Max Frisch: Homo Faber

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Max Frisch: Homo Faber
HOMO FABER. EIN BERICHT.
MYTHOLOGIE
Im Homo faber finden sich viele Anspielungen auf verschiedene antike Mythen, teilweise
versteckt, teilweise offenkundig. Zu den antiken Stoffen, die sich dem Leser schnell zu erkennen
geben, gehören die Anspielungen auf den Ödipus-Stoff sowie auf das Schicksal der Atriden.
Etwas versteckter sind da schon die Hinweise auf das Beziehungsdreieck zwischen Demeter,
Kore und Hades, sowie auf die Elemente, die Sabeth mit Athena verbinden. Daneben ist es
offensichtlich, dass die Reiseroute von Faber, die in Griechenland endet, auch eine Reise an den
Ursprung der Mythen ist, sowie eine Reise ins Licht, aus dem Dschungel kommend.
Dennoch sollte man nicht annehmen, dass Frisch hier eine neue, moderne Erzählung der alten
Mythen geschaffen hat.. Vielmehr bedient er sich ausführlich in der griechisch-römischen
Mythologie, bringt einzelne Motive ein und verändert andere. Im folgenden möchte ich kurz die
einzelnen Mythen sowie ihre Aufbereitung im Homo faber vorstellen.
Walter Faber: ein moderner Ödipus oder ein Atride?
Beim Erscheinen des Romans war die inzestuöse Beziehung zwischen Faber und seiner Tochter
Sabeth noch ein stark tabuisiertes Handlungselement, was jedoch gleichzeitig auch zur raschen
Verbreitung des Romans beitrug. Frisch montiert eine Reihe von Verweisen auf den antiken
Ödipus-Stoff. Ödipus wird als Neugeborenem geweissagt, dass er eines Tages seinen Vater töten
und seine Mutter heiraten wird, aus diesem Grund lässt ihn sein Vater Laios aussetzen. Ödipus
wird von Polybus und Merope, dem korinthischen Königspaar aufgezogen. Als Erwachsener
wendet sich Ödipus an das Orakel in Delphi und erhält die gleiche Weissagung wie seine
leiblichen Eltern bei seiner Geburt. Daraufhin macht sich Ödipus auf den Weg nach Theben,
weil er vor seinem Schicksal fliehen will. Auf dem Weg erschlägt er unwissentlich seinen Vater, in
Theben heiratet er Iokaste, seine Mutter. Die ganze Wahrheit enthüllt sich erst, als der Seher
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Teiresias Ödipus als Königsmörder erkennt und dieser sich daraufhin blendet und mit seiner
Tochter Antigone aus Theben flieht.
Im Homo faber ist dieser Mythos verdreht. Es geht nicht wie im antiken Vorbild um eine
Mutter-Sohn-Beziehung, sondern um eine Vater-Tochter-Beziehung.
Eines der auffälligsten Motive ist die Blindheit Fabers, auf die immer wieder angespielt wird. Teils
eher unauffällig, wenn er sich zum Beispiel am Anfang des Textes im New Yorker Schneesturm
wie ein Blinder vorkommt (S.7). Deutlich wird es dann schon wenn Hanna Faber als stockblind
bezeichnet (S.144). Der deutlichste Hinweis findet sich dann auf Seite 192. Faber ist aus
Düsseldorf geflohen und sitzt im Zug nach Zürich: „Ich sitze im Speisewagen, trinke Steinhäger
und blicke zum Fenster hinaus, ich weine nicht, ich möchte bloß nicht mehr dasein, nirgends
sein. Wozu auch zum Fenster hinausblicken? Ich habe nichts mehr zu sehen. Ihre zwei Hände,
die es nirgends mehr gibt, ihre Bewegung, wenn sie das Haar in den Nacken wirft oder sich
kämmt, ihre Zähne, ihre Lippen, ihre Augen, die es nirgends mehr gibt, ihre Stirn: wo soll ich sie
suchen? Ich möchte bloß, ich wäre nie gewesen. Wozu eigentlich Zürich? Wozu nach Athen? Ich
sitze im Speisewagen und denke: Warum nicht diese zwei Gabeln nehmen, sie aufrichten in
meinen Fäusten und mein Gesicht fallen lassen, um die Augen loszuwerden?“
Auch hier wandelt Frisch ab, denn Faber blendet sich nicht wirklich. Wie Ödipus jedoch erkennt
er seine Schuld am Tod der Tochter an, wenn auch nach langem Abweisen. Zum einen in einer
der Rückblenden, die er zwischen die Erzählung der Schiffsreise einfügt, wenn es heißt: „Was
ändert es, wenn ich meine Ahnungslosigkeit beweise, mein Nichtwissenkönnen! Ich habe das
Leben meines Kindes vernichtet und ich kann es nicht wiedergutmachen.“ (S.72). Die zweite
Stelle findet sich ganz am Ende des Romans. Kurz vor der Operation schreibt Faber: „Hanna hat
schon immer gewusst, dass ihr Kind sie einmal verlassen wird, aber auch Hanna hat nicht ahnen
können, dass Sabeth auf dieser Reise gerade ihrem Vater begegnet, der alles zerstört.“ (S.203)
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Gerade das Kind, Sabeth, liefert einen weiteren Hinweis auf die Ödipus-Mythe: Antigone als
treue Tochter, begleitet ihren blinden Vater bis zu dessen Tod. Hier ist es Sabeth, die ihren
lebensblinden Vater auf einer Reise zu seiner Selbsterkenntnis begleitet.
Etwas versteckter ist der Hinweis auf die Sphinx, deren Rätsel Ödipus löste: einmal erwähnt
Faber eine Vase auf der Ödipus und die Sphinx dargestellt sind (S.142), während Hanna die
Mythen als Tatsache hinnimmt.
Frisch betont jedoch ausdrücklich, dass die inzestuöse Beziehung von Faber und Sabeth nicht
eine Analogie auf die inzestuöse Beziehung von Ödipus und Iokaste darstellt. Das Motiv des
Inzest kommt vielmehr aus einem anderen Mythos, auf den ich noch näher eingehen werde, dem
Kore-Mythos.
Aus dem Ödipus-Motiv übernimmt Frisch also die Blindheit des Helden, sowie die Beziehung zu
seiner Tochter, die ihn auf seiner Reise begleitet.
Auf einen ganz anderen Griechen weißt folgendes Zitat hin: „Ich hatte die Badezimmertür nicht
abgeschlossen, und Hanna (so dachte ich) könnte ohne weiteres eintreten, um mich von
rückwärts mit einer Axt zu erschlagen.“ (S.136). Faber als Agamemnon, Hanna als Klytemnästra,
die ihn beim Baden hinterrücks ermordet. Auch hier hat Frisch den antiken Mythos abgeändert,
denn Hanna würde Faber nicht erschlagen, um ihn loszuwerden, sondern weil er ihre Tochter
geopfert hat. Vergleichbar mit der Opferung Iphigenies in Aulis vor Beginn des Trojanischen
Krieges.
Sabeth: Kore, Athena, Antigone?
In Verbindung mit dem Ödipus-Mythos kann man Sabeth durchaus als Antigone sehen,
allerdings nicht in ihrer Funktion als treue Schwester, sondern als die Begleiterin ihres blinden
Vaters.
Wesentlich mehr Elemente der Sabeth hat Frisch jedoch aus dem Kore-Mythos entnommen, so
auch das Inzest-Motiv.
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Kore, oder auch Persephone, wie ihr zweiter Name lautet, ist die Tochter von Demeter und
Zeus. Wie Zeus nimmt auch Faber seine Vaterrolle nicht war, stattdessen beginnt er ein
Verhältnis mit ihr. Im antiken Mythos entspringt der Verbindung zwischen Zeus und Kore der
Styx, also der Fluss der Unterwelt. Die Unterwelt spielt eine wichtige Rolle im weiteren Leben der
Kore. Kore wird beim Spiel von Hades aus der Unterwelt entführt. Daraufhin irrt Demeter über
die Erde, um ihre Tochter zu suchen, bis ihr Helios die Entführung enthüllt. Daraufhin zieht sich
die Mutter Erde zurück und weigert sich, neue Saat wachsen zu lassen. Als alle Bitten nichts
nützen, holt Hermes Kore aus der Unterwelt zurück, sie bleibt jedoch an Hades gefesselt. Ein
Vertrag besagt, dass Kore jeweils ein Drittel des Jahres in der Unterwelt bleibt, den Rest jedoch
bei ihrer Mutter verbringt. Demeter ist dadurch besänftigt und lässt die Pflanzen wieder wachsen.
Die Identität von Sabeth als Kore wird verstärkt durch die wiederholte Bezeichnung Sabeths als
„Kind“ oder „Mädchen“, die wortgetreue Übersetzung des altgriechischen Kore.
Einer der wichtigsten Hinweise auf die Analogie zwischen Kore und Sabeth findet sich in ihrer
Abwesenheit von der Mutter: während Kore als Persephone sechs Monate im Hades bleibt, ist
Sabeth genau ein halbes Jahr von ihrer Mutter getrennt, als sie durch die Welt reist: S.138, 147,
203). Daneben wird vor allem Bezug genommen auf die Verbindung der Kore mit Blumen und
dem Mond. Auf den Mond wird an zwei Stellen in Verbindung mit Sabeth bezug genommen:
zum einen das Gespräch über Sterne im allgemeinen auf der Schifffahrt (S.90), wobei wichtig ist,
dass dieses Gespräch die Mondfinsternis in Avignon vorweg nimmt (S.124f). Zum anderen die
Nacht auf dem Akrokorinth, in der Sabeth und Faber über das Wechselspiel von Licht und
Schatten philosophieren (S.150f). Ein weiteres Motiv, untrennbar mit Kore verbunden, sind
Blumen. Faber hat Sabeth beim Blumenpflücken gefilmt und wird in Düsseldorf beim Betrachten
der Aufnahmen wieder an die Reise erinnert (S.191). Auf dieser Reise trifft man immer wieder
auf Mohn, der am Straßenrand wächst. Mohn, auch Persephone genannt, war eines der Attribute
von Demeter in der antiken Ikonographie.
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Doch nicht alle Eigenschaften Sabeths lassen sich aus dem Kore-Mythos ableiten. Sabeth hat
auch Eigenschaften, die sie mit Athena, der Tochter Zeus, die trotz ihres weiblichen Geschlechts
eher der rational denkenden patriarchalischen Ordnung zugetan ist, im Gegensatz zur
gefühlsbetonten matriarchalischen Ordnung. So ist es zu erklären, dass Sabeth mühelos den
Zugang zur Technik findet, eine Eigenschaft, die Faber Frauen ganz allgemein abspricht.(S.63,
Ivy) So nennt er den Beruf des Ingenieurs den einzig männlichen überhaupt. (S.77). Sabeth
dagegen interessiert sich für technische Dinge, Faber ist begeistert von ihrer Auffassungsgabe
und ihrem Interesse (S.74, 86, 119). Etwas versteckter sind die Hinweise auf Attribute Athenes:
zum einen die Flöte (S.149) und die Schlange.
Hanna als Demeter?
Neben dem vorher erwähnten homerischen Demeter-Kore-Mythos gibt es noch eine
Abwandlung dieses Mythos aus Arkadien, die Frisch ebenfalls miteinbezieht. In diesem Mythos
ist Demeter auch als Demeter Erinnys oder als schwarze Demeter bekannt.
Festzuhalten bleibt, dass zwischen Demeter und ihrer Tochter Kore eine tiefe Verbindung
besteht, tiefer als die Bindungen zwischen anderen Göttinnen und ihren Töchtern.
Hanna ist in gewisser Weise die Verkörperung der Demeter, die zutiefst trauernde Mutter, die
ihre Tochter um jeden Preis schützen will. Als Faber Sabeth im Krankenhaus besuchen will,
verweigert ihm Hanna den Zugang zu ihr: „Ich bestand darauf, das Mädchen zu sehen, wenn
auch nur für eine Minute und fand Hanna sehr sonderbar – sie ließ mich, als wollte ich ihre
Tochter stehlen nicht eine Minute im Krankenzimmer.“ (S.131).
Die Demeter Erynnis steht in Verbindung mit den Rachgöttinnen. Zweimal wird dieser
Komplex: Hanna als rächende Mutter, angesprochen. Beim ersten Mal ist es kompliziert:
Demeter und Kore können, dank ihrer engen Verbindung, als eine Einheit gelten, in der von der
einen auf die andere geschlossen werden kann. Demzufolge kann auch von Sabeth auf Hanna
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geschlossen werden: Sabeths schwarze Kleidung sowie ihr Pferdeschwanz sind Anspielungen auf
die Demeter Erinnys. Frisch erweitert und kompliziert hier die Anspielungen.
Der zweite Komplex ist ungleich deutlicher. Faber entdeckt im Thermenmuseum in Rom den
Kopf einer schlafenden Erinnye neben der Geburt der Venus, die Sabeth wunderbar findet.
Zwischen den beiden Skulpturen besteht ein enger Zusammenhang, denn wenn jemand bei der
Geburt der Venus stehen bleibt, wirkt die Erinnye infolge des veränderten Lichteinfalls lebendig,
so als würde sie erwachen. (S.111).
Der Zusammenhang ist klar: Faber bei der Erinnye, Sabeth bei der Venus und die Rachegöttin
erwacht.
Ein weiteres Indiz für die Anwesenheit der Erinnyen ist die Szene in Rom, als Faber nicht
schlafen kann: „kaum drei Minuten lang blieb es ruhig, dann und wann der Glockenschlag einer
römischen Kirche, dann neuerdings Hupen, Stop mit quietschenden Pneus, Vollgas auf Leerlauf,
sinnlos, Lausbüberei, dann wieder das blecherne Dröhnen, es schien wirklich der gleiche Alfa
Romeo zu sein, der uns die ganze Nacht lang umkreiste.“ (S.123). Die antiken Erinnyen in
Gestalt eines Alfa Romeo. Bereits Hans Geulen hat auf diese Möglichkeit hingewiesen.
Faber wird von Erinnyen verfolgt, was nach der antiken Mythologie auch durchaus Sinn macht,
denn Erinnyen verfolgen vor allem Verwandtenmörder.
Hanna als Demeter, als trauernde Mutter, aber auch als Faber verfolgende Rachegötten.
Demeter – Kore – Hades ↔ Hanna – Sabeth – Faber
Demeter und Kore werden auch die eleusischen Gottheiten genannt und es ist kein Zufall, dass
man im Homo faber dreimal an Eleusis vorbeikommt, einmal mit Sabeth und zweimal mit
Hanna. Noch dazu folgt Faber der Prozessionsstraße nach Athen, als er Sabeth ins Krankenhaus
bringt.
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Demeter, Kore und Hades bilden im Mythos das Dreieck Mutter, Tochter, Verführer. Dass
Hanna und Sabeth Demeter und Kore ähneln, habe ich gezeigt. Ich komme nochmals auf Faber
zurück, der auch Züge der Verführerfigur hat.
Sabeth wird von ihm gleichsam entführt, eine eher assoziative Ähnlichkeit. Zusätzlich gibt es aber
immer wiederkehrende Bilder des Todes und der Unterwelt im Zusammenhang mit Faber.
Neben dessen Todesahnungen oder seinen Krankheitsschüben sind das zum Beispiel die
flatternden Vögel, vor allem die Zopilote, die mit ihrem schwarzen Gefieder wieder an Erinnyen
erinnern. Häufig treten auch Worte wie todmüde, Totenstille, Höllenhitze, Todesangst und
Grabesstille auf. In Italien häufen sich die Anspielungen auf Gräber, immer wieder sprechen
Sabeth und Faber von „unserem Grabhügel“ oder „unserem Grabmal“ (S.114, 119).
Wichtig ist auch der Feigenbaum, unter dem Sabeth und Faber während der Nacht auf dem
Akrokorinth schlafen (S. 150). Ein Feigenbaum ist ein dem Hades heiliger Baum, die Griechen
glaubten, dass in seiner Nähe ein Eingang zur Unterwelt zu finden sei, ein Baum vor dem man
sich hüten sollte.
Zwischen
Hanna,
Sabeth
und
Faber
entspinnt
sich
ein
geradezu
mythologisches
Beziehungssystem, indem ein jeder von ihnen seine mythologische Rolle spielen muss.
FAZIT
Frisch erzählt die antiken Mythen nicht buchstabengetreu nach, der verändert sie und fasst
mehrere Motive in einer Person zusammen.
Neben den offensichtlichen Anspielungen gibt es viele verschiedene weitere Andeutungen, so
zum Beispiel auf Sabeth als Eurydike, die ebenfalls an einem Schlangenbiss stirbt. Wobei auch die
Schlange wieder ein mythologisch stark besetztes Tier ist. (Demeter und Zeus, sowie Kore und
Zeus heiraten in Schlangengestalt, die Erinnyen tragen statt Haaren Schlangen und halten
Schlangen in den Händen, wenn sie als Rächerinnen unterwegs sind……)
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