank des Rohöls hatte der Wagen eine solche Kraft, dass er die ganze Strecke trotz angezogener Handbremse hinter sich gelegt hatte. Paul Seng bereitet das Auto vor für die Reise mit Kundt an die Front des Chaco Krieges Paul Seng war als Deutscher in Bolivien bekannt und hatte einen deutschen Pass, also stand er auch auf der „schwarzen Liste“. Zum Glück war seine Tochter Consuelo mit einem Militär, Carlos Suarez Guzman, verheiratet, der eng mit dem damaligen Präsidenten Villaroel befreundet war. Als die „schwarze Liste“ veröffentlicht wurde, suchte dieser Schwiegersohn Villaroel auf und unterbreitete ihm, welchen großen Beitrag sein Schwiegervater zur Entwicklung Boliviens geleistet habe. So wurde der Name Seng persönlich von Villareol von der Liste entfernt. Das Interview wurde mit Enkelsohn Pablo Seng Coimbra in Santa Cruz im Dezember 2014 geführt. 53